Rudolf Steiner
Das geschichtliche Leben der Menschheit Wien, 29. Mai 1918 Öffentlicher Vortrag
Sehr verehrte Anwesende! Vorgestern habe ich mir erlaubt, hier über die geisteswissenschaftliche Betrachtungsweise, wie sie hineinführen soll in die wahre Wirklichkeit, zu sprechen. Auf der Grundlage dieser Auseinandersetzungen möchte ich heute einige Anwendungen dieser geisteswissenschaftlichen Wirklichkeitsbetrachtung geben, einige Anwendungen auf dem Gebiet des menschlichen Lebens, welche, wie mir scheint, gerade in unserer Zeit und in der Zukunft gewiss noch viel mehr für die Lebenspraxis von großer Bedeutung sind – nicht so sehr, weil ich glaube, dass es nötig ist, in einem größeren Kreis über die geschichtliche Vorstellungsart zu sprechen, sondern weil ich meine, dass es wichtig ist, solche Geschichtsbetrachtungen für die Lebenspraxis vorzuführen.
können auf eine Weise, die er in folgende Worte kleidete: «Das Beste an der Geschichte ist der Enthusiasmus, den sie in uns erregt.» Man könnte glauben, dass Goethe damit alle Möglichkeiten hat abweisen wollen, die sonst die Menschen in der geschichtlichen Betrachtung sehen, wenn sie sich aus der Betrachtung des menschlichen Lebens die immer wiederkehrende Frage zu beantworten suchen, wozu man anwesend ist im Leben und was man aus der Geschichte und dem Verhalten der Menschen für die Lebenspraxis lernen könne. Nun muss man allerdings sagen: Je mehr man sich einlebt in die geschichtliche Vorstellungsart, desto mehr kommt man darauf, dass sie in der Tat, wie es vielleicht auch dieser Goethe’sche Ausspruch meint, eine Zusammenfassung einer reichen Lebenserfahrung sein kann, einer reichen Lebensweisheit.
Der große Dichter und Schriftsteller Goethe meinte über den Wert der geschichtlichen Betrachtung, wie sie ihm in seiner Zeit besonders entgegentreten konnte, urteilen zu
Insbesondere in unserer Zeit wird man sehr häufig zu einem merkwürdigen Eindruck gebracht durch die Frage: Was kann man aus der Geschichte für das Leben gewinnen? Unsere katastrophale Gegenwart muss es uns da immer wieder nahelegen zu erkennen, dass bedeutende Kräfte des menschlichen Lebens über die ganze Erde greifend wirken, dass Erlebnisse da sind, von denen man in Bezug auf die Gegenwart für die Lebenspraxis selbst ungeheuer viel lernen kann. Und man muss auch sagen: Manches kommt heute vor, was einem Bedenken machen könnte in Bezug auf diese Fragen. Ich möchte von den Hunderten von Fällen, die nach dieser Richtung angeführt werden können, nur einen hervorheben, der gerade mit Bezug auf die leidvolle Gegenwart eine gewisse Bedeutung hat.
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