
14 minute read
Die Redaktion des DRAUSSENSEITER
VOR DER EIGEnEn HAUSTÜR
SEBASTIAn, DER UnSIcHTBARE
Advertisement
TexT UND FOTOS: ANeMONe TRÄGeR
Größe ungefähr: 1,75 m, Alter: Anfang 40, Herkunftsland: Polen. Trägt einen Bart und hat weiche braune Augen.
Er hat seinen Rucksack immer bei sich, alles, was nicht reinpasst, ist in seinem Versteck. Bei uns im Hinterhof, ein kleiner Spalt zwischen Kellereingang und Hauswand. Gerade so breit wie seine Matratze. Er lebt dort im Sommer und im Winter. Eine Winterjacke braucht er nicht, zu viel Ballast, er muss ja schauen, dass er seine Sachen im Blick hat. Skiunterwäsche?, frage ich ihn, als es mal Minustemperaturen gibt. Er denkt mal drüber nach, vielleicht meldet er sich deswegen. Ah ja, cool.
Ein Foto darf ich von Sebastian nicht machen, zu viele blöde Sachen sind ihm passiert. Er bleibt lieber im Verborgenen. Das Leben auf der Straße ist hart und es gibt genug Menschen, die ihn nicht akzeptieren, beschimpfen oder beklauen. Außerdem möchte er nicht ausgenutzt werden, von dubiosen Organisationen, die mit seinem Foto Geld sammeln. Das Geld kommt bei den Obdachlosen nie an, sagt er. Zehn Jahre auf der Straße haben ihn misstrauisch gemacht. Er hat keine andere Wahl, in seine Heimat kann er nicht zurück. Warum, will er nicht sagen. Er wartet hier, in unserem Hinterhof, auf bessere Zeiten.
Heute Abend, wenn in vielen warmen Wohnzimmern die Serien laufen, wird er sich wieder in unseren Hauseingang legen. Seine Sachen aus dem Versteck holen und morgen früh alles fein säuberlich wegräumen. Als wäre er nie da gewesen. Manchmal, so erzählt er, geht er in eine Unterkunft, um seine Sachen zu waschen, ansonsten meidet er Obdachlosenunterkünfte, zu viele Läuse. Seit er bei uns „wohnt“, kommen keine Jugendlichen mehr und pinkeln gegen die Mülltonnen. Ich sammle weiter Punkte für ihn, damit der Hauseigentümer ihn einfach duldet.
Irgendwelche Idioten haben ein Graffiti an unsere Wand geschmiert, „Fuck the System – Obdach!“. Ich verstehe das Graffiti nicht. Welche Botschaft soll das sein? Im EXPRESS stand gestern, es soll mehr Geld von der Stadt Köln für die Obdachlosenhilfe geben. Das hat der Stadtrat in einer Sitzung entschieden. Na, hoffentlich kommt das Geld auch da an, wo es gebraucht wird.


Er hat keine andere Wahl, in seine Heimat kann er nicht zurück. ... Er wartet hier, in unserem Hinterhof, auf bessere Zeiten.
AnEMOnE TRÄGER
Anemone Träger ist seit vielen Jahren als freiberufliche Fotografin für den DRAUSSENSEITER tätig. Neben ihrer Leidenschaft, der Streetfotografie, ist sie begeisterte Fahrradfahrerin. Ihr Vorschlag, Sebastian könnte ja auch mal den DRAUSSENSEITER verkaufen, ist zwar bis jetzt auf taube Ohren gestoßen, aber man soll ja nie nie sagen.
Liebe auf der PLatte an- und einsichten
TexT: Olli WelTe
Olli Welte ist es damals nicht leicht gefallen, über seine Gefühle zu schreiben. Das Thema „Liebe auf der Platte“ ist keins, über das man gerne
Foto: Privat spricht. Im Jahr 1996 nimmt sich der introvertierte Mann dann dennoch ein Herz und schreibt seine Erfahrungen handschriftlich für die damalige BANK EXTRA auf. Für ihn hat das Aufschreiben offenbar fast therapeutische Wirkung: „Ein richtiger Schreibfluss, wie ich ihn eigentlich bei mir gewöhnt bin, wollte sich zwar nicht einstellen, (…) gezwungenermaßen kam ich aber ziemlich ins Nachdenken über jene oft längst vergessenen Geschehnisse und Ereignisse.“ Seit 30 Jahren schreiben unzählige Menschen – geübte und ungeübte Autor*innen – für das Straßenmagazin, das gerade auch denen ein Sprachrohr sein möchte, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.
Abschnitt I: Die Situation auf der Platte – und warum für Amor die Platte ein so schwer zu beackerndes Feld ist
Ich glaube, in keiner Bevölkerungsgruppe kommt eine veritable Liebesbeziehung so selten vor wie bei Berber*innen und Trebegänger*innen – den Obdachlosen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Am augenfälligsten in dem Zusammenhang ist wohl die Tatsache, dass auf der Platte ein unübersehbarer Überschuss an Männern vorherrscht. Bedingt durch dieses zahlenmäßige Ungleichgewicht, ist es für Männer schon von vornherein recht schwierig, eine Partnerin zu finden. Aber auch von den obdachlosen Frauen, die ja von daher weitaus größere Möglichkeiten hätten, eine Auswahl zu treffen, fristet ein erheblicher Anteil ein SingleDasein.
Wie ist das zu erklären? Diese Frage ausführlich zu beantworten, würde sicherlich etliche Seiten füllen und den hier gegebenen Rahmen sprengen. Allerdings möchte ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – zumindest einige Erklärungsversuche anführen.
Vom marginalen Ungleichgewicht der Geschlechter einmal abgesehen, scheint mir hier von besonderer Bedeutung zu sein, dass das Leben auf der Platte naturgemäß geprägt ist von Widrigkeiten und Erschütterungen, von Schwierigkeiten und dem tagtäglichen Kampf ums ÜBERleben, so dass sich für obdachlose Männer und Frauen eine Situation ergibt, in welcher für viele der Betroffenen der Wunsch und das Bestreben nach einer festen, dauerhaften Liebesbeziehung zweit oder sogar auch drittrangig geworden sein mag.
Alkohol und Drogenkonsum sind allgegenwärtiger Bestandteil der ObdachlosenSzene. In bürgerlichen Kreisen sind diese beiden Faktoren alleine oft schon ausreichend, ganze Familien zu zerstören. Die Beziehungen aber, die auf der Platte bestehen, müssen weitaus mehr, noch viel grundlegenderen Erschütterungen gewachsen sein, um nicht zu zerbrechen.
Anhand dieses Vergleiches lässt es sich recht gut veranschaulichen: Man beachte einmal, wie viele Ehen und Beziehungen im bürgerlichen, materiell abgesicherten Spektrum der Bevölkerung kaputtgehen und welche Gründe dafür oft ausschlaggebend sind. Oft würden die Aspekte, die hier zum Tragen kommen, zwischen meiner Freundin und mir nicht mal zu einer nennenswerten Auseinandersetzung führen. Oder andersherum: Man spiele einmal gedanklich durch, mit Blick auf die gutbürgerliche
Bevölkerungsschicht, wie viele der dort „funktionierenden“ oder gar „glücklichen“ Lebensgemeinschaften auch weiterhin Bestand hätten, sähen sich die lieben Leute dort auf einmal konfrontiert mit Situationen, wie zum Beispiel (ich fange mal an mit): – Die finanzielle Sicherheit fehlt plötzlich völlig. Jeden
Tag muß auf’s Neue für das Lebensnotwendige gesorgt werden. – Der*die Partner*in steht ständig unter Einfluss von
Alkohol und/oder anderen Dingen. – An Urlaubsreisen und anderen LUXUS ist überhaupt nicht zu denken – das Leben reduziert sich aufs ÜBERleben. – Man befindet sich am untersten Ende der sozialen Hierarchie – die Leute zeigen mit dem Finger und man wird gemieden. Zwischendurch möchte ich an jene BANKEXTRALeser*innen, die nicht von Obdachlosigkeit betroffen sind gewandt, diese Frage stellen: Würde die Beziehung zu Ihrem Partner*Ihrer Partnerin auch angesichts einer Lebenssituation, die von den oben genannten vier Punkten geprägt ist, weiterhin bestehen können? Und in Ihrem Bekanntenkreis – wie viele der Pärchen, die Sie kennen, würden nach Ihrer Einschätzung angesichts der beschriebenen Umstände weiterhin zusammenbleiben?
Die Liste der Erschwernisse setzt sich jedoch noch fort, und zwar folgendermaßen: – Stellen Sie sich vor, Sie verlieren Ihr Haus oder Ihre Wohnung und Sie und Ihr*e Partner*in müssen die Nächte mit Schlafsäcken und Decken im Freien zubringen. – Als Folge des Lebens auf der Straße gehen so circa alle ein bis zwei Jahre Sie oder Ihr*e Partner*in für einige
Wochen oder Monate in den Knast.
Die Liste ließe sich ohne weiteres noch um etliche Punkte erweitern. Doch ich denke, dass auch so schon deutlich geworden ist, dass nicht eben gerade nur einige wenige jener Beziehungen, die auf dem vermeintlich festen Boden finanzieller Abgesichertheit erwachsen sind und dort Bestand haben, sofort in die Brüche gingen, würde das gutbürgerliche Fundament unter ihnen weggezogen.
Um den Zusammenhang mal wieder herzustellen: Ich glaube, das vorangegangene Gedankenspiel eignet sich recht gut, um darzulegen, warum bei den Obdachlosen die Pärchenbildung nicht der Regelfall, sondern die Ausnahme ist. Es sollte deutlich werden, warum das zarte Pflänzchen der Liebe es auf dem unfruchtbaren Boden der Straße so schwer hat zu wachsen und zur völligen Blüte zu gelangen.
Nebenher ergab sich für diejenigen unter den BANKEXTRALeser*innen, die nicht unmittelbar von Obdachlosigkeit betroffen sind, ein Anstoß, über die Grundlagen ihrer eigenen Lebensgemeinschaften einmal nachzudenken und zu überlegen, welchen Stellenwert die LIEBE dabei jeweils eigentlich innehat. Wenn sich nämlich – um bei der Metapher von der Liebe als Pflanze zu bleiben – bei den einen diese Blume, wenn man den Rest des angefertigten Arrangements wegnimmt, als ein eher unauffälliges, haltloses Gewächs entpuppt, so muss es sich doch bei jenen Exemplaren derselben Pflanzengattung, die da wachsen und blühen und die trotz vermeintlich ungünstiger Bedingungen und ohne jedes Drumherum ihre völlige Wirkung zu entfalten imstande sind und die jene gewaltige Dynamik auszulösen vermögen, um ungleich kräftigere, imposantere Exemplare hervorbringen.
Und eines sei hier vorweg gesagt: Es gibt ihn NATÜRLICH: den Fall, dass selbst die Wüste eine solche Blüte hervorbringt!
Schade nur, dass nur wenige der Menschen auf der Platte ein Gespür dafür haben, welche Pflege dieser Blume angedeihen zu lassen angemessen wäre. Deswegen gehen viele dieser Pflänzchen wieder ein, noch ehe ihre Blüten zur vollen Entfaltung gekommen wären.Aber: Nachlässigkeit ist ein typischer Charakterzug der Leute auf der Straße. Manchmal mag Nachlässigkeit bereits vor der Obdachlosigkeit bestanden haben und so vielleicht sogar mit dazu beigetragen haben, dass jemand obdachlos wurde. Oft aber wird sich jemand von der Straße eine gewisse Nachlässigkeit erst während der Obdachlosigkeit zugelegt haben. Denn nebenbei verhindert sie, dass man gewisse Dinge zu eng sieht, und sie hilft so dabei, nicht in Schwermut zu verfallen.
Neben Nachlässigkeit aber weisen die Menschen von der Platte noch weitere Charakteristika auf, die dem Gedeihen des Pflänzleins der Liebe nicht immer zuträglich sind.
Abschnitt II: Die Leute von der Platte: Irgendwie anders – und doch Menschen wie alle anderen auch
Menschen, die einige Jahre auf der Platte gelebt haben, entwickeln im Lauf der Zeit oft bestimmte Wesensmerkmale und weltanschauliche Ansichten, die sich zuweilen recht eindrucksvoll unterscheiden von jenen Merkmalen und Ansichten, die in der breiten Öffentlichkeit üblicherweise verbreitet und anerkannt sind.
Einige markante dieser Unterschiede seien hier angeführt. Zum Beispiel dieser: Ein adrettes, gepflegtes äußeres Erscheinungsbild, wie es im gesellschaftlichen Mainstream Standard ist, spielt innerhalb der Subkultur der ObdachlosenSzene keine oder nur eine absolut untergeordnete Rolle. Oder: Das von der breiten Öffentlichkeit vorgelebte Sicherheitsdenken, das Streben nach Reichtum und Besitz, nach Einfluss und Geld möglichst über den eigenen Bedarf hinaus, findet auf der Platte, wo in aller Regel stets nur noch von einem bis zum nächsten Tag geplant und gelebt wird, im Grunde keinerlei Echo.
Auf dieselbe Weise verschiebt sich im Leben derer, die auf der Straße leben, der Stellenwert, den die Familie (und somit auch das Bestehen einer festen Beziehung zu einem Partner*einer Partnerin) einnimmt, weit nach hinten.
So kristallisiert sich allmählich heraus, dass nicht allein das Leben auf der Platte an sich, sondern im Besonderen auch jene speziellen Charaktermerkmale, die den Obdachlosen nach einigen Jahren auf der Platte fast zwangsläufig zu eigen werden, für das Entstehen fester Beziehungen und deren Dauerhaftigkeit eher hinderlich sind.
Auch die Veränderungen in seinem weltanschaulichen Gefüge, die ein obdachloser Mensch im Verlauf einiger Jahre auf der Platte erfährt, sind dem Entstehen von Liebesbeziehungen im Großen und Ganzen eher abträglich. Und so ergibt sich, dass – um dieses Bild noch einmal aufzugreifen – die Pflanze der Liebe, wenn es ihr denn gelungen ist, auf dem steinigen Boden der Straße Wurzeln zu schlagen, zu wachsen und zur Blüte zu gelangen, nun ihre Wirkung zu entfalten hat auf Menschen, die nicht gerade in besonders hohem Maße ausgesprochen empfänglich für die Signale sind, die sie aussendet.
Menschen, die fast jeden Tag damit beschäftigt sind, lediglich ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, neigen halt dazu, sich selbst nicht den Zeitaufwand zuzugestehen, den die Suche nach einem Partner*einer Partnerin erfordern würde. (Ein Zeitaufwand schließlich, der dann ja auch zum Instandhalten einer bereits entstandenen Beziehung erforderlich wäre.) Menschen, die es – ÜBERlebensnotwendigerweise – nach einiger Zeit auf der Platte geschafft haben, mit den Komplikationen der Alltagsbewältigung fertigzuwerden, scheuen es, sich dann den Komplikationen, die eine feste Beziehung mit sich bringen würde, auszusetzen. Menschen, die jahrelang am unteren Rande der Gesellschaft gelebt haben. Die Betteln gehen mussten, um zu überleben; die kriminell geworden sind; sich prostituiert haben; die im Gefängnis gewesen sind; und die dennoch keinen Ausweg aus ihrer Misere gefunden haben und oft auch gar keine Hoffnung mehr haben, jemals ein Licht am Ende des Tunnels zu erblicken. Menschen, die seitens ihrer Mitmenschen während all der Zeit vor allem eine Haltung aus Unverständnis, Verachtung und auch offener Ablehnung entgegengebracht bekamen, erleiden natürlich unweigerlich Schaden am eigenen Selbstverständnis, Selbstbewusstsein und am eigenen Sozialverhalten. Menschen also, die nicht von Ungefähr selbst auf flüchtige Beobachter*innen den Eindruck machen, eigenbrötlerisch, kauzig oder sonst wie merkwürdig und seltsam zu sein.
Für das Pflänzchen der Liebe – trotz des unfruchtbaren Ackers, auf dem es wächst, zur Blüte gelangt – ist es angesichts der beschriebenen Umstände wirklich nicht leicht, seiner Bestimmung gerecht zu werden.
Sicher: Bestimmte Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse haben ALLE Menschen gemeinsam. Das Streben nach Ruhe und Harmonie; das Bedürfnis, zu lieben und geliebt zu werden; der Wunsch, in größtmöglicher Eintracht mit unserer Umwelt leben zu können – man könnte noch viele Gemeinsamkeiten anführen. Ich will mich jedoch auf jene beschränken, die von Relevanz für den Zusammenhang sind.
Also: Das Bedürfnis nach Harmonie, Liebe und Eintracht ist grundsätzlich wohl fast allen Menschen gemeinsam. Und im Prinzip ist DAS der Nährboden, auf dem das Pflänzchen der Liebe gedeihen vermag. Doch das Leben auf der Straße bringt mit sich, dass dieser Boden bei den Betroffenen im Laufe der Zeit mehr und mehr versandet. Denn ihr Alltag, in dem sie immer wieder aufs Neue Ablehnung, Abgrenzung und Ausgeschlossen sein erfahren, steht im krassen Gegensatz zu ihren Wünschen nach Eintracht, Harmonie und Liebe. Deshalb rutschen diese Wünsche bei den Obdachlosen sehr weit ins Unterschwellige ab.
Jedoch haben menschliche Regungen, Bedürfnisse und Wünsche eine besondere Eigenart: Selbst weit ins Unterschwellige verdrängt, entfalten sie eine eigene Dynamik. Und im Bezug auf Liebesbedürftigkeit, die letztlich JEDER menschlichen Seele innewohnt, bewirkt diese Dynamik, dass in allen Menschen – das schließt Obdachlose und andere gesellschaftlichen Minderheiten automatisch mit ein – sozusagen eine Art Polarität besteht, die sich offenbart in einer gewissen Anziehungskraft zu und einer Empfänglichkeit für jene Signale und Wirkungen, die das zur Blüte gelangte Pflänzchen der Liebe produziert und verbreitet.
Abschnitt III: Das Pflänzchen der Liebe
Anhand des Beispiels vom „Pflänzlein der Liebe“ möchte ich das Ganze noch einmal zusammenfassen: Das Pflänzlein wächst und blüht überall dort, wo Menschen leben. Selbst am untersten Rande der gesellschaftlichen Hierarchie, wo sie den unfruchtbarsten Boden und auch sonst die ungünstigsten Bedingungen vorfindet, gedeihen hin und wieder einige Exemplare der Gattung. „Pflänzlein der Liebe“ pflegen ihre Blüten in dem Moment zu entfalten, in dem in ihrer unmittelbaren Nähe die Begegnung zweier Menschen stattfindet. Die Blüten der Pflanze haben die Eigenschaft, sozusagen Schwingungen zu verbreiten, die in der menschlichen Gefühlswelt jene Impulse auszulösen vermögen, die in einem Menschen ein plötzliches Gefühl einer übergroßen Zuneigung und enger Verbundenheit zu seinem Gegenüber bewirken können.
Selbstverständlich sind alle Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen nur eher selten bereit, imstande und willens, sich in einer solchen Situation auf die vom Pflänzchen ausgesandten Schwingungen, die dadurch ausgelösten Impulse und die daraus resultierenden Gefühlsschübe einzulassen. Doch sind die Exemplare besagter Pflanzengattung derart weit verbreitet und ihr Vorkommen, vor allem in den Gefilden der gesellschaftlichen Mittel- und Oberschicht so häufig, dass im Verlauf eines Menschenlebens sich für jede Person etliche Möglichkeiten ergeben, die speziellen Eigenschaften dieser Pflänzlein für sich zu nutzen.
Natürlich: Da, wo aufgrund besonders günstiger Bedingungen besonders viele dieser Pflänzchen zu wachsen vermögen, ergeben sich für die Menschen logischerweise weit mehr dieser Gelegenheiten als dort, wo aufgrund besonders ungünstiger Bedingungen das Vorkommen dieser Pflänzchen eher die Ausnahme ist.
Dieses unterschiedlich große Aufkommen der Pflänzchen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten stellt einen wesentlichen Faktor dar, der im erheblichem Maße dazu beiträgt, dass wir es nun mit einer Situation zu tun haben, in welcher sich erweist, dass ausgerechnet jene Menschen – die Obdachlosen nämlich –, die ohnehin von vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens weitgehend ausgeschlossen sind, auch in puncto Liebesglück eine unterprivilegierte Minderheit darstellen. Doch selbst wenn man unterstellt, dass es, abgesehen vom eher seltenen Vorkommen der Exemplare besagter Pflänzchen, noch den einen oder anderen weiteren Faktor geben mag, der die Tendenz – dass die Gruppe der Obdachlosen in Bezug auf LIEBE benachteiligt ist – verstärkt: Hin und wieder passiert es, allen Widrigkeiten zum Trotz und entgegen aller scheinbaren Unwahrscheinlichkeit, dennoch, dass auf der Platte zwei Menschen zueinanderfinden. So nah zueinander, dass sich daraus jene Art von spezieller Zusammengehörigkeit ergibt, deren Zustandekommen hinterher ausreichend begründet, dass immer wieder einzelne Exemplare vom Pflänzchen der Liebe auf dem unfruchtbaren, steinigen Boden auf der Platte Wurzeln schlagen.
Abschnitt IV: Die Liebe – ein Mysterium
Mancher mag sich nun darüber wundern, dass der Text, der ja zum größten Teil jene Fakten aufzählt und die Zusammenhänge herauszustellen versucht, die die Existenz einer LIEBE AUF DER PLATTE eigentlich eher unwahrscheinlich erscheinen lassen, an dieser Stelle einen solchen Schwenk macht (OTon vorher: was dagegen spricht, dass sie zustandekommt; OTon jetzt: und es gibt sie DOCH.). Befremdlich mag manchem vorkommen, dass der einzige Erklärungsansatz, der hier zwischen diesen beiden konträren Punkten eine Brücke zu schlagen sucht, sich aus einer Metapher, aus dem Sinnbild vom „Pflänzchen der Liebe“ ergibt.
Für die Verwunderung und das Befremden habe ich einiges Verständnis. Darin drückt sich schließlich der Zeitgeist aus. Natürlich sind die Menschen des ausklingenden zwanzigsten Jahrhunderts durchaus daran gewöhnt, dass mittels der Medien öffentlich und auf breiter Ebene das Thema LIEBE besprochen und diskutiert wird. Wer kennt nicht die nachmittäglichen FernsehTalkshows, die sich nur allzu gern des Themas LIEBE bemächtigen, um die Zuschauer*innen an die Bildschirme zu fesseln... Und jene mannigfaltigen gedruckten Sachen in Zeitungen, Illustrierten oder in solch unsäglichen Publikationen, die sich mit überhaupt nichts anderem befassen, als sich stets aufs Neue auch die absurdesten Blickwinkel des Themas zu beleuchten. Der Stil und das Niveau dessen, was den Menschen heutzutage zum Thema LIEBE auf breitester Ebene alles angeboten wird, dürfte uns allen hinreichend bekannt sein.
Da ich beim Schreiben dieses Artikels durchaus bemüht war, nicht demselben Stil anheimzufallen, sondern eine andere Möglichkeit zu finden, das Thema zu besprechen, halte ich es für im Prinzip nur folgerichtig, wenn mein Beitrag zuweilen auf Unverständnis stoßen mag.
Am Beispiel des – vorgegebenen – Themas LIEBE AUF DER PLATTE habe ich vor allem herauszustellen versucht,