European Borderlines 2010

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Ulrike Almut Sandig - Kuba

Am vierzehnten August hatten die Kubaner den letzten Motor wieder eingebaut. Nach einer letzten Nacht im Kindergarten sollten sie im Armeelastwagen irgendwohin gefahren werden, um dort die Abflussrohre einer Kleingartenanlage zu verlegen. Die Seeligern bemerkte die Abwesenheit der Kette am Vormittag des fünfzehnten August, als sie ein sauberes Kleid anzog, um sich bis auf weiteres von ihrem Verlobten zu verabschieden. Sie stellte die Wurstsuppe wieder zurück in den Vorratsraum und lief nicht zum Kindergarten, sondern mit verquollenen Augen: zum Fußballplatz. Zuerst hat sie die Kinder mit Zigaretten bestochen, damit sie im See nach einer Kette tauchten von der niemand wusste, dass es ihr Verlobungsgeschenk war. Als die Kinder gut gelaunt, aber ohne den Schmuck gefunden zu haben, ihre Zigaretten einforderten, ging die Seeligern zur Scheune ihres Vaters und fuhr den Frontlaster, mit dem er im Winter Sand und Kohle in die Höfe lud, aus der Garage, die Hauptstraße entlang und bis an den See. Stundenlang hat sie den Schlamm aus den Ufern geholt, den die Kinder in Badehosen und mit Spaten umgruben, bevor sie ihn wieder in den See kippte. Die Silberkette blieb verschwunden. Später wurden die Kinder zum Abendbrot gerufen. Die Seeligern saß bis in die Nacht am verschlammten Ufer des Sees, bevor sie den Frontlader zurück in die Scheune fuhr. Dass der Armeelastwagen mit Jesús auf der Ladefläche schon seit Stunden über alle Berge war, konnte sie sich denken. Dass man aber zweieinhalb Stunden gewartet hatte, ob sie doch noch käme und sich von Jesús verabschieden würde, wusste sie nicht und hätte auch nichts dran ändern können. Auf die Frage ihres Vaters, wie sie denn eine Silberkette, von der niemand wusste, woher sie die hatte, an einem Baggerloch hinter der Müllkippe verlieren konnte, zu dem sich sonst keine Menschenseele verirrte, sagte sie gar nichts. Sie kniff die grünen Augen zusammen und zündete sich ihre erste öffentliche Zigarette an. Ende August liefen die Kinder noch manchmal hinter die Müllkippe, aber mehr aus der Langeweile der großen Ferien heraus. Vor der Seeligern hatten alle ein bisschen Angst, weil sie ihr irgendwie mehr zutrauten, als ohne Erlaubnis und eigenhändig mit dem Bagger ihres Vaters zu fahren. Obwohl ihr das niemand gezeigt hatte, nur die Kubaner hatten das gelernt. War die Seeligern außer Hörweite, riefen die Kinder: Die Seeligern, die Seeligern! Wie ein Guppy auf Rädern! Drei Wochen später kam ein Achtjähriger mit dem Schmuck an, den er neben einem Förderband gefunden hatte. Die Kette war angerostet, und die Seeligern wusste, dass das was ihr Verlobter ihr geschenkt hatte, nicht aus Silber war. Eigentlich auch egal, es blieb ihr Verlobungsgeschenk. Aber es hat einen Unterschied gemacht, der nichts mit dem Metall zu tun hatte. Möglicherweise aber mit dem Gehabe der Gleichaltrigen, die in Grüppchen am Fußballplatz standen, wenn sie abends noch zum Pfarramt lief und stundenlang auf einen Anruf wartete, der nicht kam. Vier Monate später hat die Seeligern den Schmuck zurück in den See geworfen und nie wieder ein Wort drüber verloren. Was nicht heißt, dass die Sache mit dem falschen Silber damit aus der Welt gewesen wäre. Auch ihr Vater erwähnte das mit keiner Silbe, dafür aber alles Andere an seiner angeblich so verlobten Tochter. Die Türen flogen auf und schlugen wieder zu, du kurz vor Silvester zog die Seeligern von zu Haus aus und in die untere Wohnung des Pfarrhauses ein. Sonst hatte sie der Kantor benutzt, aber weil die Stelle gestrichen worden war und jetzt ein Kantor aus der Stadt kam, standen zwei Zimmer hinter dem Gemeindearchiv leer. Im vorderen Zimmer befanden sich der Zweitanschluss des Pfarrtelefons und daneben ein großer Kristallaschenbecher, den sie von zu Hause mitgenommen hatte. Außerdem, und denen, die zum Telefonieren kamen, wenn im Pfarrhaus keiner da war, immer im Blick: die große Fotografie von Fidel Castro über der Anrichte. Und weil die Leute davon ausgingen, dass eine allein stehende Frau einer Witwe gleichzusetzen ist, erst recht eine, die in der Kantorswohnung wohnt, hielten die späteren Generationen den Zigarrenraucher mit Vollbart für ihren verstorbenen Gatten und sie selbst für die Kantorswitwe Seeliger. Sie erklärte gar nichts, schaute den Leuten mit ihren grünen Augen beim Telefonieren zu und drehte sich Zigaretten. Im Gottesdienst saß sie grundsätzlich in der ersten Reihe, obwohl alle außer dem Pfarrer sonst nur ab der fünften Platz nahmen. Mit der Gemeinde im Rücken saß sie da und sang die Choräle lauter, eine Oktave höher als alle Anderen und ganz ohne Koloratur. Bei der Predigt hörte die Seeligern weg: Sie blätterte im Gesangbuch, schlief oder ging auf dem Friedhof spazieren, wo sie zum Ärger der Anverwandten die geharkten Sandwege zwischen den Gräbern in Unordnung brachte. War die Predigt zu Ende, setzte sie sich wieder in die erste Reihe und schlug das Gesangbuch auf. Aber auch der Anblick ihrer grünen Augen außerhalb der Gottesdienste trug dazu bei, dass die Kinder, die zwanzig Jahre zu spät geboren waren und nichts von der Sache mit dem falschen Silber


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