Rudolf Steiner
Die Bergpredigt Berlin, den 19. Juni 1905 Vortrag vor Mitgliedern der Theos. Gesellschaft
Wer heute die Zeichen der Zeit zu deuten weiß, der weiß, dass wir in der nächsten Zeit großen Ereignissen entgegengehen. In solcher Zeit ist es notwendig, dass über den Standpunkt des niederen Verstandes hinaus hohe Gedanken und Ideale leuchten. Von einem solchen Gesichtspunkt aus wollen wir heute ein wichtiges Kapitel der Bibel betrachten: die Bergpredigt. Ohne die Bergpredigt kann man auch nicht das Christentum verstehen. Nicht umsonst steht gerade die Bergpredigt am Anfang des Evangeliums. Aber auch sie wird, wie so vieles andere, nicht nur missverstanden sondern überhaupt nicht gekannt. Und diese Unkenntnis [eines] solch wichtigen Kapitels rührt davon her, dass auch nicht eine Spur – weder bei den Gelehrten noch auf kirchlicher Seite – von geistiger Erfassung der tieferen christlichen Wahrheiten zu finden ist. Über eines müssen wir uns klar sein, wenn wir so etwas verstehen wollen wie die Bergpredigt: dass die hausbackene, philiströse Ansicht, welche heute über diese Dinge herrscht, durchaus 1
nicht dem wahren Christentum entspringt. Eine solche Auffassung, wie sie nicht ein Christ, sondern auch der Verfechter der sogenannten französischen Staatsmoral hat, sie würde niemals die Kraft gehabt haben, die das Christentum hatte. Eine solche Kraft, die in dieser Weise durch Jahrhunderte hindurch wirkte, kann nie eine hausbackene, sondern nur eine geistig-okkulte Quelle haben. Und diese wollen wir einmal in Bezug auf die Bergpredigt bloßlegen. Dieses Unverständnis gegenüber der Bibel und der Bergpredigt rührt zum Teil davon her, dass wir eigentlich gar keine ordentliche Bibelübersetzung haben, dass also nicht die elementarsten Bedingungen erfüllt sind, die zum Verständnis nötig sind. Die Leute sagen: Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig, und dabei tut sich dann jeder etwas zugute, dass er aus seiner [fantastischen / fantasierenden] Anschauung heraus etwas auslegen kann wie die Bergpredigt. Aber Willkürlichkeiten sind da in Menge zu finden. Erst muss man aber den Buchstaben kennenlernen. Man muss wissen, was geschrieben steht, damit man nicht die Banalität des eigenen Geistes höher schätzt als den toten Buchstaben. Erst wenn man den Buchstaben verstanden hat, kann man sich vermessen, etwas über die geistige Seite einer Sache zu sagen. Es wird sich also heute darum handeln, erstens den Buchstaben zu verstehen und dann zweitens diesen Buchstaben in richtiger Weise zu deuten. Von der theologischen Auffassung der Bergpredigt zu sprechen ist heute nicht notwendig. Jeder kennt sie aus den gangbaren Predigten, und man würde in der Tat nicht weit kommen, wenn wir einige dieser 2