SEK bulletin 1/2011

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Religion: Braucht Glaube Kirche?

Evangelium. Eine überorganisierte Kirche wiederum verdorrt und verkommt zum blinden Machtapparat. Sie ist angewiesen auf den Glauben, wie ihn Calvin, Martin Luther King oder Mutter Teresa gelebt haben, damit sie sich reformieren und verwandeln kann – treu zu Gott, auf den sie sich beruft. Doch der Glaube greift über die Kirche und deren Rolle hinaus. Er wirkt in der Gesellschaft und für sie. In hohem Masse ist es die Kirche, die es dem Glauben erlaubt, sich als Zeugnis, als Handeln in der Welt herauszubilden, indem sie die Gläubigen theologisch und praktisch ausrüstet. Realität und Praxis sind Prüfstein des Glaubens. Und dies in sämtlichen Lebensbereichen: Im Geschäft, in der Politik, in zwischenmenschlichen Beziehungen. Der biblische, der reformierte Glaube unterscheidet nicht zwischen spirituell und materiell. Es geht ihm um Inkarnation, um die ganze von Gott geschaffene Realität. Ohne Einbindung in die Kirche und in die Gesellschaft wird der Glaube steril, vergeblich, von seinen Quellen abgeschnitten und deklamatorisch, ja gefährlich. Bringen wir also die Begriffe Glaube und Kirche, Glaube und Gesellschaft zusammen in den Dienst der Nächsten und der Welt! < Diskutieren Sie mit auf unserem blog: www.sekfeps.wordpress.com

* Jean-Jacques Beljean ist Pfarrer in Neuenburg

und ehemaliger Synodalratspräsident der reformierten Kirche in Neuenburg.

über lange Zeit; eigentlich sind es fast immer Lebenswege. Das erinnert an einen Gedanken der französischen, jüdischen Philosophin und Mystikerin Simone Weil (1909–1943): Jede Religion ist die einzig wahre; das heisst, in dem Augenblick, da man sie denkt, muss man ihr soviel Aufmerksamkeit entgegenbringen, als gäbe es nichts anderes, ebenso ist jede Landschaft, jedes Bild, jedes Gedicht usw. einzig schön. Zur Synthese der Religion bedarf es nur einer geringwertigeren Aufmerksamkeit. 6. Nicht alle Menschen können einem Weg folgen. Soll ein Weg gelebte Spiritualität werden, so muss das Tradierte in einen eigenen Weg verwandelt werden, sonst bleibt nichts als geistlose Form. Ohne eine solche Transformation gibt es keine eigenständige religiöse Erfahrung. Völlig autonome Wege laufen ebenfalls Gefahr, inhaltslos und leer zu werden. Sie bleiben von Tradition, Geschichte und Gemeinschaft abgeschnitten. Für eine lebendige Spiritualität ist das Wechselspiel von Heteronomie und Autonomie befruchtend. Frömmigkeit entzündet sich an tradierten Wegen und tendiert zugleich zu deren Kritik und Überschreitung. Die Position Meister Eckharts ermöglicht Distanz und Kritikfähigkeit. Sie bejaht die Pluralität der Wege, führt aber darüber hinaus, indem der eigene Weg, insofern er vom Ich geprägt ist, als «eigener» in Frage gestellt wird. Eckhart postuliert eine Weglosigkeit, die vom Ich, das erfährt, geniesst und beseligt ist, wegführt: «Das bevinden ist nicht in dîner gewalt.» Eckhart ist aktuell, weil sein Ansatz eine Frömmigkeit kritisiert, die das Ich ins Zentrum setzt. Er individualisiert zwar, aber stellt Individualismus und Ichkult radikal in Frage. Da ist keine Spiritualität, die einem konsumistischen Ich Bedeutung und Mehrwert verschaffen soll. Der Glaubende wird in die Gemeinschaft und die Weltverantwortung zurückgewiesen. Eckhart stellt in seiner Theologie der Armut (nicht wollen, nicht wissen, nicht haben), der Abgeschiedenheit und des Sichselbstlassens die Macht des Ichs ebenso in Frage wie die «Macht» der Kirche und ihrer Formen. < Diskutieren Sie mit auf unserem blog: www.sekfeps.wordpress.com

* Jürg Welter ist reformierter Pfarrer im Berner Münster.

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