Radar Ost

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Gogol Center

Das Gogol Center (ehemals Gogol-Theater) hat zwei Geschichten, eine kurze und eine lange. Die lange ist jedoch schnell erzählt: Es wurde im Jahre 1925 gegründet – eine frühsowjetische Gewerkschaftsgründung – als ein Theater für die Arbeiter der Eisenbahnbetriebe. Der heutige Standort, eine ehemalige Werkhalle der Eisenbahn, wurde im Jahr 1943 bezogen. Und gerade dieser Standort ist seitdem für jeden Theaterleiter zum Verhängnis geworden:

von Olga Fedianina

Ein Portrait des Gogol Center, Moskau

DAS HAUS

OLGA FEDIANINA

ist eine Theaterkritikerin, Übersetzerin und Dramaturgin aus Moskau, sie schreibt regelmäßig über die neusten Tendenzen im russischen Theater, unter anderem über das Gogol Center.

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Im dunklen Gewirr der Bahnhofsgassen war ein Theater etwas vollkommen Deplatziertes, man dachte hier nicht an Kunstgenuss, sondern nur ans schnelle Weg- und Weiterkommen. Das Theater stand auf einem unsichtbaren Abstellgleis, selbst in den späten 1970ern, als in Moskau keine Theaterkarte zu ergattern war, waren die Gogol-Karten wenig gefragt. In den 1990ern kamen zwar einzelne interessante Regisseure und Produktionen ans Haus. Es half aber nichts, das GogolTheater blieb „ein Theater, wo man nicht hingeht“. Das änderte sich im August 2012 schlagartig: Die Stadtverwaltung, damals sehr reformorientiert, besetzte die künst­ lerische Leitung neu. Kirill Serebrennikov, ein erfolgreicher, ambitionierter und produktiver Regisseur kam und brachte sein eigenes Team mit. Das waren Schauspieler_innen, Produzent_innen und Kurator_innen, mit denen er zuvor das Projekt „Plattform“, ein staatlich finanziertes, interdisziplinäres Zentrum für zeitgenössische Kunst, aufgebaut hatte. Der Einzug des neuen Teams verlief nicht friedlich. Alteingesessene Schauspieler fürchteten um ihre unbefristeten Verträge, sie wollten keine Unruhe und vor allem keine, wie man in Russland sagt, „Klassikerschändung“. Serebrennikov hatte sich bereits einen Ruf für witzige und freche Interpretationen klassischer Stoffe erworben. Man kämpfte, schrieb Briefe ans Kulturministerium, organisierte Protestkundgebungen. Aber langsam nahm das Theater seinen Betrieb auf, ein Teil des alten Ensembles ging, manche blieben – und haben es nicht bereut. Bereits in der ersten Spielzeit stellte sich heraus: Das neue Gogol-Theater, bzw. das Gogol Center, wie es fortan hieß, wird eine Erfolgsgeschichte. Kirill Serebrennikov hatte das Theatersystem in Europa gut studiert und baute zügig etwas auf, was sich am ehesten an der frühen Volksbühne von Frank Castorf orientierte: Ein lebendiges Haus, wo man hingeht, ohne vorher ins Programm zu schauen, weil man weiß, dass hier immer etwas Spannendes geboten wird: wenn nicht ein Schauspiel auf der Hauptbühne, dann eine Lesung im kleinen Saal oder ein Konzert im Foyer und in jedem Fall gibt’s ein Glas Wein im Café. Das Gogol Center wurde fast zu einem Rund-um-die-UhrBetrieb, wo man sich auch tagsüber gerne mit Freunden verabreden und dabei noch viele Bekannte und Halbbekannte begrüßen konnte. Dieses Angebot lockte zunächst das Lieblingspublikum von Serebrennikov an, die Jugend. Gerade für sie war ausschlaggebend, dass das neue alte Haus nicht nur zeitgemäße Ästhetik, sondern auch zeitgemäße


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