RUDOLF STEINER DIE ASKESE UND DIE KRANKHEIT Berlin, 11. November 1909
Des Menschen Leben pendelt hin und her zwischen Arbeit und Müßiggang. Diejenige Lebensbetätigung, welche uns in dem heutigen Vortrage beschäftigen soll, und die mit dem Namen der Askese zu bezeichnen ist, wird je nach den Lebensvoraussetzungen des einen oder des anderen, dieser oder jener Partei, entweder zur Arbeit gerechnet oder aber auch zum Müßiggang. Eine sachliche, unparteiische Betrachtung, wie sie im Sinne der Geisteswissenschaft gehalten werden muss, ist nur möglich, wenn man in Betracht zieht, wie dasjenige, was mit «Askese» bezeichnet wird - wenn es im höchsten Sinne des Wortes aufgefasst und aller Missbrauch daraus verbannt wird -, eingreift in das menschliche Leben, indem es dieses menschliche Leben entweder fördert oder auch schädigt. Zunächst ist es ja richtig, dass die meisten Menschen, und zwar begründeterweise, sich gegenwärtig eine ziemlich falsche Vorstellung von dem machen, was eigentlich mit dem Worte Askese bezeichnet werden sollte. Nach dem griechischen Ursprung dieses Wortes könnte man nämlich ebenso gut einen Athleten als einen Asketen bezeichnen. In unserer Zeit hat das Wort Askese eine ganz bestimmte Färbung erhalten durch die Gestalt, welche die entsprechende Lebensbetätigung im Laufe des Mittelalters angenommen hat; und für eine Reihe von Menschen hat das Wort die Färbung bekommen, die ihm zum Beispiel im Verlaufe des 19. Jahrhunderts Schopenhauer gegeben hat. Heute wiederum erlangt das Wort eine gewisse Färbung durch allerlei Einflüsse orientalischer Philosophie und orientalischer Religion, nämlich durch das, was im Abendlande so häufig als «Buddhismus» bezeichnet wird. Nun wird es sich heute für uns darum handeln, den wahren Ursprung dessen, was Askese ist, in der menschlichen Natur aufzusuchen; und gerade die Geisteswis-