Rudolf Steiner - Über Geist und Ungeist in der Malerei (Dornach, 9. Juni 1923)

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Rudolf Steiner

Über Geist und Ungeist in der Malerei Dornach, 9. Juni 1923 Vortrag vor Mitgliedern der A.G.

In

früheren Vorträgen habe ich des öfteren von einem Genius der Sprache gesprochen. Und Sie wissen schon aus meinem Buch «Theosophie», wie dann, wenn im anthroposophischen Zusammenhang von geistiger Wesenheit gesprochen wird, wirkliche geistige Wesenheit gemeint ist, wie also auch in dem, was mit dem Genius der Sprache bezeichnet wird, eine wirkliche geistige Wesenheit für die einzelnen Sprachen gemeint ist, in die der Mensch sich hineinlebt, und die ihm aus geistigen Welten die Kraft gibt, seine Gedanken, die ja zunächst als tote Erbschaft der geistigen Welt in ihm als Erdenwesen vorhanden sind, auszudrücken. Und deshalb wird es gerade in dem anthroposophischen Zusammenhang ganz angemessen sein, in dem, was als Gestaltungen in der Sprache auftritt, einen Sinn zu suchen, der in einem gewissen Grad sogar vom Menschen unabhängig aus geistigen Welten herkommt.

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Nun habe ich auch darauf schon aufmerksam gemacht, in welch eigentümlicher Weise wir das eigentliche Element des Künstlerischen, des Schönen, und sein Gegenteil bezeichnen. Wir sprechen von dem Schönen und sprechen von seinem Gegenteil, dem Hässlichen, gemäß den einzelnen Sprachen. Würden wir das Schöne in ganz entsprechender Weise bezeichnen wie das Hässliche, so müssten wir, da das Gegenteil von Hass die Liebe ist, nicht vom Schönen sprechen, sondern etwa vom Lieblichen. Wir müssten dann sagen: Das Liebliche, das Hässliche. Wir sprechen aber von dem Schönen und von dem Hässlichen und machen aus dem Sprachgenius heraus einen bedeutsamen Unterschied, indem wir das eine und sein Gegenteil in dieser Weise bezeichnen. Das Schöne, wenn wir es zunächst in der deutschen Sprache nehmen – für andere Sprachen müsste ein Ähnliches aufgesucht werden –, das Schöne als Wort ist verwandt mit dem Scheinenden. Das, was schön ist, scheint, das heißt, trägt sein Inneres an die Oberfläche. Das ist ja das Wesen des Schönen, dass es sich nicht verbirgt, sondern sein Inneres an die äußere Gestaltung trägt. Sodass schön das ist, was sein Inneres in seiner äußeren Gestaltung zur Offenbarung bringt: das Scheinende, das, was Schein ausstrahlt. Sodass der Schein also das in die Welt Ausstrahlende, das Wesen offenbart. Würden wir in diesem Sinne von dem Gegenteil des Schönen sprechen wollen, so müssten wir so sprechen: das Sich-Verbergende, das Nichtscheinende, das, was sein Wesen zurückhält und in seiner äußeren Hülle nicht nach außen offenbart, was es ist. Wir bezeichnen also, wenn 2


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