Eimsbüttel KW39-2016

Page 4

4

Elbe Wochenblatt Reportage

MITTWOCH 28. SEPTEMBER 2016

Endlich wieder ein Zuhause Wohnen auf 25 Quadratmetern: Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten in Hamburg Tausende in Nissenhütten

Zeitzeugen der Nachkriegsjahre: Die Nissenhütte im Freilichtmuseum Kiekenberg soll an die Fluchtlinge erinnern.

CHRISTEL KÖSLIN, HAMBURG

Die Antwort hat alle überrascht und für Augenblicke ratlos gemacht. Wir hatten rund um den grob gezimmerten Tisch in der Nissenhütte Platz genommen, mit der das Freilichtmuseum am Kiekeberg Erinnerungen an die Nachkriegszeit lebendig hält. Eine Mitarbeiterin des Museums hatte Bänke aufstellen lassen, denn zum Inventar der Flüchtlingsunterkunft gehörten nur zwei Stühle. Die Blicke der Besucher erfassen zuerst das mächtige alte Wellblech, das in einem großen Halbbogen Wände und Dach der Notbehausung in einem Stück bildet. Der Eingang, eine Wand aus dicken Brettern, darin grob gezimmert die Eingangstür. Rechts in der Ecke, ebenfalls zusammen genagelt, ein Hochbett mit einer Schlafstelle unten und einer darüber. Links an der Wand ein richtiger Kanonenofen. Der ist aus der stählernen Umhüllung einer todbringenden Bombe. Die Umhüllung wurde so umgebaut, das sie den Menschen das bringen konnte, was sie nach dem Krieg am dringendsten brauchten – ein wenig Wärme. Je länger wir in der Nissenhütte , die das Museum 2007 hier aufbauen ließ, beisammen hocken, umso eindringlicher spürt man die Ärmlichkeit und das Bedrückende dieser Behausung.

Sibylle Brodkorb, die rechts neben mir sitzt, war 1948 als kleines Mädchen mit ihrer Mutter in eine solche Nissenhütte in der Hohen Straße in Harburg eingezogen. Es war eine ganze Siedlung dieser Behelfsunterkünfte, die 1916 von einem Kanadier namens Nissen konstruiert worden waren. In Harburg alleine gab es vier dieser Siedlungen, die für Sibylle Brodkorb und ihre Familie viele Jahre das neue Zuhause war. „Frau Brodkorb, können Sie sich noch an den Augenblick erinnern, als Sie die Nissenhütte das erste Mal betraten?“, wollte ich von der Zeitzeugin wissen. „Oh ja, das ist auch nach 68 Jahren noch, als wenn es gestern gewesen wäre. Wunderschön war das. Ich habe geweint - vor lauter Glück.“ Holzwand in der Mitte Einen Augenblick war es still. Alle starten Sibylle Brodkorb an. Nur ihr Mann nickte wissend. „Drei Jahre lang war ich vorher mit meiner Mutter und meiner Großmutter auf der Flucht“, erzählt die Frau, die in Rönneburg fest verwurzelt ist. „Es muss im April 1945 gewesen sein, da mussten wir aus Breslau fliehen. Es waren vor allem Frauen mit ihren Kindern, die zu Fuß nach Prag verjagt wurden, wo noch die Deutschen waren. Ich war

Zeitzeugen der Vergangenheit lassen Erinnerungen an die Nissenhü tten wachwerden: Dorit Wilhelm, Gunther Hein und Sibylle Brodkorb (v.l.).

der Runde im Kiekeberg-Museum gehört, war aus englischer Kriegsgefangenschaft in eine Nissenhütte an der Denickestraße entlassen worden. Dort schloss er 1948 seine Frau und die beiden Töchter in die Arme, die aus Hecklingen in Oberschlesien gekommen waren. Dorit Wilhelm war damals 17, ihre Schwester Hannelore drei Jahre jünger. Neubeginn nach Flucht und Vertreibung

Den Kanonenofen kennen sie zu Genü ge, der war in allen Nissenhü tten enthalten. Auch Dorit Wilhelm (l.) und Sibylle Brodkorb erinnern sich noch gut. FOTOS: KÖSLIN

da vier, aber ich sehe noch immer die vielen Toten, die an der Strecke lagen. Als im Mai der Krieg zu Ende war, haben uns die Tschechen nach Breslau zurück geschickt. Unterwegs hatten sie Mutter vergiftetes Öl verkauft. Sie hat mich an sich gezogen und mir Mut gemacht, wenn sie mich verlassen müsste. Aber ihr Wille war stärker. Sie hat überlebt. Wieder in Breslau wurden wir erneut vertrieben. In Lieskau bei Finsterwalde fanden wir Unterkunft bei einem Bauern. Willkommen waren wir da aber nicht. Deshalb die Freude und die Erleichterung, als unser Vater uns in der Nissen-

hütte in Harburg in die Arme nahm. Drei Jahre überall vertrieben und immer auf der Flucht. Jetzt hatten wir endlich wieder einen Platz, der uns gehörte. Wir hatten endlich wieder ein Zuhause.“ Auch wenn das nur knapp 25 Quadratmeter groß war. Denn die Nissenhütten, von denen die englischen Besatzer Hunderte hatten aufbauen lassen, waren in der Mitte durch eine Holzwand für zwei Familien aufgeteilt. Der Vater bekam als Kriegsversehrter eine der halben Hütten zugewiesen. Der Vater von Dorit Wilhelm, die als Zeitzeugin ebenfalls zu

„Ich hatte das Glück, dass ich als Hausmädchen bei einem Rechtsanwalt in Eppendorf unterkommen konnte“, erzählt die heute 85-Jährige, die seit 1995 den Seniorentreff in Neugraben leitet. „Ich war nur am Wochenende bei meiner Familie. Ich habe keine schönen Einnerungen an diese Zeit“, bekennt sie. „Die beiden Betten waren nur durch eine Decke abgetrennt. Wollte man sich richtig waschen, musste man in die Duschhütte. Vor allem das gemeinsame Klo. Das waren so eine Art Kabinen mit einem Brett rechts und links und hinten war eine lange, durchgehende Rinne. Und ich erinnere mich auch, fast jede Familie hatte eine Katze – auch wegen der Ratten.“ Flucht und Vertreibung, der schwierige Neubeginn und auch damals meist nicht willkommen. „In der Schule hatte ich einen Freund“, erzählt Gunther Hein, der heute als Rentner in Tangstedt wohnt. „Als ich den zu Hause in der Nissenhütte am Hasteplatz an der Bremer Straße besuchte, verbot mir der Großvater sofort, mich mit denen aus dem Lager abzugeben.“ Als Rentner auf den Spuren seiner Kindheit musste Gunther Hein feststellen. „Keiner, den ich an der Bremer Straße angesprochen habe, wusste etwas von dieser Siedlung. Und von Nissenhütten, davon hatte auch nie jemand etwas gehört.“ Dabei wurde im Freilichtmuseum am Kiekeberg eine solche Nissenhütte aus Lüneburg neu

aufgestellt. „Im Landkreis und in Harburg waren extrem viele dieser Notunterkünfte aufgestellt“, berichtet Marion Junker, die Marketing-Chefin des Freilichtmuseums. „Wir sammeln Berichte und Erfahrungen und auch Gegenstände von Zeitzeugen. Das ist ja ein ganz toller Erfahrungsschatz besonders auch für Schulklassen, die die Nissenhütte besuchen.“ Auch Gunther Hein ist sehr aktiv, damit diese wichtigen Erinnerungen an den entbehrungsreichen und schweren Neubeginn nicht ganz in Vergessenheit geraten. „Ich habe alte Adressbücher von den Siedlungen ausfindig gemacht“, berichtet er, „und damit neue Kontakte zu einigen der letzten Zeitzeugen bekommen. Die Miete für eine halbe Nissenhütte hat 1955 15,30 Mark betragen.“ Alles, was Gunther Hein zusammen trägt, stellt er auch dem Freilichtmuseum zur Verfügung und mit der Harburger Geschichtswerkstatt arbeitet er eng zusammen. Beim Zusammentreffen am Kiekeberg breitet Sibylle Brodkorb Schwarz-weiß-Fotos aus. Zu sehen sind ihr Vater, der gleich neben der Hütte einen Hühnerstall mauert, ihre Mutter hat einen Quadratmeter Rasen angelegt und vor der Hütte ein Fliederbäumchen gepflanzt. Eine Erfahrung haben Sibylle Brodkorb und Dorit Wilhelm und wohl auch viele andere gemacht: „Unsere Enkel fragen höchstens, Oma, warum erzählst Du das? Die leben in den Tag hinein. Die können sich überhaupt nicht vorstellen, dass auch für sie einmal härtere Zeiten kommen könnten.“ Gemeinsam mit den Frauen und Männern von der Geschichtswerkstatt kämpft Gunther Hein deshalb darum, dass dort, wo die vier NissenhüttenSiedlungen in Harburg waren, Gedenktafeln aufgestellt werden: am Hastedtplatz an der Bremer Straße, an der Denickestraße, der Hohen Straße und an der Grumbrechtstraße.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.