Diogenes Magazin Nr. 6

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Frühling 2011

Diogenes

Magazin

Ian McEwan »Natürlich glaube ich nicht, mit meinem Roman die Welt retten zu können«

Wenn Bücher klingen … Tomi Ungerer, Jean-Jacques Sempé, Donna Leon, Philippe Djian u.a. über ihre Leidenschaft für Musik

Zwei Freunde, ein Verlag Die beiden Diogenes Verleger haben ihren 80. Geburtstag gefeiert

Was ist der größte Luxus? Exklusiv-Interview mit dem neuen Serienhelden von Martin Suter

www.diogenes.ch 4 Euro / 7 Franken

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Appetizer Sag mir, welcher Satz an der Tür steht – und ich sage dir, wer dahinter wohnt. Würden Sie es erraten? Fast schon legendär ist der Zettel an der Tür des Diogenes Verlegers Daniel Keel, der seit mindestens zwanzig Jahren dort hängt: »On est prié de ne pas emmerder le monde s.v.p.«. Nur ein Zettel auf dieser Seite ist fiktiv: Majakowskis Plädoyer gegen Sitzungen hängt (noch) nicht am Sitzungszimmer des Verlags, das weiterhin rege benutzt wird.

Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag; Kilian Kessler / Diogenes Verlag; Titelseite, Foto: © Deborah Feingold / Corbis / Specter

An der Bürotür von Daniel Keel (links) und Rudolf C. Bettschart (rechts)

Im Büro des Verlegers

An der Tür des Büros, in dem das ›Diogenes Magazin‹ entsteht, hängt ein Spruch, der jedes Chaos kurz vor Redaktionsschluss entschuldigt. Daneben: Vorschlag für Türschild des Sitzungszimmers im Verlag

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Ersatz für das leidige

Editorial Anstelle eines langweiligen Editorials ein Text von Lao Tse aus dem TaoTe-King (Diogenes Taschenbuch 21875).

Pflege bei allem, was du tust, das Nicht-Tun; handle, ohne einzugreifen; genieße das, was keinen Geschmack hat.

Plane das Schwierige, solange es noch einfach ist. Tue das Große, solange es noch klein ist, denn die schwierigen Dinge auf der Welt fangen stets einfach an, und die großen Dinge fangen stets klein an. Weil der Weise nie nach Größe strebt, kann er seine Größe verwirklichen. Wer voreilig Versprechen macht, hält selten Wort; wer gemeinhin die Dinge auf die leichte Schulter nimmt, stößt oft auf Schwierigkeiten. Deshalb betrachtet sogar der Weise gewisse Dinge als schwierig. So findet er letzten Endes nichts schwierig.

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Hartmut Lange 54 Er ist einer der großen Außenseiter der deutschen Literatur. Das mag mitunter an der Gattung seiner Bücher liegen, denn für seine Stoffe wählt Hartmut Lange am liebsten die Novellenform. Ein Gespräch über zu wenige Leser, Schreiben als Sinnstiftung und Inspiration im Museum.

Zum Lesen Die achte Todsünde Eine Schweizer Geschichte von Hugo Loetscher.

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Bitteres Los Eine frühe Erzählung von Dashiell Hammett.

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Appetizer Schaufenster Impressum / Vorschaufenster

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Thema: Musik Tiere und Töne Donna Leon auf den Spuren der Tiere in Händels Opern.

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Musikleidenschaften 33 Donna Leon über Oper, Tomi Ungerer über Musik an sich, Jean-Jacques Sempé über Jazz. Diogenes zum Hören? Vier sehr unterschiedliche Musikformationen, die ›Diogenes‹ im Namen tragen.

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Lieder entstehen von selbst 46 Philippe Djian und Stephan Eicher über gemeinsames Songschreiben. Wenn Bücher klingen 48 Ian McEwan, Friedrich Dönhoff, Benedict Wells, Joey Goebel u.a. erzählen warum.

Foto Hartmut Lange: © Hans-Christian Plambeck / laif; Illustration: Tomi Ungerer

Mach größer, was klein ist, und vermehre das Wenige; tu Gutes dem, der dir ein Unrecht getan hat.


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Illustration oben: © Edward Gorey / Edward Gorey Charitable Trust; Illustration links: © Thomas Ott; Foto Mitte: © Deborah Feingold / Corbis / Specter; Foto rechts: © Iren Monti

Inhalt

Dashiell Hammett 64 Wim Wenders und Jörg Fauser erweisen dem »Klassiker des Kriminalromans« (FAZ) zum 50. Todestag persönliche Hommagen. Außerdem: eine bislang auf Deutsch unveröffentlichte Krimistory.

Ian McEwan 5 erklärt im Gespräch unter anderem, dass sein Roman Solar die Welt nicht retten kann, dass nicht jeder Promi zu allem seine Meinung abgeben sollte und was er von Philip Roth und John Updike gelernt hat – und was nicht.

Exklusiv!

Hommage

Martin Suter 12 Ein Interview mit Martin Suters neuem Serienhelden Johann Friedrich von Allmen über seinen ersten Fall.

Der Waschküchenschlüssel 18 … für die Schweiz – von Emil und Hugo Loetscher, zum besseren Verständnis der helvetischen Seele.

Happy Birthday 74 Am 10. Oktober 2010 haben die Diogenes Verleger Rudolf C. Bettschart und Daniel Keel ihren 80. Geburtstag gefeiert. Wir feiern sie mit: einem biographischen Essay einer Hommage von Martin Suter einer Rede von Urs Widmer zu Ehren von Daniel Keel einer Auswahl von Autorenbriefen an Daniel Keel.

Interviews 5

Ian McEwan

Rubriken Owl’s Eye

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Die einsame Insel Tatjana Hauptmann

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Denken mit J.W. Goethe

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Lesefrüchtchen

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Top 10 Lieblingsautoren von Philippe Djian

Emil Steinberger

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Jean-Jacques Sempé

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Philippe Djian / Stephan Eicher

46

Hartmut Lange

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Wim Wenders

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Wer schreibt hier? Gewinnspiel

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Mag ich – Mag ich nicht Tim Krohn

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Titelgeschichte

Ian McEwan im Gespräch mit Ryan Roberts

Kunst kann nicht viel ausrichten

Foto links: © Frank Bauer / Contour by Getty Images; Foto: © Jochen Tack / Alamy

Ian McEwan will keinesfalls zu einem Promi gemacht werden, der zu allem eine Meinung hat. Er findet es aber manchmal wichtig, den Mund aufzumachen, wenn man unmittelbar betroffen ist. Der Autor über den Klimawandel, die Nutzlosigkeit der Kunst und über seine Liebe zur Musik. Roberts: Ihr Bericht über Ihre Expedition mit Cape Farewell in die Arktis (Diogenes Magazin Nr. 4) kreist um die Stiefelkammer, den Raum an Bord eines Schiffs, in dem man seine Ausrüstung an- und ablegt, eine Ausrüstung, die für alle Teilnehmer überlebensnotwendig ist. Sie schreiben dort etwas Grundsätzliches über die Natur des Menschen, die Kunst und unsere Unvollkommenheit: »Wir werden die Erde nicht vor unseren eigenen Raubzügen retten, wenn wir nicht uns selbst ein wenig besser verstehen, selbst wenn wir unsere Natur nie wirklich verändern können.« Sie erwähnen die Notwendigkeit von Regeln – Regeln für die Stiefelkammer. Wie lösen wir diesen inneren Konflikt beim Kampf gegen globale Probleme? Glauben Sie, dass es Hoffnung gibt, diese großen Probleme zu lösen? Ian McEwan: Das glaube ich in der Tat. Sicher, allein kommt niemand von

uns weit, aber wir bilden Gesellschaften, wir leben in Städten, und im großen Ganzen bekommen wir das hin, weil wir Regeln entwickelt, weil wir Gesellschaftsverträge geschlossen haben, denen sich die Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen unterzuordnen

Die größte Herausforderung ist unsere egoistische menschliche Natur. hat. Es hat einen zu hohen Preis, wenn wir über unsere Verhältnisse leben. Die meisten ernstzunehmenden Leute, die über den Klimawandel schreiben, gehen davon aus, dass man das Ganze in Zusammenhang mit der globalen Armut angehen muss. Die Verwendung fossiler Brennstoffe hat unsere Zivilisation nach vorn gebracht und zig Millionen Menschen aus der

Armut herausgeholt. Ganz abgesehen vom moralischen Aspekt ist Armut auch sehr schlecht für das Klima. Die größte Herausforderung ist unsere egoistische menschliche Natur. Als Einzelne sind wir Konkurrenten. Nationen sind Konkurrenten. Nun aber müssen sie zusammenarbeiten, und das geht nur, wenn sie ihre Vernunft einsetzen und sich auf bestimmte Regeln einigen, an die sie sich im Konkurrenzkampf halten. Es kommt immer wieder zu Pattsituationen, wenn etwa die Vereinigten Staaten sagen, sie unterzeichnen irgendein Abkommen nur, wenn auch China und Indien das tun, und die sagen, sie unterzeichnen nichts, weil sie ein so großes Armutsproblem haben, und im Übrigen seien nicht sie das eigentliche Problem, sondern die Vereinigten Staaten. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, braucht es Regulative. In letzter Zeit hat es nicht viel Grund zu Optimismus gegeben. Der Diogenes Magazin

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CO2-Gehalt der Luft steigt Jahr für Jahr um zwei oder drei Teile pro Million. Wir nähern uns dem Wert von 400. Das angestrebte Ziel einer Stabilisierung bei 560 Teilen pro Million innerhalb dieses Jahrhunderts scheint sich kaum noch verwirklichen zu lassen. Dabei wäre es wissenschaftlich und technologisch durchaus realisierbar. Die Leute wissen, was zu tun ist. Letzten Endes werden wir nicht aus Idealismus, sondern aus Eigennutz zu einer Umkehr bereit sein. Selbst Habgier lässt sich kanalisieren – ein effektives Emissionshandelssystem könnte helfen, den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Wir sind eher bereit, denen Gutes zu tun, die sich erkenntlich zeigen können. Doch nun gilt es, über die individuelle Lebensspanne hinauszudenken, noch gar nicht geborenen Menschen zuliebe. Es geht um Zeiträume, die größer sind als das, was der Mensch zu überschauen gewohnt ist. Es geht um die nächsten hundert oder zweihundert Jahre. Erst gegen Ende dieses Jahrhunderts wird das Problem mit voller Wucht zutage treten, wenn Sie und ich längst nicht mehr da sind. Darin besteht die Herausforderung, und darüber habe ich geschrieben. Im Zentrum meines neuen Romans Solar steht ein Protagonist, der eine Menge Fehler und Schwächen hat. Er ist entschlossen, etwas gegen den Klimawandel zu tun, scheitert aber immer wieder an seinen Schwächen. So und nicht anders ist unsere Situation. In Ihrem Expeditionsbericht schreiben Sie auch: »Idealismus oder Empörung sind hier ebenso fehl am Platz wie die Kunst – im Innersten wissen wir, dass die beste Kunst in all ihrer Pracht absolut nutzlos ist.« Welche Rolle könnten in diesem Zusammenhang Verhaltensrichtlinien spielen? Glauben Sie, dass ein Roman, in dem es um Klimawandel geht, eine Diskussion in Gang bringt? Was kann die Kunst in solchen Fällen erreichen? Ich glaube nicht, dass Kunst viel ausrichten kann. Und sie wird auch nicht viel am Klimawandel ändern. Aber sie 6

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kann das Problem aufgreifen und ein neues Schlaglicht darauf werfen. Der Klimawandel stellt unsere menschliche Natur auf die Probe; je mehr Selbsteinsicht wir besitzen, umso besser werden wir diese Probe bestehen. Deshalb ist es so wichtig, nüchtern zu betrachten, wer und was wir sind, wie unsere Erkenntnisfähigkeit unseren Umgang mit der Welt und mit unseren Mitmenschen beeinflusst. Aber natürlich glaube ich nicht, mit meinem Roman die Welt retten zu können.

Kunst kann nicht viel ausrichten. Und sie wird auch nicht viel am Klimawandel ändern. Die Rezensenten werden zweifellos das Thema Klimawandel in den Vordergrund rücken. Grün ist heutzutage »in« – es gilt als schick, eine umweltfreundliche Politik zu vertreten. Sehen Sie das als bloße Fassade? Als etwas, das eigentlich nicht viel Wirkung hat – die Vermarktung der »grünen Idee«? Wenn erst einmal ein Land wie die Vereinigten Staaten anfängt, in großem Maßstab Solarenergie zu produzieren, und dafür andere Kraftwerke, die CO2 in die Atmosphäre einleiten, vom Netz nimmt – dann ist dies ein wirklicher Schritt nach vorn. Dies oder das ein wenig zu verringern, mag das Problem hinauszögern, löst es aber nicht. Wenn wir uns für ein kleineres Auto entscheiden oder den Thermostat runterdrehen, mag das unser Gewissen beruhigen. Aber letztlich werden wir grundsätzlich auf saubere Energiequellen umsteigen müssen. Wallace Broecker, ein bekannter Klimawandelexperte, hat einen interessanten Vergleich angestellt. Im 19. Jahrhundert begannen viele Großstädte im Westen sich ernsthaft mit dem Problem der Abwasserbeseitigung zu befassen. Damals herrschte die Ansicht vor, Abwasser sei nun einmal ein Teil unseres Lebens, und das

Privileg, in einer Stadt zu leben, habe eben seinen Preis. Die Kosten für ein Kanalisationsnetz betrugen rund einhundert Milliarden Dollar, doch im Westen wurde das binnen ein, zwei Generationen auf die Beine gestellt: gewaltige unterirdische Netzwerke, deren Bau unglaubliche Summen verschlang. Das moderne Pendant zum Abwasser ist Kohlendioxid. Dass die Diskussion gerade Mode ist, stört mich nicht; wichtig ist sie so oder so. Diese neuerliche industrielle Revolution findet bereits in aller Stille statt. Die coolen Typen an der amerikanischen Westküste, die das Internet perfektioniert haben, wollen in einem neuen Anfall von jugendlichem Schwung jetzt Techniken zur sauberen Energieerzeugung hervorbringen. Die Entwicklung der Solarenergie macht ungeheure Fortschritte. Dazu kommt die eher langweilige ökonomische Seite. In Deutschland dürfen die Leute den Strom, den sie auf ihren Dächern produzieren, zu einem hochsubventionierten Preis an die Versorgungsunternehmen verkaufen. Das hat eine Viertelmillion Arbeitsplätze im Solarund Windenergiesektor geschaffen. Dies sind ähnliche Regulative wie für die Stiefelkammer. Sollen die Leute ruhig habgierig sein und miteinander wetteifern: »Ich habe ein besseres Solarpanel auf dem Dach als du.« Warum nicht? Man kann sich die menschliche Natur zunutze machen. Welche Rolle kommt dem Schriftsteller angesichts dieser politischen oder gesellschaftlichen Probleme zu? Was kann ein Schriftsteller bewegen? Ein Schriftsteller sollte sich auf keinen Fall zu einem dieser Promis machen lassen, die zu allem eine Meinung haben. Andererseits ist es manchmal wichtig, den Mund aufzumachen, wenn man unmittelbar betroffen ist. Die Medien sind heute so schonungslos und gierig und allgegenwärtig wie nie zuvor und bearbeiten einen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und in ihrer Gier produzieren sie am laufenden Band Meinungen. Meinungen sind wohl am billigsten zu haben – man braucht niemanden irgendwo


Foto: © Delporte / Le Figaro Magazine / laif

hinzuschicken –, manchmal kann man das gar nicht mehr ernst nehmen. Letztlich gilt es eine Balance zu finden. Romane schreiben, das ist eine Obsession, die sich im Privaten abspielt, aber wenn man sich ans Licht der Öffentlichkeit wagt … wenn man sich zu öffentlichen Äußerungen hinreißen lässt, sind diese selten unumstößlich. Sehr wahrscheinlich wird man falsch zitiert und wegen irgendwelcher Dinge angegriffen, die man nie gesagt hat. Es gibt einen Wirbel wie in einer Schneekugel – in Tausenden von Blogs. Die Debatten werden auf ziemlich tiefem Niveau geführt, dafür aber umso giftiger. Natürlich gibt es auch recht vernünftige Beiträge, aber die zu finden ist schwierig. Trotzdem sollte man sich von Geschrei und Sinnlosigkeit nicht abhalten lassen, selbst etwas zu sagen, wenn einem danach ist. Sie sagen, Schreiben sei etwas sehr Persönliches, eine Obsession, man brauche dazu viel Ruhe und eine Menge Selbstbeobachtung. Wie hat sich das im Lauf Ihrer Karriere verändert? Die Welt ist lauter geworden. Das Internet hat sie laut gemacht, die nie abreißende Flut von Nachrichten. Speziell hier in Großbritannien ist es noch lauter geworden, weil das Temperament der Bevölkerung sich verändert hat. Es ist fiebriger geworden, gefühlsbetonter, eigenwilliger, labiler. Die öffentliche Meinung unterliegt ständigen Stimmungsschwankungen. Der Premierminister kann in der einen Woche Gott und in der nächsten der Teufel sein. Jede kleine Bemerkung kann professionelle Kaffeesatzleser zu tagelangen sinnlosen Erwägungen veranlassen. Ich behaupte nicht, dass man heutzutage keine Ruhe mehr findet, aber im Gegensatz zu den siebziger und achtziger Jahren, wo keine solche Reizüberflutung herrschte, muss man sich diese heute aktiv erarbeiten. Damals war Ruhe etwas Selbstverständliches, und wenn man in die Öffentlichkeit wollte, musste man sich erst einmal Gehör verschaffen. Jetzt ist es umgekehrt.

Kommen einem die Worte in die Quere, wenn man in Texten Perfektion zu erreichen versucht? Nun, die Worte kommen einem unausweichlich in die Quere, weil sie für verschiedene Leute Verschiedenes bedeuten. Aber das hält mich nicht von der Überzeugung ab, dass ich nach etwas streben kann, das alles übertrifft, was ich bisher getan habe. Alle Schriftsteller brauchen diese Illusion. Doch noch während Sie eben die Frage nach dem perfekten Text stellten, schoss mir durch den Kopf: »Es müsste etwas Kurzes sein« – über lange Strecken ist das nicht möglich. Vielleicht bin ich als Schriftsteller nicht gut genug, aber die ausufernde Form des Romans scheint mir der Perfektion entgegenzustehen, während die Novelle ihr unter optimalen Umständen nahekommen könnte. Den besten Gedichten gelingt es zweifellos. Es gibt viele Gedichte, von denen ich sage: »Da ist jedes Wort an seinem Platz.« Ich habe Am Strand kürzlich wiedergelesen und halte es, was seine Form angeht, für ein sehr ausbalanciertes Buch. Soweit ich das als Leser beurteilen kann, hat es die perfekte Länge sowohl für seinen Inhalt als auch für die Beziehung, die es schildert, und die Themen, die es berührt. Hatten Sie Musik im Sinn, als Sie es geschrieben haben? Hatten Sie das Gefühl, etwas nahezu Vollkommenes zu erschaffen? Sie erwähnten einmal, für den Roman habe Ihnen eine bestimmte Form oder eine bestimmte Länge vorgeschwebt. Als ich dieses Buch schrieb, habe ich mit als Erstes über seinen Umfang und seine Struktur nachgedacht. Dazu notierte ich mir »fünf mal acht« – fünf Kapitel von je etwa 8 000 Wörtern. Am Ende waren es 39 000 Wörter in fünf gleich langen Kapiteln. Bei Amsterdam versuchte ich mir vorzustellen, wie es wäre, ein musikalisches Werk zu komponieren. Ich habe da bildlich etwas vor mir gesehen, eine undeutliche Form, eine Treppe, ein Plateau. Diogenes Magazin

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wäre. Mein Interesse an Musik ließ mich einen Komponisten in den Mittelpunkt der Geschichte stellen. Dieser Komponist dirigiert in der ersten und in der letzten Szene das Orchester im Graben. Außerdem beherrscht Musik als Gesprächsthema das ganze Stück. Das Libretto entstand parallel zu Am Strand. Auch für For You hatte ich eine Formel – »zehn mal zehn«: zehn Szenen zu je zehn Minuten. Am Ende wurde es etwas länger. Aber das

Ian McEwan in seiner Wohnung in Süd-London, 1979, als sein erster Roman ›Der Zementgarten‹ erschien. Mit seinen ersten Büchern, die die Abgründe im Verhältnis der Geschlechter ausloteten, erwarb sich Ian McEwan den Beinamen »Ian Macabre«. Heute, nach seinen Romanen ›Abbitte‹ und ›Saturday‹, gilt Ian McEwan als einer der bedeutendsten lebenden Schriftsteller Englands.

Wie haben Sie sich auf For You vorbereitet? Hatten Sie dabei Musik vor Augen? Oder nur rhythmisierte Sprache? Haben Sie sich auch andere Libretti angesehen? Nein, davon habe ich mich ferngehalten. Ich habe mich kein bisschen vorbereitet, abgesehen von ein paar Waldspaziergängen mit dem Komponisten Michael Berkeley, auf denen ich ihm die Handlung erläuterte. Wir hatten uns darauf verständigt, dass sexuelle Obsession ein spannendes Thema 8

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war das Muster. Jedes Mal, wenn ich eine Szene an Michael geschickt hatte, machte ich wieder mit dem Roman weiter. Und wenn ich das Gefühl hatte, er habe mich bald eingeholt, überlegte ich, wo ich den Roman unterbrechen und an der Oper weiterarbeiten könnte. Gehen wir noch einmal zurück an die Anfänge. Mich interessiert Ihre Amerikareise zu Beginn Ihrer Karriere. Sie haben einen Artikel darüber geschrieben, 1976, und faszinie-

rend daran fand ich nicht nur die Auffassungen oder Vorstellungen, die Sie von Amerika hatten, als Sie dorthin gingen – Ihre Befürchtung, Sie könnten von »Männern mit Schusswaffen, von handfester amerikanischer Verrücktheit« verfolgt oder Opfer eines Überfalls werden –, sondern vor allem Ihre erste Begegnung mit Philip Roth in New York. Roth zog Anfang der Achtziger nach London, dort habe ich ihn häufig gesehen. Er hat ein großmütiges Interesse an meinem Schreiben bekundet und mir sehr freundlich Mut gemacht. Ich habe ihm einen Entwurf zu meinem ersten Roman gegeben, Der Zementgarten. Ich weiß noch, wie er zu mir nach South London kam, die Kapitel auf dem Fußboden meiner Wohnung ausbreitete und sagte: »Bis hierhin ist alles großartig … die Kinder … beide Eltern gestorben … Und jetzt muss die Hölle losbrechen.« Er mag recht gehabt haben, und wer weiß, vielleicht wäre der Roman besser geworden, aber dann wäre es ein Roth’scher Roman gewesen. Ich hielt mich nicht an seinen Rat, fühlte mich aber ungeheuer geschmeichelt von seiner Aufmerksamkeit. Zu allem anderen ist er auch ein sehr guter Kritiker. 1970, als ich zu schreiben anfing, verkörperten Roths Bücher eine Freiheit der Phantasie, eine Unbekümmertheit und Ausdruckskraft und Wildheit, die im englischen Roman undenkbar waren. Es war eine Befreiung. Das heilige Triptychon – Roth, Bellow, Updike – stand in der Tradition der Moderne und ist dennoch ihrem Schatten entkommen. Sie haben vom Roman des 19. Jahrhunderts alles übernommen, was gut war, und es in das moderne Selbstbewusstsein verpflanzt. Mit dem ererbten Handwerkszeug stellten sie ihre Gegenwart dar: Bellows Chicago, Roths New Jersey, Updikes New England – diese Orte entwickelten ein Eigenleben wie Romanfiguren. Offenbar waren die drei in der Lage, sich ganz darauf einzulassen, was es heißt, heute in den Vereinigten Staaten zu leben, in Großstädten oder Provinzkäffern.

Foto: © Mike Moore / Stringer / Getty Images

Die Musik, die mich nach wie vor fesselt, ist die von Bach. Manche seiner Stücke habe ich zum ersten Mal mit sechzehn gehört und war sofort begeistert, und das hat sich bis heute nicht geändert. Rubber Soul (Beatles), das mich als Teenager etwa um die gleiche Zeit begeistert hat, reißt mich nicht mehr vom Hocker. Aber die Klavier-Partiten oder bestimmte Kantaten höre und genieße ich immer noch mit derselben Intensität wie 1965.


Foto: © Deborah Feingold / Corbis / Specter

Der Roman im Europa der Nachkriegszeit zog sich hingegen aus der Gesellschaft zurück, auch wenn die Seitenzahlen zunahmen – er zog sich auf die Suche nach etwas zurück, das selten und vollkommen war, schwierig und freudlos. Er war weniger mit der Welt befasst. Der englische Roman hatte nochmals andere Probleme. Er schrumpfte zu einer winzigen bürgerlichen Welt mit ziemlich unbedeutenden Sorgen zusammen. Ich habe zwar oft gesagt, Kafka sei ein wichtiger Autor für mich, aber diese drei waren mir noch wichtiger, auch wenn meine Bücher kaum mit ihren zu vergleichen sind. Sie haben einmal erwähnt, Updikes Rabbit-Tetralogie habe Sie beim Schreiben von Saturday in gewisser Weise beeinflusst, insbesondere die Idee, die Gegenwart in das Buch zu holen. Man denkt an Updikes ständigen Einsatz der Medien – Radio, Werbung, Fernsehen tönen durch seine Bücher – ein unablässiger Strom von Neuigkeiten, die wir tagtäglich um uns haben. In Saturday ist es ähnlich, auch hier dringen Nachrichtenmeldungen, dringt die Außenwelt in Henrys Welt ein. Da muss man vorsichtig sein. Man sollte einen Roman nicht mit Nachrichtenmeldungen überfrachten. Aber im Alltag leben wir nun einmal damit, ständig hören wir mit halbem Ohr die Nachrichten – eine Parallelgeschichte, die sich um einen herum abspielt. Wie viele Opfer hat die Bombe gefordert? Wird Gordon Brown die nötigen Stimmen bekommen? Wie viele Flüchtlinge haben es über die Grenze geschafft? Wenn man unmittelbar involviert ist, ist das etwas anderes, aber für die meisten von uns ist das Hintergrundmusik, der Soundtrack zu unserem Alltag. Noch einmal zu Updike. Er hat seine Bücher oft umgeschrieben, zum Beispiel, als er die Rabbit-Tetralogie zusammenfasste und etliche Passagen neu formulierte, so dass es einen gewissen Unterschied macht, ob man die vier Bände als einzelne Romane oder als ein zusammenhängendes

Ganzes liest – Überflüssiges wurde gestrichen, um die einzelnen Teile besser aufeinander abzustimmen. Mich interessiert, wie Sie beim Überarbeiten vorgehen. Sobald ein Buch von mir erschienen ist, rühre ich es nicht mehr an, außer vielleicht, um einzelne Tatsachen richtigzustellen. Normalerweise empfinde ich es so, dass alles, was ich in der Vergangenheit getan habe, ein Teil der Geschichte ist und nicht geändert werden kann. Wenn ich eine meiner frühen Erzählungen aufschlage, juckt es mich in den Fingern, mich darüber herzumachen und die Interpunktion zu ändern. Ich habe eine Zeitlang damit experimentiert, Kommas anstelle von Punkten zu verwenden. Heute kommt mir das manieriert vor. Ich war sehr von Beckett beeinflusst. Und die Absätze … die Absätze scheinen mir jetzt viel zu lang, zu unausgegoren. Aber ich ändere nichts daran. Es erschiene mir als Verrat an meinem früheren Ich, wenn ich jetzt anfangen würde, darin herumzufuhrwerken.

Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Mit freundlicher Genehmigung von Ryan Roberts und der University Press of Mississippi, Jackson.

Buchtipp

Ian McEwan Solar Roman · Diogenes

416 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06765-1 Auch als Diogenes Hörbuch

Michael Beard ist Physiker – und Frauenheld. Er hat den Nobelpreis erhalten, doch ist er alles andere als nobel. In Solar geht es nicht nur um Sonnen-, sondern auch um kriminelle Energie.

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Kuriose Titel Der wohl lustigste Buchpreis des Jahres, gesponsert vom Branchenmagazin BuchMarkt und Schotts Sammelsurium, wurde während der Frankfurter Buchmesse zum dritten Mal vergeben. Den Preis für den kuriosesten Buchtitel des Jahres erhielt der Roman von Hallgrímur Helgason aus dem Tropen Verlag mit dem Titel: Zehn Tipps, das Morden zu beenden und den Abwasch zu beginnen. 2009 gewann Das Leben ist keine Waldorfschule von MischaSarim Vérollet (Carlsen Verlag), ein Jahr zuvor Begegnung mit dem Serienmörder. Jetzt sprechen die Opfer von Stephan Harbort (Droste Verlag).

In England hat der Preis eine lange Tradition und wird seit 1978 vergeben. Zum 30. Jubiläum erschien 2008 im Verlag Aurum Press ein Sammelband mit kuriosen Büchern. Unser Favorit: Knitting with Dog Hair (Stricken mit Hundehaaren), ein Sachbuch mit dem Untertitel: »Lieber einen Pulli von einem Hund, den Sie lieben, als von einem unbekannten Schaf«. Auch schön das Buch: How to Avoid Huge Ships (Wie man Riesenschiffen aus dem 10

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Weg geht), ein Handbuch für Hobbysegler von Kapitän John W. Trimmer, das 1992 ausgezeichnet wurde. Nicht kurios, aber sicherlich der komplizierteste Titel eines Diogenes Buchs ist Der Kongreß der Paläolepidopterologen, ein Roman von Urs Widmer, der 1989 erschien und bis heute als Diogenes Taschenbuch lieferbar ist und bei Buchhändlern (und Verlagsmitarbeitern) für Schweißausbrüche sorgt. Der längste Titel in der Diogenes Verlagsgeschichte war ein Cartoonband von Chaval aus dem Jahr 1970: Hochbegabter Mann, befähigt, durch die bloße Erdumdrehung einen Eindruck von Geschwindigkeit zu empfinden. Den Rekord für den kürzesten Titel teilen sich Banana Yoshimoto mit N.P. und Connie Palmen mit I.M.

Bericht Alte Schätze fürs Bücherregal mit Ratschlägen, wie man aus gebrauchten Büchern Geld machen kann. Der Wert von Büchern, so ist zu lesen, hänge »von drei Faktoren ab: Alter, Seltenheit und Zustand«. Neben Tipps über den Kauf und Verkauf wird aber auch gewarnt: »Die Preise alter Bücher schwanken allerdings stark – die Kurse seien zum Teil volatiler als Aktienkurse«, so Norbert Munsch vom Antiquarverband. Als Beispiel wurde unter anderem der Erzählband All the Sad Young Men von Francis Scott Fitzgerald aufgeführt. Kostenpunkt für die Erstausgabe heute: happige 4347 Euro.

Bücher & Geld »Wer Geld verdienen will, wird Banker, wer Geld verlieren will, wird Verleger«, hieß es früher. Dann kam die Finanzkrise, die Banken mussten mit Steuermilliarden gerettet werden. Mit dem Geld hätte man wahrscheinlich alle Bücher der nächsten 100 Jahre gratis verteilen können. Seit der Bankenkrise sucht man verzweifelt nach sicheren Anlagemöglichkeiten. Und auf einmal, so scheint es, werden auch Bücher interessant. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung brachte letztens im Bund Geld & Mehr den

Kurt Tucholsky forderte anno 1932: »Liebe Verleger, macht unsere Bücher billiger.« Gesagt, getan: Die Gesammelten Erzählungen von F. Scott Fitzgerald gibt es bei Diogenes in vier Leinenbänden im Schuber auf 2976 Seiten für nur 89 Euro – gegenüber der Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Ersparnis von 4258 Euro –, dazu noch auf Deutsch, und mit 93 Erzählungen sind es 84 mehr als im Band All the Sad Young Men. Wenn das kein Anlagetipp ist! Auch Autoren können zu Geld werden: als Porträt auf Münzen. Herausgeber Jan Strümpel vom Göttinger Steidl Verlag hat im Buch Geld und gute Worte literarische Münzporträts aus der ganzen Welt gesammelt, von Homer und Horaz über Goethe und Schiller bis Kurt Tucholsky und Georges Simenon. Aus einer Auswahl der Münzen haben wir auf dem Rückenumschlag dieses Diogenes Magazins eine Anzeige gemacht. Danke an den Steidl Verlag, der den Abdruck gestattete – kostenlos.

Illustration: © Roland Topor

Schaufenster


2010

1968

1861

E-Loriot Loriots Steinlaus, die im letzten Diogenes Magazin vedächtigt wurde, einem Leser einen bösen Streich gespielt zu haben (siehe Diogenes Magazin Nr.5, S. 14), wurde nun von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einer weit größeren Tat in Verbindung gebracht: mit dem Bau des längsten Eisenbahntunnels der Welt in der Schweiz. Einen Tag nach dem Durchstich des 57 Kilometer langen Gotthard-Eisenbahntunnels am 15. Oktober fand sich die Steinlaus prominent auf dem FAZ-Titelblatt. Falls Sie noch mehr Loriot wollen, gibt es jetzt eine Loriot-App für iPhone oder iPad im Apple Store. Die Koproduktion zwi-

schen Diogenes und Studio Hamburg beglückt jeden Tag mit Filmen, Cartoons und Überraschungen.

H.D.Thoreau Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays

Diogenes

Diogenes Taschenbuch, detebe 20063, 96 Seiten € (D) 7.90 / sFr 13.90 (empf. LP) / € (A) 8.20 Auch als Diogenes Hörbuch

Aktueller denn je

Foto Stuttgart 21 (freigestellt): © afp; Foto Pflasterstein (freigestellt): © Fotolia.com

Tomi Ungerer Das Dezember-Heft des renommierten Kulturmagazins Du steht ganz im Zeichen von Tomi Ungerer. Gemeinsam mit dem Künstler gibt Du Einblicke in den kreativen Augenblick und zeigt in Wort und Bild, wie sich Tomi Ungerers charakteristische Spontanität zu einem relevanten Werk verdichtet. Neben bekannten Autoren und Weggefährten tragen auch bedeutende Illustratoren zu einer spannenden Hommage bei. www.du-magazin.com

Seite-99-Test Auf der ersten Seite gibt ein Autor sich besonders Mühe, doch wie steht es um die manchmal Hunderten von restlichen Seiten? Um ein Buch auf seine Lesbarkeit und Lesewürdigkeit zu überprüfen, lese man also die 99. Seite, befand der englische Romancier Ford Madox Ford (1873 bis 1939). Diese Methode hat nun der Zürcher Tages-Anzeiger ausprobiert – auch an einem Diogenes Buch, an Lukas Hartmanns neuem Roman Finsteres Glück. Test bestanden, denn der dort zu lesende Abschnitt, so die größte Schweizer Qualitätszeitung, »weckt das Interesse und entspricht inhaltlich und stilistisch dem Rest des Romans. Der Test hat funktioniert.«

Dem ›Bestanden‹ können wir nur zustimmen und nehmen zudem gern zur Kenntnis, dass Herr Hartmann in der Schweiz weiter als Autor und nicht nur als Gatte der frisch gewählten Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Mittel punkt des Interesses steht. Seit der Wahl seiner Ehefrau in die Schweizer Regierung am 22. September lautet die protokollarisch richtige Anrede von Lukas Hartmann übrigens »Herr Bundesrätin«. Natürlich muss der Seite-99-Test auch für den Erfinder gelten. Darum hier die Seite 99 aus Ford Madox Fords berühmtestem Roman Die allertraurigste Geschichte, der als Diogenes Taschenbuch erhältlich ist. Diogenes Magazin

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Hörprobe, Leseprobe und vieles mehr von und über Allmen finden Sie auf www.diogenes.ch/allmen.

Martin Suter Allmen und die Libellen

Foto: © eyeami – Fotolia.com

Roman · Diogenes


Interview

Exklusivinterview mit Johann Friedrich von Allmen

Luxus ist eine meiner ganz großen Schwächen

Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

Johann Friedrich von Allmen ist der Serienheld aus Martin Suters neuem Roman ›Allmen und die Libellen‹. In seinem ersten Exklusivinterview gibt Allmen pikante Details aus seinem Leben preis und erzählt, wie er in seinen ersten Fall gerutscht ist. Diogenes Magazin: Sie lieben Luxus. Allmen: Luxus ist eine meiner ganz großen Schwächen. Was ist Ihnen der liebste Luxus? Am Nachmittag pflege ich mich eine halbe Stunde hinzulegen. Diese kleine Siesta erfrischt mich nicht nur, sie macht mir auch jeden Tag das Privileg bewusst, Privatier zu sein. Zu schlafen, wenn der Rest des Landes einer nützlichen Tätigkeit nachgeht, verschafft mir auch nach all den Jahren ein Glücksgefühl, das ich sonst nur vom Schulschwänzen her kenne. Ich nenne es »Lebenschwänzen«. Es gibt nichts Köstlicheres, als die Vorhänge vor dem Treiben da draußen zuzuziehen, in der Unterwäsche unter das kühle Federbett zu schlüpfen und mit halbgeschlossenen Augen den fernen Geräuschen der Welt zu lauschen. Um kurz darauf verwundert und belebt aus dem leichten Schlaf des Nachmittags zu erwachen. Und was bedeutet Ihnen Lesen? Ist Lesen auch ein Luxus?

Lesen ist die einfachste, wirksamste und schönste Art, sich seiner Umgebung zu entziehen. Mein Vater, den ich nie mit einem Buch in der Hand gesehen habe, besaß großen Respekt vor meiner Leidenschaft. Immer akzeptierte er Lesen als Entschuldigung

So schlecht ich mit Geld umgehen kann, so gut beherrsche ich den Umgang mit Schulden. für meine vielen Pflichtversäumnisse. Und meine Mutter, die stets kränkelnde und früh verstorbene sanfte Frau, an die ich nur verschwommene Erinnerungen habe, akzeptierte alle Entschuldigungen, die ihr Mann akzeptierte. Auch heute noch lese ich alles, was mir in die Hände kommt. Weltliteratur, Klassiker, Neuerscheinungen, Bio-

graphien, Reiseberichte, Prospekte, Gebrauchsanweisungen. Ich bin Stammkunde in mehreren Antiquariaten, und es ist schon vorgekommen, dass ich ein Taxi beim Sperrmüll vor einem Haus anhalten ließ und ein paar Bücher von dort mitnahm. Ich muss ein Buch, das ich einmal angefangen habe, zu Ende lesen, und sei es noch so schlecht. Ich tue dies nicht aus Respekt dem Autor gegenüber, sondern aus Neugier. Ich glaube, dass jedes Buch ein Geheimnis hat, und sei es auch nur die Antwort auf die Frage, weshalb es geschrieben wurde. Hinter dieses Geheimnis muss ich kommen. Genau genommen bin ich also nicht süchtig nach Lesen – ich bin süchtig nach Geheimnissen. Am Anfang des geheimnisvollen Falls, in dem Sie die Hauptrolle spielen, steht ein Brief mit dem lapidaren Satz: »12 455.–, inkl. Zinsen. Letzte Frist Mittwoch!! Sonst … !!!, H. Dörig.« Sie öffneten den Brief eigentlich gegen Ihre Gewohnheit. Diogenes Magazin

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Ich öffne tatsächlich aus Prinzip keine Briefe, in denen ich etwas Unangenehmes vermute. Ich bewahre mir dadurch eine gewisse Gelassenheit, die ich in meiner Situation besonders nötig hatte. Die Situation war sehr unangenehm: Sie hatten kein Geld und wurden von Gläubigern bedrängt. So schlecht ich mit Geld umgehen kann, so gut beherrsche ich den Umgang mit Schulden. Das habe ich in meiner Zeit im Charterhouse gelernt, der exklusiven Boarding School in Surrey, in die mich mein Vater auf meinen eigenen Wunsch mit vierzehn geschickt hatte. Ich wollte dem, wie ich es nannte, bäuerischen, neureichen Mief meiner Familie entfliehen. Im Charterhouse gehörte der Umgang mit Schulden zum inoffiziellen Teil der Ausbildung. Sie waren nichts Ehrenrühriges. Im Gegenteil, es förderte die Reputation, welche zu haben. Die Schulordnung limitierte aus pädagogischen Gründen das Taschengeld

der Schüler, was zu einem regen Geldleihverkehr führte. Man gab an mit seinen Schulden, bewunderte die, die die höchsten hatten, stundete sie, stotterte sie ab, aber beglich sie stets mit Eleganz und Nonchalance. Aber bei der Mahnung von Dörig war von Eleganz wenig zu spüren. Wie konnte es so weit kommen? Von Anfang an hatten die Einkünfte aus meinem Erbe nicht für meinen wachsenden Kapitalbedarf gereicht, und der Treuhänder meines verstorbenen Vaters hatte bald entnervt das Handtuch geworfen. Ihm folgte eine Reihe selbstgewählter Berater, deren Ratschläge nicht meine Einkünfte, sondern meinen Geldbedarf in die Höhe trieben. Bald sah ich mich gezwungen, meinen Lebensstandard und meine Neuanschaffungen – neben der Villa Schwarzacker zählten Appartements in Paris, London, New York, Rom und Barcelona dazu – dadurch zu finanzieren, dass ich mich von weniger spektakulären, aber solideren

JOHANN FRIEDRICH VON ALLMEN INTERNATIONAL INQUIRIES

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Vermögenswerten aus meines Vaters Hinterlassenschaft trennte. Und als auch dieser Vorrat sich dem Ende zuneigte, finanzierte ich mich durch – meist etwas überstürzte – Verkäufe ebendieser Neuanschaffungen. Zuerst Immobilien, dann Möbel, dann Sammlerobjekte, dann nach und nach die immer seltener werdenden Unentbehrlichkeiten meines früheren Lebens. Die da wären? Das Opern-Premierenabonnement ist ein Kernstück auf meiner Liste der Lebensnotwendigkeiten. Erst, wer sich das nicht mehr leisten kann, ist wirklich pleite. Schon zu Lebzeiten meines Vaters besaß ich zwei der begehrtesten Plätze, Parkett Mitte, fünfte Reihe. Mein Vater hatte damals die Investition von jährlich über viertausend Franken klaglos geleistet, da sie ja unter die Bildungsausgaben fiel. Inzwischen kosten die beiden Plätze das Doppelte und lauten noch immer auf Johann Friedrich v. Allmen. Allerdings habe ich seit Beginn dieser Saison den zweiten Platz untervermietet. Einer meiner vielen weitläufigen Bekannten, Serge Lauber, ein Investmentbanker, hatte mir sechstausend Franken bar auf die Hand geboten. Das war ein Angebot, das ich in meiner Situation schlecht ausschlagen konnte, es finanzierte mir die Hälfte meines eigenen Abonnements. Dessen Zahlung ich übrigens seit Saisonbeginn schulde, ohne dass man mich bis jetzt gemahnt hätte. Mit so langjährigen Abonnenten und großzügigen ehemaligen Sponsoren zeigt man Geduld. An einem Opernabend machten Sie die Bekanntschaft mit Joëlle, genannt Jojo, der Tochter des steinalten und -reichen Financiers Hirt. Keine besonders schöne Frau, aber das wusste sie geschickt zu verbergen. Erst später sah ich die Spuren eines Lebens mit zu viel Sonne, zu wenig Schlaf, zu viel Spaß und zu wenig Liebe. Am Abend dieses nassen

Herbsttages war Premiere von Puccinis Madame Butterfly. Und durch Joëlle wurden Sie in einen gefährlichen Fall mit fünf wertvollen Libellen-Schalen hineingezogen. Sie wurden wegen dieser Schalen sogar angeschossen und mussten aus Sicherheitsgründen in ein Hotel ziehen. Im Gärtnerhaus war mir das Leben zu gefährlich geworden. Ich entschied mich für das Grand Hotel Confédération, ein elegantes, wenn auch etwas verstaubtes Fünfsternehotel im Stadtzentrum. Ich kannte dort den Direktor, der früher das République in Biarritz geleitet hatte, wo ich in besseren Zeiten gerngesehener Stammgast gewesen war. Ich hatte vor, ein normales Zimmer zu bestellen, kam aber davon ab, weil ich befürchtete, diese ungewohnte Bescheidenheit könnte falsch interpretiert werden und meine Kreditwürdigkeit beeinträchtigen. Ich bestellte eine Junior Suite. Ich genoss das Gefühl, im Hotel zu sein. Es lag mir zwar etwas zu nahe bei meiner Wohnung, aber von innen war es so international, dass ich mich irgendwo in der Welt wähnen konnte. Ich liebe diesen Hotelmoment: Aufwachen im Halbdunkel eines fremden Zimmers und nicht wissen, wo man ist. In welcher Stadt, in welchem Land, auf welchem Kontinent. Ein schöner Hotelmoment, ganz anders als die Nacht, die Sie im Hotel Seeschloss verbringen mussten. Hier sollte das Bargeld übergeben werden, das den Fall und Ihre Probleme ein für alle Mal lösen sollte. Das Seeschloss ist ein tristes Gebäude aus den siebziger Jahren an atemberaubender Lage, falls man den Postkarten glauben will, die an der Rezeption ausliegen. Im Frühstücksraum riecht es nach übergekochtem Filterkaffee, der auf der Heizplatte verdampft. Der Aufschnitt auf dem Buffet sieht aus, als hätte er die ganze Nacht dort gelegen. Wie haben Sie sich in der letzten Nacht vor der Lösung des Falls abgelenkt?

Ich hätte mich gerne mit Klavierspielen abgelenkt und vermisste meinen Bechstein. Dessen Ersatz würde die erste Anschaffung sein, die ich mir später leisten wollte. Ich versuchte, mit Hilfe von Kommissar Maigret auf andere Gedanken zu kommen, normalerweise ein unfehlbares Rezept. Aber das Kriminalistische an der Geschichte erinnerte mich zu sehr an meinen eigenen Fall. Ich legte das Buch zur Seite, ging ans Büchergestell und griff zu einem anderen Fluchthelfer aus der Wirklichkeit: William Somerset Maugham. Und jetzt, wo alles vorbei ist, was sind Ihre Pläne? Meine Gedanken hängen möglichen Einkommensquellen nach. Vielleicht sogar regelmäßigen. Ich stelle mir eine Visitenkarte vor. »Johann Friedrich von Allmen«. Zwölf Punkt Times mit Kapitälchen. Darunter, zwei Punkt kleiner: »International Inquiries«. Herzlichen Dank für das Gespräch. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg und weitere spannende Fälle. kam

Alle Antworten sind Zitate aus dem Roman ›Allmen und die Libellen‹ von Martin Suter

Buchtipp

Martin Suter Allmen und die Libellen Roman · Diogenes

208 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06777-4 Auch als Diogenes Hörbuch

Das Debüt des ungewöhnlichen Ermittlers Allmen. Genauer: Johann Friedrich von Allmen, eleganter Lebemann und Feingeist, über die Jahre finanziell in die Bredouille geraten. Der erste Fall: fünf wertvolle Jugendstil-Schalen.

Diogenes Magazin

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Fotos S. 16: oben links: © Eve Arnold / Magnum Photos; oben rechts: © André Dienes; Mitte: © Jock Carroll, Library and Archives Canada / Foto © Christie’s Images, Bridgeman, Berlin; unten links: © Alfred Eisenstaedt / Getty Images; unten Mitte: © The Kobal Collection; unten rechts: © MPTV / interTOPICS; Foto S. 17: © Eve Arnold / Magnum Photos

Owl’s Eye

Ist Lesen sexy? I

st Lesen sexy? Darüber kann man sich lange den Kopf zerbrechen, oder man wirft einen Blick auf die sieben Fotos auf dieser Doppelseite. Es sind nicht die einzigen Fotos, die Marilyn Monroe mit Büchern zeigen. Auf weiteren Schnappschüssen liest sie etwa den Lyrikband Grashalme von Walt Whitman oder Bücher von Irving Shulman und Earl Wilson. Auf dem Bild rechts unten hat Marilyn eine Goya-Biographie aufgeschlagen, und daneben liest sie Gedichte von Heinrich Heine. Aber nur eingefleischte Bücherfans werden auf den Titel schielen, wenn Marilyn ein Buch in den Händen hält. Nick Hornbys Behauptung »Eine Wohnung voller kluger Bücher ist das Erotischste überhaupt« verliert schlagartig an Überzeugungskraft, wenn die Monroe sich vor dem Bücherregal räkelt. Der Fotograf Philippe Halsman vom Magazin Life staunte über die Bibliothek, die so gar nicht zu einem Sexsymbol passte: »Jede Menge Bücher, die ich hier nicht erwartet hätte, etwa Dostojewskij, Freud und eine Geschichte des Fabier-Sozialismus.« Was der Satz Beware of Dogs neben der lesenden Marilyn auf dem Foto in der Mitte soll, ist rätselhaft, aber dazu passt das Bonmot von Groucho Marx: »Outside of a dog, a book is a man’s best friend; inside a dog, it’s too dark to read.« Monroe hatte einen Terrier, Maf, aber sie liebte vor allem Bücher. »Ich habe nie die Schule beenden können, und so ging ich in Los Angeles zur Uni. Abends. Tagsüber verdiente ich mir meinen Lebensunterhalt mit kleinen Filmrollen. Ich hörte Vorlesungen in Geschichte und Literatur. Ich las viel, die großen Dichter. Ich entdeckte eine Menge Dinge«, erzählte sie Georges Belmont im berühmten Marie ClaireInterview. Hier verriet sie auch, wie Arthur Miller nach dem ersten Kennenlernen ihr Herz gewann: »Wir haben uns geschrieben, und er schickte mir eine Liste mit Büchern.« Vier Jahre später heirateten sie. Marcel Reich-Ranicki liest, so hat er einmal in einem Interview verraten, nie

im Bett, sondern immer in Anzug und Krawatte am Schreibtisch. Marilyn Monroe trägt beim Lesen Badeanzüge, Morgenmäntel oder enge Hotpants. Aus ihrer Rolle einer Sexbombe konnte sie jedenfalls auch mit Büchern als Requisiten nicht ausbrechen – die Tragödie nicht nur der lesenden Marilyn.

Ich hatte gerade einen neuen Film in die Kamera gespult und drückte natürlich auf den Auslöser.« Übrigens gibt es eine Erklärung, warum Marilyn auf den Fotos gerade die letzten Seiten liest. In jener Zeit übte sie für Lee Strasbergs Actors Studio Molly Blooms Monolog aus dem letzten Kapitel von Ulysses.

Doch nun zum weltweit bekanntesten Foto einer lesenden Frau: Marilyn liest Ulysses. Hier treffen zwei Mythen des 20. Jahrhunderts aufeinander: the look

Ist Lesen sexy? Das Foto ist es zweifelsohne. »Das Bild ist so sexy, gerade weil es zeigt, wie Marilyn James Joyces Ulysses liest«, so Jeanette Winterson. »Sie muss nicht posieren, wir brauchen nicht einmal ihr Gesicht zu sehen, das Bild strahlt absolute Konzentration aus, und nichts ist sexier als Konzentration. Da ist sie, die Göttin, und hat es nicht nötig, ihrem Publikum oder ihrem Mann zu gefallen, sie lebt einfach im Buch. Die Zerbrechlichkeit ist da, aber auch etwas, was wir bei der blonden Sexbombe selten sehen, das Gefühl, mit sich selbst eins zu sein. Es ist keine Playboy-artige Mischung aus Geist und Titten, die dieses Foto so vollkommen macht. Vielmehr zeigt es, dass Lesen immer ein privater Akt ist, intim, weil es Bettgeflüster ist, ohne Regeln und ohne Zuschauer, frei und unbeobachtet.« So einsam der Akt des Lesens ist, so intim ist er auch, und deshalb so erotisch. Nur in Büchern können wir, was uns im wirklichen Leben verwehrt ist, in die Gedankenwelt eines anderen Menschen eintauchen, in die Haut eines anderen schlüpfen. Wer dies dem Leser bis zur letzten Konsequenz ermöglicht hat, war eben James Joyce mit seiner Technik des Bewusstseinsstroms im Ulysses. »Lesen ist eine sehr intime Erfahrung. Man kommt jemandem so nahe wie sonst nie, außer im Bett. Nein, noch näher«, hat J.G. Ballard behauptet. Und Lesen ist auch deshalb so erotisch, weil es Erfüllung bietet. Walter Benjamin hat es poetischer ausgedrückt, als er sagte, dass wir unser kaltes, fröstelndes Leben am Feuer der literarischen Figuren erwärmen. Aber davon das nächste Mal mehr. sid

and the book. Viele werden vermuten, dass die berühmte Fotoserie der schönen Lesenden mit James Joyces Jahrhundertroman gestellt war. War sie aber nicht, wie die Fotografin Eve Arnold erzählt: »Wir arbeiteten am Strand von Long Island. Ich fragte sie, was sie gerade am Lesen sei, als ich sie abholte – ich wollte wissen, wie sie ihre Freizeit verbrachte. Sie hatte ein Exemplar von Ulysses in ihrem Wagen und las das Buch schon seit einiger Zeit. Sie sagte, sie liebe den Klang und würde das Buch laut lesen, um es besser zu verstehen – sie fand die Lektüre nicht einfach und kam nur stückchenweise voran. Als wir an einem Spielplatz haltmachten, nahm sie Ulysses mit und vertiefte sich darin.

Im nächsten Magazin: Ist Lesen sexy? / Teil 2 Diogenes Magazin

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Foto: © Marc Wetli /13 Photo AG

Emil Steinberger ist einer der bekanntesten Schauspieler und Kabarettisten der Schweiz. Seine Tournee mit dem Erfolgsprogramm ›Drei Engel!‹ hat es auf bisher 600 Vorstellungen gebracht. Dass Emil eines Tages sogar Texte »vom Hugo« (wie er dem Diogenes Verlag so schön schrieb) für ein Hörbuch lesen würde, hätte er sich nie vorstellen können. Und schon hat er seine Stimme erneut verliehen, nämlich dem Schweizer Kinderbuchklassiker ›Pitschi‹ von Hans Fischer (als DVD bei ›NordSüd‹). Emil Steinberger und seine Frau Niccel haben vor 10 Jahren den Verlag Edition E gegründet, in dem Niccels Bücher (ganz neu: ›Hund auf Jobsuche‹) erscheinen und natürlich auch alle DVDs und CDs von Emil sowie dessen Bücher ›Wahre Lügengeschichten‹ und ›Emil via New York‹.


Interview

Ein Schweiz-Gespräch mit Emil Steinberger

Die Schweiz bleibt für viele ein Paradiesli

Foto: © Martha Schoknecht / Diogenes Verlag

Emil hat der Schweiz – und Deutschland – mehr Lacher beschert, als der Emmentaler Käse Löcher hat. Jetzt hat er der Hörbuchfassung von Hugo Loetschers Schweiz-Klassiker ›Der Waschküchenschlüssel‹ seine Stimme geliehen. Exklusiv fürs ›Diogenes Magazin‹ spricht Emil Steinberger über seine ganz persönlichen Waschküchenschlüssel-Traumata und beantwortet Fragen zur Zukunft der Schweiz und zu den gängigen Schweiz-Klischees der Deutschen. Diogenes Magazin: Hatten Sie auch schon Waschküchenschlüssel-Erlebnisse? Emil Steinberger: Was glauben Sie, wie ich staunte, als ich zum ersten Mal den Buchtitel Der Waschküchenschlüssel gelesen habe! Mein Herz klopfte sofort schneller. Ich muss so um die 14 Jahre alt gewesen sein, als mir bewusst wurde, dass meine Mutter immer wegen des Waschküchenschlüssels so viel Ärger mit den andern Hausbewohnern hatte. In einem Haus mit zwölf Familien gibt es ja immer Intrigen, Gerüchte und Geschwätz. Und genau dieser bescheidene Waschküchenschlüssel eignete sich ideal, um es den bösen Frauen mal heimzuzahlen, indem man den Schlüssel mit Verspätung weitergab, obwohl man ihn gar nicht benötigte, oder die Hälfte der Wäsche im Trocknungsraum hängen ließ. Solcherlei erlebte Szenen

haben sich dann in mein Bühnenprogramm Feuerabend (1980) eingeschlichen. Da stand ich als Theater-Feuerwehrmann auf der Bühne und erhielt einen gespielten, störenden Anruf meiner Frau. Sie bat mich um Rat, da

der Waschküchenschlüssel immer noch nicht bei ihr im Briefkasten gelandet sei. Eine Kabarettnummer, die in Deutschland ebenso gut funktionierte wie in der Schweiz. Hugo Loetscher hat Waschküchenschlüssel-

Szenen auf seine Art erlebt und geschildert. Bei der Lektüre konnte ich mich sehr gut in seine Erlebnisse einfühlen. Es beeindruckte mich auch, dass sich so ein großer Schriftsteller von so einem kleinen Gegenstand zum Schreiben inspirieren ließ. Diese Art von Literatur liebe ich. Wie würden Sie die Schweiz definieren? Die Schweiz ging seit ihrer Gründung durch einige Tiefs und Hochs. Sie hat sich gefestigt, ist aber auch durch die vielen Ansprüche, die die Bürger laufend an ihren Staat stellen, etwas schwerfälliger geworden. Es ist kein einfacher Weg, den dieses Land in Zukunft zu gehen hat. Auf der einen Seite die rückwärtsgewandten Kräfte, die das Land vor jeder Veränderung schützen wollen, auf der anderen Seite Gruppen, die wissen, dass sich ein Land wie die Schweiz auch öffnen Diogenes Magazin

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Foto: © Niccel Steinberger, Edition E

muss, das heißt, andere Kulturen und internationale Tendenzen prüfen, einsetzen oder wenigstens tolerieren muss. Werden wir in der Schweiz noch weiter so angenehm leben können, wenn die Bevölkerung um weitere zwei bis drei Millionen Menschen aufgestockt wird? Ob dann unter den vielleicht zehn Millionen Schweizern eher Intoleranz herrschen wird und das gute, demokratische Leben mit seinen steten Kompromissentscheidungen nicht Schaden erleidet? Mit welchen Schweiz-Klischees werden Sie in Deutschland konfrontiert? Es ist bekannt, dass man in Deutschland von unserem Land schwärmt. Meist sind die Schokolade, der Käse, unsere Uhren, das Fränkli, die Banken und die Art unserer Demokratie die Gründe dafür. Andererseits hat man aber in letzter Zeit auch immer wieder mit einem Lächeln die schwarzen Wolken über der Schweiz verfolgt. Zum Glück haben diese Wolken aber das Urteil über die Schweiz nicht wirklich negativ beeinflussen können. Wir bleiben für viele ein Paradiesli. Es geht bei uns etwas ruhiger zu, vielleicht auch etwas menschlicher, und die Bürokratie, auch wenn sie groß ist, ist immer noch geringer als in Deutschland. Aber wir können schon auch nerven! Das beinahe aggressive Abwerben deutscher Unternehmen mit Zückerchen wie niedrigen Steuern, Gewerkschaftsverhalten, hohen Löhnen, Zuverlässigkeit usw. wird uns zu Recht oft angekreidet. Und trotzdem, man liebt dieses Land, erforscht es im Urlaub bis in die hintersten Ecken und fühlt sich hier einfach gut aufgehoben. Das höre ich immer wieder. Bis eines Tages beim deutschen Besucher der naheliegende Gedanke auftaucht: »Wieso lebe ich nicht in der Schweiz?« So öffnen wir Schweizer den vielen gut ausgebildeten deutschen Arbeitskräften und Millionären Tür und Tor. Was bewirkte der Film Die Schweizermacher?

Hörbuchtipp

EMIL STEINBERGER LIEST Der Waschküchenschlüssel

von Hugo Loetscher

1 CD, gelesen von Emil Steinberger ISBN 978-3-257-80300-6

Ein Schlüsselwerk zum Verständnis der helvetischen Seele und ihrer Eigenarten. Endlich als Hörbuch – gelesen vom legendären Emil. »Charakteristisch für Emil ist, dass er selbst gegenüber den Menschen, den Figuren, über die wir lachen sollen und es gerne tun, respektvoll bleibt, ja ihnen Zuneigung entgegenbringt. Das ist etwas, was im heutigen Komikerbusiness als allzu brave und naive Vergangenheit gilt. Schade eigentlich, denn irgendwie macht es mehr Spaß, freundlich über Menschen zu lachen als vernichtend.« Stuttgarter Zeitung

Ich habe immer wieder gehört, dass der Film Die Schweizermacher (1978) viele Deutsche davon abgehalten habe, den Schweizer Pass zu beantragen. Das Verhalten der Polizei und die Prüfungsfragen hätten sie abgeschreckt. Der Film bewirkte aber auch bei uns Schweizern, dass wir einmal über uns selber lachen konnten, was ein gutes Zeichen ist. Nur verändert das Lachen im Leben scheinbar nicht genug, denn die Einbürgerungskriterien sind teilweise noch auf unsympathische Art verschärft worden. Kommt Ihnen das Hochdeutsch genauso einfach über die Lippen wie das Schwyzerdütsch? Wenn ich nach einer längeren Deutschland-Tournee wieder einmal auf einer Schweizer Bühne auftreten kann, ist es für mich eine reine Wohltat, mich in meiner Muttersprache ausdrücken zu dürfen. Da läuft der Text einfach runder und geschmierter, als wenn ich alles in meinem etwas gestelzten Hochdeutsch formulieren muss und grammatikalisch doch einigermaßen korrekt sprechen will. Es fehlen mir im Hochdeutschen einfach die feinen Zwischentöne, die unseren Dialekt so würzen. Dennoch sagen mir die Deutschen immer wieder: »Wenn Sie hochdeutsch reden, ist das wie Musik für unsere Ohren.« Das freut mich natürlich. Vielleicht lenkt sie diese Musik von der Unvollkommenheit meiner Sprache ab, wovon ich profitiere. Gibt es irgendetwas, das Sie gern noch ausprobieren würden? Ich habe einmal zwanzig Berufe aufgezählt, die ich in meinem Leben bisher ausgeübt habe. Und trotzdem gibt es immer noch Berufe, die eine gewisse Versuchung für mich darstellen. So zum Beispiel das Filmbusiness. Ich habe aber unglaublichen Respekt vor den Berufen dieser Branche. Die jahrelangen Erfahrungen, die Filmschaffende sich erarbeitet haben, kann ich nicht mehr aufholen. Trotzdem – ein Film? Ein Traum darf es noch bleiben. Und vielleicht erwache ich plötzlich, und dann ist es doch noch Realität geworden. kam/msc

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Schweiz für Anfänger

Hugo Loetscher

Die achte Todsünde

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iner der kostspieligen Aufträge des Schweizer Fernsehens galt einer Serie von Filmen über die »Sieben Todsünden«. Ein herrliches Thema, zumal die Filmemacher die Absicht hatten, zu zeigen, dass wir Schweizer für solche Todsünden nicht geeignet sind. Tatsächlich: Wenn wir einen Schweizer (oder eine Schweizerin) träfen, der (oder die) zum Beispiel sich sagenhaft der Wollust ergäbe oder unendlicher Faulheit obläge, müssten wir ob solcher Rarität nicht empört, sondern zutiefst erfreut sein. Aber solches Suchen ist müßig. Das hängt damit zusammen, dass uns Todsünden nicht liegen. Denn Todsünden sind radikale Sünden. Unsere Sparten sind mehr die lässlichen Sünden, kleine, dafür viele, weil wir die Region und die Gemeindeautonomie auch beim Sündigen mitberücksichtigen müssen.

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Wir pflegen die Sünden, die nicht so schlimm sind. Deswegen kann auch die Bestrafung nie so schlimm ausfallen, selbst auf die Gefahr hin, dass es auch mit der Belohnung nicht so weit her ist. Lässliche Sünden sind verlässliche Sünden. Mit unserem gesunden Sinn für die Mitte haben wir nichts für Extremfälle wie Himmel und Hölle übrig. Wir sind für die Mitte, und in der Mitte liegt das Fegefeuer. Ein solches Jenseits entspricht unserem schweizerischen Diesseits: das Glück auf kleinem Feuer kochen, damit es nicht anbrennt, und stets im Unglück rühren, damit es bald gar wird. Aber vielleicht sieht es gar nicht so hoffnungslos aus mit unserer Fähigkeit zu sündigen. Vielleicht ist es einfach nur so, dass unsere Todsünden noch gar nicht auf der üblichen Liste vorkommen, wo von Stolz, Neid, Wol-

lust, Faulheit, Völlerei, Habsucht und Zorn die Rede ist. Wenn wir als Schweizer einen Sonderstatus in der Weltgeschichte einnehmen, liegt es nahe: wenn schon Todsünden, dann solche, die unserer Eigenart entsprechen. Um das zu verstehen, hilft vielleicht eine Sage weiter, wie man sie von der »Muffigen Alp« erzählt. Da war einmal ein junger Senn, der besaß ein »Schachteli«, eine Art Schatulle, die war geschnitzt und bemalt, und der Senn achtete sehr darauf. Dieses »Schachteli« erregte überall Neugier. Nicht nur auf der Alp, sondern auch in Tal und Tobel. Alle andern Sennen wunderten sich, was es wohl für eine Bewandtnis habe mit diesem Schachteli; viele waren überzeugt, dass der Senn darin Kostbares versteckte. Aber eines Tages öffnete der Senn das Schachteli. Der Innendeckel und

Illustration: © Tatjana Hauptmann

Hugo Loetschers Buch ›Der Waschküchenschlüssel oder Was – wenn Gott Schweizer wäre‹ gilt als die kurzweiligste und bissigste Einführung in die Eigenarten der helvetischen Seele. Hier ein Ausschnitt über die achte, die urschweizerische Todsünde, die zugleich eine Lektion in Sachen Basisdemokratie ist. Den Klassiker gibt es jetzt in einer Neuausgabe und auch als Hörbuch, gelesen vom legendären Schweizer Schauspieler und Kabarettisten Emil Steinberger.


der Boden waren bemalt, das Schachteli war leer und war bloß schön. »Ihr seid neidisch«, sagte die Serviertochter im »Gemsbock«, als sich die andern Sennen über das Schachteli ausließen. »Ach was«, antworteten die. Es war tatsächlich so, dass keiner das Schachteli haben wollte, es stand und lag sonst schon genug Zeug in Stall und Haus herum. Aber nachdem sie wussten, dass nichts dran war, waren sie erst recht beunruhigt. Jeder fragte sich: Wozu braucht der ein solches Schachteli? Sie waren umso unruhiger, als der Senn an seinem Schachteli Freude hatte und diese sogar zeigte. An einem langen Winterabend brach einer der andern Sennen im »Gemsbock« das Schweigen: »Da könnte jeder kommen …« Alle nickten: Ja, da könnte jeder kommen und ein solches Schachteli haben. Alle sahen sich an, erkannten sich im muffigen Gesicht des andern wieder und begriffen, weshalb ihr Schicksal von der »Muffigen Alp« bestimmt war. Der, welcher schon gesagt hatte, da könnte jeder kommen, nahm nochmals tief Atem, die anderen taten einen großen Schluck, bevor sie sich den zweiten Satz anhörten, zu dem der Redner eben ausholte: »Wo führt das hin!«

Einer am untern Tischende pflichtete bei: »Wo führt das hin, wenn jeder von uns mir nichts, dir nichts plötzlich anfängt, fröhlich zu werden!« Alle spürten die Bedrohung und schauten mit verbissenem Mund durchs Fenster auf den Ewigen Firn.

Das schweizerische Diesseits: das Glück auf kleinem Feuer kochen, damit es nicht anbrennt. »Wozu braucht der ein solches Schachteli? Unsereins kommt auch ohne solche Schachteli aus, und dies seit Generationen!« Sie waren sich einig, dass man auf der Hut sein musste. Sie beschlossen, auf den Senn mit dem Schachteli aufzupassen; als Erstes zählten sie in seinem Käse die Löcher nach. »Ich habe mich geirrt«, sagte die Serviertochter. »Ihr seid nicht neidisch. Das wäre noch menschlich: etwas haben wollen, das der andere hat. Ihr seid missgünstig: Ihr gönnt dem andern nicht, was ihr selber gar nicht haben mögt.« Der Lehrer klatschte; er applaudierte einem Schulsystem, das auch Serviertöchter dazu bringt, feine Unterschiede zu machen. Nach einem

Schluck meldete er sich erneut zu Wort. Alle horchten auf, obwohl er nur Ziegen und Schafe und keine Rinder besaß. »Wir sorgen nur dafür«, sagte der Lehrer, »dass nicht irgendeiner die Ordnung mit irgendeinem Schachteli stört.« Alle staunten ob dem Verantwortungsbewusstsein, das auf sie zukam. Sie hoben mit dem Glas ihre Schwurfinger und gründeten einen Bund. »Nein«, lächelte der Lehrer zur Serviertochter. »Das ist nicht Missgunst, das nennt man Demokratie.«

Buchtipp

Hugo Loetscher Der Waschküchenschlüssel oder

Was – wenn Gott Schweizer wäre

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ca. 192 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06725-5 / APRIL 2011

Eine Art literarisches Schweizermesser. Aufklappen und die Schweiz verstehen.

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Thema: Musik

Wenn Bücher klingen E

s gibt wohl kaum eine Kunst, zu der die Literatur wie zu einer älteren Schwester hochsehen kann, wie die Musik. Die Beziehung der beiden ist ungleich: Während die Musik ganz gut ohne Sprache auskommt, gehört zur Literatur unausweichlich Musikalität. Ohne Atem, Rhythmus, Melodie gibt es keinen Satz, und ohne eine Vorstellung eines Geräusches keine Lautzeichen, sprich Buchstaben. Es lässt sich sogar behaupten, die Literatur sei aus der Musik geboren. Als Vorgesungenes, Vorgetragenes, rhythmisch gefasstes Weitererzähltes ist sie in Form von Epen, Mythen, Mysterienspielen, Minneliedern oder auch Gebeten in einer Jahrhunderte dauernden Transformation immer mehr auch zu Schrift und Papier geworden und schließlich zu dem, was wir heute Literatur nennen. Ihre Abstammung kann sie auch in Buchform nicht leugnen: Noch heute sagt man, dass der Sprache jedes bedeutenden Autors eine ganz ihm eigene, unverwechselbare Melodie unterliege, die er im Kern nicht beeinflussen könne. Wenn er sie finde, dann habe er sie als ein Geschenk der Musen anzunehmen. Manche Leser gehen so weit zu sagen, dass es nicht die Bedeutung der Worte, sondern die Sprache jenseits der Spra-

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che, die subkutane Melodie sei, die uns einen Schriftsteller ganz unbewusst lieben oder meiden lässt. Zum Glück braucht man aber nicht Troubadour oder Komponist zu sein, um literarische Musikalität – oder Musik überhaupt – genießen zu können. Musik ist die vielleicht unmittelbarste Kunst: Ohne auf Sprache oder Bildhaftigkeit, ja sogar ohne auf Bedeutung angewiesen zu sein, berührt sie uns, wie kaum etwas anderes es je vermag.

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Kein Wunder, führen viele Autoren eine lebenslang anhaltende Liebesbeziehung zur Musik. In unserem Thementeil Bücher & Musik erzählt Sempé von seiner Offenbarung durch den Jazz, Donna Leon von ihrem tierischen Projekt mit Händel-Arien und Tomi Ungerer von allen möglichen Tönen. Am Schnittpunkt zwischen Musik und Text treffen sich Philippe Djian und Stephan Eicher. Und Ian McEwan schwärmt: »Romane, selbst die besten, sind nie von A bis Z vollkommen – Anna Karenina oder Madame Bovary und ganz sicher Ulysses haben ihre Längen. Die GoldbergVariationen nicht. « js

Patricia Highsmith Mag ich: Bachs Matthäuspassion. Mag ich nicht: Musik von Sibelius. Die meisten Live-Konzerte, vor allem Streichquartette, deren Köpfe man nicht einmal in einem kleinen Publikum sehen kann.

em einen höchster Genuss, für den anderen nervtötendes Getöse. Wer welche Musik mag oder nicht, haben wir aus der Diogenes»Mag ich, mag ich nicht«-Kolumne der letzten zwanzig Jahre herauskompiliert – von Federico Fellini bis Lukas Hartmann. Federico Fellini Mag ich: Glockengeläute. Mag ich nicht: Musik in Restaurants. Musik allgemein (ihr ausgesetzt sein).

Paul Flora Mag ich: Trompetenblasen. Zirkusmusik. Harfenspiel. Mag ich nicht: Klaviermusik in Hotels. Musik bei Krimis (man versteht dadurch das entscheidende Wort nicht). Maurice Sendak Mag ich: Mozart! Haydn. Schostakowitsch. Janá√ek. Mag ich nicht: Andrew Lloyd Webber. Operetten. Vivaldi. Musiker.


Illustrationen: © The Saul Steinberg Foundation / 2010 ProLitteris, Zürich

Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist. Victor Hugo

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»Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an.« E.T.A. Hoffmann

Alfred Komarek Mag ich: Leonard Cohens Art, falsch zu singen. Mag ich nicht: Nichtssagende Lautstärke. Akustische Luftverschmutzung. Den Musikantenstadl.

Lukas Hartmann Mag ich: Bach (Johann Sebastian), Schuberts Streichquintett. Die Stimmen von Maria Callas und Elı¯na Garan√a. Wenn meine Frau abends Chopin spielt. Mag ich nicht: Begleitmusik, wo auch immer. Fast alles von Wagner. Den Musikantenstadl.

Petros Markaris Mag ich: Mahlers 4. Sinfonie. Die Filmmusik von Luigi Nono. Mag ich nicht: Wagners Fliegenden Holländer. Die gemeinsamen Auftritte von Pavarotti, Domingo und Carreras. John Irving Mag ich: Oper. Musik (sogar Rockmusik). Mag ich nicht: Musicals. LiveKonzerte, weil ich Menschenmassen nicht mag. Donna Leon Mag ich: Bachs Kantaten. Händels Opern und Oratorien. Mezzosopranund Kontratenorstimmen. Mag ich nicht: Was aus Luciano Pavarotti geworden ist. Martin Walker Mag ich nicht: Coverversionen von Songs, die ich gut kenne.

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Fatou Diome Mag ich: Ich mag die Suiten für SoloCello von J. S. Bach. Warum? Weil … Ach, es ist unbeschreiblich. Machen Sie es sich bequem, schließen Sie die Augen, hören Sie: Auf einmal sind Sie ein Höhlenforscher Ihrer eigenen Seele oder ein Pelikan, der hoch über den menschlichen Banalitäten schwebt. Danke, Bach! Das Cello, dieses Orchester-Instrument, einzeln gespielt, strebt mit allen seinen Saiten nach Wohlklang. Darin spüre ich die grundlegende und unheilbare Einsamkeit des Menschen. Selbst wenn man zusammen ist, atmet jeder durch seine eigene Nase, auch durch das Leiden muss man selbst hindurch. Musik, Maestro! Lass meine Feder tanzen, die Saiten der Kora (westafrikanische Harfen-Laute) erklingen! Musik und Schreiben, sie bringen beide die Seele in Harmonie und trösten uns im Leben.

Foto: © Matthias Willi

Andrea De Carlo Mag ich: Eine handgemachte Gitarre. Blonde on Blonde (Album von Bob Dylan). Aftermath (Album der Rolling Stones). Mozart. Mag ich nicht: Beethoven (ausgenommen seine Kammermusik).


Diogenes Bücher für Musikfreunde

Patrick Süskind, Der Kontrabaß 112 Seiten, detebe 23000

Dorothea Leonhart, Mozart. Eine Biographie 400 Seiten, detebe 23674

Tomi Ungerer, Tremolo 32 Seiten, Diogenes Kinderbuch. Pappband, isbn 978-3-257-00852-4

Wolfgang Amadeus Mozart, Briefe 464 Seiten, detebe 21610

Das große Liederbuch 240 Seiten, Diogenes Hausbuch. Leinen, isbn 978-3-257-00947-7

Lorenzo Da Ponte, Mein abenteuerliches Leben 320 Seiten, detebe 22529

Das kleine Kinderliederbuch 80 Seiten, Diogenes KinderKlassiker. Halbleinen, isbn 978-3-257-01113-5

Ludwig Marcuse, Richard Wagner 304 Seiten, detebe 21085

Loriots Kleiner Opernführer 192 Seiten, Leinen, isbn 978-3-257-06482-7 Auch als Taschenbuch: detebe 23595

Ludwig van Beethoven, Briefe 176 Seiten, detebe 23121

Die schönsten Kinderlieder Diogenes Hörbuch (1 cd) Gesungen von Heike Makatsch, arrangiert von derhundmarie, isbn 978-3-257-80281-8

Franz Schubert, Briefe 160 Seiten, detebe 22998 Die schönsten Liebesbriefe deutscher Musiker 128 Seiten, detebe 23527 Wilhelm Müller, Die Winterreise 96 Seiten, detebe 21932

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29.09.2010 14:49:59 Uhr

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Donna Leon hat sich in ihrem neuen Buch ›Tiere und Töne ‹ auf die Spuren der Tiere in Georg Friedrich Händels Opern gemacht. Die Tiere phantasievoll eingefangen hat der bekannte Berliner Künstler Michael Sowa. Entstanden ist ein Buch nicht nur für Musik- und Tierfreunde, sondern für Augen und Ohren zugleich – dank der zum Buch gehörenden CD von ›Il Complesso Barocco‹, dirigiert von Alan Curtis, auf der zwölf Tier-Arien von Händel zu hören sind.


Thema: Musik

Donna Leon

Tiere und Töne Beim Hören ihres Lieblingskomponisten Georg Friedrich Händel ist Donna Leon aufgefallen, dass es in Händels Musik von Tieren nur so wimmelt, dass er in Arien immer wieder Tiere in Töne umgesetzt hat. Donna Leon ist auf Spurensuche gegangen und hat einiges entdeckt.

Illustration links: © Michael Sowa; Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag

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enkt euch den Motor weg. Streicht ihn aus eurem Bewusstsein: Stellt ihn ab. Und dann seht die Welt mit neuen Augen – oder, besser gesagt, seht die Welt so, wie sie war, bevor sie durch die Erfindung des Motors ein anderes Gesicht bekam. Sogleich verlieren manche Dinge an Bedeutung, andere werden wichtig. Wen kümmert Öl? Die Frage ist: Wo bekomme ich ein gutes Reitpferd her? In einer Welt ohne Motor ist die Rangordnung der Schöpfung wiederhergestellt, die Tiere erhalten ihre ursprüngliche Bedeutung zurück. Ochsen leihen dem Menschen, der noch keine Maschinen hat, ihre Körperkraft, und wie schnell jemand sich von einem Ort zum anderen bewegt, hängt von den Beinen seines Pferdes ab. Tiere erleichterten die Arbeit, sie zu besitzen war entscheidend für Reichtum und Macht in der vorindustriellen Welt. Denkt euch auch jene Medien weg, die uns heute mit Informationen über die Welt versorgen – das gedruckte Buch, Film und Fernsehen. Die Rückkehr in die alten Zeiten wirft uns auf

jene Quellen zurück, aus denen frühere Generationen ihr Wissen schöpften: mündliche Überlieferung, Legenden und Handschriften. Tiere spielten darin eine enorm wichtige Rolle.

Tiere dienten als Stichwortgeber für bestimmte Eigenschaften: Wenn in einer Arie ein Löwe erwähnt wurde, dachte jeder Hörer sogleich an Mut. Da Mensch und Tier in enger Gemeinschaft lebten, waren die Fähigkeiten und Eigenarten der Tiere jedermann vertraut. Volksmärchen erzählten von ihren Streichen, ihrer List und ihrem Freiheitsdrang. Fabeln illustrierten ihre Lehren am Verhalten der Tiere, ob beobachtet oder angedichtet. Reste davon haben sich bis heute in vielen Redewendungen erhalten: »schlau wie ein Fuchs«, »mutig wie ein Löwe«, »wild wie ein Tiger«,

»dreckig wie ein Schwein«, »falsch wie eine Schlange«. Viele Eigenschaften, die man den Tieren zuschrieb, stammten aus direkter Beobachtung: Füchse sind schlau, Löwen sind mutig, und eine Tigermutter verteidigt ihr Junges tatsächlich um jeden Preis. Manches kam jedoch aus anderen Quellen, nicht zuletzt – zumindest in Europa – aus der Bibel, was vermutlich den schlechten Ruf der Schlange erklärt, dieser unermüdlichen Vertilgerin von Mäusen und Insekten. Ebenfalls noch weithin bekannt waren die Schilderungen des Tierlebens in der Naturgeschichte von Plinius dem Älteren, der Enzyklopädie des Isidor von Sevilla und den Schriften von Herodot. Wissen über Tiere aus anderen Kulturen und fernen Ländern – oder das, was damals als Wissen galt – gelangte in Form von Zeichnungen und mündlicher Überlieferung nach Europa. Daher die oft recht phantasievollen bildlichen Darstellungen von Tieren, die man nur aus Reiseberichten kannte und noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Der in einer nordfranzösiDiogenes Magazin

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schen Handschrift (ca. 1300) abgebildete Elefant gleicht eher einem freundlichen Hund mit zwei Hauern, zwischen denen so etwas wie eine Kreuzung aus einem Walrosshorn und einem Staubsauger emporragt. Im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts malte Joris Hoefnagel ein Wesen, das häufig für ein Faultier gehalten wird, ebenso gut aber auch eine Maus mit

nach der Buchmalerei in den mittelalterlichen Tierdichtungen, den Bestiarien, ganz anders: perfekte, vollkommen detailgetreue Bilder von Säugetieren und Vögeln. Die Biblioteca Civica in Bergamo besitzt das Skizzenbuch von Giovannino de Grassi, in dem Vögel und andere Tiere so realistisch gezeichnet sind, dass sie sich jeden Moment vom Papier erhe-

Künstler, die Europa die Augen öffnen würden. Ein phantasiebegabtes Geschöpf wie der Mensch hat Freude daran, Verbindungen zwischen der wirklichen Welt und Höherem herzustellen. Daher dienen die Tugenden und Laster der Tiere immer wieder dazu, die sündige Menschheit zu belehren und zu bekehren. Micky Maus hat die Welt nicht zu-

Zottelfell und außerordentlich großen Pfoten sein könnte. In diesen alten Handschriften findet sich auch eine bunte Menagerie von Drachen und Dämonen, Sirenen, Kentauren, Greifen und Einhörnern. Der heilige Lukas mit Ochsenkopf und Hirten mit Schafsköpfen sind ebenfalls vertreten. Seltsamerweise zeichnete und malte man schon ein Jahrhundert später, 30

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ben und aus dem Staub machen könnten. Man denke auch an all die perfekt gemalten Hunde unter den Tischen, an denen Jesus das letzte Abendmahl einnimmt oder Edelleute schwelgen. Die Bestiarien hingegen sollten die Wirklichkeit gar nicht abbilden, sie sollten moralisch belehren. Und: Die Mönche, die sie illustrierten, hatten bei weitem nicht so viel Talent wie die

letzt dank seiner Schläue erobert; Goofy heißt nicht zufällig »doof«. Die überkommenen Vorstellungen mögen zwar aus der Antike und dem Mittelalter stammen, waren aber auch noch in den Köpfen des 18. Jahrhunderts lebendig und gehörten zum Fundus von Schriftstellern, Dichtern und auch Opernlibrettisten, die uns hier besonders interessieren. Die Tiere

Fotos: © Il Complesso Barocco / Jose Luis Martinez

Mehr noch als Krimis und Venedig liebt Donna Leon den Komponisten Händel. Ihre Termine stimmt sie auf die Konzertreisen ihres Lieblingsorchesters ›Il Complesso Barocco‹ ab, das sie auch finanziell unterstützt. Das Ensemble wurde 1979 vom Dirigenten Alan Curtis gegründet und ist für seine Interpretationen italienischer Barockopern und -oratorien weltbekannt. Eine Konzerttournee mit Händels Tierarien, zusammen mit Donna Leon, ist für 2011 u.a. in Deutschland geplant. www.ilcomplessobarocco.com


Illustration: © Michael Sowa

dienten als Stichwortgeber für bestimmte Eigenschaften: Wenn in einer Arie ein Löwe erwähnt wurde, dachte jeder Hörer sogleich an den Mut, den man mit diesem edelsten aller Tiere verband. Oder wenn in einer Arie, die von Schlangen handelt, viele S-Laute vorkommen und die Melodie sich geschmeidig schlängelt, so beschwört dies sogar übers Ohr jene Urfeindin des Menschengeschlechts herauf. In Händels Opern und Oratorien gibt es viele Arien, in denen auf Tiere angespielt wird: Manche dienen als tugendhaftes Vorbild, andere sind eine Plage, wie die Frösche, die über das Land der Ägypter herfallen und sogar in die Gemächer des Königs eindringen. Wiederum andere – wie die Tigermutter im dritten Akt von Alcina – treten so unvermittelt auf, als habe Händel diese wunderbare Arie in der Schublade gehabt und wollte sie nun endlich irgendwo einbauen. Ganz anders dagegen die silberne Taube in Theodora: Sehnsüchtig besingt die Titelheldin die Freiheit, sich wie ein Vogel in die Lüfte zu erheben und ewigen Frieden im Himmel zu finden – ein perfektes Symbol ihrer Sehnsucht. Die Idee für eine Sammlung von Händel-Arien habe ich jahrelang mit mir herumgetragen, und auch der Händel-Spezialist Alan Curtis hat sich lange Zeit damit beschäftigt. Als ich ihn schließlich mit dem Künstler Michael Sowa bekannt machte, gelangten wir beide zu der Überzeugung, dass er die ideale Besetzung sei, um dieses Projekt bildnerisch zu gestalten. Ich wiederum hatte mich im Studium ausgiebig mit mittelalterlichen Bestiarien und den Schriften antiker Naturforscher beschäftigt und war auch dreißig Jahre später noch von diesen Geschichten bezaubert. So taten wir uns in der Hoffnung zusammen, dem genialen und überaus erfindungsreichen Komponisten ebenso zur Ehre zu gereichen wie den Autoren, denen wir die Überlieferung verdanken, und auch den Tieren, die Händels Genie Flügel verliehen.

Donna Leon

Die Biene

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rauen an der Macht? Das geht doch nicht! Eine Königin, die Herrschaft ausübt? Im Mittelalter? Habt ihr den Verstand verloren? So der Bienenkönig. Ja, es klingt seltsam, nicht wahr: ein Bienenkönig? Doch die Bestiarien spiegelten nicht nur den damaligen Stand der Erkenntnis wider, sondern auch die gesellschaftlichen, politischen und moralischen Vorstellungen einer Epoche, in der mächtige Frauen nichts als Argwohn weckten. Schließlich darf man nicht vergessen, wo wir durch Eva hingekommen sind. Noch früher jedoch, in der freizügigeren heidnischen Zeit, erzählte Plinius der Ältere mit viel Bewunderung von der Bienenkönigin und dem »bemerkenswerten Gehorsam«, den das Bienenvolk ihr entgegenbringe. Für die Menschen im Mittelalter sind Bienen wundersame Vögelchen, die kleinsten aller bekannten Vögel. Sie entstehen in den verwesenden Kadavern von Ochsen oder Kälbern. Ihr lateinischer Name besagt, dass sie ohne Füße (von pes, der Fuß) zur Welt kommen, sie sind a-pes. Zum Glück wachsen die Füße, gemeinsam mit den Flügeln, später noch.

Der Fleiß der Bienen zeigt sich an den wohlgeformten Waben ihrer Behausungen und auch daran, dass harte Arbeit ihnen von Natur aus wichtiger ist als Sex. Sie wollen sich nicht mit der Fortpflanzung aufhalten und vermehren sich daher wie von allein: Man braucht nur auf einen toten Ochsen zu schlagen, und schon kommen Bienen heraus. Für die Neugierigen: Wespen kommen aus Eseln, Hornissen aus Pferden, und sie alle sind offensichtlich nicht an Sex interessiert. Als einzige Vertreter der Tierwelt ziehen Bienen ihre Kinder gemeinsam auf. Werden sie draußen von der Dunkelheit überrascht, legen sie sich auf den Rücken, um ihre Flügel vor Tau und Regen zu schützen, damit sie sich am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang unverzüglich wieder an die Arbeit machen können. Die natürliche Ordnung einer Gesellschaft wird von den Bienen vorgelebt: Sie haben einen König, sie haben Armeen, um sich zu schützen. Der Fortbestand ihrer Gesellschaft liegt ihnen so sehr am Herzen, dass sie nichts als die Arbeit kennen; Diebstahl ist ihnen unbekannt. Sie sind friedliebende Geschöpfe; sollten sie doch einDiogenes Magazin

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Buchtipp

Donna Leon Tiere und Töne Auf Spurensuche in Händels Opern Mit Bildern von Michael Sowa

Diogenes

144 Seiten, Pappband, Vierfarbendruck 978-3-257-06763-7 inkl. 1 CD

Donna Leon auf den Spuren der Tiere in Händels Opern. Ein Geschenkbuch nicht nur für Musik- und Tierfreunde, sondern auch für Augen und Ohren: Wunderschön illustriert von Michael Sowa. Mit 1 CD mit 12 HändelArien. Musik: ›Il Complesso Barocco‹, dirigiert von Alan Curtis.

14. Jahrhundert mit nahezu perfekten Abbildungen von Bienen, einschließlich ihrer hauchzarten Flügel, während eine Handschrift aus Nordfrankreich mit Zeichnungen von geflügelten Wesen aufwartet, die aussehen wie Babygarnelen mit Halloween-Masken. Eine flandrische Handschrift aus dem 14. Jahrhundert zeigt drei Geschöpfe, die man für fliegende Fische halten könnte – oder auch für Vögel mit dem Streifenmuster von Bienen. In einem hundert Jahre älteren britischen Psalter ist dagegen eine recht naturgetreue Abbildung zu finden. Auch die Bienenkörbe haben nur ihre konische Form gemeinsam: Darüber hinaus könnten sie fast alles sein, vom Helm bis zum Heuschober. Das berühmteste Bienenwesen der Musikwelt ist gewiss Rimski-Korsakows Hummel, deren Gesumm durch ausgiebigen Gebrauch der chromatischen Tonleiter sehr eindrucksvoll nachgeahmt wird. Die Arie, die Händel für seine späte Oper Berenice komponierte, wird von dem römischen Gesandten Fabio gesungen, der Alessandro, einen ägyptischen Edelmann, zu überreden versucht, seine Liebe von einer Frau auf eine andere zu übertragen. Vorbild hierfür ist die Biene, deren rastloses Hin und Her von Blüte zu Blüte durch unablässig wiederholte Triolen in den Violinen angedeutet wird. Da die Liebe sich der Politik zu beugen hat, glaubt Fabio, seiner Liebe zu entsagen müsse Alessandro so leichtfallen wie den Bienen das Fliegen.

›Tiere und Töne‹ und ›Die Biene‹: Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz

Illustration: © Michael Sowa

mal zustechen müssen, dann legen sie sich, von Reue geplagt, in die von ihnen zugefügte Wunde und sterben. Und sollten sie gar einmal den König erzürnen oder gegen eins ihrer Bienengesetze verstoßen, so stechen sie bei sich selber zu und sehen freudig dem eigenen Tod entgegen – eine Sitte, die auch bei den Persern verbreitet gewesen sein soll. Sie haben den König, dem sie so eifrig gehorchen, selbst gewählt und dienen ihm bereitwillig in Treue und Liebe. Dass er der König ist, versteht sich von selbst, denn er zeichnet sich aus »durch Größe und Gestalt«. Auch ist er »der Würdigste und Edelste, lässt Gerechtigkeit walten und vor allem Milde, denn dies ist die Haupttugend eines Königs«. Größer als die anderen, besitzt er auch einen größeren Stachel, den er jedoch nie einsetzt, dem Grundsatz treu, dass der Stärkere seine Überlegenheit nicht missbrauchen darf. Die Biene will dem Menschen wohl, denn sie schenkt ihm Honig, und Honig ist – so wird uns schon in der Antike wiederholt gesagt – ein wunderbarer Stoff: süß und nahrhaft zugleich und vielleicht gerade darum das perfekte Symbol für Glück und Wohlstand. Doch Honig ist nicht nur süß und nahrhaft, er hilft auch gegen Halsentzündung, und die zerstoßenen Körper verbrannter Bienen, vermischt mit den Exkrementen von Spitzmäusen, stimulieren den Bartwuchs. In den mittelalterlichen Handschriften unterscheiden sich die Abbildungen der Bienen ebenso stark voneinander wie die der Elefanten. Dabei sind Bienen anders als Elefanten in Europa weit verbreitet. Die Städtische Bibliothek von Reims besitzt eine Handschrift aus dem


Thema: Musik

Donna Leon

Händel hat mein Leben verändert Von den ersten Stunden auf Stehplätzen in der ›Old Met‹ bis zum Überstehen dudelnder Warteschleifen – Donna Leon erzählt über die Macht der Musik, fehlende Erfahrungen mit Elvis, über ihre ganz eigenen Rauscherlebnisse und die Suche ihres orchestralen Ohrs.

Illustration: © picture-alliance / akg

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esus ist vielleicht nicht mein Herr und Erlöser, aber der Messias von Händel hat definitiv mein Leben verändert. Zum ersten Mal hörte ich das Werk in der Schule – wahrscheinlich bei einem Weihnachtskonzert –, aufgeführt von einem riesigen Orchester und einem noch größeren Chor. Es war meine erste Begegnung mit barocker Vokalmusik, und mir war, als wäre die Welt um mich herum verschwunden oder mein Stuhl ins All geschossen worden – diese Musik war eine völlig neue Welt. Warum ich als Teenager klassische Musik hörte, während meine Freunde für Peggy Lee und Elvis schwärmten – ich weiß es nicht; meine Familie war jedenfalls nicht musikalisch. Es war wohl der Klang. Etwas unsicher tastete ich mich voran, hörte Stücke im Radio und kaufte mir dann die Platten: Ravel, Tschaikowsky, Grieg, Rimski-Korsakow, die Symphonien von Brahms. Wahrscheinlich wäre es

mir heute weniger peinlich zuzugeben, dass ich damals Drogen konsumierte, wäre es denn so gewesen. Später als Studentin genoss ich meine Freiheit und begann, Konzerte zu besuchen; mein Geschmack erweiterte sich, doch eigentlich blieb es

Bis heute habe ich nicht gelernt, Noten zu lesen. Ich mochte einfach, was ich hörte. immer beim Zufallsprinzip, und bis heute habe ich nicht gelernt, Noten zu lesen. Ich mochte einfach, was ich hörte. Die Oper schlug in meinem Leben ein, als ich gerade meinen ersten Job in New York hatte. Noch heute, vierzig Jahre später, erinnere ich mich an die ersten Stunden auf den Stehplätzen der ›Old Met‹, wie ich meine erste

Oper sah und hörte: Tosca, mit Zinka Milanov, die – selbst schon längst jenseits ihres dritten Frühlings – von Schmerz und Verlust sang. Und wie Tosca war auch ich verloren. Mir öffnete sich eine zweite Welt, in der Musik und Drama zusammenflossen, gekleidet in die Pracht der menschlichen Stimme. Obwohl ich begann, diese wunderschönen Stimmen bei Donizetti und Verdi, Rossini und Puccini zu entdecken, suchte mein orchestrales Ohr doch immer nach Händel. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe auch seine Vokalmusik, die Opern und Oratorien, nur wurden die – mit Ausnahme des Messias – so gut wie niemals auf die Bühne gebracht, schon gar nicht an den großen Häusern. Doch dann – ich glaube, es war im Jahre 1965 – versuchte die New York City Opera mit Giulio Cesare ihr Glück. Beverly Sills sang die Kleopatra, und diese Aufführungen veränderten den Musikgeschmack der Diogenes Magazin

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Zeit. Wenn ich mir diese Aufnahme heute anhöre, vier Jahrzehnte später, dann klingt die Musik im Vergleich zu der Art, wie Händel heute gespielt wird, »unzeitgemäß und falsch« – doch die Magie ist immer noch da. Trotzdem muss ich auch zugeben, dass ich von Musik die Nase ziemlich voll habe. Ich habe es satt, sie immerzu und überall zu hören: in der telefonischen Warteschleife meines Stromanbieters, in der Schlange am Postschalter oder aber im Restaurant beim Abendessen. Abgesehen von den Aufnahmen und Aufführungen, die ich mir ganz bewusst anhöre, höre ich immer seltener Musik; vielleicht will

ich verhindern, dass Musik der ständige Klangteppich meines Lebens wird. Ich möchte mich einschalten in die lebendige Verbindung zwischen den Musikern und ihrem Publikum, ich möchte Musik nicht als Hintergrundbeschallung haben. Doch ich mahne nur, viel lieber möchte ich hoffen. Ich hoffe, dass Menschen, die in einer Welt aufwachsen, in der klassische Musik zunehmend zur Banalität verkommt, die Chance erhalten, Musik allein zu genießen und damit das Hochgefühl zu spüren, das Schönheit einem geben kann. Ich hoffe, dass die Musik den Menschen Schauer durch den Körper treibt und

sie aufwühlt, dass sie ihnen die Kraft raubt und sie sensibilisiert zurücklässt. Musik wird die Welt nicht verändern, sie anzuhören ebenfalls nicht. Doch ein einzelnes Leben kann Musik sehr wohl verändern. Und mir scheint, dies allein ist schon eine ziemlich machtvolle Kraft.

Aus dem Amerikanischen von Christa E. Seibicke

IM SOMMER ERKUNDET DIE NACHT 10. August – 18. September 2011 In der Nacht schlägt die Stunde der Träume, der Phantasie und der Trugbilder, des Vergnügens und der Sinnlichkeit. Furcht und Faszination hat die Nacht deshalb seit jeher ausgelöst: Als «umnachtet» gilt, wer verrückt oder wahnsinnig ist; zugleich aber befreit die Nacht von den Zwängen des Tages, lässt anderes und anders wahrnehmen. Und schliesslich ist sie Anfang und Ende: Aus dem Chaos entsteht die Welt. Die Nacht geht dem neuen Morgen voran – und sie markiert den Abschluss eines jeden Abends. LUCERNE FESTIVAL im Sommer erkundet das Phänomen der Nacht in der Musik. Im Zentrum stehen die Phantasten und Träumer unter den Komponisten, die Mystiker und Meister der dunklen Klänge. Als «Nachtschwärmer» begleiten uns die grossen Orchester, Dirigenten und Solisten: Die Wiener und die Berliner Philharmoniker sind mit mehreren Konzerten zu Gast, ebenso das Chicago Symphony und das Israel Philharmonic Orchestra, das Koninklijk Concertgebouworkest sowie die Staatskapellen aus Berlin und Dresden. Als «artiste étoile» haben wir das Hagen Quartett eingeladen; «composer-in-residence» ist Georg Friedrich Haas. Bernard Haitink und das Chamber Orchestra of Europe werden ihren Brahms-Zyklus fortsetzen; Claudio Abbado und das LUCERNE FESTIVAL ORCHESTRA widmen sich Mahler und Brahms, Mozart und Bruckner. Und die LUCERNE FESTIVAL ACADEMY erarbeitet unter der Leitung von Pierre Boulez Werke von Debussy und Ravel bis zur Gegenwart.

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Diogenes Quartett Das Diogenes Quartett ist ein junges Streichquartett aus München, das seit 2002 in seiner jetzigen Besetzung konzertiert. Bereits 1999 war es auf der Suche nach einem unverwechselbaren Namen und hatte damals das Glück, bei einem Auftritt Rudolf C. Bettschart, den Mitinhaber des Diogenes Verlags, kennenzulernen. Die entstehende Freundschaft zu ihm inspirierte das Quartett damals zu seinem Namen. Neben seiner regen Konzerttätigkeit ist das Diogenes Quartett mit verschiedenen Aufnahmen auch auf dem CD-Markt zu finden. Auf seinen beiden aktuellen CDs widmet es sich in Vergessenheit geratenen Kammermusikwerken von Friedrich Gernsheim, Joseph Haas und Egon Kornauth. (http://www.diogenes-quartett.de/)

Diogenes zum Hören? Diogenes zum Hören? Nichts einfacher als das, mit über 250 Diogenes Hörbüchern. Und jetzt gibt es mit ›Tiere und Töne‹ von Donna Leon sogar ein Diogenes Buch mit CD (Händels Tierarien, gespielt von ›Il Complesso Barocco‹). Aber Diogenes kann man auch ganz anders hören, ob als Streichquartett, im Chor, als Gothic Rock oder Elektro. Auf der Bühne: Vier Musikgruppen, die Diogenes im Namen führen.

Foto Schallplatte: © Tristan3D – Fotolia.com; Foto Diogenes Quartett: © Diogenes Quartett; Foto Diogenes Chor: © Diogenes Chor

Diogenes-Chor Der 2008 gegründete Diogenes-Chor aus Altstätten im schweizerischen Rheintal verdankt seinen Namen dem Diogenes-Theater, in dem er probt und auftritt. Die Namensgeschichte des Theaters: Als die Gründer 1978 nach einem Raum für ihr Theater suchten, trafen sie auf Fräulein Frida Hasler. Diese besaß ein geeignetes Gebäude und war von der Idee begeistert. Die Verehrerin des bescheidenen Denkers aus der Antike bot den Theaterleuten ihren ehemaligen Stickerei-Maschinenraum kostenlos an, unter der Bedingung, dass das neue Theater auf den Namen ›Diogenes‹ getauft würde. (http://www.diogenes-theater.ch/aktiv/chor/index.htm)

The Diogenes Club Hinter der britischen Band The Diogenes Club stehen Matt und Paul, die sich über einen gemeinsamen Freund kennenlernten. Die beiden plauderten über Musik, und bald entstand ihr erster Track Come Back to Us. Einige Monate später erschien eine ganze EP. Ihren Namen übernahmen sie von einem fiktiven Club aus den Sherlock-Holmes-Geschichten, den Sherlocks Bruder Mycroft gegründet hat. »Es ist ein Club, in dem schüchterne, ungesellige Männer sich treffen und entspannen können, ohne dabei von anderen gestört zu werden.« (http://www.myspace.com/thediogenesclub)

Diogenez Muthante Gothic Rock Die nach eigener Aussage chaotische, dunkle und kämpferische Gothic-Rock-Band Diogenez Muthante kommt aus der peruanischen Haupstadt Lima, der Stadt der »eterna depresión«, der ewigen Depression. Die 2007 gegründete Gruppe erklärt den Grund ihrer Namensgebung: »Wie der Philosoph Diogenes hinterlassen wir Hautfetzen, wo immer wir durchgehen. Und wie er trotzen wir standhaft jedem heftigen Gegenwind – auch der kritischen ökonomischen Situation, die die Region beutelt, in der wir leben.« (http://www.myspace.com/diogenezmuthante)

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Thema: Musik

Tomi Ungerer

Zwischen Lärm und Klang Tomi Ungerer ist vor allem durch sein ›Großes Liederbuch‹ bekannt geworden und hat mit ›Tremolo‹ sogar ein Kinderbuch über Musik gemacht. Hier erzählt der Autor und Zeichner, wie ihn Musik durch sein ganzes bisheriges Leben hindurch begleitet hat.

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Illustration links: © Tomi Ungerer; Foto: © Schmitt / dpa

m Anfang war der Lärm, dann Rhythmus, es entstand die Musik. Als frisch Geborener war mein erster Schrei meine erste akustische Erfahrung. Mit Heulen und Lutschen skandierte sich das erste Tempo – ein Fließen. Dann kamen von außen die Wiegenlieder meiner Mutter, auf Französisch, Deutsch und Elsässisch: »Ach, wäs ben ich fur a luschtige Büe känn so zenzerlig tänze! Ach! Was haw ich für schnallene Schüe …«

Ein Radiogerät gab es bei uns nicht. Mein Vater spielte die Geige mit Mama am Klavier, aber sie hatten ein Grammophon erworben, dessen Schallplatten mich in die Welt der Musik einführten. Da gab es zum Beispiel aus Wiener Operetten: Zwei Herzen im Dreivierteltakt und Auch du wirst mich einmal betrügen, auch du! Ich erinnere mich daran, wie ich vor dem Tod meines Vaters in der Diele

auf einem Dreirad herumfuhr, drei Jahre alt, singend: »Ade, mein kleiner Gardeoffizier, ade / Und vergiss mich nicht / und vergiss mich nicht.« Später kam dann Maurice Chevalier und sang auf Englisch: »It’s wonderful, it’s marvellous, that you should care for me.«

Als frisch Geborener war mein erster Schrei meine erste akustische Erfahrung. Das stand nun in totalem Widerspruch zu Stille Nacht, heilige Nacht, das nur zu Weihnachten gespielt wurde. Und dann die Ungarische Rhapsodie von Franz Liszt, Der Tod und das Mädchen von Franz Schubert, so tief beeindruckend, Chanson Indoue von Nikolai Rimski-Korsakow. Es wurde zu Hause rund um das Klavier immer viel gesungen – Volkslieder aus Des Knaben Wunderhorn

und am Sonntag Kirchenlieder zum Lob des Herrn. Meine Mutter verehrte die Natur und lehrte mich, sie zu hören: Ich kann jetzt noch genau den Gesang der Amsel auf dem Dachgiebel nach einem Regenguss nachpfeifen. Irgendwann merkte ich, dass die Amseln innerhalb eines bestimmten Tonregisters alle denkbaren unterschiedlichen Varianten flöten – das ist, glaube ich, selten in der Vogelwelt. Je nach Empfindsamkeit ist Musik in der Natur überall zu vernehmen: das Zwitschern und Platschen der Vögel wie die Geräusche der Katzen beim Vögeln, das Schnarchen eines Igels im Winterschlaf, das Blöken von vierhundert hungrigen Schafen unter einem Dach – das ist geradezu sinfonisch betäubend. Aber auch das Murmeln eines Motorrads im Leerlauf, das Surren einer Fabrik, das Kreischen einer Säge, das Knirschen meiner Feder auf dem willigen Papier – mir ist all das Musik, Diogenes Magazin

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1940 zogen die Nazis mit ihren Marschliedern, die mich fürs Leben geprägt haben, ins Elsass ein. Es gibt kein Reinigungsmittel, mit dem man das Gehirn waschen könnte, und so werde ich noch heute munter, wenn ich das höre: »Wir werden weiter marschieren, bis alles in Scherben fällt.« Entsetzlich – die Nazis hatten sich die alten Volkslieder für ihre propagandistischen Zwecke angeeignet. Nach dem Krieg gerieten diese alten Lieder deshalb in Verruf, und das hat mich geschmerzt und dazu motiviert, Das große Liederbuch zu illustrieren. Es wurde ein Riesenerfolg, vielleicht, weil es dazu beitrug, sich von dieser Vergangenheit zu befreien. Als ich mich später kurze Zeit in der französischen Armee engagierte, brachte ich meinem Regiment Nazilieder bei, weil man dazu besser marschieren konnte als zu den französi38

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schen Liedern. Ich nenne das meinen Elsässer Luxus: dass ich mich einfach so frei über die verheerende Vergangenheit lustig machen kann. Sechs Monate lag ich im Hôpital Maillot in Algier – die größten Ferien meines Lebens, im Fieberwahn gewiegt von arabischer Musik, die aus der Kasbah herüberklang. Noch heute ist das die Musik, die ich stundenlang bei der Arbeit hören und fließen lassen kann und die mich nie stört. Nach dem Krieg wurde ich Mitglied der ›Jeunesse musicale de France‹ und konnte durch viele Konzertbesuche meine musikalische Bildung vertiefen. Doch meine größte leidenschaftliche Offenbarung, eine Sucht fürs Leben, das war die Entdeckung von Jazz und Blues. Ich glaube, auch deswegen bin ich 1956 nach Amerika gezogen, es war wie eine Pilgerfahrt. Aber der Traum platzte schnell: In New York wurde schwarzer Jazz damals total ignoriert, und nur der weiße Benny-Goodman-Swing war anerkannt. Schallplatten gab es fast keine auf dem Markt. Es gab aber im Village einen kleinen Laden, »The Record Changer«, und da trafen sich die JazzFans und tauschten ihre alten Jazzplatten. Die snobistischen New Yorker Vorurteile galten auch für alles, was aus dem Süden kam, für Hillbilly, Country, Bluegrass – das alles galt als reaktionäre white trash music.

1958 erwarb ich meine erste JohnnyCash-Schallplatte: Don’t Take Your Guns to Town. Tom Allen, ein Freund und Illustrator wie ich, steckte mich mit seiner Liebe für diese Art Musik an, und wir gingen auf Reisen nach Süden. Ich traf viele Sänger, die uns dann wiederum in New York besuchen kamen, und wir mieteten kleine Säle, wo sie fast ohne Publikum spielten. Darunter waren auch Blues-Sänger wie Lightnin’ Hopkins, der Mann mit den größten Füßen, die ich je gesehen habe, und dann trug er auch noch gelbe Schuhe. Bei Opern und Theater gilt für mich: Lieber hören und lesen als sehen – natürlich mit Ausnahmen. Aber ich will meiner eigenen Vorstellungskraft freien Lauf lassen, und – es ist seltsam, aber ich kann mich nicht zwei Kunst-Sinnen gleichzeitig öffnen. Musik spielt sich auf einer sich immer weiter verzweigenden Ebene ab, aber die reichste Synthese von Lärm und Klang ist für mich die innere Stille, der Widerhall der Ewigkeit, ich finde: Auch Schweigen ist eine Art musikalisches Vergnügen. Meine Ohren sind offene Trichter, sie nehmen alles auf, klassisch, ethnisch, drastisch. Mein Vergnügen daran ist unendlich, wie ein Schwamm auf Löschpapier.

Illustrationen: © Tomi Ungerer

und vielleicht ist mir John Cage deshalb so nahe. Doch am liebsten höre ich Wind und Wasser, Regen – platsch –, Wellen – klatsch –, den Wind, schleichend oder peitschend. Das eintönige Seufzen des Nebelhorns gibt meiner Einsamkeit eine Stimme. In Irland habe ich gelernt, sogar die Öde wispern zu hören, zeitlos, aus Moor und Felsen, Klippen und Horizont kommt eine Musik wie tief aus den Wurzeln der Erde.


Mein Lieblingsinstrument ist das Klavier, der Flügel, dieser Sarg auf drei Beinen. Und mein Lieblingslied natürlich: Die Gedanken sind frei. Mein Lieblingssänger und auch gleichzeitig meine Lieblingssängerin: Zarah Leander. Komponist? Mit weitem, mit riesigem Abstand vor allen anderen: Johann Sebastian Bach. In seiner festen Burg treffen sich Struktur, das Sinnliche, das Geistige – meine ganz tiefe Liebe und Bewunderung gilt ihm. Anfang März 1945 fuhr ich auf meinem Fahrrad nach Sigolsheim, das kleine Weindorf lag in Trümmern. Ich

wollte den Platz wiedersehen, auf dem ich als Zeuge mit ansehen musste, wie eine ältere Frau vor ihrem Gartenhäuschen auf eine Mine trat. Die Sonne schien sanft und scheu, der Himmel war dünn blau, klar. Ich saß da und lehnte mit dem Rücken an der zerschossenen Wand der Kirche, die kein Dach mehr hatte. Und da, aus der Stille, vernahm ich ein tiefes Seufzen, dann ein Stöhnen, ein Röcheln – und endlich: harmonische Akkorde. Die Orgel fand wieder ihren Atem. Der Organist übte zum ersten Mal wieder auf seinem Instrument, das den Krieg und die dreimonatige

Schlacht am Colmarer Brückenkopf überstanden hatte. Das Stück, das er spielte, hat sich mir tief eingeprägt, und erst viele Jahre später konnte ich es identifizieren. Es war Johann Sebastian Bachs Kantate Schafe mögen sicher weiden. Drei Jagdflugzeuge flogen vorüber und zersplitterten die Glückseligkeit. Dann wieder die Ruhe, der Frieden, das Glück. Die Ruinen wirkten friedlich wie bei Dornröschen.

Der Text ist dem Buch ›Ein Traum von Musik. 46 Liebeserklärungen‹ entnommen, herausgegeben von Elke Heidenreich, erschienen in der Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann.

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Illustration: © Jean-Jacques Sempé


Thema: Musik

Ein Gespräch mit Jean-Jacques Sempé

Mein Treffen mit Count Basie

Foto: © Stéphane Baquet; Illustration: © Jean-Jacques Sempé

Jean-Jacques Sempé ist schon früh dem Jazz verfallen. Der Zeichner über seine Jazz-Initiation, sein erstes Jazz-Konzert und die Begegnung mit seinem Idol Count Basie, die unter merkwürdigen Umständen zustande kam. Ein Interview von Marc Lecarpentier. Marc Lecarpentier: Einer Legende nach soll Duke Ellington gesagt haben: »Der Jazz ist für die klassische Musik, was der Cartoon für die Malerei ist.« Haben Sie deshalb in New York so viel Jazz gehört? Jean-Jacques Sempé: Das habe ich vor allem gemacht, weil ich Jazz schon immer mochte, und weil Lee Lorenz, der künstlerische Leiter des New Yorker, eine kleine Band hatte. Er spielte Trompete. Und stimmen Sie Duke Ellington zu? Gibt es eine enge Beziehung zwischen Cartoon und Jazz? Für mich lag beides immer sehr nahe beieinander. Der Cartoon ist nichts Großes. Wie im Jazz besteht die Kunst darin, etwas zu suggerieren. Das genaue Gegenteil dessen, was heute angesagt ist, wo alles immer mehr aufgeplustert wird. Cartoon und Jazz

bedeuten Demut, Bescheidenheit. Jazz ist elliptisch – wie der Cartoon. Für Sie ist der Jazz mehr als jede andere Musik Ausdruck der Seele – und nach wie vor Ihre Lieblingsmusik. O ja, und außerdem ist der Jazz typisch amerikanisch. Ich könnte Ihnen

sagen, dass ich Claude Debussy ebenso leidenschaftlich liebe wie Jazzmusik. Aber in New York war es der Jazz, der mich anzog. Wenn ich die Musik von Claude Debussy höre, höre ich nur die Musik. Wenn ich Jazz höre, sehe ich sofort kleine Häuser aus rotem Backstein vor mir, verrauchte Nachtclubs, anrückende Polizisten usw. Wie haben Sie den Jazz für sich entdeckt? Durch das Radio. Das war der Franzose Ray Ventura mit seinem Orchester. Rays Orchester tat, was es konnte. Mit seinen Mitteln gelang ihm das ganz gut. Haben Sie Duke Ellington ebenfalls durch das Radio entdeckt? Natürlich. Und eines Tages sah ich dann im Schaufenster eines Plattengeschäfts in der Rue Sainte-Catherine in Diogenes Magazin

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Bordeaux eine schwarze Scheibe mit rotem Etikett. Was lese ich? Duke Ellington and his Orchestra. Und ich sage mir: »In diesem Dingsda ist das Orchester?« Ich hatte noch nie im Leben eine Schallplatte gesehen und erst recht keine besessen. Für mich war das ein Wunder, ein absolutes Wunder. Ich war damals ein bisschen beschränkt. Wenn ich das Ding kaufen würde und einen Apparat hätte – dann würde ich Duke Ellington hören können? Das erste Konzert, das Sie besucht haben, war eines mit Count Basie. Ja, und die Konzertkarte hatte ich mir zusammengeklaut. Ich klaute, um mir eine Karte kaufen zu können. Irgendwo lag ein Korkenzieher herum, ich steckte ihn ein und sagte mir: »Den verkauf ich irgendwo.« Eine Stunde vor Beginn war ich da. Das Kino – ein großes Kino in Bordeaux – war noch zu. Ich war besessen von einer einzigen Frage: »Ist er mit seinem großen Orchester gekommen?« Es stand zwar da ›Count Basie und sein Orchester‹, aber war das nun die Band mit sechzehn Musikern oder die kleine Formation mit sechs Musikern? Dann kam eine Platzanweiserin und schloss auf. Ich gehe zu ihr und frage: »Madame, kommt er mit seinem großen Orchester oder mit der kleinen Formation?« Die brave Bordelaiserin sieht mich an, deutet auf das 42

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Plakat und sagt: »Na, lesen Sie doch selbst, er kommt mit seinem Orchester!« Dann fügte sie hinzu: »Was machen Sie da?« – »Na, ich will rein!« Also ließ sie mich rein. Der Saal war noch menschenleer … Ich war besessen von meiner Frage und sah auf der Bühne Notenpulte, auf denen ›CB‹ stand, Count Basie, und ich zählte … Es standen sechs Pulte da. Ich sagte mir: »Mist, das ist nicht das große Orchester.« Daraufhin fragte ich jeden, der mir begegnete: »Entschuldigen Sie, kommt er mit seinem großen Orchester oder mit der kleinen Formation?« – »Na, mit seinem Orchester, Monsieur!« Kurz, es war ziemlich ermüdend. Nach und nach kamen die Leute herein. Ich saß da und wartete. Dann kamen französische Musiker für den ersten Teil, das war mir vollkommen egal. Ich zählte immer wieder die Pulte. Und ich war nervös, ich war so fertig, dass ich schließlich einschlief.

Ich öffne ein Auge. Ich sehe, dass weitere Pulte dazugestellt werden, auf denen ›CB‹ steht. Ich zähle also. Neun. Dann kamen sie wieder, stellten noch mehr Pulte dazu. Schließlich betraten die Musiker die Bühne … Es war das große Orchester. Dann erschien Count Basie: begeisterter Applaus. Er setzte sich ans Klavier, macht: »Ta nana na, da da«, und zack, falle ich in Tiefschlaf und schnarche! Zwei- oder dreimal bin ich aufgewacht, weil sie so laut waren. Ich war fasziniert, glücklich, aber ich konnte nichts tun – zack, bin ich wieder eingeschlafen. Das war mein erstes Konzerterlebnis. Ein paar Jahre später sind Sie Count Basie persönlich begegnet. Als ich zum ersten Mal nach New York gereist bin, hatte ich einen Brief in der Tasche, den mir die Tochter von Jacques Hélian für Quincy Jones mitgegeben hatte, damit er mich Count Basie vorstellte … Natürlich traute ich

Illustrationen: © Jean-Jacques Sempé

Duke Ellington, 1971, während einer Probe, und mit seinen bizarren Filzpantoffeln


Count Basie und sein Orchester in der ›Brooklyn Academy of Music‹

mich nicht, den Brief einzuwerfen. Eines Tages, ich hatte den Brief noch immer in der Tasche, bin ich Count Basie begegnet. Natürlich habe ich ihn nicht angesprochen, wegen meiner kümmerlichen Sprachkenntnisse. Ich hätte sofort »I love you« sagen können. Aber das sagen ja alle. Und sie haben ihm den Brief nicht gegeben? Nein. Ich sagte mir, dass er bestimmt anderes zu tun hatte! Ich traute mich einfach nicht. Aber ich wäre sehr gern einmal bei den Proben dabei gewesen. Sie mussten also wieder warten, bis es endlich zu einem Gespräch kam. Ja, unter seltsamen Umständen! Ich war am Hafen von Saint-Tropez, als ein junges blondes Mädchen mich fragte, ob ich nicht der Autor eines Buches mit Zeichnungen über SaintTropez sei. Ich bejahte, und daraufhin bat sie mich, ihr das Exemplar zu signieren, das sie gerade gekauft hatte. Wie gewöhnlich erkundigte ich mich, für wen es sei. »Für meinen Onkel William, der ein Orchester leitet«, antwortete sie. Wegen ihres blonden Haars hielt ich sie für eine Engländerin. Am Abend besuchte ich ein Konzert von Count Basie. Als ich mich in der Pause hinter der Bühne herumdrückte, sah ich das blonde junge Mädchen wieder. Ihr Onkel war Count Basie! Sie holte ihn her, zog mein

Buch aus der Tasche und sagte ihm, dass ich der Autor sei. Gott, war mir das peinlich, dass ich einen weißen Dirigenten im Frack gezeichnet hatte! Also nahm ich meinen Stift und versuchte, das Gesicht der Figur zu schwärzen. Count Basie feuerte mich lachend an: »More black, more black.« Und je stärker ich das Gesicht schwärzte, desto heftiger lachte er. Ein weiterer Moment in meinem Leben, auf den ich nicht sonderlich stolz bin.

Aus dem Französischen von Anna CramerKlett und Tobias Scheffel

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Foto: Š David Brabyn / Corbis / Specter


Illustrationen: © Jean-Jacques Sempé

Portfolio

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Thema: Musik

Philippe Djian und Stephan Eicher

Neue Songs entstehen von selbst Matthias Zehnder: Ihre Zusammenarbeit hat 1989 begonnen, als Sie, Philippe Djian, die Texte für fünf Songs von Stephan Eichers Platte My Place schrieben. Wie ist es dazu gekommen? Stephan Eicher: In Frankreich war Betty Blue ein riesiger Erfolg. Verraten und verkauft war gerade erschienen. Philippe war schon ein Star. Da haben wir uns bei Aufzeichnungen zur Fernsehsendung Rapido kennengelernt. Philippe Djian: Stephan arbeitete an einem Lied, an Rien à voir. Er hatte ein Problem mit dem Text, deshalb bat er mich, ihm zu helfen. Wie kommt ein Romancier dazu, Lieder zu schreiben? Sie haben bisher keine Gedichte veröffentlicht … Djian: Die Lieder sind keine Poesie. Ein Gedicht könnte für sich selbst stehen. Es sind kurze Texte, die dafür gedacht sind, gesungen zu werden. Sie brauchen die Vervollständigung durch 46

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die Musik. Gedichte sind es nicht. Sie haben auch keine Reime. Eicher: Aber die Texte haben Rhythmus. Der Rhythmus hilft uns auch, sie auswendig zu lernen. Das ist wie bei den alten Griechen. Die Form des Liedes ergibt sich aus dem Text.

Wenn wir zusammen sind, entstehen neue Lieder wie von selbst. Wie ensteht ein Djian / Eicher-Song? Djian: Ich schicke Stephan ein paar Dinge, er sagt mir, was ihm gefällt. Eicher: Philippe schreibt seinen Text, dann beginne ich damit zu arbeiten. Wir arbeiten beide alleine, jeder für sich. Wenn ich den Text habe, muss ich den Schatz suchen, der in den Wörtern verborgen ist, einen Rhythmus, ein Bild, das mich inspiriert. Aber das

braucht Zeit. Es ist der Text, der die Musik befruchtet. Ich suche, ich improvisiere, manchmal braucht es hunderte Versuche. Ist ein Lied von Stephan etwas anderes als eine Verfilmung wie die von Betty Blue? Djian: Ich ziehe es vor, von unserer Arbeit als einer dritten Person zu denken. Den Film Betty Blue kann ich nicht mehr sehen. Mit den Liedern ist das etwas anders. Es stört mich nicht, sie zu hören. Meine Wörter in seinem Mund, das tönt gut. Eicher: Wenn Philippe mir einen Text gibt und ich ihn singe, dann wird das zum Werk eines Bruders, den wir nicht kennen. Im Essayband In der Kreide nennen Sie, Philippe Djian, die Vorbilder für Ihr erzählerisches Arbeiten, darunter etwa Henry Miller. Haben Sie für Ihre Songs auch Vorbilder? Djian: Nein, das ist eine ganz andere Arbeit. Stephan und ich gehen in der

Foto: © Christian Lanz

Der Schweizer Musiker Stephan Eicher und der französische Romancier Philippe Djian über ihre spezielle Freundschaft, aus der immer wieder Songs hervorgehen. Von Matthias Zehnder.


Foto: © Christian Lanz

Arbeit aufeinander zu, das ist einzigartig. Es ist eine bestimmte Art, die Sicht der Welt zu teilen. Stephan Eicher – bei wem stehen Sie »in der Kreide«? Eicher: Da gibt es viele. Wenn man Musik zu machen beginnt, kopiert man zuerst. Ich habe zum Beispiel Lou Reed in Zürich gesehen oder Patti Smith in Hamburg. Das waren Figuren, die mich angezogen haben. Mein Glück war, dass ich nicht so talentiert bin. Wenn ich etwas kopiere, dann geht’s in die Hose. Ich habe probiert, zu tönen wie zum Beispiel Lou Reed. Aber ich war nicht gut genug. Mit der Zeit hat sich aus diesem Scheitern der Klang von Stephan Eicher entwickelt. Philippe Djian, in Ihren Büchern spielt Sex eine wichtige Rolle. In Ihren Liedern kommt kaum Sex vor. Warum? Eicher: Das stimmt nicht: Sex kommt oft vor, nur ist er besser versteckt als in den Büchern. Sie haben immer wieder gesagt, dass es Ihnen auf den Stil ankommt. Wenn Stephan Ihre Wörter zu Musik macht, prägt er aber den Stil … Djian: Die Wörter des Chansons haben keine Existenz, wenn man sie nicht singt. Stephan erweckt sie zum Leben, meine Wörter sind sein Rohmaterial. Es ist seine Stimme, die singt, aber es sind meine Wörter, es bleibt meine bestimmte Art zu sprechen. Eicher: Dann kommt da noch mein Akzent dazu. Wenn Philippe die Texte spricht, tönt es immer wunderbar. Bei mir tönt es anders. Deshalb sind wir auf die Idee der musikalischen Lesungen gekommen: Philippe liest die Texte, ich begleite ihn auf der Gitarre. Djian: Ich schreibe auch nicht für andere Musiker, das interessiert mich nicht. Stephan Eicher, welches von Philippe Djians Büchern ist Ihr Lieblingsbuch? Eicher: Das erste Buch, das ich gelesen habe, war Verraten und verkauft. Und das letzte, Impardonnables. Doggy Bag habe ich nicht fertig gelesen. Philippe ist kein Marathonläufer. Er macht Steeples. So 2500 Meter, das ist seine Distanz (lacht).

Djian: Das stimmt schon. Seine Distanz zu finden als Schriftsteller, das ist etwas Wichtiges. Und Sie? Gibt es ein Lieblingslied von Stephan Eicher? Djian: Ja, das gibt es, aber man kennt es nicht, weil es nicht aufgenommen ist. Von den veröffentlichten Liedern ist es Louanges. Eicher: Wenn ich für ihn ein Lied schreibe, dann spiele ich es mit der Gitarre. Dann ist Philippe zufrieden mit dem Song. Wenn dann im Studio die anderen Instrumente dazukommen, gefällt es ihm oft nicht mehr, und er fragt mich: »Was machst du denn da?« Bei Louanges war es so: Ich war in einem Hotelzimmer, da rief er mich an und sagte: »Nimm jetzt sofort ein Lied auf.« Das war Louanges. Also hab ich das Lied sofort, im Hotelzimmer, aufgenommen. Aber mitten in der Aufnahme klingelte das Telefon. Und genau so habe ich es herausgegeben.

Stephan Eicher, Sie gehen ja fremd … Eicher: Ja, aber Philippe weiß es. Ich habe ihm die Person vorgestellt, mit der ich ihn betrüge. Diese Person, das ist Martin Suter, der für Sie schreibt. Und es soll ein Musical geben? Eicher: Furchtbar, oder? Aber es wird kein Musical, sondern ein Singspiel. Und am Schluss gehen wir dann zu dritt auf Tournee. Als drei alternde Musketiere (lacht und legt den Arm um Djian). Wie sieht die Zusammenarbeit von Djian / Eicher in Zukunft aus? Arbeiten Sie an einer neuen CD? Eicher: Wir machen keine CDs. Wir machen zusammen Lieder. Wenn wir zusammen sind, entstehen neue Lieder wie von selbst. Djian: Unsere Freundschaft ist ja darum so lebendig, weil sie sich aus der Arbeit speist.

Seit 20 Jahren Freunde – und gemeinsame Songwriter. Der französische Romancier Philippe Djian (›Betty Blue‹) hat Texte zu vielen Songs des Schweizer Musikers Stephan Eicher geschrieben. (stephaneicher.eu) Stephan Eicher arbeitet auch mit einem anderen Diogenes Autor zusammen: mit Martin Suter, der auf Eichers letztem Album ›Eldorado‹ Texte zu mehreren Songs beigesteuert hat. Ein noch größeres Projekt ist seit Dezember 2010 am Schauspielhaus Zürich zu sehen und zu hören: ›Geri‹ – ein Singspiel auf Schweizerdeutsch, das Martin Suter und Stephan Eicher zusammen geschrieben haben. (www.schauspielhaus.ch)

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Literarische Playlists Fabio Volo, Einfach losfahren

Philippe Djian, Doggy Bag

288 Seiten, ISBN 978-3-257-06732-3

als sechsbändige Serie im Diogenes Taschenbuch erschienen

»Lieber Fede, aus Anlass unserer abenteuerlichen Reise nach Livorno habe ich gestern Abend eine CD mit ein paar von unseren alten Lieblingsliedern aufgenommen. Ich habe sie schon eingelegt und überlasse dir die Ehre, auf ›Play‹ zu drücken.« Play. Im Auto erklang ein Piano, und Fede erkannte das Stück sofort: ›The Great Gig in the Sky‹, Pink Floyd. Auf der CD befanden sich noch elf weitere Stücke, aber ich sagte ihm nicht, welche, damit es für ihn spannend blieb. Der Beginn eines neuen Stücks war jedes Mal eine volle Breitseite aufs Herz, denn jedes Lied löste eine Flut von Erinnerungen aus, die uns verbanden. Nach Pink Floyd ging die Compilation wie folgt weiter: Janis Joplin, ›Cry Baby‹ The Doors, ›Peace Frog‹

Conor Oberst, ›Spring Cleaning‹ Spencer Krug, ›Shut Up I Am Dreaming‹ Sunset Rubdown, ›I’m Sorry I Sang on Your Hands‹ Beirut, ›After the Curtain‹ Brian Eno, ›Dark Eyed Sister‹ Joanna Newsom, ›Only Skin‹ Architecture in Helsinki, ›Need to Shout‹ Arcade Fire, ›Antichrist Television Blues‹ Wendy McNeill, The Wonder Show (Album) Matt Elliott, ›Our Weight in Oil‹ Shannon Wright, ›Defy This Love‹

Jimi Hendrix, ›Castles Made of Sand‹ The Police, ›Every Breath You Take‹ Dire Straits, ›Sultans of Swing‹ The Smiths, ›Please, Please, Please Let Me‹ Beatles, ›Something‹ Al Green, ›Tired of Being Alone‹

Francesco De Gregori, ›La leva calcistica della classe ‘68‹ Vasco Rossi, ›La Noia‹

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Foto: © Kilian Kessler / Diogenes Verlag

The Steve Miller Band, ›The Joker‹


In Am Strand habe ich zum ersten Mal versucht, Musik zur Kennzeichnung eines Charakters und auch als Medium für Missverständnisse zu verwenden. Dass Edward gern Rock ’n’ Roll hört und Florence klassische Musik bevorzugt, ist nicht unwesentlich dafür, dass sie einander nicht verstehen. Im Opernlibretto For You und in Amsterdam habe ich Musik als Medium verwendet, um über maßlosen Ehrgeiz zu sprechen, über den Drang, etwas absolut Vollkommenes zu erschaffen.

Ian McEwan

Musik hat keine Aussage

Gestern Abend waren Annalena und ich mit Julian [Barnes] und seiner Frau Pat [Kavanagh] in der Wigmore Hall bei einem Konzert von Paul Lewis, der Schubert und Mozart spielte. Und ich dachte nicht zum ersten Mal, einen solchen Genuss könnte ich bei einer Lesung niemals erleben – weder emotional noch geistig noch sinnlich, ganz gleich, ob ich mir anhöre, wie jemand aus seinem neuen Roman vorliest, oder ob ich das selber tue.

Aus dem Englischen von Werner Schmitz

Foto Geigenbogen mit Buch: © Kilian Kessler / Diogenes Verlag; Foto McEwan: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

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usik bereitet mir ganz einfach großen Genuss. Ich bewundere Musiker und Komponisten. Vielleicht mehr als jede andere Kunstform hat Musik eine Befriedigung und formale Vollkommenheit zu bieten, wie sie sonst nur in den besten Gedichten zu finden sind. Romane, selbst die besten, sind nie von A bis Z vollkommen – Anna Karenina oder Madame Bovary und ganz sicher Ulysses haben ihre Längen. Die Goldberg-Variationen nicht. Dazu kommt der unendliche Reiz der Tatsache, dass Musik keine Aussage hat. Natürlich legen wir alle eine Aussage hinein, aber worin die eigentlich besteht, können wir nicht in Worte fassen.

Playlist: Klassische

velle) quartett‹ (No h ic e tr S s a ›D ge, op. 37 Hartmut Lan uartett Nr.4 q h ic e tr S , rg nbe Arnold Schö ng) ind‹ (Erzählu rk e d n u ›W , 6, As-Dur ullers Nr.12 op. 2 te Carson McC a n o rs e vi la Beethoven, K Ludwig van ‹ (Stück) ete« r Kontrabass e ›D , d in ie Unvollend sk D ü » 9 5 7 D Patrick S in h-Moll, 2, E-Dur ert, Sinfonie sskonzert Nr. a Franz Schub b a tr n o K , n Dittersdorf Carl Ditters vo man) r Mutter‹ (Ro e d te b e li e G ll, KV 550 ›Der Nr. 40, g-Mo ie n Urs Widmer, fo in S , rt a madeus Moz Wolfgang A

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Abba & Swing

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eine Beziehung zu Musik begann an einem heißen Nachmittag im Jahr 1976 in Ostafrika. Ich war neun Jahre alt, streunte durch die trockenen Gärten unserer Nachbarschaft und stieß auf ein silbriges Radio, das im Gestrüpp lag. Aus dem Gerät kam eine Melodie, die mich berührte. Leider war das Lied nach wenigen Minuten vorbei, aber der Refrain – »There was something in the air that night, the stars were bright …« – blieb mir in Erinnerung. Später erfuhr ich: Das Lied hieß Fernando und stammte von einer Popgruppe aus dem fernen Schweden. Bald besaß ich meine erste Schallplatte von Abba, deren Lieder mich seither begleiten wie alte Freunde.

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Bei der Swingmusik war alles anders. Sie lernte ich erst durch die Arbeit an einem Buch kennen und schätzen. Thema von Savoy Blues waren die in der Nazizeit verbotene Swingmusik und die Jugendlichen, die sie heimlich hörten. Um die Zeit und ihre Musik besser verstehen zu können, besorgte ich mir mehrere CDs. Heute liebe ich die Swingmusik. Für eines ist jede Musik hilfreich: Ich nutze sie, um Emotionen aufzurühren, die ich für die Erarbeitung bestimmter Passagen meiner Bücher brauche. Sobald ich aber mit dem Schreiben beginne, muss die Musik aus sein. Ich brauche dann absolute Ruhe. Auch in diesem Moment herrscht um mich herum Stille. Die werde ich jetzt allerdings brechen. Ich höre jetzt mit dem Schreiben auf und lege eine CD ein. Welche? Ach, warum nicht mal wieder Abba.

Playlist: Savoy Blues tebe 23747 320 Seiten, de

g‹ t Mean a Thin n’ o D t ›I n, to g Duke Ellin mbo No. 5‹ Lou Bega, ›Ma ag‹ Band, ›Tiger R Dixieland Jass Foto Kopfhörer mit Buch: © Kilian Kessler / Diogenes Verlag; Foto Dönhoff: © Marvin Zilm

Friedrich Dönhoff

Die dann folgende Musik der 80erJahre funktioniert heute für mich wie eine Brücke zu den Erinnerungen an meine Jugendzeit, an Gefühle, Menschen, Momente. Stark entwickelte Melodien sind es, so typisch für jene Zeit und so untypisch für die Musik von heute. Ich schätze die Klarheit und Wahrhaftigkeit, den Mut zum Experiment mit den Synthesizern, die elektronische Töne und eine neue Dimension in die Popmusik brachten. Verarbeitet habe ich die 80er-JahreMusik in meinem Kriminalroman Der englische Tänzer, der in der Welt der Musicals spielt. Übrigens: Als ich an der Geschichte schrieb, deren Arbeitstitel Tainted Love lautete – nach dem gleichnamigen Hit von Soft Cell – , passierte eines Tages etwas Merkwürdiges: Ich hatte eine Arbeitspause eingelegt, besuchte ein Café, machte es mir gemütlich, und gerade als ich schon versucht war, den Arbeitstag ganz abzublasen, ertönten aus den Lautsprechern des Cafés die ersten Takte von Tainted Love … Ich eilte zurück an meinen Schreibtisch.


Benedict Wells

Ohne Songs kein Buch

Foto ipod mit Buch: © Kilian Kessler / Diogenes Verlag; Foto Wells: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag

B

eim Schreiben höre ich eigentlich immer Musik. Gerade in den ersten Jahren hat mir das geholfen. Draußen war die Welt, in der kein Schwein meine Manuskripte wollte, aber sobald ich die Kopfhörer aufhatte und Musik hörte, war alles vergessen, und ich versank in meinen Geschichten. Ich habe gelesen, dass Quentin Tarantino, bevor er sich an ein Drehbuch macht, erst einmal alte Platten durchwühlt und schaut, was für Songs er in seinem neuen Film haben möchte. Kann ich gut verstehen. Für jedes meiner Bücher habe ich spezielle Playlists mit völlig unterschiedlicher Musik erstellt und Freunden Soundtracks gebrannt, die sie dann beim Lesen hören konnten. Bei Becks letzter Sommer hörte ich in etwa die Musik, die der Lehrer Beck mag, zum Beispiel The Clash, David Bowie, The Kinks, The Doors, dazu ein bisschen Punk und Motown. Beim Roadtrip-Teil lief jede Menge Folk, unter anderem von Townes Van Zandt, Van Morrison und natürlich Bob Dylan. Bei Spinner dagegen bestand die Playlist aus Joy Division und New Order, dazu Oasis und viele klassische Indie-Bands wie die Strokes oder Kings of Leon, aber auch eher ruhigere Sachen wie King Creosote und Iron & Wine. Auch beim dritten Roman Fast genial versuche ich, mich musikalisch der Geschichte und dem Geschmack der Hauptfigur anzupassen, deshalb

im Atomic auf. Ob Beck und Rauli dann wie im Buch auch dabei gewesen sind, weiß ich aber nicht.

Benedict Wells ist im Videoclip zum Song ›Spinner‹ der Band ›Revolverheld‹ zu sehen auf youtube.com

Playlist: Becks letzter Sommer 464 Seiten, detebe 24022

Joy Division, ›Transmission‹ Joe Cocker, ›You Can Leave Your Hat On‹ Oasis, ›Wonderwall‹ Dire Straits, ›Brothers in Arms‹ Rolling Stones: ›Wild Horses‹ ›Street Fighting Man‹ ›Paint it Black‹ Bruce Springsteen, ›Atlantic City‹

läuft beim Schreiben meistens Mos Def, Pearl Jam, Eminem oder The Roots. Dazu noch Arcade Fire, LCD Soundsystem und der wunderbare Jamie T. Für mich gibt es jedenfalls nichts Schöneres, als mich mit neuer Musik an den Schreibtisch zu setzen, den ersten Song zu starten und loszulegen. Früher wollte ich sogar selbst Musiker werden. Ich war Sänger in einer Band, aber ich war so schlecht, dass alle froh waren, als ich aufgehört habe. Doch noch immer schreibe ich Songs, erst neulich einen für die Band eines Freundes; Kafkas Orient Bazaar aus München. Mit dem Sänger mache ich hin und wieder zusammen Musik, und die Band habe ich auch vor Jahren in Becks letzter Sommer im Atomic Café in München auftreten lassen, wo schon die Babyshambles und die Hives ihre Gigs hatten. Vor einigen Monaten geschah das Ganze dann in Wirklichkeit, die Band trat tatsächlich

Led Zeppelin, ›Stairway to Heaven‹ Beatles, ›Hey Jude‹ Johann Sebastian Bach, ›Herr Jesu Christ, dich zu uns wen d’‹ Morrissey, ›How Soon is Now?‹ Bob Dylan: ›Things Have Changed‹ ›Buckets of Rain‹ ›Like a Rolling Stone‹ ›Everything is Broken‹ ›All Along the Watchtower‹ ›Blowin’ in the Wind‹ ›I Want You‹ ›Not Dark Yet‹

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o gut wie mein Held Kurt Vonnegut könnte ich es nie sagen. Für seinen Grabstein hatte der Schriftsteller sich folgende Inschrift gewünscht: »Der einzige Beweis, den er für die Existenz Gottes benötigte, war die Musik.« Und um einen anderen meiner Helden zu zitieren, den Komödianten Norm MacDonald: »Ganz egal, wie mies das Leben ist, es gibt ja immer Whisky.« So geht es mir mit der Musik. Selbst in meinen dunkelsten Tagen an der Highschool war sie eine zuverlässige Beschützerin. Damals stand ich vor allem auf Punkrock. Wenn ich obskure Bands wie Screeching Weasel oder The Vindictives hörte, fühlte ich mich nicht mehr einsam. Ich lernte, für mich zu spielen. Das machte mich stark. Meine Gitarre wurde ein Handwerkszeug, mit dem ich mir eine neue Identität schuf. In der amerikanischen Provinz konnte man auf diese Weise mehr vom Leben haben. Ich war kein Vorstadt-Teenager mehr, sondern ein Entertainer.

Joey Goebel

Musik ist ein Vehikel

Dieses Bedürfnis, zu unterhalten, übertrug ich schließlich in die Schriftstellerei, und wenn ich auf meine Romane zurückblicke, sehe ich, dass die Verehrung für die Musik offenbar eine ganz besondere Rolle in meinem Leben spielt. In jedem Buch ist die Musik ein Vehikel, das meinen entfremdeten Figuren dazu dient, mit anderen Menschen in Verbindung zu treten. Für mich persönlich, in meinen Romanen wie in meinem Leben, symbolisiert die Musik zweierlei: Hoffnung und Chance. Für Gott aber ist Musik, sind die heiligen Vibrationen vielleicht der Beweis, dass wir Menschen seine Mühe wert waren.

Aus dem Amerikanischen von Matthias Fienbork

reaks Playl,idestetbe: F 23662

tives, The Vindic , e it m a n y Audio D ogues, Pixies, Big , rs e tt o’s, The P U -G ’ o G r, le k Swingin K., rin ndrew W. A oris the Sp B , , ts n e ll a u e c Billy O mmies, M sh Test Du ra C , ts ra Trash B s. The Rezillo Crass und Joey Goebel war Frontmann der Punkband ›The Mullets‹, zu hören und zu sehen auf www.myspace.com/kywaterfall

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Foto Plattenspieler mit Buch: © Kilian Kessler / Diogenes Verlag; Foto Goebel: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag

208 Seiten


Literarische Songs

Bei einigen Songs verrät schon der Titel die literarische Inspiration, etwa Romeo and Juliet von Dire Straits, aber hätten Sie gewusst, dass sich auf der Nirvana-LP In Utero eine Hommage an Patrick Süskinds Das Parfum verbirgt oder Pink Floyds Animals von George Orwells Farm der Tiere inspiriert wurde?

Ohne vertonte Gedichte oder weltliterarische Stoffe als Grundlage für Opern wäre die klassische Musik um viele Meisterwerke ärmer. Eine Tradition, die auch heute noch weitergeführt wird. So wird zum Beispiel der Roman ›Abbitte‹ von Ian McEwan demnächst als Oper aufgeführt werden. Aber auch Jazz-, Rock- oder Popmusiker haben sich in Büchern Inspiration geholt.

›Sturmhöhe‹ von Emily Brontë – ›Wuthering Heights‹ von Kate Bush (Album: ›Crimes Of Passion‹)

›Moby Dick‹ von Herman Melville – ›Moby Dick‹ von Led Zeppelin (Album: ›Led Zeppelin‹)

›Krieger des Lichts‹ von Paulo Coelho – ›Krieger des Lichts‹ von Silbermond (Album: ›Nichts passiert‹)

›Farm der Tiere‹ von George Orwell – Alle Songs auf dem Album ›Animals‹ von Pink Floyd

›Das Dorf‹ von William Faulkner – ›Lily, Rosemary & The Jack Of Hearts‹ von Bob Dylan (Album: ›Blood On The Tracks‹)

›Die Einsamkeit des Langstreckenläufers‹ von Alan Sillitoe – ›Loneliness of the Long Distance Runner‹ von Iron Maiden (Album: ›Somewhere In Time‹)

›Der große Gatsby‹ von F. Scott Fitzgerald – ›Can You Hear Me‹ von David Bowie (Album: ›Young Americans‹)

›Das Parfum‹ von Patrick Süskind – ›Scentless Apprentice‹ von Nirvana (Album: ›In Utero‹)

›Owen Meany‹ von John Irving – ›Goodbye Sky Harbor‹ von Jimmy Eat World (Album: ›Clarity‹)

Bei der Verbindung Musik und Literatur ist alles möglich. Zum Beispiel eine Symphonie, die auf einem Roman basiert: Walter Taieb komponierte 1998 The Alchemist’s Symphony nach dem Bestseller von Paulo Coelho. Und aus dem wohl berühmtesten Kinderbuch der Welt Wo die wilden Kerle wohnen wurde eine der berühmtesten Kinderopern der Welt. Edward Gorey gefiel die CD Banging In The Nails der Tiger Lillies so gut, dass er der Band eine Schachtel mit unveröffentlichten Geschichten schickte. Daraus entstanden Songs, die zusammen mit dem Kronos Quartet eingespielt wurden. Leider starb Gorey, bevor er die CD hören konnte, die nun The Gorey End heißt. Diogenes Magazin

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Interview

Hartmut Lange im Gespräch

Die Zeitgeistneurosen werden immer kurzlebiger

Foto links: Hans-Christian Plambeck / laif; Illustration: © Tomi Ungerer

Ein Gespräch über das Schreiben, Leser, den Literaturbetrieb, Geschichte – und das Deutsche Historische Museum in Berlin, das Hartmut Lange zu seinem neuen Buch inspiriert hat. Diogenes Magazin: Gibt es heute noch das Privileg, anders zu sein? Hartmut Lange: Das war nie ein Privileg. Anderssein als der herrschende Durchschnitt galt immer als Makel, und wer dem Zeitgeist nicht entsprach, wurde in der Regel ignoriert oder ausgesondert. Denken Sie etwa an Kleist, Nietzsche, Schopenhauer. Stendhal war nahezu unbekannt, ebenso Kafka. Melville musste seine Bücher zu guter Letzt verschenken, und Italo Svevo galt in Italien nicht einmal als Schriftsteller. Sie alle waren unzeitgemäß. Kleist antizipierte das Lebensgefühl der Moderne, Nietzsche und Schopenhauer entzauberten den unbedingten Glauben an die Vernunft. Stendhal und dann nochmals Svevo kreierten den psychologischen Realismus, Kafka war der Vorbote des Expressionismus. Sie alle waren anders, als es das herrschende Poetikverständnis erlaubte. Dies galt nicht als Privileg, sondern als Makel, und daran hat sich nichts geändert. Vor zwanzig Jahren noch war der magische

Realismus, der in der Malerei, denken Sie an Magritte, Dalí, de Chirico, längst durchgesetzt war, in der Literatur verpönt. Man musste politisch und sozialkritisch sein. Heute muss man vor allem, was dies auch immer heißen

Schreiben ist Sinngebung. Aber das gilt für alle Berufe oder Leidenschaften. mag, authentisch sein. Aber die Zeitgeistneurosen werden immer kurzlebiger, und die Kontinuität im literarischen Schaffen ist längst dem Management überlassen, und zwar von Buchmesse zu Buchmesse. Seit einigen Jahren geben nicht die Schriftsteller, sondern der Verein des Deutschen Buchhandels mit einem eigens hierfür gestifteten Literaturpreis die obligatorische Linie der Belletristik vor. Gibt es zu viele Bücher, zu wenige Leser?

Natürlich gibt es zu viele Bücher, aber an der Anzahl der Leser hat sich, glaube ich, nichts verändert. Vor der Massenemanzipation waren es etwa acht Prozent der gebildeten Schicht, in der Literatur rezipiert wurde. Der Rest nahm kaum einen Roman in die Hand. Heute, nachdem jeder lesen und schreiben kann, sind es weniger als acht Prozent. Aber was gelesen wird, ist nicht etwa anspruchsvolle Literatur, das musste schon Fontane erfahren, der bis zu seiner Effi Briest regelmäßig auf der ersten Auflage sitzen blieb, es sind Texte, wie sie früher von CourthsMahler geschrieben wurden. Anspruchsvolle Literatur nehmen nur wenige zur Kenntnis. Enzensberger hat es einmal hochgerechnet und behauptet, niemand von den bedeutenden zeitgenössischen Autoren käme über ein Limit von vierzigtausend gelesenen Exemplaren. Der Rest wird gekauft, aber nicht gelesen, sondern verschenkt, und das war auch bei Süskind so. Ich weiß von Bekannten, dass sie bei jedem Diogenes Magazin

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Besuch ein Exemplar vom Roman Das Parfum entgegennehmen durften, so dass sie zuletzt einen ganzen Stapel davon besaßen. Selbst Günter Grass und Peter Handke hatten weit weniger Leser, als es ihre Auflagen Glauben machen wollten. Es gibt eben eine Trendhysterie auch in der Sphäre Kultur, die etwas über die Kaufgewohnheiten, aber kaum etwas über das Kunstverständnis gewisser Kundenkreise aussagt. Wünschen Sie sich mehr Leser für Ihre Bücher? Sicher. Aber es müssten wirkliche Leser sein. Und wie ließe sich mehr Aufmerksamkeit für diese Art von Literatur stimulieren? Über das Feuilleton? Der ernsthafte Kritiker hat an Einfluss verloren. Eine größere Leserschaft erreichen Sie heute fast nur noch über die Höhenzüge der Reklamewelt, also die Bestsellerlisten. Überdimensionale Signale müssen her. Am besten, man bekommt den Nobelpreis. Hertha Müller beispielsweise hat ein Leben lang in Buchhandlungen vor zwanzig oder dreißig Leuten gelesen. Nach Bekanntwerden 56

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der Stockholmer Auszeichnung mussten sie ganze Straßenzüge absperren. Aber es waren keine Leser, die ihr da plötzlich zujubelten, sondern Voyeure. Sie haben einmal gesagt, man müsse junge Menschen, die schreiben oder malen wollen, »entmutigen«. Wie meinen Sie das? Dies bezog sich auf eine Bemerkung von Brecht. Er meinte damit, wer wirklich Talent hätte, ließe sich nicht entmutigen. Frei nach der Devise von Nietzsche: »Was mich nicht umbringt, macht mich stark.« Aber ich finde das heute zynisch. Man soll überhaupt niemanden, aus welchem Anlass auch immer, entmutigen. Ist Schreiben für Sie ein Selbsterhaltungstrieb? Allerdings. Wie für Kafka. Es ist Sinngebung. Aber das gilt für alle Berufe oder Leidenschaften. Der Arzt, der Kranke heilt, gibt seinem Leben einen Sinn, ebenso wie Mutter Teresa, die, wie man jetzt weiß, Armenhilfe aus Glaubensnot betrieben hat. Leiden Sie an der Sinnlosigkeit des Lebens?

Das will ich ja gerade vermeiden. Also schreibe ich, solange mir das gelingt, immer weiter. Muss man sich zum Optimismus zwingen? Mitunter ja. Es ist auch eine Frage der Disziplin, ob man vor dem existentiell Unabänderlichen, und ich meine damit Krankheit, Alter, Sterbensgewissheit usw., kapituliert. Das Verhängnisvolle, aber auch das Tröstliche am Menschen ist, dass er sein Elend in Würde überdenken kann. Stimmen Sie Bürgerproteste, wie jetzt zu Stuttgart 21, optimistisch, was die Entwicklung der Gesellschaft betrifft? Es scheint mir notwendig, dass die Volksvertreter, nachdem sie demokratisch gewählt wurden, nicht tun und lassen können, was sie wollen. Sonst entstünde da eine – wenn auch zeitlich begrenzte – Gelegenheit zur parasitären Legislative. Die Gehälter, Diäten und Pensionen von Beamten höheren Grades sind jetzt schon nicht zu verantworten, und es gibt freigewählte, ministeriale Volksvertreter, die sich ihr Mandat nach einer einträglichen Legis-


Fotos: © Hans-Christian Plambeck / laif

laturperiode von der Wirtschaft nochmals vergolden lassen. Und wenn nun noch ganze Innenstädte, immer mit dem Hinweis, dies sei politisch legitimiert, verändert werden sollen, dann stimmt es optimistisch, wenn sich der Wähler so viel hochmütigen Parlamentarismus nicht gefallen lassen will. Zu Ihrem neuen Buch hat Sie das Deutsche Historische Museum in Berlin inspiriert. Kann man aus der Geschichte lernen oder aus Geschichten? Man erfährt in einem Museum, dass es eine Welt gegeben hat, die ein für alle Mal verschwunden ist und der man bald selber angehören wird. Man sieht Gesichter von Personen, die einem etwas bedeuten. Sie sind über die Grenze zum Nichts vorausgegangen, und das tröstet über die Vergänglichkeit hinweg. Ich liebe zum Beispiel Schubert, und der Gedanke, dass er mir von einem Porträt aus zuwinkt, hat schon etwas Faszinierendes. Andererseits verweisen die unzähligen Exponate – Kleider, Hüte, Gegenstände usw. – darauf, wie unendlich groß die Zahl derer ist, die nicht nur gestorben,

sondern vergessen sind. Im Museum erleben wir den Widerruf des Lebens, und dies macht einen schon nachdenklich. Welches ist Ihr Lieblingsexponat im Deutschen Historischen Museum? Mich faszinieren besonders jene Exponate, deren Geste der Lebendigkeit beibehalten wurde, die aber gerade deshalb darauf hinweisen, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit ist. Also jene Ritterrüstungen aus dem Mittelalter, die mit erhobenen Schwertern noch so tun, als würden sie gegen einen Feind anrennen, aber sie sind hohl. Da ist nichts mehr, außer gähnender Leere. Oder jenes Seidenkleid aus dem Biedermeier unter der Treppe, die zur Empore mit den Bildern des John Opie führt. Es ist wunderbar und kostbar drapiert, aber niemand weiß mehr, wer es getragen hat. Hier wird die Vergangenheit, obwohl dokumentiert, unheimlich, weil die Puppe, der man das Kleid übergezogen hat, wie eine hilflose, vergebliche, ja fast höhnische Geste des Nichts wirkt. kam

Buchtipp

Hartmut Lange Im Museum Diogenes

ca. 144 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06771-2 FEBRUAR 2011

Literatur kann ein Museum bereichern. Hier übersteigt die Vorstellungswelt die tatsächliche Welt, und wie spannend, anrührend, aufschlussreich, wie unheimlich dies sein kann, erfährt man in den sieben Kapiteln dieses Buches. Von Hartmut Lange sind im Diogenes Verlag 21 Bücher erschienen. 2002 erschienen seine Gesammelten Novellen in zwei Leinenbänden im Schuber.

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Mit Ihnen im Lesefieber. Jede Woche von Neuem. Mit den Literatursendungen auf DRS 1: Montag 14.05 Uhr HörSpiel – Hörgeschichten für das Kino im Kopf. Dienstag 14.05 Uhr Schwiiz und quer – Für Liebhaber von Mundart und Brauchtum. Mittwoch 14.05 Uhr HörBar – Literatur fürs Ohr. Donnerstag 14.05 Uhr WortOrt – Orte und ihre Geschichten. 21.05 Uhr Schnabelweid – Die Schweiz und ihre Mundarten. Freitag 14.05 Uhr BuchZeichen – Weckt die Lust am Lesen.

www.drs1.ch


Tatjana Hauptmann auf der einsamen Insel Jeder kennt die Frage: »Welches Buch würden Sie auf die einsame Insel mitnehmen?« Wir haben diesmal die Illustratorin Tatjana Hauptmann gefragt. Und nicht nur nach ihrem bevorzugten Buch, sondern nach einigem mehr, das sie ebenfalls mit auf die Insel nehmen darf. Tatjana Hauptmann wurde vor allem durch ihr Großes Märchenbuch bekannt, das seit fast 25 Jahren Kinder und Erwachsene erfreut. Roman Kann ich fast nicht beantworten, denn ich habe mindestens 50 Lieblingsromane! Die Romantrilogie von einem meiner Lieblingsmusiker, Sven Regeners Herr Lehmann, Neue Vahr Süd und Der kleine Bruder würde ich in meinen Überseekoffer packen.

Pop / Rock Shantel, Disko Partizani

Sachbuch Russisch ohne Mühe

Getränk (alkoholfrei) Grüntee

Lyrik Mascha Kaléko In meinen Träumen läutet es Sturm

Getränk (alkoholisch) Tee mit Rum (nur bei 30° minus)

Theaterstück Der Kontrabass von Patrick Süskind Erzählung Anton ¢echov, Der Flattergeist

Illustration: © Chaval; Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag

Zeitung Keine Zeit, dafür Bücher Zeitschrift Siehe oben! TV-Sender Arte

Lieblingsessen (nicht süß) Wokgemüse mit Ingwer und Tofu Lieblingsessen (süß) Was schon Arno Schmidt in Entzücken versetzte: Glacé Fürst Pückler

Schauspieler Jack Nicholson Schauspielerin Evelyn Hamann Musik Das Glockengeläut der Erlöserkirche in St. Petersburg Klassik Johann Philipp Krieger (1649–1725) An die Einsamkeit, Deutsche Barocklieder gesungen von Andreas Scholl

Gemälde Falls man mich nicht auf ein felsiges Eiland à la Galapagos absetzen würde, wo ich Alexander Golowins Blumen und Porzellan (1912) mitnähme, sondern auf eine üppige Robinson-Insel, käme Das Bett (1972–1975) von Varlin in meinen Übersee-Koffer (die durchgelegene Matratze erinnert mich an eine Hängematte!). Photo Eines meines Sohnes David

Radiosender DRS 2 Film Kukushka von Aleksandr Rogoschkin TV-Serie Der Dicke

Oper La Belle et la Bête von Philip Glass Jazz Guy Klucevsek, Dancing on the Volcano

Musikinstrument Keyboard Möbelstück Zeichentisch mit großer Schublade, darin Faber-Castell-Stifte, Pinsel, Farben und Papier Diogenes Magazin

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Technisches Gerät Fotoapparat Kleidungsstück Die Lederkluft mit Helm von Klaus Kinsky in Aguirre, der Zorn Gottes Parfüm Maroussia von Slava Zaitsev Spiel Schach Lebenspartner King Kong Lebensretter Woody Allen Gesprächspartner Herr MüllerLüdenscheidt Streitpartner Dr. Klöbner mit Ente Briefpartner Harry Rowohlt Nachbar Mein/e Buchhändler/in Haustier Hund Joker-Artikel Holzkasten, Inhalt: Mikroskop und Fernrohr

Buchtipp

«Die Schweizer Monatshefte bieten einen Panoramablick auf Neuerscheinungen der Schweizer Literatur. Ich freue mich auf jede Ausgabe!» Thomas Hürlimann, Schriftsteller

All die verschwundenen Dinge Eine Geschichte von Lukas Hartmann Mit Bildern von Tatjana Hauptmann

ca. 96 Seiten, Halbleinen ISBN 978-3-257-01151-7 APRIL 2011

Wo gehen all die Dinge hin, die wir verlegen, liegenlassen, verlieren? Der kleine Karl ist überzeugt, dass es einen geheimen Ort gibt, an dem sie sich versammeln. Und ist entschlossen, ihn zu finden. Eine zauberhafte Geschiche von Lukas Hartmann, prächtig illustriert von Tatjana Hauptmann.

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SCHWEIZER MONATSHEFTE Die Autoren-Zeitschrift Politik Wirtschaft Kultur seit 1921 schweizermonatshefte.ch

Foto: © Regine Mosimann / Diogenes Verlag

Diogenes


Serie

Wenn ihr das Leben gar zu ernsthaft nehmt, was ist denn dran? Wenn uns der Morgen nicht zu neuen Freuden weckt, am Abend uns keine Lust zu hoffen übrig bleibt; ist’s wohl des An- und Ausziehens wert? Scheint mir die Sonne heute, um das zu überlegen, was gestern war? Und um zu raten, zu verbinden, was nicht zu erraten, nicht zu verbinden ist, das Schicksal eines kommenden Tages?

Ein wenig Geiz schadet dem Weibe nicht, so übel sie die Verschwendung kleidet. Freigebigkeit ist eine Tugend, die dem Manne ziemt, und Festhalten ist die Tugend eines Weibes. So hat es die Natur gewollt, und dieses Urteil wird im Ganzen immer naturgemäß ausfallen. Der allein ist glücklich und groß, der weder zu herrschen noch zu gehorchen braucht, um etwas zu sein!

Alles, was wir treiben und tun, ist ein Abmühen; wohl dem, der nicht müde wird. Der Mensch ist dem Menschen das Interessanteste und sollte ihn vielleicht ganz allein interessieren. Alles andere, was uns umgibt, ist entweder nur Element, in dem wir leben, oder Werkzeug, dessen wir uns bedienen. Je mehr wir uns dabei aufhalten, je mehr wir darauf merken und teil daran nehmen, desto schwächer wird das Gefühl unseres eigenen Wertes und das Gefühl der Gesellschaft. Die Menschen, die einen großen Wert auf Gärten, Gebäude, Kleider, Schmuck oder irgendein Besitztum legen, sind weniger gesellig und gefällig; sie verlieren die Menschen aus den Augen, welche zu erfreuen und zu versammeln, nur sehr wenigen glückt. Sehen wir es nicht auch auf dem Theater? Ein guter Schauspieler macht uns bald eine elende Dekoration vergessen, da hingegen das schönste Theater den Mangel an guten Schauspielern erst recht fühlbar macht.

Illustration: © Tullio Pericoli

Den Timon fragte jemand wegen des Unterrichts seiner Kinder. Lasst sie, sagte der, unterrichten in dem, was sie niemals begreifen werden. Den Enthusiasmus für irgendeine Frau muss man einer andern niemals anvertrauen; sie kennen sich untereinander zu gut, um sich einer solchen ausschließlichen Verehrung würdig zu halten. Die Männer kommen ihnen

Denken mit

Johann Wolfgang Goethe vor wie Käufer im Laden, wo der Handelsmann mit seinen Waren, die er kennt, im Vorteil steht, auch sie in dem besten Lichte vorzuzeigen, die Gelegenheit wahrnehmen kann; dahingegen der Käufer immer mit einer Art Unschuld hereintritt, er bedarf der Ware, will und wünscht sie und versteht gar selten, sie mit Kenneraugen zu betrachten. Jener weiß recht gut, was er gibt, dieser nicht immer, was er empfängt. Aber es ist einmal im menschlichen Leben nicht mehr zu ändern, ja so löblich als notwendig; denn alles Begehren und Freien als Kaufen und Tauschen beruht darauf. Man feiere nur, was glücklich vollendet ist; alle Zeremonien zum Anfange erschöpfen Lust und Kräfte, die das Streben hervorbringen und uns bei einer fortgesetzten Mühe beistehen sollen. Unter allen Festen ist das Hochzeitsfest das unschicklichste; keines sollte mehr in Stille, Demut und Hoffnung begangen werden als dieses.

Nicht die Talente, nicht das Geschick zu diesem oder jenem machen eigentlich den Mann der Tat, die Persönlichkeit ist’s, von der in solchen Fällen alles abhängt. Der Charakter ruht auf der Persönlichkeit, nicht auf den Talenten. Talente können sich zum Charakter gesellen, er gesellt sich nicht zu ihnen: denn ihm ist alles entbehrlich, außer er selbst. Welche Regierung die beste sei? Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren. Philosophie, wenn sie fürs Leben Bedeutsamkeit gewinnen will, muss geliebt und gelebt werden. Die Natur hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen …

Denken mit Johann Wolfgang Goethe Diogenes

Diogenes Taschenbuch detebe 23488, 144 Seiten

Im nächsten Magazin: Karl Kraus Diogenes Magazin

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Serie

D E R

Lesefrüchtchen

R E D A K T E U R

Schicken Sie uns bitte Ihre Lieblingssätze aus einem Diogenes Buch. Jedes veröffentlichte Zitat wird mit einem Bücherpaket im Wert von € 100.– honoriert. Bitte per E-Mail an kam@diogenes.ch oder auf einer Postkarte an: Diogenes Magazin, Sprecherstr. 8, 8032 Zürich, Schweiz

E I N E H O C H S T E H E N D E Z E I C H N U N G

Ich habe von Venedig nichts gesehen. (Definition von Liebe) Charles Dantzig, ›Encyclopédie capricieuse du tout et du rien‹ Gregorovius dachte, dass Chestov irgendwo von Aquarien gesprochen hatte, in denen eine bewegliche Zwischenwand angebracht war, die man im gegebenen Augenblick herausnehmen konnte, ohne dass der Fisch, an seine Absperrung gewöhnt, sich jemals entschloss, auf die andere Seite zu wechseln. Einen Punkt im Wasser erreichen und umkehren, ohne zu wissen, dass kein Hindernis mehr vorhanden ist, dass man nur weiterzuschwimmen brauchte … – Aber die Liebe könnte auch das sein, sagte Gregorovius. Julio Cortázar, ›Rayuela. Himmel und Hölle‹ Pessimisten sind die wahren Lebenskünstler, denn nur sie erleben angenehme Überraschungen. Marcel Proust Ich signiere auch gerne Ihr E-Book. Ian McEwan zu Felicitas von Lovenberg von der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹, als sie ihn nach seiner Meinung zu E-Books als papiersparende Alternative befragte.

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Er hatte den Ball in weniger als vier Sekunden in den Korb gestopft! »Siehst du, was ein kleines bisschen Glauben bewirken kann?«, meinte Owen Meany. Der minderbemittelte Hausmeister klatschte uns Beifall. »Stellen Sie die Uhr auf drei Sekunden«, sagte Owen zu ihm. »Lieber Himmel!«, entfuhr es mir. »Wenn wir es unter vier Sekunden schaffen, dann schaffen wir es auch unter drei«, gab er ungerührt zurück. »Wir müssen nur ein bisschen mehr Glauben haben.« »Wir müssen mehr üben«, korrigierte ich ihn gereizt. »Glauben muss man üben«, erwiderte Owen Meany. Aus: John Irving, ›Owen Meany‹ (Diogenes Taschenbuch 22491) Eingeschickt von Andrea Wolfmayr, Gleisdorf (A)

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IIllustration links: Bosc; llustration oben: © Tomi Ungerer

W O L L T E


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PSYCHOLOGIE HEUTE


»Der Kriminalroman ist seit Dashiell Hammett eine literarische Gattung, deren Geschichte mit seinem Namen beginnt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Hammett schrieb für einen Cent pro Wort und erfand eine ganze Literatur. Moderner kann ein Klassiker nicht sein.« Wiglaf Droste


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Der Krimiautor, der dabei war Er war acht Jahre lang Detektiv, dann schrieb er Kriminalromane, die dem Genre zu literarischen Weihen verhalfen. Berühmt wurde er durch seinen ›Malteser Falken‹ mit Privatdetektiv Sam Spade, den Humphrey Bogart auf der Leinwand unsterblich machte.

Foto links: © John Springer Collection / Corbis / Specter

A

cht Jahre lang prügelte er sich als Schnüffler durch die Unterwelt, was ihm grässliche Narben an den Beinen bescherte, eine Delle am Kopf, aber auch eine Unmenge Geschichten drin. 1915 hatte er einundzwanzigjährig als Detektiv bei der berühmten Pinkerton’s Detective Agency angefangen, die mit dem Slogan »Wir schlafen nie« um Kunden warb. Als die Agenten vermehrt als Streikbrecher eingesetzt wurden, verließ Hammett, der mit der Linken sympathisierte, die Pinkerton’s Agency. Ein zweiter Grund waren gesundheitliche Probleme, Spätfolgen einer Tuberkulose, an der er als Soldat während des Ersten Weltkriegs erkrankt war. Glück im Unglück: Durch die Erkrankung lernte er seine spätere Frau, Josephine Dolan, eine Krankenschwester, kennen. Die Hammetts hatten zusammen zwei Töchter, die Ehe hielt siebzehn Jahre, jedoch lebten Dashiell und Josephine schon sehr bald getrennt. Nach seiner Karriere bei Pinkerton musste Hammett eine neue Einkunftsquelle finden. Mit 14 hatte er die Schule verlassen und danach als Zeitungsjunge, Kurier, in Büros und Fabriken gejobbt. Nun verdiente er

vor allem in der Werbung sein Geld. Seine Freizeit verbrachte er in der Bibliothek. Er las alles: Schundromane, Aristoteles, Henry James, Flaubert, isländische Sagen aus dem 13. Jahrhundert. Und er begann zu schreiben und entdeckte, dass er sich auf das Genre, das die billigen Pulp-

Meldung in den ›Kieler Nachrichten‹ vom 7. September 1974

Magazine veröffentlichte, am besten verstand: Krimis. An Geschichten mangelte es dem Ex-Detektiv nicht. Seine Stories nannte er zwar wie die Pulp-Magazine, in denen sie erschienen, »Schund«, aber er war ein leidenschaftlicher Schreiber, schrieb am Küchentisch, fleißig, besessen, ungeachtet seiner schwachen Gesundheit. Er nahm

seine Arbeit fanatisch ernst, weigerte sich, sein Haus auch nur für einen Spaziergang zu verlassen, solange er an einem Buch schrieb. Lillian Hellman, seine Freundin von 1931 an, selber Schriftstellerin, sagte: »Ich hatte noch nie jemanden auf diese Art arbeiten sehen, diese Sorgfalt mit jedem Wort, dieser Stolz allein auf eine säuberlich getippte Seite.« Und was für Wörter und Sätze, was für Dialoge, was für ein Stil: präzis und reduziert, abgebrüht, mit realistischem Unterton. Auf einmal waren Kriminalromane ›lesbar‹, aus Groschenromanen wurde Literatur mit Anspruch. Zwischen 1929 und 1934 erschienen die fünf Romane, die Hammett berühmt machten: Rote Ernte, Der Fluch des Hauses Dain, Der Malteser Falke, Der gläserne Schlüssel und Der dünne Mann. Er wurde von der Presse gefeiert, auf Parties quer über das ganze Land eingeladen. Man fand diesen dünnen, großen Mann, der einmal Detektiv gewesen war und jetzt schrieb und der seine Schüchternheit nach ein paar Drinks ablegte, seltsam spannend und glamourös. Hollywood umgarnte ihn als Drehbuchschreiber, spätestens seit John Hustons Verfilmung von Der Diogenes Magazin

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In einem Senatsunterausschuss befasste sich Joseph McCarthy mit Vorwürfen, kommunistische Bücher seien in 150 vom State Department betriebene Bibliotheken gelangt. Dazu wurde Hammett im März 1953 befragt. Berühmt wurde folgender Dialog:

Malteser Falke mit Humphrey Bogart, die den Beginn des Film noir markiert. »In diesem ersten richtigen Detektivroman der Geschichte«, so Regisseur Peter Zadek, »weiß der Leser nie, woran er ist. In schnellen, harten Szenen wird ein Fall durchgespielt, der ihn voltenreich von einer Verblüffung in die nächste wirft. (…) Ich bin immer wieder fasziniert von der Story, die wie ein atemberaubendes Theaterstück vom perfekten Timing der Szenen lebt. (…) Keiner ist, was er scheint, keinem kann man trauen, alle spielen ihre Rollen – eine einzige Paranoia, sehr modern.« Das Geld floss in Strömen, und Hammett gab es aus – vor allem für Alkohol und für Frauen, auch für abgebrannte Bekannte und Unbekannte. Hammett war großzügig bis zum Exzess: Wer ihn anbettelte, durfte sich gleich direkt aus seiner Brieftasche bedienen. Selbst später, als das Geld knapp wurde, verschenkte er, was er besaß, denn »die Dinge gehören denen, die sie am meisten brauchen«. Nach 1934 schrieb Hammett kein einziges Buch mehr fertig. Dafür wurde er zunehmend politisch aktiv – zumindest in seinen nüchternen Phasen. 1937 trat er der Kommunistischen Partei bei. Obwohl er als Tuberkulosepatient dienstuntauglich war, setzte er alle Hebel in Bewegung, um auch im Zweiten Weltkrieg dienen zu können, er wollte persönlich gegen den Faschismus kämpfen.Tatsächlich wurde 66

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er eingezogen, um auf den Aleuten eine Militärzeitung herauszugeben. Dashiell Hammetts Sympathien für die Kommunisten wurden ihm in der McCarthy-Zeit zum Verhängnis. Als er 1951 vor Gericht Geldgeber für einen kommunistischen Hilfsfonds nennen sollte, verweigerte er hartnäckig seine Aussage. »Auch wenn es um mehr als Gefängnis, wenn es um mein Leben ginge, würde ich es für das hingeben, was ich für Demokratie halte, und ich lasse mir weder von Polizisten noch von Richtern vorschreiben, was ich für Demokratie zu halten habe«, soll er zu Lillian Hellman gesagt haben. Wegen Missachtung des Gerichts musste Hammett sechs Monate ins Gefängnis – er kam als todkranker Mann heraus. Ein Romanprojekt blieb unvollendet. »Er war zu krank, um sich darum zu kümmern, zu heruntergekommen, um sich Pläne anzuhören oder Verträge zu lesen. Die Aufgabe zu atmen, einfach nur zu atmen, füllte alle Tage und Nächte«, beschrieb Lillian Hellman Hammetts letzte Jahre. 1961 starb er verarmt und resigniert in New York an Lungenkrebs. »Gegen Ende seines Lebens prophezeite Dashiell Hammett«, so Dante Andrea Franzetti, »es werde jemand kommen und die Detektivgeschichte ›zu Literatur machen‹. Er dachte dabei an Raymond Chandler oder Georges Simenon. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass er selbst dieser Autor sein könnte.« js

Buch- und CD-Tipp

Dashiell Hammett Rote Ernte Roman · Diogenes

256 Seiten, Pappband ISBN 978-3-257-24073-3

»Der Whisky schmeckt, als käme er aus der Leiche« – harte Sprüche, knallharte Typen, Machtmissbrauch, Korruption und ein sehr dehnbares Rechtsverständnis. Ein Roman mit 28 Leichen, und der Detektiv fast eine von ihnen. Diogenes Hörbuch Gelesen von Wiglaf Droste »Der Kriminalroman ist seit Dashiell Hammett eine literarische Gattung, deren Geschichte mit seinem Namen beginnt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

8 CD

Dashiell Hammett Der Malteser Falke Roman

8 CD, ungekürzt gelesen von Wiglaf Droste ISBN 978-3-257-80254-2

Der Klassiker des Kriminalromans, »mit Verve gelesen von Wiglaf Droste – ein Genuss.« Bayern 2, München

Fotos links: © NY Daily News via Getty Images, Foto rechts: © Bettmann / Corbis / Specter

Dashiell Hammett auf dem Weg ins Gefängnis, Juli 1951, und 1953 während einer Befragung durch Joseph McCarthy

McCarthy: »Mr.Hammett, wenn Sie, wie wir es tun, über 100 Millionen Dollar jährlich für ein Programm ausgäben, das der Bekämpfung des Kommunismus dient, und wenn Sie für dieses Programm verantwortlich wären, würden Sie dann die Werke von etwa 75 kommunistischen Schriftstellern (…) in der ganzen Welt verteilen (…)?« Hammett: »(…) Falls ich den Kommunismus bekämpfen würde, würde ich den Leuten überhaupt keine Bücher geben.«


Interview

Wim Wenders während der Dreharbeiten zu seinem Film ›Hammett‹, 1981

Wim Wenders über Dashiell Hammett

Foto: © Michael Childers / Sygma / Corbis / Specter

Zwischen 1978 und 1982 drehte Wim Wenders in Hollywood den Film ›Hammett‹, der die Lebensgeschichte des berühmten Krimiautors mit der Welt seiner Detektivstorys verbindet. In diesem Interview fürs ›Diogenes Magazin‹ erinnert sich Wim Wenders, was für ein wichtiges Kinoerlebnis ›Der Malteser Falke‹ für ihn war, er erzählt von der Entstehungsgeschichte seines Films und seiner Faszination für Dashiell Hammett – als Schriftsteller und als Mensch. Diogenes Magazin: Erinnern Sie sich, wann Sie zum ersten Mal Der Malteser Falke von John Huston gesehen haben? Oder haben Sie zuerst den Roman gelesen? Wim Wenders: Der Film lag vor der Lektüre. Ich habe ihn, glaube ich, zuerst in einem Kino in Freiburg gesehen, als ich da noch Medizin studiert habe. Oder war es im Münchner Leopold-Kino? Zu lange her. Auf jeden Fall habe ich mir den Malteser Falken gleich mehrmals hintereinander angeschaut. Das Schwarzweiß-Klima in dem Film war einfach phantastisch. Bogart war natürlich einmalig, aber was für Nebenrollen! Peter Lorre war nie besser als Joel Cairo, selbst in M – Eine Stadt sucht einen Mörder nicht, Sydney Greenstreet als Kasper Gutman (!) unvergesslich, aber meine Lieblingsfigur war der kleine aufmüpfige Killer Wilmer Cook, mit Elisha

Cook Jr. sensationell besetzt. Mit Elisha habe ich mich dann 40 Jahre später angefreundet. Er spielt in meinem Film Hammett mit. An den dreh-

Dashiell Hammett Der Malteser Falke Roman · Diogenes

Peter Lorre und Humphrey Bogart in der Verfilmung von John Huston von 1941 auf dem Cover der Diogenes Ausgabe des berühmtesten Romans von Dashiell Hammett

freien Tagen sind wir immer zu den Pferderennen gegangen. Er war ein leidenschaftlicher Spieler und hat all sein Geld bei Pferdewetten eingesetzt. Die Jockeys liebten Elisha, vielleicht weil er genauso schmächtig war wie sie, und sie haben ihm immer Tipps gegeben. Er hat trotzdem dauernd verloren. Aber Gewinnen hätte auch nicht zu ihm gepasst. »Wilmer« war der ewige Loser. Wie kam es zum Film Hammett? Ich kannte alle Romane von Dashiell Hammett, und Rote Ernte ist und war einer meiner Lieblingsromane in der amerikanischen Literatur. (Hätte ich auch riesig gerne verfilmt, aber die Rechte lagen leider immer bei einem italienischen Produzenten, der ziemlich absurde Vorstellungen davon hatte, was das für ein Film werden sollte. Auch andere Regisseure, z.B. Bertolucci, haben sich an dem die Diogenes Magazin

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Zähne ausgebissen.) Jedenfalls kriegte ich aus heiterem Himmel dieses Telegramm von Francis Ford Coppola, Ende 1977. Ich war tief in der australischen Wüste, um ein Drehbuch zu schreiben (das dann viel später der Film Bis ans Ende der Welt geworden ist), und das Telegramm erreichte mich auf abenteuerliche Weise über Freunde in Sydney, die wussten, wo ich war. Coppola lud mich ein, nach San Francisco zu kommen, um über ein Projekt namens Hammett zu reden. Er musste mich nicht zweimal bitten. Mehr als den Titel wusste ich nicht. Anfang 1978 war ich dann bei Zoetrope Pictures, und Francis stellte mir das Projekt vor, basierend auf dem Roman Hammett von Joe Gores. Vier Jahre hat es gedauert, und vier verschiedene Autoren sind an dem Projekt halb wahnsinnig geworden. Aber irgendwie haben Francis und ich nie aufgegeben. Francis hat mich nicht gefeuert, obwohl er sicher zwischendurch Lust dazu hatte, und ich habe den Film nicht fallenlassen wollen. Ich habe ihn zweimal komplett gedreht. Der erste war mein Film, der viel mehr von Hammett, dem Autor, handelte. Der zweite war der Studiofilm, der mehr von Hammett, dem (halb fiktiven) Detektiv handelte. Nur letzteren gibt es heute. Meinen gibt es nicht mehr, das Negativ wurde zerstört. 68

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Im Nachhinein eine wichtige (und irgendwie verrückte) Zeit in meinem Leben, die ich nicht missen wollen würde. Nur dass es meinen Hammett nicht mehr gibt, das liegt mir noch schwer auf der Seele …

Dass ich über den Film auch viel über den Mann erfahren habe, Dashiell Hammett nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als politisch engagierter Intellektueller, dessen Lebensgeschichte in vieler Hinsicht exemplarisch war für seine Zeit, das war ein Extra-Bonus. Der Mensch Dashiell Hammett hat mich noch mehr beeindruckt als seine Romane. Dass er aufgehört hat zu schreiben, weil er, nach eigenem Bekunden, gemerkt hat, dass er sich nur noch selbst imitiert,

Fotos: © Michael Childers / Sygma / Corbis / Specter

Wim Wenders mit Hauptdarsteller Frederic Forrest auf dem Set von ›Hammett‹, 1981

das ist eine große Heldentat in meinen Augen. Wer wagt das schon, als Schriftsteller, Maler, Musiker oder Filmemacher!? Was fasziniert Sie an Hammetts berühmtester Figur, Sam Spade? Genau das, was mich an Hammett selbst fasziniert hat. Eine Mischung aus bedingungsloser Ehrlichkeit, Sprachwitz, Abgeklärtheit, Illusionslosigkeit. Sam Spade war ein Urtyp, eine archetypische Figur, wie es sie vor Hammett nicht gab. Alle anderen amerikanischen Detektive und ›hardboiled characters‹, erfunden von Raymond Chandler, Ross MacDonald, Mickey Spillane bis hin zu James Ellroy, sind an diese Figur des Sam Spade angelehnt. Hammett hat sie erfunden, basierend auf seinen eigenen jahrelangen Erfahrungen als Pinkerton-Detektiv. Seine Tuberkulose hat diesem Broterwerb ein Ende gemacht, dann hat er angefangen zu schreiben, sowohl Kurzgeschichten als auch Werbetexte, und später Romane. Irgendwie ist die Biographie nicht unähnlich der von Edward Hopper, der auch jahrelang Werbebilder gemalt hat und dessen Bilder ein ähnliches Klima haben wie die Geschichten von Hammett. In den vier Jahren, die ich an Hammett gearbeitet habe, hatte ich ein Auto mit dem Kennzeichen ›SamSp8‹… Wie wichtig ist dieser Urtypus des harten Detektivs, den Hammett kreiert hat, für Amerika? Ich denke, dass diese Figur den nicht mehr so ganz zeitgemäßen Westernhelden abgelöst hat. Gerade in einer Zeit, in der es wirtschaftlich bergab ging – Sam Spade tauchte zeitgleich mit der großen Depression auf –, konnte man sich mit einem identifizieren, dem es auch nicht gutging, der auch miese Jobs annehmen musste, weil er das Geld brauchte, aber der trotzdem nicht korrumpierbar war, und der sich seine Ehrlichkeit manchmal hart erkaufen musste. Sam Spade war ein städtischer Held, gebrochen, aber trotzdem noch uramerikanisch, der Erste seiner Art. kam


Jörg Fauser über Hammett Eine Hommage aus dem Jahr 1976

U

nter den ersten Kriminalromanen, die ich mit 14, 15 Jahren las, war auch Dashiell Hammetts Bluternte, und obwohl ich damals nicht abschätzen konnte, was für ein literarisches Juwel ich da in Händen hielt, kann ich mich noch heute an die fieberhafte Faszination erinnern, die das Buch in mir auslöste; und daran, dass mir seither Autoren wie Agatha Christie oder Ellery Queen und überhaupt die steifgeschlagene Crème des Londoner »Detection Clubs« gründlich verleidet sind, Autoren also, deren Credo ein gewisser E.M. Wrong so formulierte: »Was wir von unserer Detektivliteratur verlangen, ist kein Spiegelbild des wirklichen Lebens … sondern ein tiefes Geheimnis.« Eben. Und bitte keinen Sex und keine Proleten und kein Blutvergießen auf dem Westminster Rug. (…) Mit Hammett tritt der Kriminalroman in die gesellschaftliche Wirklichkeit und zugleich in die große Literatur. (…) Er hat mit seinen Romanen und Erzählungen das bis dato von den angelsächsischen »Damen beiderlei Geschlechts« (Raymond Chandler) dominierte und halb zu Tode geheimnisste und geschleimte Genre dorthin geführt, wo es hingehört, in das »Dickicht der Städte«, in die Dunkelzonen der Zivilisation, wo Verbrechen kein Fauxpas und kein dunkler Trieb und schon gar kein Feierabendpuzzle drittklassiger Schreiberlinge, sondern »way of life« ist. (…) Für einen Mann, der realistische Literatur machen wollte, war das Pflaster der amerikanischen Großstädte in den 20er-Jahren der richtige Ort. Prohibition und organisiertes Gangstertum, bestechliche Polizisten, korrupte Politiker, der Glimmer der Film-Society und der Sound des Jazz, das hektische, oft brutale, aber immer mitreißende Tempo von New York, Chicago, San Francisco. (…)

Fest etabliert in den Pulp Magazines, der Basis dieser »hard-boiled« Kriminalliteratur, vor allem der heute legendären Black Mask, schrieb ›Dash‹ dann zwischen 1928 und1934 die fünf Romane, die seinen Weltruhm sicherten, und auch, dies ein Novum und keinem anderen Autor gelungen: Jeder dieser fünf Romane steht für eine ganz bestimmte Gattung innerhalb des Genres: Nicht ein einziges Mal hat Hammett ein Muster wiederholt oder variiert. Neben dem Politthriller Bluternte gibt es im Fluch des Hauses Dain eine psychologische Schauergeschichte mit Anklängen an die Tradition der »Gothic Novel«, zugleich eine gelungene Satire auf pseudoreligiöse Kulte, wie sie schon da-

Der Kriminalroman hat Räume erschlossen, die neue Literatur erst möglich machen. Die Figuren, die in diesen Räumen agieren, sind nicht unbedingt das Salz der Erde, aber manche Bücher, die wir ihnen verdanken, sind das Salz der Literatur. mals in Kalifornien populär waren. Der Malteser Falke ist Dashiell Hammetts Klassiker über den Detektiv als Einzelgänger, den zynischen, abgebrühten »Private Eye«, eine Figur, die Raymond Chandler mit seinem Philip Marlowe dann vollends ausgelotet hat. Im Dünnen Mann hat der Detektiv Geld geheiratet und ist ein smarter Geschäftsmann; zufällig eher gerät er in mysteriöse Vorgänge um eine exzentrische Familie, auch diese Struktur eine oft strapazierte Variante des Detektivromans, aber nirgendwo so gekonnt vorgeführt wie in diesem, Hammetts letztem Roman. Im Gläsernen Schlüssel schließlich, einem meiner Lieblingsbücher, gibt es keinen

Detektiv. Es ist die Geschichte der Freundschaft zwischen einem Spieler und einem Politiker auf dem präzis geschilderten Set einer von Politgangstern beherrschten Stadt, eine Geschichte von Misstrauen, Macht, Angst, Verrat und Loyalität, eine sehr bittere und sehr moralische Geschichte, die Geschichte eines Traums auch, in dem der gläserne Schlüssel in der Tür zerbricht, hinter der das Unheil lauert … Ja, in den Büchern Hammetts und Chandlers träumen die Menschen, werden Träume erzählt. Alpträume samt und sonders oder mindestens Rausch-Träume, und gerade ihre Beschreibung, das Einlassen auf Träume, macht diese Bücher zu menschlichen Büchern: Nur Pappfiguren à la Poirot oder Gummilöwen wie Nero Wolfe träumen nicht. Ab 1934 hat Hammett, von ein paar Drehbüchern und Kurzgeschichten abgesehen, nichts mehr geschrieben. Er vergrub sich hinter Flaschen, auf Parties, nochmals freiwillig, im Krieg und in Bergen von Büchern. Hat dieser merkwürdig verquere »Dünne Mann«, dieser amerikanischste aller Kommunisten, der unter McCarthy lieber ins Gefängnis ging, als eine Aussage zu machen, die niemand geschadet hätte, dieser unerbittliche Faktualist, der sich im Tierreich und in der Waffenkunde so gut auskannte wie in marxistischer Ökonomie und höherer Mathematik, dieser einsame Hagestolz und freigiebige Menschenfreund (…) – hat dieser Mann seine kreative Kraft bewusst verschleudert, ist sie ihm in all den Flaschen mählich versickert, oder bedeutete sein Schweigen die Absage an eine Welt, die ihn mit Verachtung erfüllte? Hammett bleibt gerade mit diesem langen und stolzen Schweigen eine der rätselhaftesten, möglicherweise, wer will es wissen, vorbildlichsten Figuren unserer Zeit und ihrer Literatur.

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Crime-Story

Dashiell Hammett

Bitteres Los Eine frühe Short Story des »Klassikers des Kriminalromans« (Frankfurter Allgemeine Zeitung) zum ersten Mal auf Deutsch. Mit drei Zeichnungen von Thomas Ott.

Illustration links: © Thomas Ott; Foto:© Azarnick

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ommen Sie mit, und machen Sie keine Sperenzchen, dann gibt es auch keinen Ärger«, sagte der Lange mit der vorstehenden Unterlippe und der schwarzen Fliege. »Und denken Sie daran, dass alles, was Sie sagen, gegen Sie …«, warnte ihn der Dicke mit dem steifen Strohhut, wobei der Rest der vorgeschriebenen Belehrung irgendwo in seinem wulstigen Hals verebbte. Ein konsterniert fragendes Stirnrunzeln ließ den nicht gerade hohen Streifen zwischen Tom Doodys Augenbrauen und dem Haaransatz weiter schrumpfen. Er räusperte sich verlegen und fragte: »Um was geht’s?« Die vorstehende Unterlippe stülpte sich über die obere zu einem Lächeln, das den Hohn durch Nachsicht milderte. »Sollten Sie sich eigentlich denken können – ist aber auch kein Geheimnis. Sie sind festgenommen, weil Sie fünfundsechzigtausend Dollar aus dem Safe der National Marine Bank rausgeholt haben. Wir haben die Knete gefunden, wo Sie sie versteckt haben, und jetzt haben wir Sie.« »Darum geht’s«, bekräftigte der Dicke.

Tom Doody beugte sich über den kahlen Tisch im Besuchsraum und richtete seine kleinen, runden Augen auf die müden, nicht mehr jungen Augen der Frau vom Morning Bulletin. »Miss Envers, ich habe hier dreieinhalb Jahre abgesessen und noch knapp zehn vor der Brust, wenn man abzieht, was mir hoffentlich wegen guter Führung erlassen wird. Eine lange Zeit, werden Sie vermutlich denken, aber ich sage Ihnen: Ich bereue nicht eine Minute davon.« Er machte eine Pause, um seine überraschende Beteuerung einsinken zu lassen, und beugte sich dann wieder über seine Hände vor, die mit gespreizten Fingern und den Handflächen nach unten auf der Tischplatte lagen. »Mich haben sie hier als Tresorknacker eingebuchtet, Miss Envers, der zum ersten und einzigen Mal in seinen fünfzehn Jahren als Verbrecher erwischt worden ist. Und wenn ich hier rauskomme, werde ich von Grund auf geläutert sein und nur noch ein einziges Ziel in meinem Leben haben, nämlich alles zu tun, was in meinen Kräften steht, andere Leute davon abzuhalten, in meine Fußstapfen zu tre-

ten. Ich lerne reden und schreiben, und der Kaplan hilft mir dabei, damit ich, wenn ich rauskomme, meine Botschaft rüberbringen kann. Früher als Kind war ich in der Schule mal ziemlich gut im Aufsagen und Redenhalten; das wieder hinzukriegen geht hoffentlich okay. Ich werde kreuz und quer durch die Lande ziehen, selbst wenn ich dafür auf Güterzüge klettern muss, um von meinen Erfahrungen als Straftäter zu berichten und von dem flammenden Licht, das ich hier im Knast vor meinen Augen habe aufschwei… – aufgleißen sehen. Ich weiß, was Sache ist, und viele Leute, die einem Priester oder auch sonst wem womöglich nicht zuhören würden, werden mir ihre Aufmerksamkeit schenken. Sie werden nämlich wissen, dass ich weiß, wovon ich rede und was ich durchgemacht habe, und dass ich der Mann bin, der die National Marine Bank ausgeraubt hat und nicht nur die.« »Sie wären um ein Haar freigesprochen worden wegen dieser Sache, nicht wahr?«, fragte Evelyn Envers. »Ja, beinahe«, sagte der Sträfling, »aber so wahr ich hier sitze, Miss EnDiogenes Magazin

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vers, danke ich Gott, dass man mich verurteilt hat!« Er hielt inne und versuchte, aus den matten grauen Augen auf der anderen Seite des Tisches so etwas wie Erstaunen herauszulesen. Dann fuhr er fort. »Wenn das nicht gewesen wäre, diese Chance der Selbsterkenntnis und Besinnung, zu der dieser Ort mir verhalfte … – verholfen hat, dann hätte ich womöglich so weitergemacht und immer weiter so und wäre nie zu der Erkenntnis gelungen … – gelangt, was es heißt, ein Christ zu sein und den Unterschied zu kennen zwischen Gut und Böse. Hier im Gefängnis habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Freiheit erfahren – ja, Freiheit! –, Freiheit von den Fesseln des Lasters und des Verbrechens und der Selbstzerstörung!« Diesem Paradox ließ er eine Pause folgen. »Haben Sie sonst irgendwelche Pläne für Ihren Lebensweg nach der Entlassung?«, fragte die Frau. »Nein. Das ist noch viel zu weit hin. Aber ich werde den Rest meines Lebens damit verbringen, die Wahrheit über das Verbrechen zu verbreiten, wie ich es kenne, und wenn ich dafür in der Gosse schlafen und altes Brot essen muss!« »Er ist ein Heuchler, klar«, vertraute Evelyn Envers ihrer Schreibmaschine an, als sie ein Blatt Papier einspannte, »aber die Story, die man daraus machen kann, ist so gut wie jede andere.« Also schrieb sie einen Artikel über Tom Doody und seine hehren Vorsätze, und weil die Gedanken, die hinter dieser Läuterung standen, ihr so offenkundig erschienen, gab sie sich mit ihrer Darstellung besondere Mühe, indem sie seine Phrasen ausschmückte, wo sie sich zu abgedroschen anhörten, und ihm selbst eine nicht zu knapp bemessene Ausstrahlungskraft zuschrieb. Kaum war der Artikel erschienen, gingen beim Leserforum des Morning Bulletin über Tage hinweg Zuschriften ein, die sich zu Tom Doody äußerten und Anregungen unterschiedlichster Art vorbrachten. 72

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Reverend Randall G. Rand machte Tom Doody zum Thema eines seiner informellen Sonntagabendgespräche. Dann kam John J. Kelleher, 1322 Britton Street, zu Tode, überrollt von einem Möbelwagen, vor dem er die kleine Fern Bier, die fünfjährige Tochter von Louis Bier, 1304 Britton Street, in letzter Sekunde auf den sicheren Gehweg geschubst hatte. Und es sickerte durch, dass Kelleher einige Jahre zuvor wegen Einbruchdiebstahls verurteilt worden war und zur Zeit des Unfalls Hafturlaub auf Bewährung hatte.

Evelyn Envers schrieb einen Artikel über Kelleher und dessen dunkeläugige zierliche Frau und erwähnte im letzten Absatz auch Tom Doody mit der vagen Andeutung eines möglichen Zusammenhangs. Der Chronicle und der Intelligencer brachten Leitartikel, in denen Kellehers Tod als Argument für die Vorzüge des Bewährungssystems angeführt wurde. Am Nachmittag vor der nächsten turnusmäßigen Sitzung des Bewährungsausschusses gelang es der Fußballmannschaft der Staatsuniversität – drei Ausschussmitglieder waren ehemalige Absolventen und glühende Anhänger des Vereins –, im letzten Viertel des Spiels einen Rückstand in einen Sieg zu verwandeln. Tom Doody kam auf Bewährung frei. Von seinem Zimmer im zweiten Stock des Chapham Hotels aus konnte Tom

Doody eines der Plakate sehen. Rote und schwarze Lettern auf einer fünfzehn mal dreißig Zoll großen, jungfräulich weißen Fläche verkündeten, dass Tom Doody, ein weithin bekannter und geläuterter Tresorknacker, eine Woche lang allabendlich im Lyric Theater über den Lohn der Sünde sprechen werde. Tom Doody kippte seinen Stuhl nach vorn, stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett und betrachtete das Plakat mit wohlgefälligem Blick. Dieser Aushang war okay – obwohl er insgeheim gehofft hatte, sich darauf abgebildet zu sehen. Aber Fincher hatte sich über einen dahingehenden Vorschlag wenig begeistert gezeigt, und was immer Fincher sagte, galt. Fincher war okay. Da war dieser Vertrag, den er ihm gegeben hatte – gut hundert Dollar mehr pro Woche, als er eigentlich erwartet hatte. Und dann war da noch dieser junge Schnösel, den Fincher angeheuert hatte, um Tom Doodys Vortrag den letzten Schliff zu geben. Kein Zweifel, der Vortrag war jetzt okay. Er würde mit seiner Kindheit im Schoß einer liebevollen Familie beginnen, ihn durch die üblichen Tanzdielen und Billardsäle zu den angenehmen Seiten des gesellschaftlichen Lebens führen und sich dann in einem Crescendo vager, aber nichtsdestoweniger immer üblerer Straftaten zu einem fulminanten Höhepunkt steigern, nämlich bis zu dem Einbruch bei der National Marine Bank und den erbeuteten fünfundsechzigtausend Dollar, dann zu der anschließenden Festnahme und Verurteilung, und schließlich zu dem neuen Leben, das sich unversehens vor ihm aufgetan hatte, als er sich eines Tages über seine Maschine in der Jutemühle des Gefängnisses beugte. Als Ausklang dann eine Schilderung des Elends, dem kein Straftäter je entrinnt, und zum anderen des Hochgefühls, aufrecht durch das Leben zu gehen. Aber das Salz in der Suppe würden die tausendundeine Nacht des Verbrechens bleiben – denn das war es, was das Publikum würde hören wollen.


Illustrationen: © Thomas Ott

Der junge Schnösel, den Fincher engagiert hatte, um die Doody-Saga in Form zu bringen und aufzupolieren, hatte konkrete Einzelheiten – Namen, Daten und Geldbeträge – zu den früheren Verbrechen hören wollen, aber da hatte Tom Doody abgeblockt und eingewandt, das brächte ihn in die Gefahr, wegen schwerer Straftaten verhaftet zu werden, mit denen die Polizei ihn bislang nicht habe in Verbindung bringen können, und Fincher hatte ihm zugestimmt. In Wahrheit aber waren dem Einbruch bei der National Marine Bank gar keine Straftaten vorausgegangen – diese Verurteilung war der einzige Farbklecks in Tom Doodys Leben. Er war allerdings schlau genug, Fincher davon nichts zu erzählen. Kurz nach seiner Verhaftung hatten die Zeitungen und die Polizei – die aus Gründen, die auf der Hand liegen, jeden festgenommenen Straftäter für einen ungeheuer versierten und emsigen Burschen zu halten vorgeben – Hunderte von Einbrüchen und sogar einen oder zwei Morde ins Spiel gebracht, in die dieser Tom Doody möglicherweise verwickelt sein könnte. Er ging davon aus, dass diese abstrusen Anschuldigungen letztlich zu seiner Verurteilung beigetragen hatten, aber nun erwies sich dieses Geplänkel als vorteilhaft – wie die Summe in seinem Vertrag bezeugte. Als Einbrecher, der nur ein einziges Verbrechen hätte vorweisen können, wäre er alles andere als eine Bühnenattraktion gewesen, aber mit den pechschwarzen und blutroten Lorbeeren, die die Polizei und die Presse ihm umgehängt hatten, stand er nun ganz anders da. Mindestens ein Jahr lang würden ihn diese schwarz-rot-weißen Plakate begleiten, wohin er auch ging. Denn so lange lief sein Vertrag, und vielleicht würde er ihn noch um manches Jahr verlängern können. Warum auch nicht? Sein Vortrag war okay, und er wusste, dass er ihn glaubwürdig anbringen konnte. Er hatte ihn gewissenhaft einstudiert, und Fincher war von seiner Darbietung offenbar angetan gewesen. Natürlich würde er mor-

gen Abend wohl ein bisschen aufgeregt sein, das erste Mal vor einem Publikum zu stehen, aber das würde sich geben, und schon bald würde er sich in diesem neuen Geschäft heimisch fühlen. Da steckte Geld drin – der Kartenverkauf sei gut gelaufen, hatte Fincher gesagt. Nach einer Weile könnte er vielleicht … Die Tür flog auf und Fincher stürmte herein – ein wutschnaubender Fincher, das krasse Gegenteil des sonst stets lächelnden, sanften Direktors von Finchers Internationaler Vortragsvermittlungsagentur.

»Was ist los?«, fragte Tom Doody und vermied es geflissentlich, einen verstohlenen Blick in Richtung Tür zu werfen. »Was los ist?«, wiederholte Fincher, aber sein Echo war ein heftiges Gebrüll. »Was los ist?« Wie mit einem irischen Kampfstock fuchtelte er mit einer zusammengerollten Zeitung vor Tom Doodys Gesicht herum. »Ich zeig dir, was los ist!« Er schien sich mit immer neuen Wiederholungen der Frage des ehemaligen Sträflings in einen noch aufgebrachteren Zorn hineinzusteigern, etwa so wie die Löwen, die sich, wie man früher glaubte, mit ihren Schwänzen in Mordlust peitschen. Er rollte die Zeitung aus, strich ein paar Quadratzoll glatt und streckte sie Tom Doody vor die Nase, wobei sein kräftiger Finger wie ein Zeigestock auf die Mitte der Seite wies. Tom Doody wich zurück, bis seine Augen

genug Abstand hatten, den Text um den Finger seines Managers herum zu entziffern. … der Polizei, dass der vor wenigen Tagen auf Bewährung entlassene Tom Doody, der bei einem Einbruch in die National Marine Bank 65.000$ erbeutet haben soll und deswegen fast vier Jahre Haft verbüßte, nun vollständig entlastet sei, nachdem ein gewisser Walter Beadle auf dem Sterbebett gestanden habe, auch … »Das ist los!«, brüllte Fincher, während Tom Doodys entgeisterter Blick von der Zeitung zum Fußboden sank. »Und jetzt will ich die fünfhundert Dollar zurück, die ich dir vorgeschossen habe!« Tom Doody kramte mit einem Eifer, der seine Verzweiflung nur unzulänglich zu überspielen vermochte, in seinen Taschen herum und brachte schließlich ein paar Scheine und eine Handvoll Silbermünzen hervor. Fincher riss dem ehemaligen Sträfling das Geld aus den Händen und zählte es hastig. »Zweihunderteinunddreißig Dollar und vierzig Cents,« verkündete er. »Wo ist der Rest?« Tom Doody versuchte etwas zu sagen, murmelte aber nur vor sich hin. »Nuscheln bringt nichts,« knurrte Fincher. »Ich will meine fünfhundert Dollar. Wo sind sie?« »Das ist alles, was ich habe,« winselte Tom Doody. »Den Rest habe ich ausgegeben, aber ich zahle Ihnen jeden einzelnen Cent zurück, wenn Sie mir nur etwas Zeit geben.« »Ich werde dir Zeit geben, du mieser Gauner du, Jahre werde ich dir verschaffen!« Fincher stampfte zum Telefon. »Du hast Zeit, bis die Polizei hier ist, und wenn du bis dahin mit dem Rest nicht rüberkommst, werde ich das auf meinen Eid nehmen und einen Haftbefehl beantragen wegen Erschleichens von Geld unter Vorspiegelung falscher Tatsachen!«

Aus dem Amerikanischen von Claus Sprick

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Zwei Freunde, ein Verlag »Nun seid Ihr also achtzig. In diesem Alter hat man den meisten Leuten die Flausen bereits ausgetrieben. Oder? Vernünftig mit fünfzig? Das rächt sich mit sechzig, es gibt sich mit siebzig und macht sich mit achtzig! Ich glaube, dass Ihr auch mit neunzig noch unvernünftig genug seid, um wahnsinnig gute Ideen in den besten aller deutschsprachigen Verlage einzubringen.« Ingrid Noll zum 80. Geburtstag von Rudolf C. Bettschart und Daniel Keel

Zwei Freunde, ein Verlag Für Rudolf C. Bettschart und Daniel Keel zum 80. Geburtstag Diogenes

Eine Anthologie mit Texten aus der Weltliteratur zum Thema Freundschaft – als Hommage zum 80. Geburtstag der beiden Diogenes Verleger.

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Illustration: © Jean-Jacques Sempé

288 Seiten, Broschur mit Klappen ISBN 978-3-257-05618-1


Foto: © Archiv Diogenes Verlag

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s gibt Dinge, die kann nur das Leben erfinden. Zum Beispiel, dass die beiden Männer, die seit fast 60 Jahren die Geschicke des Diogenes Verlags bestimmen, am gleichen Tag im gleichen Jahr am gleichen Ort zur Welt gekommen sind, und dieser Ort ist noch nicht einmal eine Millionenstadt, sondern ein Kaff namens Einsiedeln, das einzig ein Kloster und eine Stiftskirche hat, die größer als der übrige Ort sind«, so Urs Widmer über Rudolf C. Bettschart und Daniel Keel, die in der Tat beide am 10. Oktober 1930 geboren wurden. Dass beide dazu noch am selben Ort das Licht der Welt erblickten, ist allerdings eine Legende, die sich nun schon seit Jahrzehnten beharrlich hält. Bettschart wurde in Luzern geboren. Und das Foto, das die beiden Eigentümer des Diogenes Verlags als Kinder zusammen in einem Waschzuber zeigt, ist eine Fälschung. Es zeigt eigentlich Rudolf C. Bettschart mit seiner Schwester Felizitas. Deren Kopf musste jedoch zwecks Legendenbildung demjenigen von Daniel Keel weichen. Wenngleich Bettschart und Keel nicht schon als Zweijährige in derselben Wanne saßen – sie sind doch beide in Einsiedeln im Kanton Schwyz aufgewachsen, eine Stunde von Zürich entfernt. Ihren Namen verdankt die Ortschaft dem heiligen Meinrad, der im 9. Jahrhundert als Einsiedler im sogenannten Finsteren Wald lebte und dort von zwei Räubern ermordet wurde. 934 ließ der Domprobst von Straßburg an der Stelle von Meinrads Klausnerhütte ein Kloster errichten, das bis heute von Mönchen bewohnt wird. Zugleich mit der Klostergründung entstand eine Bibliothek, und 1664 richtete der Abt im Kloster eine Druckerei ein, die auch Bücher druckte, bis die Druckmaschinen 1798 von Napoleons Truppen beschlagnahmt wurden. Dennoch lebte in Einsiedeln die Druck- und Verlagstradition fort, wenn sie auch nunmehr in weltlicher Hand lag. Benziger & Co., gegründet 1792, war einer der ältesten und wichtigsten Verlage der Schweiz. 1994 wurde der Benziger Verlag von

der Düsseldorfer Patmos Verlagsgruppe übernommen. Daniel Keels Vater Josef, der eigentlich aus St. Gallen stammt, verliert in der großen Rezession Ende der zwanziger Jahre seinen Arbeitsplatz in einer Bank und zieht nach Einsiedeln. Beim Benziger Verlag findet der sprachbegabte und kunstliebende Ostschweizer eine neue Stelle. Verheiratet ist Josef Keel mit einer Frau toggenburgisch-

Happy Birthday!

Zum 80. Geburtstag der Diogenes Verleger Rudolf C. Bettschart und Daniel Keel am 10. Oktober 2010 französischer Abstammung: Andrée, geborene Sutter. Sie ist phantasie- und temperamentvoll, hat aber wenig Verständnis für künstlerische Belange. Sogar Zeitungen sind ihr suspekt und landen, wenn man nicht aufpasst, ungelesen im Kanonenofen. Kunstinteressiert ist dagegen die Tante Agnes Keel, die den jungen Daniel früh fördert und später immer wieder unterstützt, auch finanziell. In privaten Notizen verfolgt Agnes Keel seine Entwicklung, so schreibt sie im Dezember 1942 über den 12-Jährigen: »Dani will seine Geschenke schon selbst kaufen, denn er ist sehr haushälterisch, fast kaufmännisch, nebst seiner feinsinnigen, künstlerischen, poe-

tischen Ader. Alle unnützen und unrationellen Ausgaben machen ihn taub. Er bestimmt die Qualität, wo man’s einkaufen muss etc. Ein Fotograf könnte er eigentlich auch noch werden mit seinem guten Blick, Geschmack und dem psychologischen Empfinden. Wie treffend der Bub alles charakterisiert, die Leute und die Situationen. Immer trifft er den Nagel auf den Kopf.« Weiter notiert sie: »Dani macht viel Abwechslung, Freude und Spaß, denn er hat hundert Interessen, ist heillos gewandt und pfiffig und kann erzählen. Mit keinem Wort zu viel und zu wenig zeichnet er seine Erlebnisse wie ein Maler. Dabei sieht er überall das Komische und das Wesentliche. Aber nebstbei ist er unendlich mühsam. Man muss ihn immer vier bis fünf Mal rufen. Das Waschen findet er überflüssig. Beim Essen muss man jeden Löffel erkämpfen. Die Aufgaben macht er, wann es ihm passt.« Als Kind leidet Daniel unter Asthma und muss deshalb oft zu Hause im Bett bleiben, so dass ihm viel Zeit zum Lesen bleibt. Als Jugendlicher interessiert er sich dagegen weniger für Bücher als fürs Showbusiness. Er schwärmt für Jazz-Bassisten und Stepptänzer (vor allem Fred Astaire), will Schauspieler, Maler oder Schriftsteller werden – unrealistische Träume. Es fehlen die Stimme und das Talent, so die frühe Selbsteinschätzung. »Ich entpuppte mich als Analphabet. Ich malte ein Bild, das aussah wie ein schlechtes Picasso-Plagiat.« Mit 16 bricht Daniel Keel das Gymnasium an der Klosterschule ab, vordergründig wegen Asthma, tatsächlich wegen Schwierigkeiten mit der griechischen Grammatik. Anstelle der Matura macht er nach einem Sprachaufenthalt in der Romandie eine Buchhändlerlehre in Zürich, bei Plüss in der Bahnhofstraße. In den Sommerferien arbeitet er im Benziger Verlag, wo »mich mein Vater in die Geheimnisse der Verlegerei einweihte, als ich dort für Kinderbücher Werbeprospekte basteln durfte«. Auch der junge Buchhändlerlehrling ist alles andere Diogenes Magazin

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Die Pfadfinder Rex alias Rudolf C. Bettschart (links) und Micky alias Daniel Keel, der schon als Kind ein Trickfilmfan war (rechts), in einem Zeltlager im Juli 1941 – das früheste gemeinsame Foto

als ein Büchernarr: »Ich ging lieber ins Theater, oder dreimal am Tag ins Kino. Ich habe Alec Guinness, Louis Armstrong, Lawrence Olivier, Duke Ellington live gesehen. Ich war ziemlich lesefaul. Das Leben interessierte mich viel zu sehr, ich wollte reisen, die Welt kennenlernen. Mit der Zeit entdeckte ich das Lesen wieder. Dann bin ich doch in die Verlegerei hineingerutscht. In diesem Beruf konnte ich das, was mich interessiert, mit der Arbeit verknüpfen und brauchte mich nicht zu langweilen.« Und mit seinem ersten Buch, Weil noch das Lämpchen glüht von Ronald Searle, kann Keel auch seine Leidenschaft für Karikatur und Satire, für das Makabre und Groteske ausleben. Mit den Benzigers, der Gründerfamilie des Benziger Verlags, einem alten Patriziergeschlecht aus Schwyz, waren die Keels entfernt verwandt. Auch die Bettscharts hatten eine Verbindung zu den Benzigers, sie besetzten leitende Positionen im Verlag. Rudolf C. Bettscharts Vater, August Karl Bettschart, ist ein bekannter Rechtsanwalt und liberaler Politiker. Eigentlich wollte er Kunstmaler werden, doch seine Eltern waren dagegen, weil es keine sichere Existenz sei. Außerdem meinte die Mutter: »Das ist nichts für den Gustl, da muss er nackte Frauen zeichnen.« So studiert er Jura. Bettscharts Mutter 76

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Anna, geborene Kolmuß, kommt aus der Nähe von München, wo ihr Vater eine Papierfabrik leitet. Sie führt ein offenes, gastliches Haus. Ruedi ist ein sehr hübsches Kind mit langen blonden Haaren und hellblauen Augen, das gern im Mittelpunkt steht und schon früh eigenständig und schlagfertig ist. Die Eltern fördern die Kinder im musischen Bereich, es wird viel vorgelesen bei den Bettscharts, der Vater besitzt wunder-

Die Legende erzählt, dass Keel schon in der Grundschule die Aufsätze für Bettschart schrieb, während dieser die Matheaufgaben für Keel löste. bare Kunstmappen, die an Regentagen gemeinsam betrachtet werden. Auch das Handwerkliche wird gefördert, und für die Kinder gibt es einen Bastelraum mit einer Werkbank, auf der Ruedi wunderbare Segelflugzeuge baut. Ruedi ist fasziniert von der bäuerlichen Lebensart, er liebt Tiere und trägt wie seine Geschwister Hirtenhemden und Holzschuhe und träumt davon, später einmal selbst Bauer zu werden.

Doch der Vater schickt Ruedi an die Handelsschule Kollegium Maria Hilf nach Schwyz. Wie Keel verbringt auch Bettschart einige Zeit in der Romandie, jedoch nicht zu Sprachstudien, sondern in einer Klinik in Lausanne. Bei einer Skitour findet Ruedis Pfadfindergruppe die Hütte für das Nachtquartier nicht und muss die Nacht in Eiseskälte unter freiem Himmel verbringen. Durch die Unterkühlung erleidet der 14-jährige Ruedi eine schwere Angina mit einer Knochenmarkeiterung, die alle Gelenke versteifen lässt. Das nötige Penicillin kommt zu spät, das rechte Bein verheilt schlecht und kann erst nach vielen Operationen und Leidensjahren mehr oder weniger wiederhergestellt werden. Nach der Schulzeit beginnt Bettschart in Zürich eine kaufmännische Lehre in der Haushaltsartikelfirma Paul Stadlin & Co. AG. Und verbessert nebenbei seinen Lohn, indem er mit den gerade auf den Markt gekommenen Dampfkochtöpfen handelt. Nach der Lehre geht er zur Emil Hitz AG, die Baustahlgewebe für den Hochund Tiefbau produziert und damit gute Geschäfte macht. Bettschart steigt in der Firma rasch auf, er wird Assistent des Geschäftsführers. Die Freundschaft zwischen Daniel Keel und Rudolf C. Bettschart verdankt sich vielleicht dem Umstand,

Fotos: © Archiv Diogenes Verlag

Von links nach rechts: die Pfadfinderfreunde Polo (Paul Lienert), Rex (Rudolf C. Bettschart), Kim (Hans Lienert) und Micky (Daniel Keel), im Sommer 1950 in Einsiedeln


Foto links: © Archiv Diogenes Verlag; Foto rechts: © Privatarchiv Loriot; Illustration: © Daniel Keel

Daniel Keel, Monika Bär-Bettschart, Rudolf C. Bettschart und Anna Keel in Rom, 1976 (v.l.n.r.)

dass es in einer Kleinstadt wie Einsiedeln nur einen Kindergarten und eine Primarschule gab. Die Eltern wohnen dicht beieinander, und die Jungen spielen im Städtchen oder im Garten der Bettscharts und treiben gemeinsam Schabernack. Die Legende erzählt, dass Keel schon in der Grundschule die Aufsätze für Bettschart schrieb, während dieser im Gegenzug die Mathematikaufgaben für Keel löste. Dicke Freunde werden die beiden in ihrer Zeit bei den Pfadfindern. »Im ersten Zeltlager scheuten sich die Kameraden, mit mir im gleichen Zelt zu schlafen, weil ich Asthma hatte und die ganze Nacht keuchte und hustete, nur Ruedi zeigte Verständnis«, erinnert sich Keel. Es werden viele gemeinsame Reisen unternommen, in die nahen Berge oder zum ersten großen Pfadfinder-Jamboree nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich. Auch nach der Volksschule bricht der Kontakt zwischen den Freunden nicht ab. Beide wohnen während ihrer Lehrjahre in Zürich im Maximilianeum, einem jesuitischen Wohnheim für Lehrlinge und Studenten. Den 20. Geburtstag feiern sie gemeinsam im Haus der Bettscharts in Einsiedeln, und es wird zur Tradition, sich gegenseitig Bücher zu schenken – zu Weihnachten und zum Geburtstag. 1952 schreibt Daniel Keel in das Geschenk

Rudolf C. Bettschart, Loriot und Daniel Keel an Loriots 60. Geburtstag, Ammerland 1983 (v.l.n.r.)

für seinen Freund: »Eigentlich wollte ich Dir heute mein erstes ›VerlagsBaby‹ schicken – noch ist es nicht geboren – aber bald! Herzlich Dein Dani.« Das erste Diogenes Buch erscheint nur wenige Wochen später. Bettschart ist von Anfang an von den Diogenes Büchern begeistert. Der Zustand der Verlagsbuchhaltung jedoch lässt den gelernten Kaufmann schaudern. So beginnt er, zunächst abends und am Wochenende, die Buchhaltung zu führen. »Bevor ich mich an die Arbeit machte«, so Bettschart, »las Dani mir erst einmal aus neuen Diogenes Büchern vor. Natürlich war das interessanter als Betonstahl.« Bald kümmert sich Bettschart nicht nur um die Verlagsbuchhaltung, sondern prüft auch Lagerbestände, verhandelt bei den Klischeeanstalten und Druckereien bessere Preise und berät bei allen wichtigen geschäftlichen Entscheidungen. Er ist es auch, der am 25. Januar 1954 den Verlag ins Handelsregister eintragen lässt – was Daniel Keel im Trubel der Verlagsgründung vergessen hatte. »Als Ruedi zum ersten Mal in den Verlag kam«, erinnert sich Keel, »befand dieser sich noch in der ominösen Kleiderschachtel unterm Bett meines möblierten Zimmers in der Merkurstraße. Ruedi, ordentlich, wie er ist, blies den Staub von der Schachtel, hob den Deckel,

fand ein kleines blaues Milchbüchlein. In dieses hatte meine Mutter hin und wieder meine Einnahmen und Ausgaben eingetragen. Wir gingen in den Frohsinn essen, ein alkoholfreies Restaurant des Zürcher Frauenvereins, wo man für 1.20 Franken ein Menü haben konnte. Ruedi sagte, meine Mutter sei okay, aber ihre Buchhaltung nicht, ich müsse eine Buchungsmaschine kaufen. Wir kauften die Maschine, und der Umsatz stieg. (…) Ruedis unbändiger Unternehmungsgeist, seine unkonventionellen, verkaufsfördernden Ideen und sein geniales Organisationstalent haben aus einem dilettantischen Laden eine seriöse Firma gemacht.« Lange bedrängt Keel seinen Freund, ganz für ihn zu arbeiten. »Du kannst mich nicht bezahlen«, meint Bettschart, der eine gutbezahlte Stelle in der Betonstahlfabrik hat. Der Ge-

Widmung von Daniel Keel für Rudolf C. Bettschart, 1957

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Kann man ein ganzes Leben zusammenarbeiten, ohne sich in die Haare zu geraten? »Natürlich haben wir uns gestritten. Wir kriegten rote Köpfe wie Hähne, doch es ging immer um die Sache«, so Bettschart. Die schlimmste Erschütterung erfuhr die Freundschaft und geschäftliche Partnerschaft 1966, als der Verlag fast Pleite machte. »Vieles vertreiben sie / Expansiv bleiben sie / Rotziffern schreiben sie: / Bettschart und Keel«, dichtete Hans Weigel, frei nach Goethe, zum 33. Geburtstag der Verleger 1963. Was als Scherz gemeint war, war damals bitterer Ernst, der Verlag steckte in den 60er-Jahren in einer dauernden 78

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Liquiditätskrise. Rudolf C. Bettschart half bei jeder Gelegenheit mit Finanzspritzen, verzichtete auf seinen Lohn und setzte sein Privatvermögen aufs Spiel. Als der Umsatz 1966 dramatisch einbrach, wurde der Verlag in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Bettschart wurde Teilhaber und schoss noch einmal frisches Geld in den Verlag. Doch allein konnte er den Verlag nicht retten, Diogenes stand kurz vor dem Konkurs. Die Nerven lagen blank. Als Keel auch noch ein baufälli-

Daniel Keel und Rudolf C. Bettschart, 2002

Buchtipp

Diogenes Eine illustrierte Verlagschronik 1952-- 2002

mit Bibliographie Aufgezeichnet von Daniel Kampa

992 Seiten, Broschur ISBN 978-3-257-05600-6

Vom ersten Buch und dem Verlag, der in einem Persilkarton unter dem Bett Platz hatte, bis zum »größten rein belletristischen Verlag Europas« (Le Monde, Paris): Eine Verlagsgeschichte in Bildern und Büchern. Mit über 1600 Fotos und Zeichnungen und einer Diogenes Gesamtbibliographie. »Aufschlussreich und unterhaltsam, prächtig und wohlfeil« (Neue Zürcher Zeitung).

ges halbes Bauernhäuschen in der Nähe von Zürich kaufte, das er als Wochenendhaus umbauen wollte, kam es zum Eklat. »Man kauft kein Haus, wenn man so viele Schulden hat«, fand Bettschart und kündigte. Die Stimmung im Verlag war auf dem Nullpunkt. Ruth Binde, die dienstälteste Mitarbeiterin, versuchte zu vermitteln und schrieb im September 1966 in einem Brief an beide: »Es ist viel Porzellan zerbrochen worden in den letzten Tagen, Wochen und Monaten, und vieles davon kann nicht repariert werden.« Zum Glück doch. Bettschart kehrte in den Verlag zurück und schaffte es schließlich, den Konkurs abzuwenden. Als es dem Verlag wieder besser ging, verzieh Bettschart Keel sogar den Kauf des Wochenendhauses. Zu einem anderen legendären Streit führte 1974 der Fall Solschenizyn. Alexander Solschenizyn war gerade aus der UdSSR ausgewiesen worden, seine früheren Romane waren Weltbestseller. Da bot Solschenizyns Anwalt Fritz Heeb die Rechte am neuen Buch Archipel Gulag Daniel Keel an, der dankend ablehnte. In einem Statement für den Spiegel erklärte er später: »Die Bedeutung des Buches steht außer Frage, der Erfolg war abzusehen, und doch wollen wir unserem seit einiger Zeit bewährten System treu bleiben, nach Möglichkeit keine einzelnen Bücher, keine Nonfiction mehr zu machen, sondern Zeit und Energie ganz auf das Gesamtwerk der Autoren des Verlags zu konzentrieren. Hätten wir Archipel Gulag angenommen, hätten angesichts unseres kleinen Apparats zum Beispiel die Werkausgaben von ¢echov, McCullers, Faulkner, Andersch, Fellini, an denen wir zu der Zeit arbeiteten, darunter gelitten. Politisch wichtig war, dass Archipel Gulag schnell erscheinen konnte, in welchem Verlag, war sekundär. Das alles mag etwas stur klingen, aber ich glaube, diese nonkonformistische Konzeption hat ihren Sinn, und Solschenizyn ist sicher der Erste, der für diese Art von Sturheit Verständnis hat.«

Foto: © Keystone / Martin Ruetschi

schäftsführer der Firma fördert Bettschart und will ihn zu seinem Nachfolger machen. Daneben überlegt Bettschart sogar, mit seinem Bruder eine eigene Fabrik für Betonstahl zu gründen, Konzept und sogar der Firmenname filafer stehen. Einer glänzenden Karriere steht nichts im Wege – wenn das Geschäft mit Büchern nicht so reizvoll wäre. Bettschart trifft die Entscheidung seines Lebens und geht zu Diogenes. »Es war für mich ein reizvolles Abenteuer, ein hoffnungsvolles Unternehmen«, erinnert sich Bettschart. »Es ist eine Lebensaufgabe geworden. Ich habe im Verlag alle meine Interessen und Begabungen unter einen Hut bringen können: meine Liebe zu Büchern und zur Kunst, meine Freude am Organisieren, Planen und Aufbauen, meinen Sinn für das Ökonomische und meine Liebe zu den Menschen.« Die Arbeitsteilung war vorgegeben: Keel macht das Programm, Bettschart ist für Organisation und Finanzen zuständig. Der eine liest die Bücher, der andere verkauft sie – doch ganz so einfach ist es nicht. So sieht es auch Urs Widmer: »Ruedi schafft mit sagenhafter Perfektion die Struktur, in der das schöpferische Chaos Danis gedeihen kann. Allerdings habe ich den Verdacht, dass auch das nicht stimmt. Dass Ruedi seine anarchistischen Seiten hat und Dani ganz gut eine Bilanz lesen kann.«


Rudolf C. Bettschart hatte für diese Art von Sturheit weniger Verständnis. Das Buch wäre ein todsicheres Geschäft gewesen, und das Geld hätte der Verlag in dieser Zeit sehr gut gebrauchen können. Der Legende nach sprach Bettschart ein Jahr lang nicht mehr mit seinem Kompagnon. Vielleicht zeigen diese Zwistigkeiten, dass die beiden Freunde, trotz vieler Gemeinsamkeiten, unterschiedlicher nicht sein könnten: Keel, ehemals Käfer- und Golf-Fahrer, telefoniert leidenschaftlich gern und schreibt nur ungern Briefe. Keel trägt am liebsten Jeans (die Bettschart hasst) und hat nur eine Krawatte – für Begräbnisse und für die Frankfurter Buchmesse. Dagegen ist Bettschart ein Frühaufsteher, der Jaguar fuhr (heute BMW), für seine kurzen Telefonate berüchtigt ist und sich stets elegant kleidet. Was die Freunde eint, neben der Liebe zu Büchern? Für ihr Leben gern trinken

beide roten Bordeaux, und seit über vierzig Jahren rauchen sie, ohne je einen Lungenzug genommen zu haben. Keel am liebsten Gauloises, Bettschart Cigarillos, denn: »Papier ist zum Bedrucken da, nicht zum Rauchen.«

Entscheidend für den Erfolg des Verlags ist die Symbiose zwischen Keel und Bettschart. In Interviews wird oft und gern gefragt: »Was ist das Geheimnis von Diogenes?« Natürlich gibt es darauf keine Antwort. Aber entscheidend für den Erfolg des Verlags ist die Symbiose von Keel und Bettschart. »Es gibt da, über alles hinaus, was ich sagen und im Besonderen anführen kann, eine unerklärliche und vom Schicksal verordnete Kraft, die unse-

ren Bund vermittelte«, schrieb in seinen Essais Michel de Montaigne über seinen großen Freund Étienne de la Boétie, der früh verstarb – ein unersetzlicher Verlust für Montaigne. Bettschart und Keel ist das zum Glück erspart geblieben, ebenso wie dem Verlag. Fast sechzig Jahre alt ist der Diogenes Verlag, die Freundschaft zwischen den Verlegern dauert nun schon fast achtzig Jahre. »Wir sind im selben Jahr am selben Tag geboren, Daniel zwei Stunden und zwanzig Minuten vor mir, was man auch sieht«, sagt Rudolf C. Bettschart oft. Und, ein wenig ernster: »Wenn wir schon am selben Tag geboren sind, warum sollten wir nicht auch am selben Tag sterben?« Aber daran wollen die Diogenes Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Diogenes Autoren und die vielen Leser, die Diogenes Bücher lieben, keinen Gedanken verschwenden.

kam

Illustration: © Tomi Ungerer

Zeichnung von Tomi Ungerer zum 80. Geburtstag von Rudolf C. Bettschart und Daniel Keel am 10. Oktober 2010

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Diogenes Anzeige von 1955 im Branchenmagazin ›Schweizer Buchhandel‹, um Diogenes Cartoonisten zu bewerben

Martin Suter

Daniel, Rudolf und Ernst E

s gibt ein Kapitel in der Geschichte des Diogenes Verlags, das nur Eingeweihten bekannt ist. Gestatten Sie mir, diesen Kreis um die Leserschaft des vorliegenden Werkes zu erweitern: Als Daniel und Rudolf dem Unternehmen seine heutige Form gaben, hatten sie einen dritten Teilhaber: Ernst. Während Daniel sich vornehmlich um das Literarische kümmerte und Rudolf sich auf das Kaufmännische konzentrierte, oblag Ernst das Ressort Seriosität. Auch Ernst war am gleichen Ort und Tag geboren wie Daniel und Rudolf und hatte seine Jugend – wenn auch mehr gelitten als geliebt – mit ihnen verbracht. Er entwickelte sich vom rechthaberischen, aufsässigen Kind zum altklugen, aufdringlichen Jugendlichen, und je größer der Bogen wurde, den die beiden um ihn machten, desto hartnäckiger verfolgte er sie. Heftete sich ihnen an die Fersen zu

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den heimlichsten Rendezvous, tauchte an Festen und Trinkgelagen auf, an denen man einen wie ihn nun wirklich zuallerletzt brauchen konnte. War immer noch dort, wenn man ging, und immer schon da, wenn man kam.

Ganz zuoberst, unter dem Dach des Verlags, gibt es bis zum heutigen Tag ein Büro mit der Aufschrift: »Ernst. Bitte anklopfen.« Der Ernst war nicht abzuschütteln. Aber weil Daniel und Rudolf gutmütige junge Männer waren, hörten sie schließlich auf, es zu versuchen. Sie fanden sich damit ab, dass der Ernst immer und überall dabei war, wie ein unbeliebter Cousin. Wenn er ihnen mit seiner quengelnden, rechthaberi-

schen Art zu sehr auf die Nerven ging, trösteten sie sich damit, dass er ja mehr zu bedauern als zu hassen sei, so wie ihn die Natur ausgestattet hatte: dünn, bleich und mit einem Griesgram, der sich schon in jungen Jahren in Mundwinkeln und Nasenwurzel festgrub. Erst als sich Daniels und Rudolfs Wege trennten, ließ sie der Ernst in Ruhe. Abwechslungsweise, einmal diesen, einmal jenen, denn nicht einmal der Ernst konnte an zwei Orten gleichzeitig sein. Eine für die Entwicklung der beiden sehr prägende Phase, weil sie ihre erste (und, wie es sich herausstellen sollte, einzige) Erfahrung mit einem Leben ohne Ernst darstellte. Eine Zeit, an die beide noch heute gerne zurückdenken. Aber als das Schicksal Daniel und Rudolf wieder zusammenführte, war auch der Ernst wieder zur Stelle. Vielleicht wäre jetzt der Zeitpunkt gewe-

Foto: © Vera Hartmann / 13 Photo AG

Wer hätte gedacht, dass neben den beiden Diogenes Verlegern noch eine dritte Person im Verborgenen wirkt? Martin Suter lüftet das Geheimnis um den unbekannten dritten Mann im Diogenes Verlag: Ernst.


Foto: © Iren Monti

sen, den Ernst beiseitezunehmen und ihm ein für alle Mal klarzumachen, wohin er sich scheren solle. Aber in der Hektik des gemeinsamen Vorhabens schien das Problem Ernst vernachlässigbar. Und keiner der beiden brachte es übers Herz, den armen Kerl nicht teilhaben zu lassen an ihrer Euphorie. Plötzlich war der Ernst ihr dritter Teilhaber. Weder Daniel noch Rudolf konnten sich erinnern, wie es genau dazu gekommen war. Eine Unaufmerksamkeit, ein schwacher Moment, ein Anflug von Sentimentalität? Auf jeden Fall fanden sie an ihrem ersten gemeinsamen Arbeitstag ein Büro vor mit der Aufschrift: »Ernst. Bitte anklopfen.« Als sie anklopften und von einem gehässigen »Herein!« eingelassen wurden, saß dort der Ernst und las. Sah kurz auf, schaute auf die Uhr, las angewidert weiter. Von diesem Tag an war immer, wenn Daniel und Rudolf in den Verlag kamen, der Ernst schon da. Und immer, wenn sie gingen, blieb er noch etwas länger. Und las. Las und strich wütend an: Leichtfüßigkeiten, Frivolitäten, Augenzwinkereien, Schmunzeleien, Ironien, Fabulierfreuden, Amüsements, Geschichten, Leserlichkeiten, Spannungsbögen, Kurzweil. Auf jeder freien Fläche des Büros Ernst stapelten sich Manuskripte, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt von dicken roten Strichen, Ausrufezeichen, Kreisen, Wellen- und Zickzacklinien. Und jetzt wollen Sie wissen, wie Daniel und Rudolf den Ernst wieder losgeworden sind. Gar nicht. Ganz zuoberst, unter dem Dach des Verlags, gibt es bis zum heutigen Tag ein Büro mit der Aufschrift: »Ernst. Bitte anklopfen.« Dort sitzt der Ernst mit seinem dicken Rotstift und liest. Liest und streicht wütend an. Und wenn er einmal in einem Manuskript nichts anstreicht, wird es nicht verlegt.

Rudolf C. Bettschart und Daniel Keel in Keels Büro, 2000


Lustig ist das Verlegerleben Briefe von und an Daniel Keel Diogenes

336 Seiten, Broschur mit Klappen ISBN 978-3-257-05620-4

Aus dem Diogenes Archiv: Briefe von Tomi Ungerer, Loriot, Arno Schmidt, Alfred Andersch an Daniel Keel (von unten links nach oben rechts)

Illustration: © The Saul Steinberg Foundation / 2010 ProLitteris, Zürich

136 Briefe von und an Daniel Keel aus über 50 Jahren Diogenes Verlag. Eine sehr persönliche Verlagsgeschichte und zugleich auch ein Charakterbild von Daniel Keel.


Briefe an den Verleger

Illustration: © Edward Gorey / Edward Gorey Charitable Trust

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riedrich Dürrenmatt schrieb im Januar 1981 an Daniel Keel: »Geliebter Verleger! Ich bin mir durchaus bewusst, dass Du diesen Brief mit einer besonderen Wut liest, jetzt schreibt er Briefe statt Romane, denkst Du, und mit Recht: Wer aufs Briefeschreiben gekommen ist, kommt davon nicht mehr herunter, und so habe ich beschlossen, mit dem Briefeschreiben nicht mehr aufzuhören.« Friedrich Dürrenmatt kannte Keels Devise: Autoren sollen Bücher schreiben – nicht Briefe. Und Keel schreibt ungern Briefe, denn: Verleger sollen Bücher machen, nicht Briefe schreiben. Wie eine vorweggenommene Entschuldigung für eine wenig ergiebige und spärliche Korrespondenz prangt seit Jahrzehnten auf dem Briefpapier des Diogenes Verlegers ein Zitat von Jean Paul: »Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde.«Aber Daniel Keel kam nicht umhin, sein Briefpapier doch auch zu benutzen. Davon zeugen in den Archiven des Verlags Tausende von Briefen, die viele Meter Regalfläche einnehmen. Allein die Briefwechsel mit Tomi Ungerer oder Maurice Sendak füllen mehrere Ordner. Und das, obwohl sich Georges Simenon in einem Brief vom 22. Februar 1982 beklagte, Daniel Keel sei von seinen vielen Verlegern derjenige, von dem er am wenigsten Briefe besitze. Die Briefe von und an Daniel Keel sind so verschieden im Inhalt wie in der Form: Anfragen, Absagebriefe, Bettelbriefe, Plauderbriefe, Gratulationsschreiben, Protestnoten, Kondolenzschreiben, trockene Geschäftsbriefe, Rundschreiben an Journalisten oder Buchhändler, vertrauliche oder an die Öffentlichkeit gerichtete. Die Briefe sind handgeschrieben oder getippt und kommen zuweilen auch als Postkarte, Telegramm oder, ganz zeitgemäß, als E-Mail daher. Es finden sich: Ermunterungsbriefe: »Das lustige Buch macht mir viel Vergnügen, und ich verbinde mit meinem Dank die besten Erfolgswünsche für Ihre weiteren Verlagspläne.« (Thomas Mann an Daniel Keel im Juni 1954) Ermahnungsbriefe: »Du lässt nach, wie ich sehe, da Du diese Sache nicht weiter verfolgt hast.« (Paul Flora an Daniel Keel im Oktober 1967) Freundschaftsbriefe: »Liebe Anna und lieber Daniel, auf unserer Heimfahrt dachten Giulietta und ich, dass Ihr wirklich unsere liebsten Freunde seid. In jedem Fall unsere liebsten Freunde in Zürich, in der Eleonorenstraße. Ich spaße natürlich, denn es ist immer ein wenig peinlich, wenn man die Wahrheit sagt. Aber ehrlich, diese spontanen Reisen nach Zürich, der Fahrstuhl mit dem roten Teppich im Hotel Europe, die Ankunft in der mit kleinen Bäumen gesäumten Straße, in der Euer Haus steht, Euer Haus selbst mit dieser Stimmung wie an Weihnachten, die wohlige Atmosphäre beim Abendessen, das Plaudern am Nachmittag, Eure Freunde, und dann der Flughafen am Sonntagmorgen (…) – all dies sind wunderbare Erinnerungen.« (Federico Fellini an Daniel Keel am 3. März 1980) Erfreuliche Post: »Es ist nicht meine Schuld, dass die wenigen Briefe, die ich Ihnen schreibe, Gratulationsschreiben sind. Sie sind selbst schuld. Alles, was Sie machen, machen Sie perfekt.« (Georges Simenon an Daniel Keel am 5. September 1978)

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Weniger erfreuliche Post: »Sie sind weniger ein Verleger als ein Dilettant. (…) Ich bestehe auf dem Vorschuss in Höhe von 100 000 Franken.« (Georges Simenon an Daniel Keel im Februar 1982) Huldigungsbriefe: »Lieber Fritz, Du bist der Größte, und ich bin stolz, dass wir Dich zu unseren Autoren zählen dürfen. Und jetzt höre ich auf, am Telefon sind wir weniger pathetisch, aber das musste jetzt einmal geschrieben sein.« (Daniel Keel an Friedrich Dürrenmatt am 1. Dezember 1980) Fanpost: »Darf ich bei dieser Gelegenheit sagen, mit wie großer Bewunderung ich über die Jahre verfolgt habe, was Sie aus Ihrem Verlag gemacht haben.« (Marion Gräfin Dönhoff an Daniel Keel am 21. Januar 1972) Aus diesem Schatz von Briefen haben Nicola Steiner und Daniel Kampa zum 80. Geburtstag von Daniel Keel 136 Briefe im Band Lustig ist das Verlegerleben ausgewählt, von Hermann Hesse, Loriot, Paul Flora, Alfred Andersch, Federico Fellini, Friedrich Dürrenmatt, Patricia Highsmith, Bernhard Schlink oder Patrick Süskind. Eine Briefesammlung, die spannend zu lesen ist und dabei eine sehr persönliche Verlagsgeschichte erzählt, einen eigenwilligen Einblick in den Verlegerberuf gewährt und zugleich auch ein Charakterbild des Diogenes Verlegers Daniel Keel skizziert. kam

Brief von Hermann Hesse an Daniel Keel vom 17. Oktober 1953. Als eines der ersten Diogenes Bücher erscheint 1953 das Bändchen Der Autorenabend, das Dichteranekdoten versammelt und die titelgebende Erzählung von Hermann Hesse enthält. Um den jungen Verlag zu unterstützen, verzichtete Hermann Hesse auf ein Abdruckhonorar und wollte in Naturalien bezahlt werden, wie er im Brief erklärt.

17. Okt. 1953 Sehr geehrter Herr Keel, danke für Ihren Brief vom 12. und das erste Exemplar des Autorenabends. Das lustige Büchlein gefällt mir gut und wird gewiss vie len Spaß machen. Ich glaube, ich habe Ihnen sein erzeit vorgeschlagen, statt ein es Honorars eine Anzahl Exemplare des Büchl eins zu nehmen. Ich wusste damals nicht, dass mein Beitrag das Hauptstück darin werden würde, doch bin ich auch heute noch damit zufrieden, statt Honorar Exemplare anzune hm en. Nur würde ich bitten, dass Sie einen Teil die ser Freiexemplare direkt von dor t aus versenden, mit der Notiz: »im Auftrag von H. Hesse«. Ich würde etwa 45 Exempla re brauchen. Die Adressen zur Versendung lege ich bei. Einige Exemplare für Sie zu signieren bin ich bereit, jedoch nicht mehr als fünf. Ich freue mich auf Ihre Neuerscheinungen und wü nsc he Ihrem jungen Verlag allen Erfolg. Mit freundlichen Grüßen Ihr Hermann Hesse

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n 24.8.1956 Zürich, de . Wenn riot, Summen ab e h Lieber Lo ic tl h c ä len muss, wirft betr norare zah o H der Hund e h lc so shauses! weiterhin ines Verlag ich Ihnen e m in u R as den bedeutet d chnung: ueste Abre e n ie d r ie H Fr. 621.— 5 4967 Ex Lager 1.7.5 6 2483 Ex Lager 1.1.5 6 856 Ex Lager 1.7.5

484 zu –.25 verkauft 2 27 zu –.25 verkauft 16

Fr. 406.75

.— usgabe 300 holländ. A Vorschuss Fr. 1327.75

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Illustrationen: © The Saul Steinberg Foundation / 2010 ProLitteris, Zürich

Keel Ihr Daniel

Brief von Daniel Keel an Vicco von Bülow (Loriot) vom 24. August 1956 und Loriots postwendende Antwort. Loriots erstes Diogenes Buch Auf den Hund gekommen war zugleich der erste Bestseller des jungen Verlags, wie der ironische Briefwechsel zeigt. Zwei Jahre später erschien Loriots Der Weg zum Erfolg in einer Startauflage von 15 000 Exemplaren, der bis dahin höchsten in der Verlagsgeschichte.

Hamburg, den 28.8.1956 Lieber Herr Keel, vielen Dank für Ihren erfreul ichen Brief. Ich werde in Zukunft versuchen, durch keine oder schlechte Beiträge Ihrem Verlagshaus fina nziell wieder auf die Beine zu helfen. Ich werde am 19. und 20. auf der Messe sein und mich sehr freuen, Sie wiederzus ehen. Ich komme zusammen mit Neugebauer. Wi r fahren dann weiter nach München. Es wäre wirklic h sehr fein, wenn Sie mir das Geld mitbringen könnten. Mit dem Anstandsbuch habe ich angefangen. Die ersten Sachen erschienen im We ltbild als Rückseite. Ich werde einen Monat in Münch en bleiben und hoffe, dann viel zu schaffen. Wahrsche inlich werden wir auch sobald als möglich nach München umziehen. Ich freue mich sehr auf Frankf urt und bin mit herzlichem Gruß, Ihr Loriot

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Brief von Patrick Süskind an Daniel Keel und Rudolf C. Bettschart vom 17. April 1999. Die beiden Diogenes Verleger hatten Patrick Süskind zu seinem 50. Geburtstag Wein geschickt.

München, 17.4.99 Lieber Herr Keel, lieber Herr Bettschart, aus Frankreich zurückkehrend fand ich einen Benachrichtigungszettel der Post vor, es lägen acht (8) Pakete zur Abholung beim Schwabinger Postamt Agnesstraße für mich bereit. Ich fuhr am nächsten Tag mit dem Fahrrad hin, wartete in der Schlange, präsentierte meinen Zettel und erhielt den Bescheid, die Pakete seien wegen überschrittener Aufbewahrungszeit (1 Woche) wieder an den Absender zurückgegangen. Sehr erleichtert fuhr ich nach Hause, denn so sehr der Empfang eines Paketes erfreuen mag, so bedrohlich wirkt doch die Aussicht auf deren acht. Eine Woche später jedoch – ich saß gerade an meiner Steuererklärung für 1998 und war entsprechend gereizter Stimmung – waren die Pakete wieder da, vielmehr nicht die Pakete selbst, sondern ein neuer Benachrichtigungszettel der Post war da, mich auffordernd, acht (8) Pakete beim Postamt Schwabing Agnesstraße abzuholen. Ich bekam einen kleinen Wutanfall, war kurz davor, bei der Post anzurufen, man solle mich mit sämtlichen Paketen in Ruhe lassen, resignierte, ähnlich wie man bei der Steuererklärung nach kleinen Wutanfällen resigniert, nahm mein Fahrrad, nahm eine Reisetasche, in der ich die Pakete verstauen wollte, nahm einen Gummiexpander, um die Reisetasche mit den Paketen auf dem Gepäckträger festzuschnallen, fuhr zum Postamt, wartete 20 Minuten in der Schlange, präsentierte meinen Zettel. Der Mann am Schalter schaute nur kurz auf den Zettel, er brauchte nicht extra im Lager nachzusehen, offenbar kannte er die Pakete schon persönlich, »aha«, sagte er, »Sie san des also. San Sie mit’m Auto da?« »Nein«, sagte ich, »ich habe kein Auto. Ich bin mit dem Fahrrad da. Aber ich habe eine Reisetasche mitgebracht«, und halte ihm meine offene Reisetasche hin, um die Pakete in Empfang zu nehmen. »Die werden’S da ned neibringen«, sagt der Mann, »des san acht Kisten Wein, da wiegt a jede 9 Kilo.« 9 Kilo mal acht, das macht 72 Kilo, mehr als ich selbst wiege und folglich mehr, als ich selbst in einer Reisetasche auf dem Fahrrad transportieren kann. Ich überlege kurz, ob ich die Annahme der Pakete verweigern solle, um das Transportproblem auf diese Weise zu lösen. Besinne mich eines Besseren, denn, so fällt mir plötzlich ein, es könnte sich bei dem Wein um ein Geschenk des Diogenes Verlags handeln, welches mir zwei Wochen zuvor, als ich noch in Frankreich weilte, von Herrn Keel telefonisch angekündigt worden war (»Dürfen wir Ihnen zum 50. Geburtstag ein paar Flaschen Wein schenken?«). Ein solches Geschenk zurückgehen zu lassen, wäre ein Fehler, denn a.) handelte es sich gewiss um vorzüglichen Wein und b.) könnte Diogenes den Akt als Affront auffassen, ein Eindruck, der unter allen Umständen zu vermeiden war.

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Ich bat also den Mann am Schalter, die Pakete noch eine Weile bei sich zu behalten, und radelte zu meinem Freund Helmut Dietl, von dem ich wusste, dass er ein Automobil besitzt. Gegen das Versprechen, ihm ein Paket des Weines abzutreten, erklärte er sich bereit, mich zur Post zu fahren und die restlichen sieben Pakete zu mir zu transportieren. Wir gingen zu Fuß zu einer nahegelegenen Tiefgarage, wo er einen nigelnagelneuen blauen Jaguar verwahrt – ich trug dabei seine Reitstiefel in der Hand, denn er wollte nach dem Weintransport ein Pferd namens Bag-Ibn-Bagdad aufsuchen –, und fuhren zum Postamt Schwabing Agnesstraße, und zwar pfiffigerweise gleich in den Hinterhof, wo sich die Ausgabestelle für Großkunden befindet. Ich stellte mich zum dritten Mal in der Schlange an, wartete 20 Minuten und erhielt nun tatsächlich die Pakete ausgeliefert, auf einer Art Rollkarren, den ich eigenhändig in den Hinterhof schieben durfte. Im Schweiße unseres Angesichts (auch Dietl hat die Fünfzig bereits überschritten) beluden wir den Jaguar, dessen Kofferraum sich als zu klein für die Aufnahme aller acht Pakete erwies. Drei davon mussten im Fond verstaut werden, unter größter Behutsamkeit, da wegen der scharfen Paketecken und eines möglichen Abriebs des braunen Kartons eine Beschädigung oder Verunreinigung der cremefarbenen Nappaledersitze zu befürchten war. Vor meinem Haus luden wir sieben der Pakete aus, Dietl, der den wichtigen Termin mit Bag-Ibn-Bagdad hatte, fuhr mit dem achten davon, den Transport der verbleibenden 63 Kilo in meine im fünften Stock gelegene Wohnung übernahm ich alleine. Danach ging ich zu Fuß zu Dietls Haus, um mein Fahrrad und die Reisetasche zu holen, radelte zu mir und verbrachte den Rest des Tages mit der Erledigung meiner Steuererklärung. – Jedoch am Abend desselbigen Tages, Ihr Herren, erbrach ich eines der Pakete, entnahm ihm eine Flasche 1993er »Château Ramage la Batisse« mit dem Dürrenmattschen Harfengnom auf dem Etikett, radelte damit zu meiner Freundin, öffnete die Flasche, ließ sie eine Stunde lang atmen, und dann tranken wir den Wein: Vergessen waren die Steuererklärung und gewisse andere Beschwerlichkeiten des Tages, und aufs Einleuchtendste und Wunderbarste bestätigte sich die alte Bettschartsche Devise: »Das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken.« Er ist in der Tat ganz hervorragend. Einen besseren braucht der Mensch nicht. Da aber das Leben – selbst wenn man schon fünfzig Jahre davon hinter sich hat – vielleicht immer noch zu lang ist, als dass man tagtäglich hervorragenden Wein trinken könnte, werde ich mit dem Ihren sparsam umgehen und ihn für jene Gelegenheiten aufbewahren, wo des Tages unendlicher Verdruss dringend einer abendlichen Aufheiterungsdroge bedarf.

Illustrationen: © The Saul Steinberg Foundation / 2010 ProLitteris, Zürich

Ich danke Ihnen beiden sehr herzlich dafür. Patrick Süskind

Brief von Patrick Süskind vom Mai 1984, in dem er Daniel Keel das Manuskript von ›Das Parfum‹ ankündigt. Das Buch erschien im Februar 1985 bei Diogenes.

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Laudatio

Urs Widmer über Daniel Keel

Ein Verleger, der liest Diogenes Verleger Daniel Keel wurde mit dem Preis ›Buchmensch des Jahres 2010‹ des Schweizer Buchhandels ausgezeichnet. Die Laudatio während der Preisverleihung hielt Urs Widmer.

Fotos: © Marc Wetli /13 Photo AG

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ie Jury des Schweizer Buchhandels hat Daniel Keel zum »Buchmenschen des Jahres« gewählt. Das ist eine gute Wahl, denn Daniel Keel hat auch in diesem Jahr wieder viele Bücher gelesen. Das hat er allerdings auch letztes Jahr schon getan und, wenn ich mich recht erinnere, auch schon vor fünfzig Jahren. Eigentlich würde man ihm heute besser einen Preis für das ganze Lese-Leben verleihen, ähnlich dem Ehren-Oscar, mit dem in Hollywood die alt gewordenen ganz Großen ausgezeichnet werden. In der Blütezeit seiner Jugend ein paar Bücher zu lesen, ist ja nicht allzu schwer. Es ein ganzes Leben lang zu tun, dafür braucht es durchaus eine gewisse Besessenheit. Daniel Keel ist tatsächlich ein Besessener, ein rettungsloser Leser, einer von denen, die alles lesen, was ihnen vor die Augen kommt; allerdings nicht alles zu Ende. Daniel Keel liest also auch Beipackzettel von Medikamenten oder Expertisen von Professoren

Daniel Keel ist ein Besessener, ein rettungsloser Leser, einer von denen, die alles lesen, was ihnen vor die Augen kommt.

Bild, das im Büro von Daniel Keel hängt – ein Geschenk seines Sohnes Philipp

auf italienischen Mineralwasserflaschen und auch, wie ein Intellektueller der alten Schule, ganze Haufen von Tagesund Wochenzeitungen. Wie viele Bücher er schon gelesen hat, wage ich gar nicht zu schätzen. Viele tausend. Er ist ein Verleger, der liest, ein Typus, der zur Zeit nicht allzu häufig anzutreffen ist in der Branche. Sicher ist jedenfalls, dass Daniel Keel seinen Verlag nicht begonnen hat, weil er an Geld und Umsatz dachte. Also das nun gewiss nicht. Seine ersten Buchhaltungen, milchbüchleinartig, erinnern mich an einen Scherz Leo Slezaks (oder war es Kurt Tucholsky?), der seine Bemühungen, mit seinen Einnahmen und Ausgaben zurande zu kommen, so zusammenfasste: »Bettler gegeben 2 Franken. Sonstiges 3520 Franken.« So viel zum damaligen Verhältnis Daniel Keels zum Geld. Es war von Anfang an der Leser, der Bücher machte, nicht der Kaufmann. Und so war es unausweichlich, dass zwei, drei Diogenes Magazin

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Daniel Keel, 1989

Überhaupt führt das Schicksal, ein Leser und Verleger zu sein, zu einigen inneren Konflikten. Der Leser in Dani liest gewiss einfach vorwärts, wie der Müllerbursche, der in die weite Welt zieht und sich freut, was ihm da alles an Unerwartetem widerfährt. Der Verleger aber liest alles (Bibel, Balzac, Beckett, Busch, Bradbury) mit der Frage im Hinterkopf, ob das für ein Buch im Verlag geeignet wäre. Beim Schauen ist es noch schlimmer. Wenn Daniel Keel die Sixtinische Kapelle besucht, staunt er nicht, wie wir, zu den vielfältigen Wundern Michelangelos hoch, sondern er tastet das Meisterwerk nach Ausschnitten ab, die für die Schutzumschläge des nächsten Programms geeignet wären. Heute, wo die Augen nicht mehr so wollen, wie sie sollen, liest er mit Lupen und, wer weiß, mit dem Mikroskop. Vor allem hat er eine ganze Schar schöner Frauen, die ihm vorlesen, was er ohne sie ganz allein lesen müsste. Da ist er wirklich zu beneiden. Diogenes von Sinope übrigens, der Namenspatron des Verlags, las auch. Nur, die Bücher lernten damals noch das Laufen. Die Schrift der Griechen war vor nicht allzu langer Zeit überhaupt erst erfunden worden, und den Diogenes Verlag gab es noch nicht. Auch nicht das Taschenbuch. Diogenes von Sinope musste sich also mit Pergamenten behelfen oder mit jenen

Marmorsteinen, auf denen manch Bedenkenswertes eingemeißelt war, die aber schwer zu halten waren. Das Umblättern war eine mächtige Anstrengung. Ja, es war immer schon schwer, den Anforderungen eines »Buchmenschen des Jahres« zu genügen. Diogenes von Sinope hätte den Preis zu seiner Zeit verdient, und Daniel Keel, der Diogenes von Zürich, hat ihn heute verdient.

Buchtipp

Urs Widmer Das Paradies des Vergessens Erzählung

Diogenes

Diogenes Taschenbuch detebe 22513, 112 Seiten

»Virtuos lässt Urs Widmer seine Fabulierlust spielen in einer erzählerischen Hommage an seinen Verleger Daniel Keel, wie sie hintertriebener und zugleich liebevoller nicht ausfallen könnte.« SonntagsZeitung, Zürich

Foto: © Bärbel Miebach

Male auch die Grazien des Konkurses zur Tür hereinkamen. Ruedi Bettschart, der auch liest, schmiss sie jeweils wieder hinaus. – Dass er sein erstes Buch als Leser gemacht hat, ist allerdings nicht ganz richtig. Er hat es als Schauer gemacht, denn Ronald Searles Zeichnungen kamen mehr oder weniger ohne Text aus. Ja, Daniel Keel war ja einmal ein Maler, während er mir nie gestanden hat, er habe einmal einen Roman geschrieben. Ich glaube, er hat es wirklich nicht getan. Als Leser hat Daniel Keel ein sehr großes Herz. Er liest, und wenn ihm ein Text nicht gefällt, lässt er sich gewiss nicht davon beeindrucken, dass ein berühmter Name auf dem Titelblatt steht. Blöd ist blöd. Seine Antennen sind dabei sehr fein und nehmen auch mit Texten Kontakt auf, die für andere Zeitgenossen nur schwache Signale aussenden. Die Liste seiner Lieblinge verdient ein Triple-A-Rating: Montaigne, Balzac, ¢echov, Dürrenmatt. Wolfgang Hildesheimer hat er umworben, als ihn wirklich noch niemand kannte, und er wollte der deutsche Verleger Becketts werden, als dessen Warten auf Godot taufrisch war und, anders als heute, bei den meisten Zuschauern und Lesern verständnislose Verstörung auslöste. Kurz, Daniel Keel, der Leser, ging nicht ausgetretene Wege, wusste aber auch immer, dass Bücher nicht unbedingt Unterhaltungsramsch sein müssen, nur weil sie von sehr vielen Menschen geliebt werden. Er hat es in einer seiner sehr seltenen schriftlichen Äusserungen einmal so gesagt: »Ich teile alle Werke in zwei Sorten ein: solche, die mir gefallen, und solche, die mir nicht gefallen. Ein anderes Kriterium habe ich nicht.» Das ist so sehr von Daniel Keel, dass wir beinah vergessen haben, dass der Satz eigentlich von ¢echov stammt. Gott sei Dank im Übrigen, publiziert er nicht ausschließlich Bücher, die ihm gefallen. Nein, er publiziert Autoren. Er ist die Treue selbst. Auch wenn ihm einmal ein neues Buch eines seiner Autoren nicht so sonderlich gefällt, druckt er es, mit derselben Liebe.


Top 10

Philippe Djian

Top 10 Lieblingsautoren 1. J. D. Salinger, Der Fänger im Roggen Im Grunde genommen erinnere ich mich nicht daran, was ich vor dem Fänger im Roggen gelesen habe. Das war meine erste Begegnung mit dem Stil, soweit ich überhaupt in der Lage war, diesen zu erkennen, denn ich hatte noch bei keinem Autor zuvor diese besondere Art wahrgenommen, mit Worten zu spielen und Sätze wie durch einen Zauber zum Glänzen zu bringen. Ich erinnere mich nicht, ob ich gelacht oder geweint habe, während ich las, aber ich weiß, dass ich mehrere Tage lang zitterte, nachdem ich das Buch wieder geschlossen hatte.

5. Herman Melville, Moby-Dick Gelobt sei der Autor, der die Macht besitzt, unseren emotionalen Reaktionen die Reinheit wiederzugeben, die sie besessen haben, als wir im Schein einer Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen haben. Moby-Dick ist der Bericht einer erstaunlichen Reise, die man selbst als Schiffsjunge mit aufgerissenen Augen und klopfendem Herzen mitmacht. Ein ungeheures Vergnügen.

2. Louis-Ferdinand Céline, Tod auf Kredit Man weiß, was für eine ungeheuer beschwörende Kraft in Célines Worten liegt. Seine Stimme fegt alles hinweg und ist von allen Abscheulichkeiten und allen Wunderdingen der Welt erfüllt. Céline ist kein Schriftsteller, der uns die Hand reicht. Er drückt einem eher den Kopf unter Wasser, anstatt uns herauszufischen. Er ist der Würgeengel. Der mächtigste von allen. Tod auf Kredit ist eine Art Liebeserklärung in Form eines Schlags in die Fresse.

Foto: © Ulf Andersen / Gamma / laif

3. Blaise Cendrars, Gedichte Wenn man Cendrars liest, hat man das Bedürfnis, an die frische Luft zu gehen, draußen herumzulaufen. Wenn man Cendrars liest, hat man Angst, etwas zu verpassen. Man möchte sich am liebsten sofort in den nächsten Zug oder in das nächste Flugzeug setzen, denn es ist unerträglich, sich nicht von der Stelle zu rühren. Wenn man Cendrars liest, wird die Welt zu einem sprühenden Feuerwerk, zu einem brodelnden Kessel. Und das Leben kommt einem wunderbar vor, selbst wenn es grauenhaft ist. 4. Jack Kerouac, Unterwegs Ich bin vierundzwanzig, liege auf dem Bett und beginne Unterwegs zu lesen. Der erste Satz zieht mir einen Schnitt in die Brust. Wie eine Klinge, die mir das Fleisch aufreißt. Ich würde am liebsten sagen: »Nein, Jack, hör auf …«, aber ich sage nichts und lese weiter, während mein Blut auf die Laken fließt und mir schwindlig wird. Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, war ich nicht mehr der Gleiche.

6. Henry Miller, Sexus, Plexus, Nexus Niemand hat so gut bewiesen wie Henry Miller, dass die Pornographie eine absolute Waffe ist, der winzige Teil der reinen Wahrheit, die wir über uns selbst auszusagen imstande sind. Niemand hat sie so begnadet, so frei und mit so glänzender Brutalität verwendet. Was mich beim Lesen überwältigt hatte, war die ungeheure Kraft, die darin steckte. Sie haute mich geradezu um. In den trübsinnigen Tagen, die darauf folgten, wurde mir allmählich klar, dass ich entweder nie mehr eine Zeile in meinem Leben schreiben oder aber nie mehr damit aufhören würde. 7. William Faulkner, Als ich im Sterben lag Faulkner schlägt den Leser in den Bann. Das bedeutet, dass er ziemlich schnell in eine Art Hypnose versetzt wird, je tiefer er in den Roman eindringt, und dass er, nachdem er eingekreist ist, auf allen Seiten von

Armen ergriffen wird, die ihn hochheben. Von da an ist es unmöglich, kehrtzumachen. Faulkner ist ein wunderbarer, unvergleichlicher, schwindelerregender Autor mit unglaublichem Talent. Ich verdanke Faulkner so manchen Rausch, wie ihn keine Droge je in mir ausgelöst hat. 8. Ernest Hemingway Ich weiß nicht mehr, was ich als Erstes gelesen habe, und auch nicht, welches seiner Bücher mich am stärksten beeindruckt hat. Hemingway selbst bringt mein Gedächtnis durcheinander. Das Bild des Mannes überschattet sein Werk. Ich habe so manche Stunde damit verbracht, seinen elliptischen Telegrammstil unter die Lupe zu nehmen, und habe versucht zu begreifen, wie man diese Präzision und Prägnanz, die auf alles schmückende Beiwerk verzichtet, erreichen kann. 9. Richard Brautigan, Der Tokio-Montana-Express Die meisten Schriftsteller sind schwergewichtige Ambosse. Aber manchmal stößt man auf einen, der die Leichtigkeit wählt. Nicht, weil es ihm an Tiefenschärfe, an Dichte oder an Intelligenz fehlte. Sondern, weil er besser ist als die anderen. Richard Brautigan etwa kann eine griechische Tragödie in einem Fingerhut entfesseln. Wie alle zutiefst verzweifelten Menschen ist er zu höchster Komik und Anflügen von reinstem Optimismus fähig. Der TokioMontana-Express ist eine wahre Fundgrube. Hunderteinunddreißig kurze Erzählungen, Seitenblicke, poetische Stationen. Und ebenso viele Gründe dafür, die Welt in einem annehmbaren Licht zu betrachten. 10. Raymond Carver Kann man von einem Schriftsteller sagen, dass man ihn über alles liebt? Raymond Carver schreibt göttlich, und jede Diskussion darüber kann nur Idioten oder Korinthenkacker interessieren. Dass ein ziemlich ungebildeter, versoffener amerikanischer Prolet ein begnadeter Schriftsteller sein kann, das muss man einfach hinnehmen. Raymond Carver hatte so viel zu sagen, aber er gestand sich nur so wenige Worte zu, um diese Dinge auszudrücken. Sie sind wie aus Elfenbein geschnitzt.

Im nächsten Magazin: Top10 Pflanzen von Maria Elisabeth Straub Diogenes Magazin

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In Memoriam

Anna Keel

Mein Atelier

Anna Keel porträtiert Friedrich Dürrenmatt in ihrem Atelier, 1979.

Noch im letzten Diogenes Magazin schmückten ihre Bilder die Erzählung ›Der letzte Sommer‹ von Bernhard Schlink. Kurz bevor das Magazin fertig gedruckt war, verstarb Anna Keel am 14. September im Alter von 70 Jahren in Zürich. Die Schweizer Malerin hinterlässt ein umfangreiches Werk von Zeichnungen und Gemälden, das in Ausstellungen in Zürich, München, Paris, Mailand und im Folkwang Museum in Essen zu sehen war. Anna Keel war seit 1962 mit dem Diogenes Verleger Daniel Keel verheiratet. Ihre Beziehung zum Verlag fasste sie einmal lapidar zusammen: »Wenn man mit einem Verleger verheiratet ist, ist man auch mit dem Verlag verheiratet.« Friedrich Dürrenmatt nannte sie die ›Muse des Diogenes Verlags‹, und als solche hat sie Autoren inspiriert und enge Freundschaften zu ihnen gepflegt, Diogenes Bücher mit ihren Bildern verschönert oder Anthologien und das ›Große Liederbuch‹ herausgegeben. Vor allem aber hat sie viel gelesen, von den Klassikern immer wieder Anton Cˇ echov und Georges Simenon. Außerdem entdeckte sie Autoren für den Verlag, unter anderem1968 Harold Brodkey und später Philippe Djian, Andrea De Carlo oder Susanna Tamaro. Zur Erinnerung an Anna Keel drucken wir einen Text von ihr, der in ihrem letzten Katalog ›Bilder, Zeichnungen und Aquarelle‹ (DuMont Kunstverlag, 2005) erschienen ist.

Illustration: © Anna Keel; Foto: © Prof. Dr. Vladimir Spacek

M

ein Atelier ist ein Land, ein Kontinent, mein Paradies und mein Gefängnis. Das Chaos pur, mein persönlicher Hindernislauf. An der Tür sind viele Adressen mit Postleitzahlen und Telefonnummern, falls ich sie schnell brauche, wenn ich Pinsel in der Hand habe und meine Handtasche nicht ruinieren will. Telefonieren scheint meine Hauptbeschäftigung zu sein: Ich telefoniere, also bin ich – es ist aber nur ein Ablenkungsmanöver und ein Warten auf den richtigen Moment. Links von mir ist ein kleiner Sekretär, darauf eine kleine Holzstatue von Jesus in der Haltung wie der Denker von Rodin, dahinter Fotos von meiner Familie und Freunden und an der Wand Zettel für meine Seele, z.B. von Fontane: »Große Zeit ist immer nur, wenn’s beinah schiefgeht, wenn man

jeden Augenblick fürchten muss: Jetzt ist alles vorbei.« Wenn das Chaos und die Menge der Zeichnungen und Bilder zu groß werden, nehme ich eine andere Wohnung. Denn ich liebe leere Räume, leere Wartezimmer für Ideen, leere Notizblöcke, leere Leinwände, leeres Ingrespapier, neue Pinsel. Andere Maler fahren nach Australien, ich fahre in den zweiten Stock. Ein eigenes Atelier zu haben bedeutet Freiheit, und wie Renoir einmal zu Vollard gesagt hat: »Die Leute reden immer von Freiheit, haben aber im Grund eine unsinnige Angst vor der Freiheit.« In der Malerei arbeitet man wie in der Wissenschaft: Je mehr Fehler man sich erlaubt, desto größere Entdeckungen könnte man machen. Und es ist wichtig, dass man nur auf sich selbst hört und sich nicht von andern dreinreden lässt, um der Sache,

die entsteht, Raum zu geben. Wenn sie neu wäre, würde sie einen selbst ja zuerst auch erschrecken. Wichtiger als der Raum, in dem man arbeitet, ist die Zeit, die man sich nimmt. Noch wichtiger sind die Menschen, die man liebt und die einen inspirieren. Die Autorität, die aus der Aufrichtigkeit kommt, hilft einem, sich nicht zu verteidigen, sondern seine Sache quasi von selber entstehen zu lassen. Ich liebe mein Atelier, so dass ich es jetzt oft zeichne. Es ist meine Bühne, wo ich Regisseur, Bühnenbildner und Beleuchter bin. Aber inzwischen trage ich mein Atelier wie eine Schnecke ihr Schneckenhaus auch überall hin. Es genügt mir ein Fenster links und ein bis zwei Meter Wand, auf die das Licht fällt.

Diogenes Magazin

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Vorschaufenster Kino & TV Martin Suter, Small World. Regie: Bruno Chiche, mit Gérard Depardieu, Alexandra Maria Lara, Martin Suter Françoise Small World Roman · Diogenes Fabian und Nathalie Baye. Jetzt im Kino. www.smallworld-film.de Martin Suter, Der letzte Weynfeldt. Regie: Alain Gsponer, mit Marie Bäumer und Stefan Kurt. Im Frühjahr 2011 im zdf. Goscinny / Sempé, Der kleine Nick als Animationsserie in 52 Folgen im zdf täglich um 7.05 Uhr. Auch auf dvd bei Studio Hamburg. Der internationale Bestseller verfilmt mit: Gérard Depardieu, Alexandra Maria Lara, Françoise Fabian Niels Arestrup, Nathalie Baye, Yannick Renier Regie: Bruno Chiche

Wo ch e nen dau sgabe.

Ausstellungen

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Bosc. Ausstellung im Wilhelm Busch Museum in Hannover ab 14.2.2011. Paul Flora. Ständige Ausstellung im Schloss Anras in Tirol. Friedrich Dürrenmatt. ›L’esprit Dürrenmatt. Ein Lebenslauf in Bildern‹ mit 50 ausgewählten Originalabzügen aus dem Archiv von Friedrich Dürrenmatt im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern, bis 20.3.2011 im Centre Dürrenmatt Neuchâtel. Im Tomi Ungerer Museum in Straßburg bis 28.3.2011: ›Politrics. Politische Satire bei Tomi Ungerer‹ und vom 8.4.–8.8.2011 eine Ausstellung über die Kinderbücher von Tomi Ungerer. Fleischermuseum Böblingen bis 20.3.2011: ›Schnapp oder was ist was? Die Tierwelt von Tomi Ungerer‹. F.K. Waechter. Ausstellungstournee: Museum Haus Ludwig, Saarlouis, 30.1.2011–8.5.2011; Museum für Angewandte Kunst, Frankfurt am Main, 29.6.–11.9.2011; Kieler Stadtmuseum Warleberger Hof, ab Oktober 2011. Jean-Jacques Sempé, Saul Steinberg, Chaval. Bis Ende Mai 2011 in der Galerie Hauptmann und Kampa, Zürich.

Impressum Ehren-Herausgeber: Daniel Keel Geschäftsleitung: Katharina Erne, Ruth Geiger, Stefan Fritsch, Daniel Kampa, Winfried Stephan Chefredaktion: Daniel Kampa (kam@diogenes.ch) Mitarbeiterinnen dieser Ausgabe: Julia Stüssi (js), Nicole Griessmann, Martha Schoknecht (msc) Grafik-Design: Catherine Bourquin Fotografen: Bastian Schweitzer, Kilian Kessler Scans und Bildbearbeitung: Catherine Bourquin, Tina Nart, Hürlimann Medien (Zürich) Webausgabe: Susanne Bühler (sb@diogenes.ch) Korrektorat: Franca Meier, Dominik Süess Bildredaktion: Regina Treier, Nicole Griessmann Freier Mitarbeiter: Jan Sidney (sid) Vertrieb: Renata Teicke (tei@diogenes.ch) Anzeigenleitung: Simone Wolf (wo@diogenes.ch) Zurzeit gilt Anzeigenliste Nr. 2, August 2009 Abo-Service: Christine Kownatzki (diogenesmagazin@diogenes.ch) Für ein Abonnement benutzen Sie bitte die beigeheftete Abokarte. Abonnementspreise: € 10.– für drei Ausgaben in Deutschland u. Österreich, sFr 18.– in der Schweiz, andere Länder auf Anfrage. Herzlichen Dank an Joey Goebel, Donna Leon, Benedict Wells, Martin Suter, Hartmut Lange, Niccel und Emil Steinberger, Wim Wenders, Tomi Ungerer, Patrick Süskind, Tatjana Hauptmann, Friedrich Dönhoff, Matthias Zehnder, Urs Widmer, Sheila Schwartz / The Saul Steinberg Foundation und Christa Fleischmann. Im Verlag Dank an Ursula Baumhauer, Kerstin Beaujean, Margaux de Weck, Ruth Geiger, Anna von Planta und Christine Stemmermann. Bei Gewinnspielen sind Mitarbeiter/-innen des Diogenes Verlags von der Teilnahme ausgeschlossen. Die Gewinner werden schriftlich benachrichtigt. Die Preise sind nicht in bar auszahlbar. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Über unverlangt eingesandte Manuskripte kann leider keine Korrespondenz geführt werden. Programmänderungen vorbehalten. Alle Angaben ohne Gewähr. Redaktionsschluss: 15.10.2010 / ISSN 1663-1641

Gewonnen haben Schreibtisch-Gewinnspiel aus dem Diogenes Magazin Nr. 4 (Lösung: William Faulkner). Ein Wilde-KerlePaket (Buch, DVD, Tasche, Soundtrack), gestiftet von Diogenes und Warner Bros. Entertainment haben gewonnen: Tanja Jensen, SteinburgMollhagen (D); Insa Bödecker, Hannover; Ursula Schönbach, Hamburg; Richard und Nastasja Barentsen, Baar (CH), Daniela Baehr, Salzburg. Beim Kreuzworträtsel lautete das Lösungswort »Lascauxhöhle«. Einen Diogenes Büchergutschein in Höhe von 1000 Euro gewonnen hat Adelheid Hattenbach aus Witterda (D). Herzlichen Glückwunsch!


Schreibtisch

Wer schreibt hier?

Gewinnspiel

Fotos: © Nicolas Buisson / Figarophoto.com

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ies ist sicher einer der meistgenutzten Schreibtische unter den bisher vorgestellten: Unsere gesuchte obsessive Schreiberin (bislang 17 veröffentlichte Bücher!) verlässt ihn selten – nur für wenige Stunden Schlaf pro Nacht oder das Zubereiten von starkem schwarzen Tee. Wie sonst schafft man es denn auch, jedes Jahr einen neuen Roman zu schreiben? Wie sonst schafft man es, jeden einzelnen Brief und die Fanpost selbst zu beantworten? Viel mehr darf man eigentlich nicht verraten, denn alles andere in der Biographie der belgischen Autorin ist so außergewöhnlich, dass man es niemals vergisst. Gern verwebt sie ihr Leben in die Geschichten, in denen sie mit Direktheit und Scharfsinn besticht, mit Episoden aus uns fremden Kulturkreisen verwirrt und mit Komik und Absurditäten beeindruckt. Aus allen Geschichten lässt sich jedoch eines erkennen: Das Leben als Diplomatentochter ist wohl kein einfaches.

Schicken Sie die Antwort bis zum 31. Mai 2011 per Post oder per E-Mail (gewinnspielmagazin@diogenes.ch) an: Diogenes Verlag, Gewinnspiel ›Wer schreibt hier?‹, Sprecherstr. 8, 8032 Zürich, Schweiz Wir verlosen zehn Mal die DVD der Trickfilmserie Der kleine Nick (erschienen bei Studio Hamburg). Als Hauptpreis zusammen mit einem 200-EuroBüchergutschein.

Lösung Diogenes Magazin Nr.4: William Faulkner Diogenes Magazin

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Mag ich – Mag ich nicht

Tim Krohn Vorschau Das nächste Diogenes Magazin, das Ende Mai 2011 erscheint, stattet Martin Walker einen Besuch im Périgord ab und enthüllt die Geheimnisse einer der teuersten Delikatessen der Welt: der Trüffel. Mit Patricia Highsmith und ihrem Tagebuch geht es quer durch Europa. Mit Interviews mit John Irving, Amélie Nothomb, Andrea De Carlo und einem Porträt des Shootingstars des Frühlings: Astrid Rosenfeld. Und für Kinder: Spiele- und Geschichtenspaß.

D Nr. 7

Sommer 2011

Diogenes

Magazin

Martin Walker Leben und Schreiben im Périgord

Krimi-Special So wird der Sommer spannend

D Nr. 7

Sommer 2011

Bikini-Test Welches Buch passt zu welchem Badeanzug?

Diogenes

Kinder Magazin

The Grand Tour Aus den Reisetagebüchern von Patricia Highsmith

www.diogenes.ch 2.– /sFr EuroEuro 4.– /sFr 7.– 3.50

Mag ich nicht:

In den Bergen aufwachen und riechen: Draußen wird frisch gemäht – oder es wird gemistet. Das Summen alter Kühlschränke. Wenn sich zwei Blicke verfangen und man weiß, man könnte sich auf der Stelle verlieben, wenn man nur wollte. Kälber (spielt einmal mit einem Kalb!). Ehrlichkeit. Herzlichkeit. Menschen, die sagen können, was sie brauchen. Menschen, die sagen können, wenn sie unsicher sind. Menschen, die sich in ihrem Körper wohl fühlen. Kleine Bahnhöfe in Italien. Hügel, die sich ziehen wie langgestreckte Körper. Baden im Meer. Wilden Spargel gegrillt oder scharf angebraten, mit Olivenöl und grobem Salz. Grünen Tee (Kuki cha). Äpfel direkt vom Baum. Frisch gemachtes Himbeereis. Den Geruch von sonnenerwärmtem Harz, staubigem Dachboden oder frischem Teer. Den Augenblick, wenn man erkennt, dass man gar nicht so bedürftig war, wie man dachte, nur bequem, und sogleich verabschiedet sich das Leiden. Greise, die im Nichts zu ruhen scheinen. Überhaupt Blicke, Blicke, Blicke! Pünktlich sein. Zu Fuß gehen. Begehrt werden. Wenn Wildfremde, die ein Buch von mir gelesen haben, mich ansprechen, als hätten wir eine wichtige Zeit geteilt. Schreiben im Zug (wie jetzt, dem Vierwaldstättersee entlang). Von der Sonne beschienen an einer Geschichte herumzudenken, die sich plötzlich so leicht zu schreiben scheint! (Was natürlich immer ein Irrtum ist.) Ach, überhaupt jene unverhofften Augenblicke, in denen alles möglich scheint!

Das Morgengrauen. Die ganze Nacht wach liegen, nur weil man weiß, man muss früh raus. Menschen, die nicht sagen können, was sie brauchen, und dann alle bestrafen, die ihnen das Falsche geben. Warten müssen. Abschiede, bei denen einer gehen will und der andere nicht. Unerbittlichkeit in allen Formen. Prinzipienreiterei. Pingelig tun um der Pingeligkeit willen. Die Tatsache, dass Zürich mit dem Fahrrad nur zu durchqueren ist, wenn man Gesetze bricht. Zum Friseur gehen. Nicht helfen können. Helfen können und wissen, man täte es besser nicht. Wenn etwas mir partout nicht mehr aus dem Kopf will: ein Lied, ein Mensch … Ohnmächtig zusehen müssen, wie die Liebe sich verabschiedet. Totes künstlich am Leben erhalten. Zu lange allein sein. Den Zustand, wenn die Sehnsucht erwacht und sich ein Ziel sucht.

783257 850079

Zwei Magazine in einem

Spiele- und Geschichte n-Spaß Mit dem kleinen Nic den drei k, Räu den wilden bern, und vielen Kerlen mehr

Tim Krohn, geboren 1965 in NordrheinWestfalen, wuchs in Glarus in den Schweizer Alpen auf und lebt heute in Zürich. Er ist »ein Autor, den man kennt als heiteren und auch witzigen Unterhalter, als Erzähler leuchtender, schwebender Geschichten von Liebe und der ihr bisweilen innewohnenden Leichtfertigkeit« (Tages-Anzeiger, Zürich). Von Tim Krohn sind bereits drei Romane als Diogenes Taschenbücher erschienen. Ende Juni 2011 erscheint auch sein neuer Roman Ans Meer als Diogenes Taschenbuch.

Im nächsten Magazin: Astrid Rosenfeld 96

D Diogenes Magazin

Foto: © Jonas Knecht / dramaberlin.de

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Mag ich:


Happy New Year!

Illustration: © Tomi Ungerer

»Der Mensch, der in die Zukunft springt, der geht zugrunde. Und ob der Sprung missglückt, ob er gelingt, – Der Mensch, der springt, geht vor die Hunde. Erich Kästner, Das Genie

»Klar sehen, das heißt schwarz sehen.« Paul Valéry

No Future? Denkanstöße von

Camus · Dürrenmatt Einstein · Faulkner · Fellini Gandhi · C. G. Jung Loetscher · Orwell · Popper Simenon · Tolstoi H. G. Wells · Widmer und anderen

»Es geht nicht darum, die Zukunft vorherzusagen, sondern sie zu schaffen.« Denis de Rougemont »An die Zukunft denken – was für ein Luxus.« Nina Berberova

»Die Zukunft ist die Gegenwart des Voraus-Schauers.« Peter Altenberg

Diogenes Taschenbuch detebe 24065, 112 Seiten

»Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.« Joachim Ringelnatz

Wie soll, wie wird unsere Zukunft aussehen? Prophezeiungen, Appelle, Fragen, Satirisches und Versöhnliches.

Diogenes

»Die Fähigkeit vorherzusehen, was morgen, nächste Woche, nächsten Monat und nächstes Jahr geschehen wird – und die Fähigkeit, danach erklären zu können, wieso es nicht eingetroffen ist.« Winston Churchill


»Wenn ich ein wenig Geld bekomme, kaufe ich mir Bücher. Wenn etwas übrig bleibt, kaufe ich mir Essen und Kleidung.«

Joseph von Eichendorff Jeremias Gotthelf Stendhal

Jules Verne Nikolai Gogol

Kurt Tucholsky Johann Wolfgang Goethe

Dante Alighieri Theodor Fontane Homer

Leo Tolstoi

Joseph Conrad

Wilhelm Busch

1569 Bücher von 4.90 bis 480 Euro:

Georges Simenon

Die abgebildeten Münzen aus: Geld und gute Worte. Schriftstellerporträts auf Münzen von Homer bis Beckett. Augewählt und kommentiert von Jan Strümpel. © 2008 by Steidl Verlag, Göttingen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Erasmus von Rotterdam


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