RUDOLF STEINER VOLTAIRE VOM GESICHTSPUNKTE DER GEISTESWISSENSCHAFT Berlin, 26. Februar 1914
Kurz nach dem Tode Voltaires, der 1778 gestorben ist, erschien Lessings Schrift «Die Erziehung des Menschengeschlechtes», und man möchte sagen: in dieser Schrift kann in einem gewissen Sinne der Ausgangspunkt gefunden werden für eine im geisteswissenschaftlichen Sinne gehaltene Geschichtsbetrachtung. Diese Schrift Lessings, «Die Erziehung des Menschengeschlechtes», wurde in diesen Vorträgen wiederholt erwähnt. Sie sucht aus dem Bewusstsein des achtzehnten Jahrhunderts heraus Vernunftgründe zu finden für das, wofür heute die Geisteswissenschaft aus ihrer Art von Stellung wiederum eintreten muss: für des Menschen wiederholte Erdenleben. Wer Lessings Auseinandersetzungen in dieser reifsten Schrift seines Lebens, sozusagen in dem Testament seiner geistigen Arbeit, zu Ende zu denken versucht, der wird finden, dass durch die Ideen dieser Schrift Zusammenhang hineinkommt in das ganze Gefüge des menschlichen geschichtlichen Werdens. Wir sehen in diesem geschichtlichen Werden des Menschen aufeinanderfolgende Epochen, die sich voneinander unterscheiden. Wenn wir in alte Epochen zurückblicken, so finden wir, dass die menschliche Seele anderes erlebt, dass sie ihre Ideale in anderem suchte, als in späteren Epochen. Wir können gewissermaßen sagen: Scharf heben sich durch den Charakter dessen, was sie den menschlichen Seelen zu geben vermögen, die verschiedenen Epochen des geschichtlichen Werdens voneinander ab. Und Sinn und Zusammenhang kommt in dieses ganze geschichtliche Werden hinein, wenn man denkt, dass diese Menschenseele, die nach dem Glauben, dass das Menschenleben nur einmal wäre, sozusagen nur an den Kultursegnungen und Kul-