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ANGIE HIESL
Dieser Text über die Kölner Künstlerin wurde dem Kölner Frauen*Stadtplan entnommen
Lebensdaten geboren 22.12.1954 in Riedenburg/Oberpfalz –aufgewachsen in Venezuela, Perú und Deutschland.
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Markanter Satz: Unterwegs sein, immer wieder aufbrechen, Neues suchen, weiter entdecken – Begegnungen mit Menschen ... Ort ihres Wirkens: Vor allem der öffentliche Raum. Neben der Homebase im Kunsthaus Rhenania Köln, arbeite ich seit vielen Jahren international, mit unterschiedlich langen Aufenthalten an den jeweiligen Orten.
Biografisches: Bereits mit drei Monaten übersiedelte ich mit meinen Eltern nach Caracas/Venezuela, wo mein Vater für drei Jahre an die deutsche Botschaft berufen wurde. Nach kurzem Aufenthalt in Bayern, wo meine beiden Schwestern, eineiige Zwillinge, geboren wurden, ging es für die ganze Familie für vier Jahre nach Perú, wo mein Vater für die deutsche Botschaft in Lima tätig war. Diese Zeit bedeutete die stärkste Prägung in meiner Kindheit: fast täglich Schwimmen im Meer, meine Grundschulzeit, das Erlernen der spanischen Sprache als zweite „Muttersprache“, das Zusammenleben mit zwei indigenen Haushaltshilfen, Besuche von Inka- und Präinkakulturstätten, Buntheit und Exotik, was Pflanzen und Tiere anging, üppigste Märkte und gleichzeitig Armut und Elendsviertel in unserer nächsten Umgebung, die peruanische Küche mit Ceviche und den vielfältigsten Fischgerichten, sehnsuchtsvolle Musik, Tanz und Rhythmus, aber auch die wunderschöne, langhaarige Heilige Rosa von Lima und ein sehr naiv gelebter Katholizismus.
Vielfältigste Eindrücke einer andinen, aber leider auch sehr kolonial geprägten Kultur ließen in mir schon früh Fragen nach Gerechtigkeit und Zugehörigkeit aufkommen. Es blieb für mich eine lebenslange Sehnsucht, wieder zu meinen lateinamerikanischen Wurzeln zurückzukehren – einer Kindheit zwischen bayrischem und lateinamerikanischem Barock.
Mitte der 60er Jahre ging es zurück nach Deutschland, ins Rheinland, wo ich rechtsrheinisch im Hinterland von Bonn aufwuchs. Diese Zeit, nach der Rückkehr aus Perú, begann mit der Erfahrung, dass ich erst einmal richtiges Schul-Deutsch lernen musste und nach einem Jahr fünfte Volksschulklasse ins Mädchengymnasium „Sacre Coeur“ kam. Schule war nicht meine Leidenschaft, dafür aber das Kunstturnen, die rhythmische Sportgymnastik und das Theaterspielen. Besuche von Sonntagsmatineen im Ballett Bonn ließen den Traum, selber einmal zu tanzen oder gar als Künstlerin zu leben, immer wacher werden.
Die Olympischen Spiele 1972 in München entzündeten in mir ein regelrechtes Brennen für die Kunst. Bei diesen Spielen kam zum ersten Mal wieder der griechische Ursprungsgedanke der Verbindung von Kunst und Sport zum Tragen. Täglich hielt ich mich auf dem Gelände der sogenannten Spielstraße, von Werner
Ruhnau konzipiert, und der Bühne am See auf, wo die angesagtesten Off-Theatergruppen aus aller Welt experimentelles, zeitgenössisches Theater präsentierten. Aber die Kunst und der Sport wurden durch die tragische Geiselnahme im olympischen Dorf erschüttert.
Nach dem Abitur studierte ich von 1975 bis Anfang der 1980er Jahre an der Deutschen Sporthochschule in Köln (SpoHo), wo ich mich auf Bewegungstheater und Elementaren Tanz spezialisierte. Ich hatte mich nur sehr zögerlich an die Kunst herangetraut. Hier kreierte ich u.a. mein erstes, für mich sehr wichtiges Tanzsolo zu Vokalmusik von Lauren Newton. Ich fiel mit meinem Abschlussstück in Bewegungstheater erst einmal durch, da es zu eigenwillig war, nicht der Ästhetik und den Lehrinhalten entsprach. Ich merkte sehr schnell, dass mich meine Suche doch weiterführen würde, und so begann ich auf einem selbstgewählten Wegmeine „Ausbildung“ fortzusetzen.
An der SpoHo erhielt ich die Grundlagen für meine Unterrichtstätigkeiten – Graziela Padilla, Maya Lex sowie Anna und Wolfgang Tiedt waren meine geschätzten Dozent*innen! So kam es auch, dass ich sehr früh anfing zu unterrichten, noch vor meinem eigenen Kunstschaffen.
Die Akademien und Hochschulen waren weniger interessant. Ich war ein Kind der Off-Szene. Ich suchte mir die Lehrer und Lehrerinnen, die mich speziell interessierten, wie u.a. Jerzy Grotowski mit seinem legendären Theater in Wroclaw/Polen, der den Bühnenraum und die Aktion der Schauspieler*innen auf sehr eigene Weise neu definierte, sowie das Living Theater mit seinen radikalen, politischen Straßenaktionen, und ich lernte die Schauspielmethode nach Lee Strasberg kennen.
In die Zeit fiel auch der Beginn des Theaterzirkus Piccolini, dessen Mitbegründerin ich war – wir gehörten zu den Initiator*innen des neuen Straßentheaterzirkus in Deutschland.
Die Frauenbewegung der 1970er und 80er Jahre zog mich in ihren Bann. Meinen Weg zu gehen sah ich als selbstverständlich an, auch wenn es für uns Frauen oft doppelt so schwer war wie für unsere männlichen Kollegen, was mir bereits meine Mutter vermittelt hatte.
Die Besetzung der legendären Stollwerckfabrik in der Kölner Südstadt Ende der 1970er Jahre war der Beginn meiner eigenen künstlerischen Arbeit. Bis zum Ende der Stollwerckzeit 1987 habe ich mich fast täglich dort aufgehalten, hatte dort meinen Arbeitsbereich und habe für die unterschiedlichsten Räumlichkeiten Performances und Installationen kreiert, angetrieben von dem Zeitgeist, der damals herrschte. Neben Soloarbeiten waren es auch Projekte, bei denen ich andere Künstler*innen mit inszenierte – z.B. dort angesiedelte Musiker*innen. Dieses
Gelände bedeutete für mich fast grenzenlose künstlerische Freiheit in jeglicher Richtung – ich konnte frei experimentieren, habe inter- bzw. transdisziplinär und rein ortsspezifisch gearbeitet. So kam es auch, dass ich zu den ersten deutschen Künstler*innen im darstellenden Kunstbereich gehöre, die ausschließlich ortsspezifisch gearbeitet haben.
Selbst dieser so progressive Ort, das Stollwerck, war primär männlich geprägt, und es bedeutete für uns wenige Frauen, die dort angesiedelt waren, extra Einsatz und Durchsetzungsvermögen, sich gegen die männlichen Kollegen zu behaupten.
Diese Zeit, die von gesellschaftlichen Brüchen gekennzeichnet war, von Hausbesetzungen und politischen Kämpfen für Frieden und soziale Gerechtigkeit, war prägend für die Entwicklung der Freien Szene. Über längere Zeit war es ein sehr harter Weg, denn erst allmählich entstanden Fördersysteme, die unsere Arbeit kontinuierlich ermöglichten. So gehörte der kulturpolitische Kampf für mich immer zur künstlerischen Arbeit dazu.
Nach der Stollwerck-Zeit folgten mehrere Großprojekte, mehrere Großprojekte wie die Performances „Die Rose ist rot und flatterhaft. manchmal flatterhaft in seinen Erscheinungen...“ u.a. im Neptunbad Köln 1988, „Rhein...Rhein...Rhein...
ROT... zwischen Schöpfung und Erschöpfung...“ an und auf der Südbrücke Köln 1990 und „x-mal Mensch Stuhl“, eine AktionsInstallation/Fassaden-Inszenierung in Köln 1995 und danach in vielen internationalen Städten.
Seit 1997 arbeite ich mit meinem Partner Roland Kaiser künstlerisch zusammen. Unsere Arbeit bewegt sich an der Schnittstelle von performativer und bildender Kunst. Die vor-
Orte im privaten und öffentlichen Raum konzipierten Arbeiten werden bundesweit und international gezeigt. Unsere performativen Interventionen lassen neue Zusammenhänge entstehen, kondensieren die örtlichen Besonderheiten und setzen sie in Bezug zu gesellschaftlichen Phänomenen. Thematische Koordinaten sind das Verhältnis zwischen menschlichem Körper und Raum/Architektur sowie der Mensch in seinem kulturellen, sozialen, politischen und globalen Umfeld. Eine Einladung für Publikum und Passant*innen, einen neuen Blick auf vertraut Geglaubtes zu werfen, eine Ver-Rückung der Realität. An Akademien und Hochschulen vermitteln wir unseren Arbeitsansatz.
Seit vielen Jahren werden wir von der Stadt Köln konzeptionell gefördert und erhalten die Spitzenförderung des Landes NRW, wofür wir sehr dankbar sind.
www.angiehiesl-rolandkaiser.de
Das Titelbild dieser Ausgabe ist ein Foto der Performance FAT FACTS / Asa Astardottir aus dem Jahr 2017 in Köln.
Wenn Rainer Kippe auf eine Ungerechtigkeit stößt, ist mit ihm nicht gut Kirschen essen. Das ist auch in der Kölner Stadtverwaltung bekannt, wo der Aktivist mit Petitionen, Mahnwachen und Forderungen häufig vorstellig wird. Der gelernte Sozialarbeiter, der 1974 mit seinen Mitstreiter*innen die Sozialistische Selbsthilfe in Mülheim (SSM) mit begründet hat, setzt sich zur Zeit für die fünfköpfige Familie Winands ein, die Ende Januar wegen einer Zwangsräumung zunächst in einem Obdachlosenhotel am anderen Ende der Stadt untergebracht werden sollte. Seit vor dem Kölner Verwaltungsgericht nun in einem Eilverfahren beschlossen wurde, dass das „unzumutbar“ sei, kämpft die Familie umso mehr für adäquaten Wohnraum. In der Zwischenzeit hat Kippe sie in einer Interimswohnung unterbringen können, die nicht allzu weit von Schule und Kindergarten entfernt ist.
I n TE r VIEW: CH r ISTI n A BACHE r
DR aussenseiteR: Einer Kölner Familie mit fünf Kindern –eins davon mit einer Behinderung, das besondere Betreuung braucht – wurde mit Zwangsräumung gedroht, dann wurde diese tatsächlich durchgeführt. Die Familie sollte in einem Hotel für Obdachlose in Ehrenfeld untergebracht werden – unzumutbar weit weg von Kindergarten und Schule der Kinder. Aufgrund des Protests vieler KölnerBürger*innen und mit (juristischer) Unterstützung des SSM, den du vertrittst, kam es Mitte Januar zu einem Eilverfahren am Kölner Verwaltungsgericht, das diese Unterbringung als „unzumutbar“ bezeichnete. Was genau ist das Neue an dem Urteil? Es stellt einen Präzedenzfall dar und könnte Einfluss auf die Unterbringung von Kölner Obdachlosen allgemein in dieser Stadt haben. Rainer Kippe: Du fragst nach der Bedeutung dieses Urteils. Da muss ich erst mal nach den gesetzlichen Grundlagen fragen. Für die Unterbringung von Obdachlosen gibt es eine Vorschrift im sogenannten „Ordnungsbehördengesetz NRW“. In § 14 Absatz 1 heißt es da: „(1) Die Ordnungsbehörden können die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren.“ Auf diese Rechtsvorschrift stützt sich die Unterbringung von Obdachlosen. Wie geht das? Nun, der Jurist sieht das so: Obdachlosigkeit ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Sie ist mithin „ordnungswidrig“. Der Obdachlose gilt als „Störer“ der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, so wie einer, der z.B. seinen Wagen ins Halteverbot stellt.
DRaussenseiteR: Obdachlosigkeit müsste demnach also von den Ordnungsbehörden beseitigt werden …
Rainer Kippe: Genau. Ja, die Ordnungsbehörden, das ist in Köln die Stadtverwaltung, sind demnach verpflichtet, Obdachlose von den Straßen zu holen. Dabei muss die Stadt aber die Grundrechte der Menschen beachten.
Sie darf deren Menschenwürde nicht verletzen. Wie das gehandhabt werden muss, bestimmen die Gerichte in vielen Einzelfällen. Die Verwaltungsgerichte in den Städten und das Oberverwaltungsgericht in Münster, welches für Köln zuständig ist. Die Unterbringung muss „menschenwürdig“ sein. Das gebietet der Artikel 1 des Grundgesetzes („die Würde des Menschen ist unantastbar“).
DRaussenseiteR: Ist „menschenwürdig“ nicht irgendwie Auslegungssache?
Rainer Kippe: Eben drum hat es sich die Stadt Köln das in der Vergangenheit ziemlich einfach gemacht, denn das Minimum, was einem Menschen zugemutet werden darf, ist ziemlich niedrig angesetzt. Die Rechtsprechung spricht von von „Schutz vor den Unbilden der Witterung“ sowie von „Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse“. Da müssen die Menschen zusammenrücken und auch mit der Unterbringung in einer „Sammelunterkunft“ zufrieden sein. Schlafsäle oder Mehrbettzimmerwie in der Vorgebirgstraße und in den „Vertragshotels“ der Stadt Köln, schlafen mit Drogenkranken oder psychisch Kranken in einem Raum, mit 3, 4, 5, 6 anderen Obdachlosen, jede Stunde geweckt, jede Nacht beklaut werden – das ist die Hölle für jeden, der es einmal mitgemacht hat, aber es ist im reichen NRW durchaus legal und üblich. Abschließbare Einzelzimmer für jeden Obdachlosen, das hat der Rat vor einem Jahr zwar beschlossen, die Regel ist es aber immer noch nicht.
DRaussenseiteR: Okay, verstanden. Zurück zu dem aktuellen Urteil, das die Familie Winands betrifft … Rainer Kippe: Jetzt komme ich zu dem Urteil: „Die Grenze zumutbarer Einschränkungen“ – so führt es das Verwaltungs- gericht Köln im vorliegenden Fall aus, „liegt allerdings dort, wo die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung nicht eingehalten sind.“ Und hier haken die Richter*innen ein. Denn für Juristen kommt es immer auf den Einzelfall an. „So kann“ – formuliert das Gericht ganz vorsichtig – durchaus in „Ausnahmefällen“ selbst auch bei Einzelpersonen ein Anspruch auf Versorgung mit einem Raum, der der Betreffenden für sich allein zur Verfügung steht, bestehen“. „Liegen“– so urteilt das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster in einem Fall aus dem Jahre 2016 – „besondere Umstände wie etwa Alter, körperliche und psychische Erkrankungen sowie Pflegebedürftigkeit vor, bedarf es einer einzelfallbezogenen Prüfung, ob eine grundsätzlich zur Unterbringung von Obdachlosen geeignete Unterkunft auch für den jeweiligen Antragsteller zumutbar ist.“
DRaussenseiteR: Zumutbarkeit ist ja auch Auslegungssache … Rainer Kippe: Das stimmt zwar, aber dass das Verwaltungsgericht Köln in der Sache Winands hier ein dickes Fragezeichen hinter die „Zumutbarkeit“ der „Unterkunft“ in Ehrenfeld macht, ist tatsächlich das „Bahnbrechende“ an der Entscheidung, weil ein Gericht zum ersten Male einhakt in diesem wesentlichen Punkt. „Darüber hinaus muss die zugewiesene Unterkunft den schutzwürdigen Belangen von minderjährigen Kindern Rechnung tragen und nach ihrem Zuschnitt Rückzugsmöglichkeiten für einzelne (erwachsene) Familienangehörige bieten.“
DRaussenseiteR: Viele obdachlose Menschen werden in Köln ja in Hotels untergebracht, mit denen die Stadt einen Vertrag geschlossen hat. Die sind zwar eigentlich als kurzfristige Lösung gedacht, die Leute sind da jedoch häufig lange Zeit – manchmal Jahre – untergebracht. In dem Urteil ging es jetzt interessanterweise auch um die Dauer dieser Unterbringungen …
Rainer Kippe: Ja, das ist der nächste Punkt, den sich das Verwaltungsgericht vorgeknöpft hat: die Dauer der Unterbringung Damit hat das Kölner Gericht einen neuen Punkt in die rechtliche Betrachtung eingeführt. Kurz gesagt: Was für die Unterbringung in der ersten Not gelten mag, wo es tatsächlich darum geht, Menschen vor der Witterung und den Gefahren der Straße zu schützen, gilt nach der Meinung der Kölner Richter*innen nicht für einen Daueraufenthalt. Das leuchtet jedem unbefangenen Betrachter unmittelbar ein, wurde aber in den bisherigen Entscheidungen, soweit sie uns zugänglich sind, nie berücksichtigt. Hier schreibt das VG Köln wohl Rechtsgeschichte – wenigstens in NRW, denn sie sagen, dass „die Antragsgegnerin (das ist die Stadt Köln) selbst davon ausgeht, dass die Antragstellerin (das ist die Familie Winands) wahrscheinlich längerfristig untergebracht werden“ müssee. Und dazu forscht das Gericht in den E-Mails der Stadt Köln, was bedeutet, dass das Gericht einen Blick in die städtischen Akten geworfen hat, die es sich hat vorlegen lassen. Hier wurde aufmerksam und sorgfältig gearbeitet. Das zeichnet das Urteil weiter aus.
DRaussenseiteR: Dass Menschen in angemieteten Hotels untergebracht werden, die teilweise heruntergekommen und fast unbewohnbar sind, ist euch vom SSM schon lange ein Dorn im Auge. Meines Wissens wurde das in Köln zwar schon lange so gehandhabt, aber es hat kaum einer Anstoß daran genommen.
Rainer Kippe: Die Stadt Köln beschränkt sich beim Angebot für obdachlose Menschen auf ihre eigenen Gebäude und auf die „Hotels“, mit denen sie Verträge unterhält – nach Angebot und Kosten ein Extra-Skandal, den in Köln außer dem SSM tatsächlich noch niemand aufgegriffen hat. Das Verwaltungsgericht hingegen ist der Auffassung, dass die Stadt Köln im Falle der Obdachlosigkeit geeignete Unterbringung in der ganzen Stadt, bei allen Hotels und auch auf dem
Die Zwangsräumung der Familie Winands am 17. Januar 2023 aus ihrer Wohnung in Köln-Gremberghoven geschah vor den Augen der Öffentlichkeit. Aktivist*innen wie Kalle Gerigk (im Foto oben an der Tür) versuchten die Räumung zu verhindern, die von einem Gerichtsvollzieher angeordnet worden war. Die Aktion wurde von einem hohen Polizeiaufgebot begleitet, lief jedoch friedlich ab.
Nach der Räumung zog die 34-jährige Mutter mit ihren Unterstützerinnen und Unterstützern, darunter der Kabarettist Jürgen Becker und der Journalist Martin Stankowski, zum Historischen Rathaus. Oberbürgermeisterin Henriette Reker war nicht zu sprechen, so stand wenig später Sozialdezernent Harald Rau Rede und Antwort.
SSM Rainer Kippe (rechts) und Reentje Streuter von der Sozialberatung der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim verlasen auf dem Alter Markt vor dem Rathaus den Beschluss des Verwaltungsgerichts: „Wenn der Antragsgegnerin keine geeignete, öffentlich-rechtlich gewidmete und von ihr betriebene Obdachlosenunterkunft zur Verfügung steht, hat sie grundsätzlich sämtliche in Betracht kommenden Maßnahmen zur Gefahrenabwehr in den Blick zu nehmen.“
Kommentar von Rainer Kippe (SSM)
Unabhängig von der formellen Lösung muss sich unsere städtische Sozialpolitik grundlegend ändern.
Friederike Bender Ber Lucian
freien Wohnungsmarkt suchen muss. Es sagt wörtlich: „Die Auswahl eines geeigneten Mittels darf von Rechts wegen nicht von vorneherein auf die in der beschriebenen Form zur Verfügung stehenden Unterbringungsmöglichkeiten beschränkt werden.“
Und es weist auf einen anderen, für die Jurist*innen selbstverständlichen, für Laien aber bahnbrechenden und für die Stadt Köln schwer zu akzeptierenden Umstand hin: „Welche Kosten hierdurch entstehen, ist rechtlich unerheblich.“ Das heißt, die Fachstelle Wohnen ist seit der Kündigung der Familie Winands Anfang letzten Jahres verpflichtet, in ganz Köln, bei allen Hotelangeboten und auch auf dem freien Wohnungsmarkt, nach einer geeigneten Wohnung für die Familie Ausschau zu halten.
DRaussenseiteR: Und wie sieht das die Stadt Köln? Sozialdezernent Rau war ja persönlich bei der Räumung dabei, und auch nach der Kundgebung am Rathaus einige Tage später habt ihr ihn mit dem Gerichtsurteil konfrontiert.
Rainer Kippe: Dr. Rau hat am Räumungstag, als wir mit der Familie vors Rathaus zogen, vor laufenden Kameras der Frau Winands den Vorwurf gemacht, sie habe ihre Miete nicht bezahlt. Sie musste sich öffentlich rechtfertigen mit dem Hinweis: „Nicht ich habe die Miete nicht bezahlt, sondern das JobCenter.“ Außerdem hat er öffentlich Tatsachen mitgeteilt, die er nur aus den Akten haben kann. Das ist nicht nur ein schwerer Verstoß gegen die Regeln der Verwaltung und der Sozialen Arbeit, das ist auch strafbar, und deswegen hat Frau Winands ihn auch bei der Staatsanwaltschaft Köln wegen Verrat von Privatgeheimnissen angezeigt. Ordnungsrechtlich ist es im Übrigen völlig unerheblich, aus welchem Anlass die Familie obdachlos geworden ist und wer die Schuld dafür trägt. Die Stadt als Ordnungsbehörde muss die Obdachlosigkeit ohne Ansehen der Person oder des Räumungsgrundes beseitigen. So viel Ordnungsrecht müsste einem Sozialdezernenten und einem städtischen Presseamt bekannt sein.
DRaussenseiteR: Und wie geht es dann weiter?
Rainer Kippe: Die Sozialberatung des SSM hat Frau Winands geholfen, einen Antrag an das Gericht zu stellen, wonach das Gericht die Stadt auffordern soll, dem Gerichtsbe- schluss nachzukommen und ihr im Falle der Weigerung ein Bußgeld auferlegt. Auf die Stellungnahme der Stadt sind wir gespannt. Sollte das Gericht seinen eigenen Beschluss bestätigen und der Stadt ein Bußgeld auferlegen, dann wäre der Skandal perfekt. Gespannt sein dürfen wir auch auf die Entscheidung von Sozialdezernent Raus Rechtsabteilung, ob sie nun doch noch gegen den Beschluss des VG Köln beim OVG Münster Beschwerde einlegen will. Viel Zeit hat sie in einer Eilsache wohl nicht.
DRaussenseiteR: Und wo lebt die Familie jetzt? Gehen die Kinder wieder zur Schule?
Rainer Kippe: Nach der Räumung war sie für drei Tage in einem Kölner Hotel zu Gast, dann kam sie in einem kleinen Appartement in Porz in ihrer gewohnten Umgebung unter, welches uns Unterstützer zur Verfügung gestellt haben –ohne Kosten und ohne zeitliche Begrenzung. Am Montag waren die Kinder bereits wieder in Schule und Kita. Jetzt suchen wir nach einer geeigneten Wohnung. Auch die Therapie des behinderten Sohnes läuft weiter. Von hier aus wird für die Familie eine geeignete Wohnung im Umfeld gesucht. Die Familie hat das Nötigste, die Möbel etc. sind derzeit untergestellt.
DRaussenseiteR: Welche Auswirkungen wird der Fall Winands auf die Politik dieser Stadt haben?
Rainer Kippe: Je nachdem, was Stadt und Gericht in den nächsten Wochen vorlegen, wird der Beschluss der 22. Kammer des VG Köln erheblichen Einfluss auf die Obdachlosenunterbringung der Stadt Köln haben, denn der Beschluss erklärt weite Teile der jetzigen Unterbringungspraxis für illegal. So wie zu Zeiten des legendären Wohnungsamtschefs Uwe Kessler (Rainer Kippe arbeitete bei ihm 1975 als Praktikant der Sozialarbeit. Anm. d. Red.), wird die Stadt Köln dann nicht mehr nur wie jetzt bis zum Tage der Räumung zuschauen dürfen. um dann die Geräumten in ihren Billig-Hotels für sündhaftes Geld (40 Euro pro Nacht) in Mehrbettzimmern unterbringen. Sondern sie wird, wie vor 30 Jahren üblich, am Räumungstag mit Wohnungsangeboten, Lagerraum und Kinderbetreuung bereitstehen. Auch wird die Stadt vermehrt und zeitnah Räumungen durch Übernahme der Mietkosten verhindern, wozu sie sich ohnehin verpflichtet hat. Dies auch, weil nach einer Erfahrungsregel die Resozialisierung eines Menschen, der erst einmal auf der Straße gelandet ist, z.B. durch Housing First, zehn Mal teurer ist als die Verhinderung der Räumung durch die Übernahme von Mietschulden.
DRaussenseiteR: Danke für das Gespräch.
Die Stadt braucht wieder ausreichend Belegwohnungen bei GAG und Genossenschaften, so wie das vor 30 Jahren noch der Fall war, und sie braucht auch wieder Wohnungen in Übergangshäusern für die ganz harten Fälle, die es ja auch gibt. Es muss aufhören, dass die Sozialverwaltung, statt Wohnungen und Betreuung anzubieten, das Problem auf die Straße verlagert und die Menschen der privaten Fürsorge überlasst. Das ist auch verfassungswidrig, weil beim jetzigen Zustand die Menschenrechte der Obdachlosen sowie der von Obdachlosigkeit Bedrohten in erheblichem Ausmaß verletzt werden.
Es ist ja nicht zu übersehen, dass die große Mehrheit der Menschen, die auf der Straße sind, psychisch oder körperlich krank ist beziehungsweise alkohol- und drogenkrank. Für diese Menschen muss es betreute Einrichtungen geben mit Sozialarbeiter*innen, Pfleger*innen, Ärzt*innen. Aus Spenden finanzierte private Hilfen wie Gulliver am Hbf oder die ARCHE am Bergischen Ring am Wiener Platz genügen in einem Sozialen Rechtsstaat, wie ihn das Grundgesetz vorsieht, wohl kaum. Wir haben in den 1980er Jahren die Psychiatrien aufgemacht, jetzt sitzen die Patienten auf der Straße. Das kann nicht sein. Dass diese bekannten und immer weiter anwachsenden sozialen Probleme ins Ordnungsrecht verschoben werden, ist auch rechtlich ein Skandal, der alle Juristen und alle Organe der Rechtspflege aufwecken sollte.
Wir verlangen, dass die Stadt Köln für alle Menschen, die in den Hotels oder in provisorischen Unterkünften wie der Gummersbacher Straße 25 (OMZ) vor sich hindämmern, Wohnungen anmietet, die finanziert werden aus den eingesparten Hotelmieten von 40 Euro pro Person und Nacht – bei einem Vierbettzimmer sind das bis zu 160 Euro pro Nacht, pro Monat und Zimmer also bis zu 4.800 Euro. Und dass die Stadt langfristig auch wieder selber Wohnungen baut. Aus der Mietdifferenz kann man dann noch die Betreuung und Resozialisierung bezahlen.
Lucian lebte seit etwa drei Jahren in Deutschland. Er hatte Familie, die bereits in Deutschland war, und hat dann über Vermittlung seines Bruders eine Arbeit als Hilfskraft auf einer Baustelle gefunden. Mit seinem Arbeitseinkommen gelang es Lucian ein kleines Zimmer anzumieten. Aufgrund einer Kündigungswelle verlor er seine Arbeit und konnte somit auch sein Zimmer nicht mehr halten. Er bemühte sich, andere Arbeit zu finden, dies gestaltete sich jedoch als schwierig. Aufgrund der beengten Wohnverhältnisse war ein Unterkommen bei seiner Familie nicht möglich. Außerdem war ihm seine Situation sehr unangenehm und er wollte niemandem zur Last fallen. Die Übernachtung in einer Notschlafstelle lehnte er ab, da ihm dort zu wenig Privatsphäre und zu viele Konflikte waren, außerdem hatte er Angst vor Diebstählen und Krankheiten.
Lucian zog in den Wald. Er baute sich in einem kleinen Waldstück in der Nähe von Holweide in wochenlanger Kleinarbeit eine kleine Holzhütte aus Ästen und Stöcken. Abgehängt mit Planen gegen den Regen und mit grünen Zweigen geschützt vor allzu vielen Blicken von Spaziergänger*innen, begann er, sich dort ein wenig „häuslich“ mit dem Nötigsten einzurichten, und schuf sich so seinen eigenen kleinen Rückzugsort. Seinen Lebensunterhalt verdiente er fortan mit dem Sammeln von Pfandflaschen, hierfür organisierte er sich extra ein altes, klappriges Fahrrad, mit dem er stadtweit alle Mülleimer anfuhr.
Ich wurde auf Lucian über das Ordnungsamt aufmerksam. Man hatte die Hütte im Wald im Rahmen einer Streife entdeckt. Lucian war sehr krank und in einem schlechten körperlichen Zustand, als das Ordnungsamt ihn antraf. Es dauerte eine Weile, bis ich die gut versteckte Hütte von Lucian im Wald fand. Als ich Lucian antraf, war er sehr stark abgemagert, konnte nicht mehr stehen oder laufen und lag bereits seit mehreren Wochen nur noch auf seiner Pritsche in der Hütte. Er klagte über sehr starke Schmerzen in den Beinen. Versorgt wurde er von seinem Bruder, der ihm alle paar Tage Lebensmittel in den Wald brachte. Die Hütte war sehr verdreckt, da Lucian körperlich nicht mehr in der Lage war, sie sauber zu halten. Es war sehr deutlich, dass er sich in einem potenziell lebensgefährlichen Zustand befand und dringend ins Krankenhaus musste. Auf meine Frage, warum er oder sein Bruder nicht schon früher einen Krankenwagen gerufen hätten, antwortete er, er habe sich Sorgen um möglicherweise anfallende Kosten gemacht, da er aktuell über keine Krankenversicherung in Deutschland verfügte. Ich alarmierte einen Krankenwagen. Es gestaltete sich schwierig, Lucian aus dem Wald zu transportieren. Eine normale Krankentrage konnte aufgrund des unwegsamen Waldgeländes nicht zum Einsatz kommen. Die Rettungssanitäter alarmierten die Feuerwehr, die Lucian schließlich in einem Bergungssack mit schs Feuerwehrmännern aus dem Wald trug. Er wurde sofort in das Krankenhaus eingeliefert. Mehrere Tage später rief mich der behandelnde Arzt an und machte deutlich, dass Lucian sehr starke Wassereinlagerung in den Beinen habe und dringend operiert werden müsse. Da er in Deutschland noch nicht lange genug versicherungspflichtig gearbeitet und somit keinen Anspruch auf Sozialleistungen hatte, verfügte er auch über keine Krankenversicherung, die in seinem Fall die OP-Kosten übernehmen würde. Lucian wurde in dem Krankenhaus mehrere Tage versorgt und dann in die Notschlafstelle entlassen. Dort verbrachte er eine Nacht und ging am nächsten Tag zurück in seine Waldhütte.
Drei Tage nach seiner Krankenhausentlassung rief mich erneut das Ordnungsamt an. Lucian war allein in seiner Hütte im Wald verstorben.
FRIEDERIKE BENDER ist Streetworkerin in der OASE und vor allem für den Bereich humanitäre Hilfen zuständig. Sie spricht unter anderem rumänisch und bulgarisch und berichtet im DRAUSSENSEITER ab sofort regelmäßig über ihre Arbeit.
Auch M Nner Werden Geschlagen
Gewalt an Männern ist noch immer ein Tabuthema. Ein Psychologe und Psychotherapeut berichtet von seiner Arbeit bei der Bielefelder Männerberatungsstelle „man-o-mann“. Er ist Teil eines multiprofessionellen Teams, das seit April 2020 an der Strippe von Deutschlands erstem Männerhilfetelefon sitzt.
gehört wurden“, sagt der Männertherapeut. Als wichtigstes Kriterium für das neue Angebot haben die Expert*innen einhellig die Niedrigschwelligkeit genannt. „Die Hürde, sich Hilfe zu holen, ist bei Männern per se viel, viel höher als bei Frauen. Das darf das Angebot mit seiner Struktur nicht verstärken. Deshalb galt: keine Wege, keine Kosten, kein Risiko“, erläutert Süfke.
fällt es schwerer zuzugeben, dass sie derjenige waren, der am Boden lag, als derjenige, der zugeschlagen hat. Wehrlos zu sein ist für die meisten unmännlich“, erzählt Süfke. Für männliche Opfer von Gewalt, erst recht, wenn sie ihnen von Frauen angetan wurde, kommt neben dem eigentlichen körperlichen und seelischen Schmerz immer noch ein Identitätskonflikt mit der eigenen Geschlechterrolle hinzu.
Alexander ist einer, dem Frauen hinterherschauen. Und einer, der was zu sagen hat. Er ist der Assistent des Geschäftsführers in einem größeren Logistikunternehmen. Oft arbeitet er mehr als 50 Stunden in der Woche. Und geht vor oder nach dem Büro noch ins Fitnessstudio. Verheiratet ist er auch. Mit Lisa-Marie. Alexander ist einer, bei dem niemand auf die Idee kommen würde, dass er häusliche Gewalt erfährt. Genauso ist es aber. Lisa-Marie kontrolliert ihn. Filzt sein Handy, durchwühlt seine Sachen, horcht gemeinsame Freunde aus, checkt den Verlauf des Navis im Auto und versteckt den Türschlüssel, wenn sie ihn nicht aus der Wohnung lassen möchte. Sie wird sogar gewalttätig. Wirft mit Sportschuhen nach ihm, zertrampelt seine Modellbau-Flugzeuge und schlägt blindlings um sich – das alles begleitet von wüsten Beschimpfungen.
Arbeitssucht als Kompensationsversuch
Alexander und Lisa-Marie gibt es nicht. Sie sind ein Beispiel für die Konflikte, mit denen Björn Süfke tagtäglich zu tun hat. Der Psychologe und Psychotherapeut arbeitet in der Bielefelder Männerberatungsstelle „man-o-mann“ und weiß: „Männer, die zu Hause Gewalt erleben, überperformen oft im Außen und versuchen so, ihr Leid zu kompensieren.“ Zusammen mit seiner Beratungsstelle ist er Teil eines multiprofessionellen Teams, das seit dem 22. April 2020 an der Strippe von Deutschlands erstem Männerhilfetelefon sitzt. „Das Männerhilfetelefon ist im Grunde genommen nichts anderes als der kleine Bruder des Hilfetelefons für Frauen, das es schon lange gibt“, erklärt Süfke.
Ins Leben gerufen wurde das Angebot vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales und vom Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen.
Seit dem 1. April 2021 beteiligt sich auch das Land Baden-Württemberg mit einer finanziellen Förderung daran. Neben der Beratungsstelle „man-o-mann“, die von nordrhein-westfälischer Seite am Projekt beteiligt ist, engagieren sich für Bayern die Beratungs- und Clearingstelle der AWO Augsburg und für Baden-Württemberg die Sozialberatung Stuttgart. Das Männerhilfetelefon versteht sich als Angebot für jeden, der in irgendeiner Form eine Verletzung seiner körperlichen oder seelischen Grenzen erlebt und erlitten hat oder noch immer in so einer Situation gefangen ist.
„Den Gewaltbegriff fassen wir sehr weit auf. Für uns ist das Leid entscheidend, das der Einzelne hat, und die Unterstützung, die nötig ist. Alles, was einen weiterhin umtreibt oder nicht zur Ruhe kommen lässt, kann Anlass für einen Kontakt zu uns sein“, führt Süfke aus.
Auch Frauen gehen ans Männerhilfetelefon
Die Gründung vor etwas mehr als zweieinhalb Jahren sei mit den verantwortlichen Politikerinnen und Politikern Hand in Hand gegangen, berichtet Süfke. „Das war ein guter Prozess, in dem Praxisstellen intensiv gefragt und
Die Hürde, sich Hilfe zu holen, ist bei Männern per se viel, viel höher als bei Frauen. Das darf das Angebot mit seiner Struktur nicht verstärken. Deshalb galt: keine Wege, keine Kosten, kein Risiko ...
Das Männertelefon ist zwar in erster Linie eine Hotline, bietet aber auch kostenlose und anonyme Beratung via E-Mail und Live-Chat an. Im Vergleich zu seinem Pendant für Frauen ist es noch deutlich spärlicher ausgestattet. „Wir können kaum Beratung für fremdsprachige Männer anbieten, sind meistens auf einer, maximal auf zwei Leitungen erreichbar und am Wochenende gar nicht da. Das ist alles noch ausbaufähig, aber dass es uns überhaupt gibt, ist ein erster Schritt, mit dem ich – ganz ehrlich – so schnell nicht gerechnet hätte“, fasst Süfke zusammen.
Als Berater*innen sind beim Männerhilfetelefon auch Frauen tätig, denn Männer erfahren weit häufiger Gewalt durch andere Männer als in der Partnerschaft mit einer Frau. „Bei uns melden sich Homosexuelle, die von Homophoben mit dem Tod bedroht werden, Männer, die als Kind von den Mitschülern gemobbt, vom Vater geprügelt oder vom Trainer missbraucht wurden, und auch Männer, die von den älteren Männern ihrer Großfamilie zu einer Zwangsheirat gedrängt werden“, beschreibt Süfke das Spektrum der Hilfesuchenden und ergänzt, dass eine Frau am anderen Ende der Leitung „da manchmal geeigneter ist“. Überproportional viele Anrufer wenden sich aber mit Erlebnissen von häuslicher Gewalt in der Partnerschaft an Süfke und seine Kolleginnen und Kollegen. Etwa 60 Prozent der Klienten berichten davon. „Ich glaube, hier zahlt sich unsere Niedrigschwelligkeit aus. Den meisten Männern
Von der Hälfte des Menschseins abgeschnitten Gerade bei den Männern, die Gewalt in der Partnerschaft mit einer Frau erleben, geht es zunächst mal darum, ihnen Glauben zu schenken. „Manche haben sich wegen schlimmen Misshandlungen an die Polizei gewandt – und wurden ausgelacht“, erzählt Süfke. Ansonsten besteht seine Aufgabe hauptsächlich darin, sich auszukennen und gut vernetzt zu sein. „Wir sind eine erste Anlaufstelle, der es hoffentlich gelingt, Vertrauen ins Hilfesystem zu schaffen.“ Je nach Problemlage verweist Süfke die Männer dann weiter – zum Beispiel an Selbsthilfegruppen, Suchtberatungsstellen oder Psychotherapeut*innen.
Langfristig sieht Süfke aber nur eine Lösung in gesamtgesellschaftlichem Umdenken. „Auch wenn es da in Bildungskonzepten für Kindergarten- und Schulkinder schon gute Ansätze gibt, müssen wir viel mehr dahin kommen, dass als Lebensentwurf alles für jeden möglich ist. Jemanden auf seine traditionelle Geschlechterrolle zu reduzieren, schneidet ihn von der Hälfte seines Menschseins ab und verwehrt ihm unzählige Möglichkeiten. Das ist ungesund und macht krank“, untermauert Süfke seinen Appell.
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Trott-war / International Network of Street Papers
BJÖRN SÜFKE arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten mit problembelasteten Männern. Direkt nach dem Studium hat er in einer Männerberatungsstelle angefangen. Heute sitzt er auch am Hörer von Deutschlands erstem Männerhilfetelefon.
Blutmond
Was wäre die Krimiszene ohne Harry Hole? Wie kämen die Ermittler*innen in Oslo bloß ohne ihn klar? Er muss wieder her, dieser trunkene, versoffene, an Leib und Seele kaputte Außenseiter, der gerade dabei ist, sein letztes Hemd an der Theke einer Spelunke in Los Angeles zu versaufen. Als einzige Begleiterin Lucille, eine alternde verkommene Diva, die gut und gerne seine Mutter sein könnte. Nicht ein Penny bleibt ihm mehr, da kommt der Hilferuf aus Oslo gerade recht. Dort sind etwa zeitgleich zwei junge Frauen ermordet worden – auf bestialische und gleichzeitig unglaublich wahnsinnige Art. Ermittlerin Katrine Bratt braucht die Hilfe von Harry Hole. Denn niemand sonst kennt sich so im Aufspüren von Serientätern aus wie ihr ehemaliger Kollege. Doch die oberen Chargen, angefangen vom Chef bis hin zum Justizminister, wollen davon nichts wissen. Und Harry hat ein Problem. Er braucht dringend fast eine ganze Million Dollars, um Lucilles Haut zu retten. Seine Saufkumpanin hat sich mit den falschen Leuten eingelassen. Und die drohen nun, sie hopsgehen zu lassen, wenn nicht innerhalb einer kurzen Frist das Geld eintrudelt. Also macht sich Harry Hole auf den Weg nach Oslo, wo ihm ein Bonze, der der Morde an den jungen Frauen verdächtigt wird, genau die Summe bietet, die er für den Freikauf von Lucille benötigt. Seine einzige Aufgabe: den Täter finden. Pech für den reichen Gönner ist allerdings, dass er als Erstes in den Dunstkreis der Verdächtigen gerät. Das Team, das Harry Hole sozusagen als Konkurrenz zu den ermittelnden Polizeibeamt*innen um sich scharrt, ist wenig ansehnlich: ein im Sterben liegender Psychologe, an dessen Krankenbett die Teamsitzungen abgehalten werden. Ein korrupter Polizist, der allerdings Zugang zu den Polizeidaten hat. Und ein kokaindealender ehemaliger Schulkamerad, der sich in der Szene sehr gut auskennt. Trotz aller Widrigkeiten und obwohl die parallel ermittelnden Polizist*innen ihnen Stein über Stein in den Weg legen, kommen die kuriosen Gestalten um Harry Hole gut voran. Hole hat sich eine strenge Trinkdiät auferlegt, an die er sich hält. Immer unterbrochen durch seine Trauer um die Ermordung seiner geliebten Rakel, um die Erkenntnis, dass er einen Sohn hat. Und einen ehemaligen Freund, der dies nicht ertrug. Mit sicherer Hand führt uns Jo Nesbø wieder einmal in die kaputte Welt des Harry Hole. Man traut ihm eigentlich nichts mehr zu, er will sich zu Tode saufen. Und plötzlich, um Lucille freizukaufen, findet er wieder zu alter Größe und scharfem Verstand zurück. Durch alle Wirren und Widrigkeiten geleitet uns
Autor Jo Nesbø, der sein Handwerk versteht wie kaum ein anderer.
Ingrid Müller-Münch
Jo Nesbø: Blutmond. Harry Hole ermittelt.
Ullstein 2022, 25,90 Euro.
ISBN 978-3-55020-155-4
Denn Coben scheut sich nicht, das Terrain zu wechseln und sich der Cloud zu widmen, den Influencer*innen und Hacker*innen ebenso wie geheimen Online-Organisationen. Etwa der Online-Gruppe Boomerang, spezialisiert darauf, Online-Trolle und Mobber ausfindig zu machen und die Schlimmsten von ihnen zu bestrafen.
HARLAN COBEN
Was im Dunkeln liegt
Wilde weiß nicht, woher er kommt. Als kleines Kind wurde er in den Wäldern der Appalachen ausgesetzt, von wem auch immer. Dort überlebte er, indem er in Ferienhäuser einbrach, sich von den gehorteten Konserven ernährte.
Irgendwann wurde er entdeckt, kam in eine Pflegefamilie, sorgte als das wilde Waldkind amerikaweit für Schlagzeilen. Nun ist er erwachsen, Privatdetektiv und in zweiter Krimi-Folge präsent. Aus einer Laune heraus hat er seine DNA in eine Website eingegeben, die auf die Forschung nach Familienangehörigen spezialisiert ist. Unerwartet wird ein Treffer gelandet. Alter, Geschlecht und die hohe Übereinstimmung zeigen, dass ein unter DC registrierter Mann sein Vater zu sein scheint.
Wilde sucht den Mann auf, der reagiert erstaunlich verwirrt, Wilde insistiert nicht, verkrümelt sich wieder, zieht sich in seine hyper-hightechmäßig ausgestattete Waldbehausung zurück. Ohne zu ahnen, was er durch seine schlichte Suche ausgelöst hat. Harlan Coben, in diesem Fall im Cyberspace.
„Sie haben Selbstjustiz geübt“, sagte Wilde. Chris wiegte den Kopf. „Ich sehe es eher so, dass wir versucht haben, in einem bisher gesetzlosen Bereich die Ordnung einzuführen. Unser Rechtssystem ist noch nicht im Internet angekommen. Noch ist die Online-Welt der Wilde Westen der Gegenwart. Es gibt keine echten Regeln oder Gesetze, nur Chaos und Verzweiflung. Deshalb haben wir als eine Gruppe seriöser Menschen mit ethischen Werten versucht, ein Mindestmaß an Recht und Ordnung zu etablieren. Unsere Hoffnung war, dass neue Gesetze und Normen uns irgendwann einholen und dann überflüssig machen würden.“
Was das alles mit ihm zu tun hat, muss Wilde auf eine schmerzliche, ja lebensbedrohliche Weise erfahren. Eine Zeitlang gerät er gar in Verdacht, die sich anhäufenden Morde verübt zu haben. Muss mühsam lernen, dass es in Reality-Shows so gar nicht um die Wirklichkeit geht, dass sich Fakes und Glamour mit dem tatsächlichen Leben vermischen. Und letztlich nur das zählt, was die Fans in miesen SocialMedia-Accounts liken und followen. Eine hinreißende Story, mag sie nun Fake, Fiktion oder Realität sein. Cobens Serienheld Myron Bolitar, der einstige Basketballstar und spätere Rockagent mit detektivischen Ambitionen, hat abgedankt. Und das Zepter an Wilde weitergegeben. Protagonist eines Autors, der längst mit allen Ehrungen des Krimigenres ausgezeichnet wurde. Und der ein Meister der Ironie, der Wortspiele, der fetzigen Antworten und launigen Dialoge ist. Der von Anfang an wie ein Marionettenspieler alle Fäden hält, um genau im richtigen Moment den entscheidenden Strang zu ziehen.
Ingrid Müller-Münch
Harlan Coben: Was im Dunkeln liegt. Goldmann 2022, 16 Euro.
ISBN 978-3-44220-631-5
Christina Bacher (Hrsg.)
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Köln im sozialen Lockdown
Wie erleben Obdachlose die Corona-Pandemie in Köln? Wie geht eine Großstadt mit dem Lockdown um, wenn nicht alle zu Hause bleiben können? Was, wenn Armut in einer Stadt plötzlich deutlich sichtbarer wird? Haben sich Strukturen des Hilfesystems verändert?
Und: Hat sich durch die Krise vielleicht sogar etwas zum Guten gewandt für diejenigen, die sonst durchs Raster fallen? Mit eben diesen Fragen hat sich Deutschlands ältestes Straßenmagazin DRAUSSENSEITER beschäftigt und nun eine Auswahl an Texten und Fotos zusammengestellt, teilweise von Betroffenen selbst.
Daedalus Verlag
144 Seiten (mit zahlreichen Abbildungen)
12,- Euro, ISBN 978-3-89126-267-2
Erhältlich im Straßenverkauf oder im Buchhandel