Ein offenes Gefäß Kurzgeschichten und Fotografien

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Ein offenes Gefäß

Kurzgeschichten und Fotografien von Dieter Koschek

Ein offenes Gefäß

Kurzgeschichten und Fotografien von Dieter Koschek

Die meisten Geschichten entstanden im Rahmen der Schreibwerkstatt lesebar.at in den Jahren 2018 und 2019

Kontakt und Impressum: jedermensch verlag gbr, Wasserburg/B., 2019

www.jedermensch.net

ISBN 978-3-931615-07-9

ViSdP: Dieter Koschek

Dorfstr. 25,

D-88142 Wasserburg/B.

dieter.koschek@gmx.de

www.dikoze.net

Druck: leibi.de, Neu-Ulm

Inhalt

Die Balkonwächter von Ibla von hinten nach vorne

Gelbe Füsse

Vince, der, der die Sonne malte

Der Waldpfad

Wo ist dein Schatz?

Wilhelm braucht länger

Liebe im Zeichen des Plastiks

Ein verrückter Vogel

Das letzte Paar

Vom Stülpen und Stiefeln (Variation)

Ich wollte schon immer verreisen

Milford Sounds

Lisboa, du Schöne

Kaminkehrer Schtozmayer

Ich aber saß auf den Stufen am Ufer des Sees und weinte Bericht an den Club of Bludenz von Heiner Wankelmeier in einfacher Sprache

Luis, der Tausendfüssler

Wie im Apfelstrudel

Schokolade

Vom Gang in den Himmel (Variation)

„Ich will ein Buch schreiben.“ war der Wunsch einer Freundin, doch sie fand nie Zeit. Im Gespräch entstand dann die Idee einer Schreibwerkstatt. Fangen wir doch einfach klein an. Wir schreiben eine Seite, vielleicht zweitausend Zeichen und wiedeholen das immer wieder.

So fing die Schreiberei an. Die Idee fand Freunde und schon entstand die Website lesebar.at. Unregelmäßig geben wir uns eine Aufgabe und diese erfüllt, wer kann und will. Die lesebar.at ist offen für alle. Für mich war das eine Entdeckung. Ich setze mich hin und schreibe einfach los. Da fließt es aus mich heraus und auf die leere Seite hin, ohne das ich einen Plan brauche, oder lange Korrekturen machen. Meist entsteht eine Geschichte in einem Guss. Manchmal muss ich die Zeiten korrigieren oder Ähnliches tun. Aber im Grunde fließt es heraus. Es macht mir einfach Spaß, zu spinnen, Ideen aufzugreifen, manchmal was selber Erlebtes oder einen Gedanken eines Freundes oder eben die Aufgabenstellung unserer Schreibwerkstatt. Zugegebenermaßen braucht es die Schreibwerkstatt, damit ich mir die Zeit nehme und mich hinsetze. Oft ist der Alltag auch für mich mit sovielem gefüllt, dass die Schreiberei liegen bleibt. Doch dann kommt die Stunde und ich fang an. Ich habe dabei keinerlei Kriterien für mich, einfach schreiben. Mir gefällt das Ergebnis meistens. Ob es Dir gefällt, entscheidest du selber. Wer will kann mir ja gerne eine Rückmeldung geben - oder sich einfach an der lesebar.at beteiligen....

Die Fotos erzählen ebenfalls eine Geschichte - oder sie malen ein Bild. Die Steine fand ich in einem Sizilienurlaub am Strand. Für mich sind es Gemälde, die ich sichtbar mache, gemalt vom Universum...

Dieter

Die Balkonwächter von Ibla

Es war dunkel als Momo leise durch das alte Gemäuer schlich. Er wußte, dass er leise sein mußte, denn er hatte es schon erlebt, dass plötzlich grelle Lichtblitze mit grünem Schleim sich durch die Räume bewegten, wenn er zu laut war. Momos Gesicht, das eher der Teufelsfratze glich, sah dann noch besser aus. Geblendet mit grünem Schleim. Obwohl er das manchmal mit Absicht herbeiführte, denn damit konnte er Karina erschrecken. Die wohnte in dem Haus und am meisten Spaß machte es ihm, wenn er die schlafenden Karina in ihrem weißen Nachthemd am großen Zeh hielt und sie in seine Fratze blicken musste. Meist schrie sie hell auf und rannte aus dem Zimmer zu ihrer Mutter, bei der sie dann heulte und sich langsam wieder beruhigte.

Momo plante auch der ungläubigen Mutter einen Streich zu spielen. Wie kann er die Mutter so erschrecken, dass sie ihn nicht mehr ignorierte, denn das wurmte ihn am meisten.

Momos Fratze war alles andere als lieblich. Er hatte wülstige Lippen, überhaupt war alles wülstig, - Nase, Augenbrauen, Ohren, Wangenknochen.

Maria dachte an den leichten Schlaf ihrer Tochter und überlegte, wie sie dem Spuk ein Ende machen könnte. Sie glaubte nicht an die Lichtblitze und grünen Fratzen.

Den Pallazzo hatte sie von ihrem Urgroßvater mütterlicherseits geerbt. Dass er in einem dunklen Stadtteil der heruntergekommenen Stadt Ibla lag, machte ihr dabei nichts aus. Die Lichter brannten nicht wirklich hell und die Gestalten, die da tags und nachts herumgingen, gefielen ihr zwar nicht, aber wirkliche Angst machten ihr die Blicke, die diese Gestalten ihr zuwarfen. Dass es in dem Pallazzo spuken sollte, glaubte sie nicht wirklich. Geister gab es keine für sie.

Momo konnte ihre Gedanken lesen und drang tief in sein Gehirn ein, dass wie gewirbeltes Wasser aussah. Doch das wußte er nicht, aber er ahnte, dass Maria bald ihm den Garaus machen wollte. Er mußte sie aktiv im Inneren erschrecken. Er huschte als Schatten hinter Maria her, machte dabei leise Geräusche, um sie zu erschrecken. Einmal war er zu laut und die Blitze mit dem gelbgrünen Schleim warfen sich durch den Raum. Sie trafen Maria, die sich angewidert über das Gesicht wischte. Es stank nach schlechtem Atem und war zäh wie Gummi. Sie hatte sich beim Blitz flach auf den Boden gelegt, doch der gab plötzlich nach und Maria fiel in ein tiefes Loch. Sie schrie auf.

Der neue Blitz krachte und Momo bekam den grünen Schleim auf seine Augen. Er sprang auf und stolperte ebenfalls ins schwarze Loch. Er fiel

schneller als Maria und griff nach ihren Armen. Als Maria das spürte stockte ihr der Atem und sie spürte Verständnis für ihre Tochter. Doch das half im Moment nichts. Die rasante Tollfahrt durch das schwarze Loch ging unvermindert weiter. Dabei lachten ihr die Fratzen der anderen Gesichter bleich an. Es waren die gleichen, die unter dem Balkon als Trägerfiguren geformt waren. Gott, erschrack sie, als Momos Gesicht vor ihr vorbei fiel.

Seltsamerweise fiel sie weich als die Höllenfahrt beendet war. Sie lag auf der grünen Fratze, die sie festhielt. Als sie aufblickte verschwand die Gestalt in dichten hellen Nebelschwaden. Sie schrie wieder auf. Der Energieblitz traf sie gewaltig am Kopf, der sich in diesem Moment veränderte. Sie glich nun dem Gesicht in der Ahnengalerie, das zum Schafott geführt wurde. Herzrasen löste eine Panikattacke aus und sie schlug um sich. Doch da war nichts. Vielmehr traf sie sich selbst. Sie hatte sich überstülpt und sah nun ihr Inneres außen, als sie selber auf ihre Därme einschlug. Dazwischen spritzte grüner Schleim. Die schwere Holzkellertür quitschte leise. Maria riß die Augen auf und sah nichts. Die Tür war zu und blieb zu. In diesem Raum war sie noch nie gewesen und es schmeckte leicht nach Schwefel. Doch sie spürte die Anwesendheit von etwas. Gänsehaut kroch über ihren ganzen Körper und die

Kälte war deutlich spürbar, als ein Lufthauch an ihrem Hals entlang glitt. Maria zitterte leicht und hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Sie fiel in Ohnmacht. Die Sterne leuchteten als sie wieder erwachte. Sie saß auf dem Balkon und schaute in die Altstadt hinüber. Unter ihr grinsten die Teufelsfratzen der Balkonwächter.

von hinten nach vorne

Es goß in Strömen, als Felix im Auto saß und überlegte, was eigentlich passiert ist. Seit Wochen war er in Sizilien und genoss „tutti al forno“, frei übersetzt: der Braten ist im Ofen. Es ging ihm gut oder eher ambivalent, dachte er. Das klingt besser, denn was ist schon gut. Es gibt immer aufs und abs, dachte er und schaute dem Regen zu. Er parkte auf einer der breiteren Gassen am Rande der Altstadt von Cefalu. Das Wasser lief in kleinen Bächen die Straßen runter und weiter vorne hob es bereits die Gullideckel aus ihrer Umfassung und die stellten sich quer. Sizilien. Sizilien ist ein Land, dachte er, in dem alles von hinten nach vorne läuft. Eigentlich logisch. Denn dann baut das Jetzt immer auf dem Vergangenen auf. Also eine Geschichte die hinten beginnt und vorne aufhört. Ist die Geschichte eine Abfolge von Zeit? Oder waren die Sizilianer schon da, als die Zeit begann? Wo begann eigentlich seine Geschichte?, dachte er. Es regnete immer noch ununterbrochen. Er sah nichts und die Scheiben liefen innen an. Er saß in einem geschlossenen Raum, er sah nur die Armaturen, niemand sah ihn, nur das Auto – momentan aber vermutlich nicht mal das. Wer schaut schon Autos an, wenn es so goß. Er dachte, interessant, vielleicht ist hinten ja eigentlich vorne. Wenn ich jetzt nachdenke, denke ich dann rückwärts? Liegt die Geschichte in Palermo hinter ihm oder eben gedanklich vor ihm. Felix war verwirrt. Wenn ich jetzt anfange zu denken, ist der nächste Gedanke dann vorne oder hinten. Er lachte kurz auf und dachte an seine letzte Beziehung. Mit dem Ende begann eine neue Geschichte. Ist also ein Anfang das Ende?

Morgen wird er nachhause fliegen. Er hatte keinen anderen Flug bekommen, als mit der Allitalia über Rom. Glücklich war er nicht damit, denn er wußte genau, dass der Flieger so eng bestuhlt sein wird, dass er sehr aufrecht sitzen musste und doch die Beine breit machen müsse und dann noch immer vorne anstoßen würde. Egal, zwei Stunden mit einer Stunde Umsteigen. Er wird das

aushalten.

Die Tage vor Cefalu hatte er in Palermo verbracht. Die Stadt fand er äußerst spannend. Dort lebten alle auf der Straße. Abends füllten sich die Prachtstraßen wie die kleinen Plätze rundherum mit Menschen. Familien, vom Baby bis zur Oma, saßen auf den Kirchentreppen und genossen ihr Eis, später war der Platz vor seiner Airbnb-Wohnung voller junger Leute, die Party feierten – bis in den Morgen. Die Reggae-Party in der Garage, oder vielmehr vor der Garage hatte er voll genossen. Dort hatte er auch Paul kennengelernt. Paul war Australier und ein echter Freak. Felix hatte ihn beobachtet, wie er auf dem Platz tanzte, so in sich versunken und dann hatte er sich langsam genähert und Paul angesprochen. Englisch, das haßte Felix, denn er konnte nur langsam sprechen und langsam Sprechende verstehen. Aber Paul war einfühlsam und führte die Konversation so, dass Felix mitkam.

Felix lachte vor sich hin. Sie hatten Sex von hinten gehabt. Was wäre in der Situation jetzt vorne oder hinten. Er oder Paul, wer war vorne, wer hinten oder gab es auch einen anderen Blickwinckel?

Für ihn war es das erste Mal mit einem Mann. Die Achtsamkeit von Paul war es zu verdanken, dass es gut ging, denn Felix hatte schon Angst vor etwas neuem Unbekannten gehabt, aber Paul hatte ihn magisch angezogen. Da gab es kein Entkommen in Palermo.

Morgen wird er noch ein Problem bekommen, dass er eigentlich gleich am Anfang seines Sizilienaufenthalts sich eingehandelt hatte. Im hektischen Verkehr kam es zu einer kurzen Berührung mit einem Fiat 500L. Es machte nur kurz dong und die Situation war vorüber. Alle Autos waren weiter gefahren und er wußte, dass sein Auto eine Delle hatte. Paul kannte aber in Palermo einen Mechaniker, der mit Farbstift und Fingerspitzengefühl die Delle retouschierte. Mal sehen, wie es morgen in der Autovermietung ausgehen wird. Felix lachte wieder auf. Die Delle lag hinten, aber das Problem vorne. Er hatte sich im Straßenverkehr eigentlich gleich anpassen können. Er fuhr wie die Sizilianer. Also so, als ob er allein auf der Straße war. Schnell hatte er

verstanden, dass Straßenmarkierung nur dazu da waren, dass sie verblassten und Schilder maximal als Anregungen gelten. Also los und in den Verkehr hinein.

Es regnete immer noch weiter. Die Minuten vergingen und Felix lies die Zeit Revue passieren. Vermutlich wird das Bild schon bei ihm angekommen sein. Er hatte sich gleich darin verliebt und es gekauft. Sowas machte er eigentlich auch nie. Aber es fing mit der hübschen Frau am Eingang des Museums an. Durch sie bekam der Tag Schönheit und Felix spürte Schönheit durch und durch. Und auch das Ölbild von Helena gefiel ihm sofort. Der Künstler war anwesend, er betrieb quasi eine Verkaufsaustellung in dem Museum und er bot ihm an es sofort per Frachtgut nach Deutschland bringen zu lassen. Das Bild war eine Mischung aus griechischer Tragödie und einem utopischen Blick in die Zukunft. Helena hieß seine große Liebe zuhause, die aber noch nichts von ihrem Glück wußte. Ihr wollte er das Bild schenken, wenn er denn wieder zuhause sein würde.

Felix lacht erneut auf. Schon wieder Vergangenes und Zukünftiges, hinten und vorne. Hört das denn nie auf? Es regnete inzwischen etwas weniger. Der Lärm hatte nachgelassen und Felix schlief ein mit dem Gedanken an Helena auf dem Ölbild.

Gelbe

Verzweiflung machte sich unter den Zuschauern breit, als sie auf ihre Füsse starrten. Konnte es tatsächlich sein, dass sie gelbe Füsse bekamen?

Sie waren zwar bei den Spätzle-Koch-Weltmeisterschaft in Balingen, aber dass sie selber gelbe Füsse bekamen, nur weil auf der Bühne massenhaft

Eier zerschlagen wurden, um wirklich in Massen – in historischer Tradition –Spätzle herzustellen?

Das wäre ja ein Ding, dachte Bayer.

Wahrscheinlicher war, dass es eine Lichtspiegelung sein wird, in der sich die Sonne irgendwo bei dieser Open-Air-Veranstaltung spiegelt. Oder es kommt von den Lichteffekten, die die österreichische Firma „Lightness“ hier entfachte. Bayer war sich sicher, dass letzteres die Lösung sein musste. Die Aufregung ringsherum hielt sich auch in Grenzen. Bayer hieß tatsächlich so, obwohl er in Württemberg geboren war und jetzt sogar in Baden-Baden lebte. Mit den Wortspielen lebte er schon lange.

Plötzlich war das Licht weg. Die Füsse sahen aus wie immer. Bayer sah sich um. Er hatte sich eigentlich mit Waldemar verabredet, der ihm irgendwas wichtiges sagen wollte. Der war aber in der Menge nicht zu sehen. Und warum er das Spätzle-Event als Treffpunkt vorgeschlagen hatte, war ebenso nicht klar.

Waldi, wie seine Freunde sagten, war ein alter Freund von ihm aus

Jugendzeiten, aber Bayer konnte sich nicht vorstellen, was denn so wichtig sein sollte, dass er hier den Spätzle-Wettbewerb verfolgen musste.

Bayer hatte genug. Er holte sein Handy raus und rief Waldemar an. Der ging auch prompt ans Handy.

„Waldemar“ haucht er.

„Hey, hier Bayer, wo bist du?“

„In Ulm“ hörte Bayer ihn sagen.

„Wo?“

„In Ulm.“

„Wann kommst du?“

„Wohin?“

„Na, du hast dich doch mit mir verabredet, hier, in Balingen, bei den Gelbfüsslern.“

„Ich hab was?“

Bayer glaubte nicht richtig zu hören. Aber bevor er nachfragen konnte, war die Verbindung weg. Bayer popelte nervös an seiner Nase. Da sah er plötzlich die Scheinwerfer mit dem gelben Licht. So eine Art Neonlichtwerfer, der an der Tribünenseite stand.

Er bemerkte, dass die Lichteffekte sich immer wieder veränderten. Plötzlich sah Bayer seine Nachbarn auf der Tribüne nicht mehr. Er rieb sich die Augen, aber es wurde nicht besser. Die Menschen um ihm herum waren plötzlich unsichtbar.

Das trieb seine Neugier an. Bayer war Spezialist für übernatürliche Phänomene. Er arbeitete als Dozent am “Institut für übernatürliche

Phänomene” (IFÜP) in Frankfurt. Er schloss nun die Augen, um die Phänomene zu überprüfen. Und jedesmal, wenn er blinzelte, waren weniger Menschen zu sehen.

Da umklammerte er in einem Reflex seine Nachbarin auf dem Tribünenstehplatz links von ihm, die noch zu sehen war. Die wehrte sich jedoch augenblicklich und stieß ihn weg. Bayer stolperte und fiel hin. Ob er kurz ohnmächtig gewesen war, wusste Anton Bayer nicht, aber um ihn herum flutete ein helles, ein sehr helles Licht. Bayer war gewarnt. Dieses Phänomen kannte er. Sollte er die Augen öffnen, dann war er in einer anderen Wirklichkeit. Es gab keinen Spätzle-Event mehr, keine Nachbarin. Bayer ahnte, dass er einen Sphären-Sprung gemacht haben musste. Dabei wechselt man die Dimension, aber sprunghaft und man weiß nie, in welcher man sich dann befindet.

Bayer hielt nun die Augen geschlossen. Nur so war er sicher, dass er sich noch in der Dimension befand, in der sein Gehirn sich gerade erhellte. So rekapitulierte er nochmals die letzten Minuten des Geschehen. Und er war sich sicher, sobald er die Augen öffnete, war er in einer Dimension, die allerhand Überraschungen mit sich bringen würde. Etwas Unbekanntes kam unweigerlich auf ihn zu. Zudem waren die Forschungen über den Sphären-Srung noch jung und nicht wirklich verifiziert. Vor allem wußte man nicht, wie es möglich sein würde, wieder in die ursprüngliche Dimension zurückzugelangen. Trotzdem war es Bayer klar, dass es keinen anderen Weg geben konnte, als sich in das Unvermeidliche hinein zu begeben. Bayer öffnete mutig die Augen. Die Helligkeit kam von einem Licht über ihm. Um ihn herum waren weiße durchsichtig wirkende Wände. Er sah einen Schatten auf ihn zukommen. Und er hörte eine Stimme. „3,5 Promille. Aber er lebt.“

Vince, der, der die Sonne malte

Vince saß auf der Veranda der Bitbull-Bar in einem staubigen Kaff mit Namen Dorbi. Das war eine Abkürzung des mittleren Westens von Dornbirn, denn die Gründerinnen des Kaffs kamen eben aus diesem Dornbirn. Das liegt, so wußte Vince, irgendwo in Europa, aber wo das so genau sein sollte, wußte er auch nicht. Irgendwo im Osten.

Staubig wars auf jeden Fall, die Postkutsche zog gegen 11 Uhr ihre Spur durch die Piste mitten durch die kleine Stadt. Einmal am Tag um 11 Uhr gings nach Begez, etwa 10 Meilen nördlich.

Dort war das, was Vince ersehnte, eine Badeanstalt. Naja, eher ein öffenliches Bad mit Kabinen und Wannen mit sauberem Wasser.

Vince war seit Tagen in der Prärie zu Fuss unterwegs gewesen und fühlte sich ziemlich schmutzig. Dorbi hatte nichts davon, keinen Fluss, keinen See, keine Badeanstalt und kein Hotel. Vince war einsam, der Salon war zusammengefallen. Es gab niemanden, der sich darum kümmern wollte.

Die Kutschstation hatte er im Blick. Langsam schlenderte er über die Piste. Es war ziemlich ruhig im Kaff. Keiner war zu sehen. Kein Pferd weit und breit. Er schlenderte zur Poststation und fragte den Kutscher, wann er denn los fahre. Der war ein bärtiger Kerl mit einem gewaltigen Bauch und der knurrte was von wenn die Kutsche voll sei. Ich bin dabei, knurrte Vince und gab dem Kutscher einen Dollar.

Dessen Gesicht verfinsterte sich und er starrte Vince an.Was soll das?, dachte sich Vince, was ist daran falsch. Die Fahrt kostet immer einen Dollar. Doch der Kutscher verzog sein Gesicht weiterhin.

Da erkannte Vince, dass der Kutscher die Grimasse nicht freiwillig vollzog, sondern dass sich sein Gesicht unfreiwillig krümmte. Irgendein Muskel, dachte

Vince.

Vince setzte sich auf die Stufen der Poststation in den Schatten. Er wußte,

was Sonne ist, denn Vince war Maler. Er malte gerne das Sonnenlicht. Die, die ihn kannten, dachten er sei etwas verrrückt, denn oft genug schauten sie seine Bilder an und erkannten darin nichts. Das lag daran, dass Vince mehr sah als andere. Was er dann auch malte. Aber hier im mittleren Westen kannte niemand Gemälde, niemand hatte ein Bild an der Wand hängen, niemand malte – außer eben Vince.

Aber den Dollar für die Postkutsche hatte er mit Malen verdient. Er hatte die Frau der Pension, in der er wohnt, gemalt, gezeichnet und sie hatte ihm den Dollar gegeben. Er hatte ihr ein Lächeln reingezeichnet, das nur er sah. Niemand hatte bisher zugestanden, dass Marie Genieh jemals gelächelt hätte. So war Vince, dem der Staub der Piste ziemlich zusetzte. Er hustete immer wieder mal.

Doch die Kutsche stand wie festgenagelt an der Station. Kein weiterer Passagier fand sich ein.

Dann sah er eine Gestalt im Gegenlicht der Mittagssonne die Piste herabkommen. Es war High Noon und die Hitze spielte mit Vince Gehirn Schach. Er sah wie Billy the Kid langsam in der Mitte der Piste zur Poststation kam. Schlurfend, ein Gürtel mit zwei Pistolen hing an seiner Hüfte.Vince erstarrte, denn der Mann sah aus wie Jonmikel Genieh, der Mann von Marie. Jonmikel kam immer näher und der Moment wurde immer bedrohlicher.

Vince ahnte nichts Gutes. Er machte sich kleiner und kleiner und hoffte, das Jonmikel auf dem Weg, ja wohin eigentlich, war. Als Johnmikel bei der Postkutsche angekommen war, drehte er sich und sah Vince in die Augen.

Vince nahm wahr, dass dieser Mann nicht bei sich wahr, er fühlte, dass gleich was passieren musste. Und er erstarrte als Jonmikel einen Revolver aus seinen Gürtel zog. Doch Jonmikel fiel in sich zusammen, die Hitze forderte ein Opfer. Wie konnte er auch ohne Hut über die Piste in der Mittagsonne gehen.

Vince spürte ein starkes Zucken in seinem linken Ohrläppchen. Blut. Er hatte den Schuss gar nicht gehört. Als er zusammensackte sah er noch Rachel auf hin zu hasten. Dann sah Vince nur noch den Sternenhimmel.

Der Waldpfad

Der versprochene Sommertag begann frisch. 18 Grad machte die Überlegung nötig, zieh ich heute lange Hosen an. Die letzten Tage waren klar kurzhosig. Die alte Jeans hatte er mit der Schere abgeschnitten, ziemlich kurz, nicht so wie früher über dem Knie. Das erschien ihm heute zu spießig. Und heute hatte er das Gefühl, dass kurzhosig nicht richtig war, wenn dann schon shortartig, denn er wollte heute Lisa treffen. Lisa kannte er schon von früheren Jahren, sie war quasi eine Jugendfreundin, die er längere Zeit nicht gesehen hatte. Er hatte ihr ein Mail geschrieben und um ein Date gebeten. Sie hatte eingewillig und heute wollten sie zusammen spazieren gehen. Es war Waldbaden angesagt. Da wurde ihm klar, dass eine normale lange Hose im Wald wohl besser angesagt ist. Wenn sie vom Weg abkamen.... er hatte Angst vor der Berührung mit Gestrüpp oder Brennesseln, oder was da alles so im Wald wachsen würde, Sie kam pünktlich mit ihrem kleinen roten Auto an, beide sahen sich seit vier Monaten das erste Mal.

„Komm, laß uns dem Lärm hier entfliehen, Oh, ich freue mich auf den Wald. Weißt du, das ist ein Buchenwald und ich liebe ihn. Ich gehe oft dort spazieren.“

Die Fahrt war kurz, Lisa fuhr ihr Auto souverän, auch wenn sie ständig quasselte – einfach über alles. Sie redete ununterbrochen. Selbst von ihrem Huhn, das sie als Kind hatte, erfuhr er in einer kurzatmigen Geschichte. Sie hatte das Huhn auf einer Wiese entdeckt und sich in es verliebt. Zusammen mit Papa und Mama haben sie dann das Huhn von dem Bauern abkaufen können und zuhause einen kleinen Hühnerstall gebaut. Sie hatte wohl eine glückliche Kindheit.

Auch von ihrem ersten Abend in der Disco erzählte sie. Sie war wohl so ungefähr 15 Jahre alt, als sie mit ihrer Freundin, Elfriede, zum ersten Mal zum

Tanzen in die Disco ging. Es war so eine Dorfdisko, die in den 70er Jahren der Hit war. Eine ausgebaute Scheune, etwas Technik, aber noch Heu in der Ecke und alles total unkonventionell. Sie sind mit dem Fahrrad hin und haben sich wohl sehr gut amüsiert. Sie erzählte ihm auch, dass sie sich dort in Hubert, einem Jungen aus der Parallelklasse verliebt hatte. Von ihm war dann auch der Knutschfleck, den sie zuhause nicht gut verstecken konnte, und der ihr einiges an Ärger mit ihrer Mutter einbrachte.

Und so erzählte sie weiter und weiter. Vor allem aus ihrer Jugend. Lisa war heute schon 57 Jahre alt, hatte sich aber eine Freude erhalten, die ihm guttat. Er hörte ihr einfach nur zu.

Der Parkplatz war groß und sie waren das einzige Auto an diesem Mittwochmorgen. Sie hatten beide die Möglichkeit ihre Zeit frei einzuteilen und genossen es an diesem nun schon sonnigen Morgen, einfach in den Wald gehen zu können.

Der Buchenwald tat dann seine Wirkung. Lisa verlagerte ihr Reden aus der Vergangenheit in die geistige Dimension. Sie sprach nun von ihrer Meditationsgruppe, die immer mit einem Vortrag begann. Dort ging es immer um irgendwelche Dinge, die Buddha gesagt hatte. Letztlich sollte sie glücklich werden und vier Dinge beachten. Demut, Gelassenheit, Mitgefühl, bedingungslose Liebe.

Sie plauderte munter weiter, dass sie sich nur noch vegan ernähren werde, naja manchmal klappt es nicht, dann sage sie sich, dass es auf das Bewußtstein ankomme und nicht so sehr um die Realität, sondern um das Wissen.

„Du verstehst schon,“ das war eigentlich einer ihrer Lieblingssätze. Das „Du verstehst schon.“.

Vegan essen sei ihre Form der Gewaltlosigkeit. Sie könne kein Tier töten oder töten lassen, damit sie es essen könne, das gelte aber auch für Menschen, die Erde und die Pflanzen.

„Das verstehe ich nicht“, brachte ich mich mal in ihren Redefluss ein. „Du isst

doch Pflanzen?“

„Natürlich“, meinte sie, aber das sei für sie kein Problem. Der Weg durch den Wald war eigentlich breit, aber mir wurde es eng ums Herz. Ich merkte, wie ich die Plaudertasche lieb gewann. Einereits war sie ernst und ging die Dinge tief an, aber gleichzeitig nahm sie nichts ernst und ging leicht und locker über Widersprüche hinweg.

„Wichtig ist mir, dass ich einfach Großzügigkeit lebe, Ich teile alles mit allen, die es brauchen. Weißt du, ich habe alles, auch wenn es nicht viel ist, aber wenn ich sehe, dass andere etwas brauchen, dann bekommen sie es von mir ohne das ich darüber nachdenke. Du verstehst schon.“

Sie könne nicht zusehen, wie Menschen wegen materiellen Dingen leiden. „Natürlich“, sagte sie, ich hatte es gewußt, „kann ich nicht allen alles geben, auch meine Möglichkeiten sind begrenzt“. Aber sie hoffe dann auf die Größzügigkeit der anderen. Es wird einen Ausgleich, eine Balance geben. Ich dachte dabei an die Rechnung meines Zahnartzes, der mir vorgerechnet hatte, was meine Dritten mich denn kosten würden.

Dann passierte es. Sie sprach auf einmal über Sex. Ich erschauerte, dabei hatte ich dato keinen einzigen Gedanken an Sex mit Lisa gehabt. Und sie redete locker weiter. Sie finde Treue eine ganz wichtige Tugend. „Und du bist ein verheirateter Mann!“ Mein Einwurf, dass ich seit einen halben Jahr getrennt lebe und mich scheiden lassen werde, zog an dieser Stelle gar nicht. Für Lisa war Monogamie wichtig und solange das Ehegelübte gültig war, werde sie auch keinen Sex mit mir haben.

Irritiert frage ich, wie sie denn darauf komme. Ich hatte sie bei unserer Wanderung zwischendurch manchmal an der Hand genommen und sie hatte das auch zugelassen. Sie sagte dann, dass das ein Form von Verantwortung sei, den Menschen und ihren Beziehungen gegenüber. Sie sei ja auch mit Ralf zusammen.

Das war mir neu. In dem Email hatte sie geschrieben, dass sie wie ich getrennt sei. „Naja“, relativierte sie, „mit Ralf verbindet mich viel, aber

Meine Irritation nahm zu: „Wie jetzt? Ich verstehe das nicht?“ Sie meinte, dass ich das doch auch kennen muss. Soviele Jahr, in denen ich in einer Beziehung gelebt habe. „So eine Beziehung lebt weiter, auch wenn ich mich getrennt habe. Ich habe Verantwortung gegenüber Ralf.“ Und das, obwohl sie kurz davor gesagt hatte, dass sie auch allein lebe. Sie brauche das unbedingt. Aber doch!

„Du,“ fragte ich, „ich meinte, wie bist auf Sex gekommen?“ Blitzartig zog sie mich zu sich und flüsterte,“Weil ich dich will. Weil du mir zuhörst.“

eigentlich sind wir nicht mehr zusammen.“

Wo ist dein Schatz?

Nashville ist eine Reise wert. Die Stadt der Countrysänger. Sie wollte da schon immer mal hin. Einfach nur um zu sehen, wie es ist in Nashville. Ihr Flug kam am späten Nachmittag an und im Hotel schaute sie sich die Prospekte der Bars und Clubs an, ob am Abend noch was ginge. Okay, da gabs die Radioshow Opry Country Classic. Das fand täglich statt und wurde als Liveshow auch im Radio übertragen. Sie hatte sich entsprechend dem Konservatismus der Amerikaner züchtig angezogen, damit niemand ihr Hirschgeweih sehen konnte. Eigentlich gefiel ihr die Bezeichnung nicht. Sie hatte das Geweih am unteren Teil ihres Rückens eintätowieren lassen als Zeichen der Freiheit. Ich bin frei und lebe wie ich will. Es müßte eigentlich Freiheitsliebe heißen, so wie das Lied der ihr unbekannten Countryband, die auf der Bühne stand.

Warum die ein Sofa auf der Bühne hatten war ziemlich unwichtig. Es stand dort und darauf räkele sich der Moderator der Show. Der sah eigentlich aus wie ein Pastor, dem man mit der Nähmaschine seine Gesichtmuskulatur festgenäht hatte. Er sprang immer wieder auf, griff nach dem Mikrofon und „God save our Country“ auf den Lippen kündigte er den nächsten Song an. Der Abend schien ohne Überraschungen zu Ende zu gehen. Es waren alle Profis auf der Bühne, Show biz. Da gab es eigentlich keine Überraschungen. Da begann es für sie langweilg zu werden und sie beschloß die Bars der Stadt zu erkunden. In der Forest Street lag eine Bar, etwas zurückgesetzt, ein einfacher Flachbau, doch die Fassade war geschmückt und sprach sie an. Jetzt war sie ein bisschen zu konservativ angezogen. Die Doppelmoral der Amerikaner ging ihr auf die Nerven. Einerseits war Gott heilig, anderseits war er ihnen schnurzegal. Das Licht war in der Bar schummrig und zu ihrer Überraschung ab es eigentlich nur Bier in der Dose, sogar zu einem verträglichen Preis. Sie stellte sich an die Bar und wartete erstmal ab, was auf

sie zukommen könnte.

Der Typ kam von hinten. Er stand plötzlich nahe bei ihr, fast schon zu nahe, wie sie fand. Doch sie war bereit für ein Abenteuer. Der Typ sah eigentlich auch nicht schlecht aus. Sie sicherte ihre Handtasche, obwohl sie keine Wertsachen dabei hatte. Ein Reflex.

Sie war gespannt, doch es passierte nichts. Der Typ blieb ihr nahe, doch das war es schon. Okay, dachte sie sich, falscher Alarm.

Und doch passierte etwas, denn die Bar hatte auch eine kleine Bühne, auf der eine Schönheit erschien und einen Song ankündigte. Er war ihrem Mann Harry gewidmet und sie sang von ihrer Ehe. In der eigentlich nichts mehr passierte und sie eben ihren eigenen Weg raus aus der Zweisamkeit suchte. Eine Countryballade, die in jedem Dorf von Tennessee vorkommen könnte.

Sie war es müde, immer die gleichen Geschichten. Sie wollte gehen und den Abend in der Hotelbar beenden.

Doch es kam anders. Beim Ausgang stolperte sie über eine leere Bierdose und fiel hin. Es war warm und trocken und eigentlich war nichts passiert, doch sie spürte wieder dieses Nahgefühl. Aber es war nicht der Typ aus der Bar, sondern ein junges Mädchen, sicherlich noch keine 16 Jahre, die sie in ihrem Blick hatte und nicht los ließ. Sie erwiderte die Blicke neugieríg und interessiert, doch sie fand keinen Kontakt.

„Ich bin Billie“, sagte das Mädchen. „Komm, ich zeig dir meinen Schatz“. Na toll, dachte sie, wo wohl ihr Schatz war? Sie dachte an einen Zuhälter, der das junge Ding missbrauchte. Doch die Augen des Mädchen sprachen eine andere Sprache. Sie fragte unsicher. „Wo ist denn dein Schatz?“

Das Mädchen nahm ihre Hand und sagte schlicht „Komm!“

Es war schon früh am Morgen und eigentlich hatte sie keine Lust mehr auf Abenteuer, doch die Bestimmtheit des Mädchen ließ sie nicht los und sie sagte sich, was soll denn schon passieren.

Das Mädchen führte sie durch die Straßen von Nashville, die um diese Uhrzeit ziemlich ruhig waren, es dämmerte bereits und sie gingen ziemlich lange,

ohne dass jemand von ihnen ein Wort sagte. Das Mädchen fing an zu singen, sie erkannte das Lied und sie zogen singend durch die Stadt. Billie hielt auf einen Park zu und sie stiegen über einen Steg in einen wunderbaren Park. Sie zogen beide gleichzeitig ihre Schuhe aus und fühlten das nasse Gras mit ihren Zehen. Inzwischen war die Sonne aufgegangen, und sie beide genossen die Sonnenstrahlen. Der Park war wunderbar gestaltet und an einem Magnolienbaum blieb Billie stehen. Sie war sich nicht sicher, was kommen würde, doch Billie blieb stehen und plötzlich sah sie es. Die Sonnenstrahlen trafen die Magnolie und eine Blüte öffnete sich. Eine tellergroße Blüte entfaltete sich vor ihren Augen. Die Schönheit der Blüte ließ sie verstummen. Still schauten sie der Blüte zu.

„Das ist mein Schatz“, sagte Billie. „Wo ist dein Schatz?

Wilhelm braucht länger

Gerti starrte gleichgültig auf das Skelett. Ihr ging die Frage durch den Kopf, ob sie die Frage zulassen sollte. „Wer kann das sein?“ Aber sie interessierte sich nicht wirklich dafür. Der Tod gehört zum Leben, dachte sie und starrte erstmal weiter. Vielleicht passiert ja was. Sie war den Berg hinauf gegangen, um die Enten aus dem etwas unübersichtlichen Teil ihres Gartens wieder herunter zu holen. Dabei mußte sie das Gestrüpp lichten und dann sah sie das Skelett. Es war tatsächlich ein menschliches Skelett und sie erkannte, dass eigentlich alles dran war. Wenigsten so einigermaßen, dachte sie.

Dabei mußte sie an Wilhelm denken. Der war vor langen Jahren verschwunden. Sie wußte nicht so genau, wie lange das jetzt her war. Zehn Jahre, sicher länger. Komisch, wie ein Mensch so aus dem Bewußtsein verschwinden konnte. Denn Wilhelm Leiter, wie er mit vollem Namen hieß, war eigentlich ein besonderer Mensch gewesen. Er war intellektuell, dabei aber nicht nur ein reiner Verstandesmensch. Er hatte Berührung mit der Anthroposophie gehabt. Deshalb war er bemüht gewesen, seine Empfindungsseele, wie er sagte, zu entwickeln. Da gehörte dazu, seine eigenen Gefühle zu spüren und auch darüber reden zu können.

Wilhelm liebte die Langsamkeit. Er konnte neben dir hergehen und zuhören, aber wenn du ihn ansprachst, dann merktest du, dass er sich immer noch mit deinen ersten Sätzen bemühte. Obwohl bemühen ist nicht das richtige Wort. Er kaute halt zweiunddreißigmal deine Worte, bis sie richtig durch waren. Gerti selber hatte dieses Können nicht. Wilhem konnte zum Beipiel seine Weste zuknöpfen und man konnte gleichzeitig spüren, wie er jedes Knopfloch willkommen hieß, ihm einen guten Tag wünschte und sich nach dem Befinden erkundigte.

Ja, Gerti konnte das bei Wilhelm spüren. Aber warum er im März vor Jahren verschwunden war, blieb einfach ungeklärt. Gerti dachte damals, dass er sich

auf eine Reise begeben hatte. Nur, dass sie nicht bemerkt hatte, wohin diese Reise gehen sollte.

Gerti wollte ihm jetzt auch helfen. Deshalb packte Gerti wieder das Reisig zusammen und legte es auf ihn. So wollte sie verhindern, das zufällig

Vorbeigehende das Skelett sehen und Wilhelm seine Ruhe behalten konnte. Der Weg oberhalb der Mauer war nicht sehr belebt. Nur wenige nutzten ihn am Sonntag zum Weg in die Kirche.

Gerti selber ging nie den Weg oben in die Kirche. Sie war nicht besonders religiös, aber sie hatte eine spirituelle Auffassungsgabe entwickelt, die zwar mit den Dingen der katholischen Kirche zu tun hatte, aber doch ihre eigenen Wege ging. So konnte Gerti spüren, dass das Skelett Wilhelm war. Doch sie ahnte nicht, was und warum das passiert war.

Sie saß in ihrem Hängesessel im Garten und schaute in den Himmel. Sie spürte Wilhelm fast körperlich. Jetzt war er wieder da. Sie sah ihn in der Blaumeise, ja das hätte Wilhelm gefallen, eine Blaumeise zu sein. Sie sah ihn in der Ente Gutz, die gerade an ihr vorbeiwackelte und auch in dem Keimblatt des Koriander, den sie vor einigen Tage ausgesäht hatte. Kann ihr das Skelett noch mehr erzählen. Für sie war klar, dass eine kriminaltechnische Untersuchung nicht in Frage kam. Sie wollte auch niemandem von ihrem Fund erzählen. Wilhelm sollte dort oben im Gebüsch seine Ruhe haben. Vielleicht sollte sie ihn dort in der Morgendämmerung begraben? Das würde Wilhelm sicher gefallen. Oben am Hügel unterhalb der Mauer seine ewige Ruhestätte zu finden. Ein Zweifel kam in Gerti hoch. Wilhelm wollte nie sterben, was war da passiert? Er war gerne durch ihren Garten gezogen, er hat auch gerne die Apfelbäume geschnitten. Und obwohl er sie auch immer wieder länger angeschaut hatte, war ihr das nie unangenehm gewesen. Er brauchte halt länger. Seine Augenblicke waren wie Landregen gewesen. Notwendig und sie dauerten solange wie sie dauerten. Gerti fühlte sich danach wie befruchtet, die Saat ging viel später in ihr auf und sie erfreute sich an ihren Vorstellungen, die ihr Kraft gaben, mit ihrem Leben sorgsam

umzugehen. Obwohl sie das wußte und spürte, war Wilhelm immer nur einfach da gewesen oder einfach nicht da gewesen. Ihre Begegnungen waren auch nie intellektuell gewesen, Wilhelm sparte ihr gegenüber mit Worten, sein Dasein und seine Blicke waren Seelennahrung gewesen.

Gerti schwindelte es, als ihre Erinnerungen an Wilhelm immer lebendiger wurden. Gut, dass ich im Hängestuhl sitze. Das Schwindelgefühl wurde immer stärker und Gerti bekam Sorgen, ob das wohl noch gesund sei. Träumte sie etwa oder war sie in Trance gefallen. Ihr Empfinden war jedenfalls diesem sehr ähnlich. Sie sah ein helles Beige mit seltsamen Figuren darin und ihr Körper kribbelte überall. Doch Gerti spürte die Sonne und hörte die Vögel. Alles in Ordnung, dachte sie. Gerti beruhigte sich wieder und schlief sanft ein. Als die Glocke am Gartentor anschlug, erwachte sie und sie drehte sich um. Da sah sie einen Mann, der Wilhelm sehr ähnlich war. Gerti starrte an diesem Tag zum zweitenmal Wilhelm lange an. Es war Wilhelm, lebendig und wahrhaftig. Gerti mußte kichern und lachte immer lauter. Wilhelm kam ihr näher und nahm sanft ihre Hand. „Grüß dich, Gerti.“

Gerti brach ihr irres Lachen ab, stand auf und nahm Wilhelm in die Arme. „Wo warst denn du? Wo kommst du her? Was ist passiert?“ stotterte Gerti. Doch Wilhelm lies diese Umarmung einfach nicht los, sagte nichts, drückte nur sanft ihren Rücken.

Am Abernd saßen sie schweigend im Garten. Ein Flasche italienischen Wein, zwei Kerzen, es war für Gerti ein Fest. Sie hatte Wilhelm gefunden und erzählte ihm ohne Furcht von ihrem heutigen Tag.

Wilhelm nahm sie beim Arm und sie gingen gemeinsam den Hügel hoch, um das Skelett anzuschauen. Wilhelm hob das Reisig weg und sah Gerti lange an. Sie schwieg und wartete, was da wohl kommen mag.

„Das ist ein Schul-Skelett. Das hat irgendein Lausbub gestohlen und in deinem Garten versteckt“, meinte Wilhelm.

Ich brauch auch länger, dachte Gerti.

Liebe im Zeichen des Plastiks

Ich saß müde an meinem Schreibtisch und zeichnete mit dem Bleistift einen Plastiksack. Das war der einfachste Teil meines Planes. Ich wollte dem jungen Hölländer nacheifern, der den Plastikabfall aus den Meeren fischen will. Er hatte sich so was ähnliches ausgedacht, wie unsere Holzsammler am Bodensee. Nur halt hochseetüchtig. Und größer. Ich stellte mir die achtfache Fläche der Bundesrepublik vor, die mit Plastikabfall auf den Meeren voll war. So ein paar Strudel, die unter der Meeresoberfläche quasi unsichtbar schwebten.

Der Witz mit der Plastiktüte im Fisch beim Fischhändler beschäftigte mich sehr. Da war sie wieder, die Plastiktüte. Wie kann ich die Plastiktüte ersetzen?, kam mir die Frage. Die Frage nach der Vermeidung von Plastik liegt doch so nahe.

Eigentlich näher, da dann die Müllsammlerei überflüssig wäre.

Dabei fiel mir Ulli ein. Die ging jeden Morgen joggen. Sie sah auch verdammt gut aus, aber trotzdem hatte sie etwas Depressives an sich. Sie hatte immer einen Plastiksack dabei, um den Müll an ihrer Strecke einzusammeln. Ulli wohnte in der Wohnung neben mir. Ich konnte sie immer beobachten, wenn sie ihren gesammelten Abfall in die Mülltonne warf. Das war etwa um 7.30 Uhr in der Früh. Dannach verschwand sie aus meinem Leben. Und ich saß an meinem Schreibtisch am Fenster und grübelte über den Plastikmüll. Die offizielle Recyclingquote ist reiner Quatsch. Erst sammeln, dann trennen, dann recyclen. Und aus Ohnmächtigkeit schicken wir dann den ganzen Quatsch nach Malaysia an dubiose Firmen, die den Müll dann dort deponieren und der Wind trägt das Plastik dann in die Flüsse und letztlich ins Meer. Es war so verdammt traurig. Ich nagte an meinem Bleistift herum, ungeachtet der Farbe daran.

Mir erschien das Ganze ziemlich unmöglich. Klar können Einzelne ein paar

Projekte starten, um individuelle Lösungen zu entwickeln, aber im Gesamten gesehen hilft das alles nicht.

Völlig niedergeschlagen trank ich mein stilles Mineralwasser aus der Glasflasche. Das tue ich, seit ich weiß, daß das Mikroplastik sich selbst in der Plastikflasche befindet.

Meine Hände waren so blaß wie das leere Papier unter ihnen. Das Licht fiel auf die Glasflasche und meine Hand verlor sich im Sonnenlicht. Ich war nichts, ich löste mich gerade auf, hoffnungslos fiel der Bleistift aus meiner Hand. Keine Idee, keine Kraft mehr. Vielleicht sollte ich kündigen? Und ganz was anderes tun? Doch selbst der Schnittlauch im Blumenkasten war vertrocknet. So trocken wie mein Hirn. Ich stand auf und wollte nur noch weg. Als ich die Haustür ziemlich wütend öffnete, krachte ich mit meiner Nachbarin

Ulli zusammen. Es war zwölf Uhr und sie kam pünktlich von der Arbeit nach Hause. Der Zusammenstoß hatte zur Folge, dass sie die Blumen in ihren Händen fallen ließ, der Plastiksack mit Gemüse und anderem krachte durch und alles fiel auf den Boden. Ihr Hund sprang mich an, ich fiel ins Gemüse und er leckte freudig mein Gesicht. Ulli schrie auf, was die Situation nur noch skurriler machte. Sie rutschte auf einer Orange aus und fiel auf mich und ihren Hund. So lagen wir alle drei auf dem Flur, inmitten von Blumen und Ost und Gemüse. Ich wußte nun, wie sich ein beschissener Tag anfühlen musste. Ulli war als erste wieder auf den Beinen. Sie nahm meine Hand und zog mich hoch. „So hatte ich mir unsere Begegnung immer vorgestellt“, lachte sie. „Darf ich dich zum Mittagessen einladen? Kochen müssen wir selber.“ Ich war überrascht, wie locker sie den Unfall nahm. Aber sie hatte recht. Es war ja eigentlich nicht wirklich was passiert. Ich versuchte dabei irgendwie Ordnung in das Chaos zu bringen. Da fiel mir ihr Lächeln auf. Und das sie immer noch meine Hand hielt. Oh Teufel nochmal, in diesem Moment bekam ich eine Erektion. Ich drehte mich peinlich ab, was sie aber falsch verstand. „Du kommst mir jetzt nicht aus. Wir machen Mittag und du ißt bei mir“, sagte sie mit Nachdruck. Und lächelte mich immer noch an. „Du, Karl, ich träumte

von einer romatischen Begegnung mit dir. Aber so geht es doch auch.“

Wegen dem Plastikmüll. Ich jogge jetzt morgens immer mit Ulli und helfe ihr beim Einsammeln. Meine Idee dabei ist, dass wir den Müll dann immer in Häufen mitten auf den Weg legen. So sind wir Komplizen im Kampf gegen den Pastikmüll.

Ein verrückter Vogel

Ich bin ein verrückter Vogel, dachte Pierre. Und suchte den Himmel ab, ob er irgendetwas entdecken konnte. Der Schwarm kam urplötzlich von hinten. Seine scharfen Augen scannten die Masse der Bergfinken systematisch durch. 488. Das war eigentlich normal.

488 Bergfinken flogen in Formation gen Norden. Doch wie man sich täuschen kann. Die Formation löste sich plötzlich auf und reines Chaos entstand. Jedenfalls sah es im ersten Moment so aus. Doch nach kurzen Augenblicken formierten sich die Finken wieder neu und zogen hinter den Horizont. Pierre wusste, dass er natürlich nicht die Finken meinte, sondern er sich allein. Er hatte seine grün gesprenkelte, mit Rosenmuster durchsetze Filzjacke an. Auf dem Kopf eine Filzhut in Regenbogenfarben und schlichte Gummistiefel an den Beinen.

Sein Fernglas war in seiner Hand und er nickte nur. „Ich brauch es gar nicht. Ich hab gezählt, und es waren genau 488.“

Aber wie er gezählt hatte, dass wußte er nicht. Er hatte es mit einem Blick gewußt. „Ich bin schon ein verrückter Vogel.“ Abend für Abend kamen die Bergfinken zu Millionen. Es rauschte, zwischerte und keiner wußte, wie sie das machten.,

Als Leiter der ornithologischen Laiengruppe, die die Finkenschwärme in der Nähe von Tengen im Hegau beobachten wollte, war er natürlich geübt – aber so genau hatte er es noch nicht geschafft. Er wußte bei sich natürlich, dass keine und keiner diese Zahl überprüfen konnte. Aber er war sich sicher.

Dazu kam ein anderes Phänomen. Er hatte seine Frau und seinen Sohn zusammen mit sich selbst gesehen. Das Muster des Schwarmes sah so aus, wie er den Engel seiner Familie sah. Zumindest für einen ganz kurzen

Augenblick.

Er hatte das in einem Gespräch mit Peter Schellinski gehört, dass

Beziehungen oder Familien ein eigenes Wesen bildeten, ein Organismus, eine eigene Bewusstheit, die die Jahre des Zusammenseins abbildeten.

Schellinski hatte sogar behauptet, das dieses Bild, Muster, Engel, Wesen kommunikationsfähig sei. Mit Gefühlen, Emotionen und Gedanken.

Pierre hatte es Elospi genannt. Es hatte sogar Flügel, wie ein Bergfink. Der eine Flügel war Paul, sein Sohn und der andere war er selber. In der Formation sah es so aus, als ob diese beiden Flügel sich selbständig gemacht hätten und sich vom eigentlichen Körper trennten. Der Flügelmeister verlor die Kontrolle über die Flügel und die hingen manchmal scheinbar auf dem Kopf innerhalb – man muss das so sagen – innerhalb von Elospi.

Pierre war sich darüber im klaren, dass er das keinem anderen Menschen sagen könnte. Sie würden ihn für verrückt erklären. Doch, eine ging schon, Michaela hatte dafür ein Gespür. Er mochte sie schon ziemlich gerne, sie war verheiratet und hatte fünf Kinder. Doch sie hatte eine Sensibilität, die er schätzte. Ziemlich frei und urteilslos hörte sie seine Geschichte an. Und sie hatte ihn in seiner Wahrnehmung verstärkt.

Wieder dachte er an Elospi. Vielleicht war ja Pielos besser, denn er konnte nicht deutlich erkennen, ob es dabei eine Dominanz gab. El schien eifersüchtig zu sein auf Os und Pi, welche ja mit ihren Flügeln flatterten als wollten sie ihre Kraft und Lebendigkeit unter Beweis stellen. Der Hafenmeister kennt sich mit Segeln nicht aus, dachte Pierre. Dafür ist der Wind zuständig. Wieder sah er in den Himmel, der aber war weißlich, bläulich und nichts bewegte sich mehr.

Ich leide unter den Einflüssen der Hollywood-Filme, dachte Pierre vor sich hin, als die Bergfinken zurück kamen. Der Himmel verfinsterte sich und Pierre war es sofort klar, dass diesmal mehrere Schwärme gleichzeit neben und übereinander flogen. Dadurch war er nicht in der Lage die Anzahl zu sehen. Die Formationen glichen einem Chaos. Er ahnte, dass das extra für ihn veranstaltet wurde, damit das Bild von Elospi oder Pielos sich nicht in seinem Augen verfestigte. Er sah zwar klar das Chaos, aber er fühlte die

Harmonie und die Übereinstimmung in seinem Familienengel. Da war aber Verfestigendes schädlich. Bewegung als Grundmuster der Vogelschärme war klar, aber wann sich einer löste und eine scheinbar unkontrollierbare Folgebewegung auslöste, erschien ihm nicht erklärbar. Doch folgten die Bewegungen, das Formieren, das sich wieder Auflösen, die Ausfransung und die Vektorenrichtung unerklärlich und sagenhaft schnell. Pierre kratzte sich inzwischen ziemlich ungeniert am Sack. Wie ein Sack Flöhe waren die Bergfinken über ihn gekommen und hatten ihm deutlich gemacht, dass seine geschiedene Frau, sein Sohn und er immer noch eine Einheit bildeten. Sie waren ein Wesen wie der Finkenschwarm, oder sogar, wie die vielen Finkenschwärme, nur er fand keinen Schlüssel dazu. Er stand bewundernd und ehrfurchtsvoll am Ufer des Rheins. Seine kleine Gruppe hatte er verloren und er dachte nach, was er tun sollte. Er hatte doch da hinten eine Kneipe gesehen. Ein Bier hilft immer beim Denken.

Das letzte Paar

Es ist ein weißer Tag, keine Wolken am Himmel, doch ist er nicht blau, sondern weiß. Die erste Hälfte der Geschichte besteht nur aus einem weißen Himmel. Ist der Himmel überall gleich weiß? Es sieht so aus. Doch natürlich ist das nicht möglich, es gibt immer ein paar Schattierungen von Weiß. Helleres Weiß, graueres Weiß, dunkleres Weiß. Es ist ein atomares Weiß. Ein Weiß, das die Augen blendet. An einer Stelle ist der Himmel leicht gesprenkel, so etwa weiß, grau, weiß, grau, weiß, grau. Rechts oben wird das Gesprenkelte sogar noch etwas dunkler in seiner Gesamtheit. Nein, nicht wirklich dunkler, sondern nur etwas weniger weiß.

Ist Weiß überhaupt eine Farbe? Natürlich sagt er, natürlich sagt sie. Was war das dann für eine Frage? Kann man die überhaupt stellen? Natürlich ist Weiß eine Farbe, auch wenn ich nichts sehe.

Unter dem Himmel sieht es auch so aus, wie eine atomare Wüste. Es war eine Stadt. Ob die Gewalt der Druckwelle es war oder das Feuer. Die Landschaft, oder Stadtschaft sieht trübe aus. Das atomare Feuer muss schon lange her sein, denn die Ruinen sind schon verfallen und eigentlich finden sich hier nur Schuttberge. Aus einem ragt ein eisener Pfeiler, leicht verbogen, heraus. Dort unter dem verbogenen Pfeiler sitzen zwei Figuren, die man bei genauerem Hinsehen als Menschen erkennen kann. Ein Mann und eine Frau. Du kannst es nicht sehen, aber ich weiß es, sie sind Mann und Frau, ein Paar und wenn wundert es, das letzte Paar. Seit rund vierzig Jahren sind sie ein Paar. Sie wurden es kurz nach dem atomaren Desaster. Sie überlebten und verbanden sich miteinander, unauflöslich, wie wenn sie miteinander eingebrannt worden wären. Zwei Körper, zwei Seelen, zwei Geister, ein Paar mit Körper, Geist und Seele.

Wenn du willst sind vierzig Jahre lang, aber in einem atomaren Desaster sind vierzig Jahre nicht lang. Seltsamerweise sind sie tatsächlich das letzte Paar.

Das kannst du nicht wissen, nur ich kann es wissen. Das letzte Paar sitzt an einem eigentlich schönen Schutthaufen, der sogar schon leicht grün wird, unter einem verbogenen Pfeiler und schaut den Himmel an und fragt sich, was anders wäre, wenn Weiß keine Farbe wäre. Der Schutt ist grau, die Pflanzen bilden grünliche Oasen und ab und zu guckt eine rosa Blüte dazwischen hervor.

„Wenn Weiß keine Farbe wäre, wie würdest du denn wissen, wie der Himmel aussieht?“ fragt sie ihn, denn sie will es immer noch wissen. Der Himmel ist eigentlich nicht weiß, denn es gibt ja keinen Himmel, der Himmel ist eine Unendlichkeit. Nur das Licht bricht sich im Himmel und auf einer Skala von 234 Farben kann es per Zufall jede beliebige sein. Der Himmel ist also nicht weiß. Nur du siehst weiß. „Ich sehe nichts“, sagt der Mann, denn er weiß von der Kraft der Imagination. Er sieht durch den weißen Himmel hinaus in die unendliche Weite des Universums. Und das Universum ist schwarz. „Blau sollte der Himmel sein, blau wie deine Augen“, sagt die Frau. Und lächelt vor sich hin. Ihr Lächeln ist allerdings abwesend. Sie lächelt in etwa so, wie der Himmel weiß ist. Sie lächelt, doch sie weiß es nicht wirklich, denn sie hat kein Gegenüber. Er ist nicht wirklich da, denn er sieht die Unendlichkeit des Universums und schaut gar nicht in ihre Augen. So kann sie ihr Lächeln nur spüren, nicht sehen.

Sie sagt: „Ich bin so glücklich!“. Er sagt: „Das Universum ist glücklich!“ Sie fragt:“Woran sieht du das?“ Er antwortet: „Das Universum lächelt!“

Es bleibt ja keinem und keiner verborgen, dass der Schreiber dieser Zeilen sich in den Wirren des sozialen Beziehungswesens, sprich genauer in den Liebesbeziehungen verlor und nicht wirklich einen Weg fand, damit umzugehen.

So war er nach über 20jähriger Beziehung und Partnerschaft zur der Erkenntnis gekommen, dass die 20 Jahre eine Phase der Überstülpung eines fremden Lebens über sein eigenes war.

Seine einst geliebte Ehefrau hat ihn unmerklich mit einer Decke von Aufgaben, häuslicher und geistiger Art überzogen, die nur noch durch eine Ausblendung des eigenen Willens übertrumpft werden konnte. Doch gefehlt, es gab noch eine Steigerung, nämlich die des gar nicht mehr Wahrnehmens eines eigenen Willens, sondern die Annahme des fremden Willens - zugegebenermaßen eines geliebten Wesens – als sein eigener.

Dieser unglaubliche Vorgang ist jedoch bei genauerer Betrachtung gar nicht so selten, sondern vielleicht die Normalität. Die Begriffe für eine solche Umstülpung weichen je nach Erzähler ab, werden aber im erweiterten Sinne als Liebe bezeichnet.

Der Autor dieser Zeilen fand lange eine Befriedigung darin, einzukaufen, zu kochen und abzuwaschen, Wäsche zu waschen und zum Trockenen aufzuhängen und dann zusammenzulegen und in die Schränke zu räumen.

Ein Glücksgefühl war es, die Stücke den jeweiligen Personen wesensgemäß zuordnen zu können.

Desweiteren war es ein Glücksgefühl in die Unordentlichkeit der anderen Mitbewohner Ordnung zu bringen. Liegengelassenes an die dafür vorgesehenen Stellen, Schubladen usw. einzuordnen. In einer Art von Auflehnung kam das Gefühl, dass diese Unordnung beabsichtigt worden sei, um ihm dieses Glücksgefühl – und damit die Abhängigkeit von dem

Glücksgefühl - zukommen zu lassen. Es gab aber noch eine weitere Methode dieses Überstülpens zu sichern. Das waren die Wünsche der geliebten Person. Kannst du mal schnell noch helfen, die Dinge ins Auto zu packen. Kannst du noch den Ball zurückbringen. Kannst du noch die Rechnung schreiben. Kannst du noch die Äpfel im Garten auflesen. Kannst du noch das Auto in die Waschanlage bringen. Wenn der so Angesprochene ärgerlich zu werden drohte, dann wurde die Formulierung in „Wärst du so lieb...“ umgeändert und damit dann das gleiche Gefühl hervorgerufen wie mit der geplanten Unordnung. Dieser Überstülpung kamen seine Bergstiefel in die Quere. Diese gingen einst mit dem Autor dieser Zeilen in die Berge um von der Oberzalimer Hütte über das Gespusajoch in den Nenzinger Himmel zu gehen. Doch, es muß ehrlicherweise gesagt werden, dass es gar nicht die Stiefel waren, sondern seine eigene Angst. Die hatte er bisher in einer kleinen Schachtel eingesperrt, die er liebevoll Liebe nannte. Dort harrte die Angst aus. Bis an diesem einen Sonntag im Sommer des heißesten Jahres. Trotz dieser Hitze gingen sechs Menschen den Weg gemeinsam. Der Autor dieser Zeilen spürte aber in sich eine Angst aufkommen, dass er diesen Weg nicht schaffen würde. Er suchte nach Ausreden, nach Möglichkeiten umzukehren, doch es gab einfach keine. Die Gesellschaft, diesmal ohne seine geliebte Person, machte ihm Mut, unterstützte ihn und lockte ihn mit allerlei geheimen Tricks auf den Weg. Bis er auf einmal vor einem ungefähr zehn Meter hohen Felsstück stand, das für ihn unüberwindlich erschien. Er sagte wohlwollend, dass er gerne wieder zur Hütte zurück möchte, doch seine Begleiter erkannten die Ausrede und halfen ihm auch dieses Stück des Weges zu gehen. Doch auf dem Joch sah er zum ersten Mal den weiteren Weg und ihm war klar, hier ist sein Weg zuende.

Die Schachtel mit der Angst sprang auf und sperrte weitere Gedanken. Ihm war nur klar, da komme er nicht weiter. Wir Menschen sind soziale Wesen und helfen uns gegenseitig gerne über solche Sperren und Schilder hinweg.

Die Schamanin der Gruppe entschloß sich spontan zu einem Ritual, um den Weg freizumachen. Sie bildete das Gegenüber des Autors und hob zu einer beschwörenden Formel an: „Tu alles was ich tue, auch wenn du es für Blödsinn hälst.“ Das kam ihm schon mal bekannt vor. Auch wenn er für Blödsinn das Wort Liebe gewählt hätte. Dann wurde die Formel erweitert. Die Schamanin klopfte sich auf den Kopf und sagte beschwörend: „Ich liebe und akzeptiere mich mit all meiner Angst, so wie ich bin. Sprich nach.“

Dabei klopfte sie sich auf den Kopf und viele andere Stellen am Körper und schüttelte dann immer wieder die Hände aus.

Er folgte, so wie er es kannte, widerstandslos und sprach die magische Formel immer und immer wieder – bis die Wirkung eintrat. Seine Angst, die Liebe hieß, vervielfältigte sich auf unerklärlichweise zweifach. Einmal war da die Angst vor den weiteren Weg, der nicht nach Himmel, sondern nach Hölle aussah und zum anderen entstand eine unbeschreibliche Liebe zu der Schamanin. Er fühlte unbegrenztes Vertrauen, eine unsagbare Nähe und fühlte in sich, das muss Liebe sein.

Nun weiß der Autor dieser Zeilen, dass ein solches Phänomen zwischen Therapeuten und Patienten öfters vorkam, aber das konnte er in diesem Augenblick nicht erkennen. Er spürte seine Kraft wachsen und spürte, wie eine Entscheidung in ihm wuchs. Ich gehe diesen Weg nicht weiter, ich drehe um, und gehe allein weiter, wenn mir die Schwester der Schamanin hilft, die zehn Meter Felswand zu durchqueren.

Der Entschluß wurde gefasst, ausgesprochen und umgesetzt. Der Autor dieser Zeilen wurde von einer Art Befreiung heimgesucht, die ihm deutlich machte, dass es manchmal notwendig ist, eine Entscheidung zu treffen und dieser dann eine entsprechende Handlung folgen zu lassen. Da leuchtete sein Stern deutlich am Himmel auf und er ging seinen Weg.

Am Ende des Tages hatte er nur noch ein Problem. Er war zuhause in seiner Umstülpung und in seine Schamanin verliebt. Es zog ihn immer wieder zu seiner Schamanin hin, doch sie nahm ihn zwar freundlich auf, aber lies ihn

nicht zu nahe kommen.

In der Folge geschah es, dass er spürte, er konnte den Weg der Überstülpens nicht weiter gehen. Etwas in ihm war aufgebrochen, seinen bisherigen Weg zu beenden und in der Folge geschah es, dass er sich von seiner einst geliebten Überstülperin ziemlich abrupt trennte und seinen eigenen Weg folgen wollte. Ihm war es sehr wichtig, dass er diesen Weg noch nicht kannte, sondern offen auf das was ihm entgegenkam zuging.

Das aber änderte die Beziehung zur Schamanin. Diese sah nun einen freien Mann vor sich, der sich in ihr Leben drängte. Sie aber liebte ihr Leben und ihre Unabhängigkeit (ob das wahr war oder nicht bedarf einer weiteren Untersuchung). Die Schamanin spürte deutlich, dass er ihr zu nahe kam und änderte ihr Verhalten. Sie wies ihn zurecht und zurück. Er aber nahm das gar nicht wirklich wahr, sondern sah seinen Weg nur bestätigt.

Es kam zu einem weitern Erlebnis in der Weite der Schönebacher Alpe.

Gemeinsam reisten sie an um einen Philosophischen Tag in der Weite des Tales zu erleben. Doch er erlebte die Enge der Liebe erneut. Die Schamanin war mit sich im Unreinen und suchte die Einsamkeit. Er folgte ihr und sie musste ihn in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass er seine Schamanin liebt, aber nicht sie als Frau. Damit er das lernen könne, will sie ihn für längere Zeit nicht sehen.

Bei der Verabschiedung im Auto am Bahnhof wurde es schon dunkel. Er brauchte noch etwas Zeit um seine Bergstiefel umzupacken. Sie sagte ihm. Ich bin nicht in dich verliebt. Und ich sage dir, wir werden uns eine Weile nicht sehen, bis zu erkannt hast, dass wir die Bergstiefel nicht mehr gemeinsam anziehen werden.

Da stand er nun in seinen einsamen Bergstiefeln und blickte in die Leere der Nacht. Und suchte einen Stern, der ihn führen wird können, durch das Dunkle der Nacht der zurückgewiesenen Liebe.

Der Stern leuchtete die ganze Nacht, er aber sah nicht in den Spiegel.

Milford Sounds

Auf der Südinsel Neuseelands liegt der 15 Kilometer lange Fjord Milford Sound, eine der wichtigsten Touristenattraktionen. Klettern an einem der schönsten Plätze der Welt, warum nicht?

Maria wollte schon immer mal nach Neuseeland. Klettern. Als wir in Christchurch landeten trennten sich aber unsere Wege. Bei aller Liebe können wir uns nur einmal in der Woche gut aushalten. Das geht zuhause bei getrennten Wohnungen ja ganz gut, aber wie sollten wir das im Urlaub machen?

Als wir den Urlaub buchten haben wir ausgemacht, dass wir den Flug gemeinsam machen, auf der Insel sich dann unsere Wege aber dann trennen. Wir wollten uns dann in der zweiten Woche treffen und einen gemeinsamen Bootsausflug machen.

Milford Sound Lodge ist ein super geeignetes Hotel, dachte ich, es ist direkt am Fjord und nicht so teuer wie alles andere. Das dachte auch Maria und schwups hatte sie ein Zimmer gebucht. Damit war meine Möglichkeit dahin. Ich schmollte ein wenig – aber entschied mich dann für eine Rucksacktour mit Zelt, denn ich durfte ja nicht in der selber Stadt wie sie ein Zimmer nehmen. Aber es war nicht ausdrücklich verboten in der gleichen Stadt zu zelten. So machte ich mich ebenfalls auf nach Milford Sound und ging natürlich den Weg des Autostops, während Maria mit dem Mietwagen unterwegs war. Da ich wußte, wann das Zimmer gebucht war zog ich einen Tag später los, damit wir uns nicht zufällig begegneten.

Es klappte auch sehr gut und ich lernte Monica kennen, eine Fotografin, die für eine Zeitschrift eine Fotoreportage machen sollte. Sie hatte

Kletterausrüstung dabei und fuhr einen Camper. Sie wollte unabhängig sein und war deshalb motorisiert. Da wir uns bereits in Christchurch getroffen

haben, waren wir nun erstmal für fünf Stunden gemeinsam unterwegs.

Monica war eine besondere Frau. Sie war aus der Schweiz, was mir sprachlich ganz gut weiterhalf. Sie war schon an allen schönen Orten der Welt gewesen. Sie selber war nicht wirklich schön, aber es war ein sehr angenehmer Aufenthalt in ihrem Camper, den nur sie fahren durfte. Ich hatte dabei keine Chance einzugreifen oder gar Hilfe anzubieten. Monica meinte, dass das nichts wird, wenn Männer freundlich seien. Sie will lieber unabhängig sein. Das kam mir nur sehr bekannt vor und ich konnte mich gut drauf einstellen. Monica führte mich über die Insel.

In Milford Sound angekommen schmiss mich Monica ziemlich unspektakulär aus ihrem Camper, keine Sentimentalitäten und sie fuhr ohne zu winken weiter. Diese Schweizerinnen.

In der einzigen Tankstelle des Orten machte ich mir ein Bild von der Lage. Es gab eigentlich keinen Zeltplatz, nur Motels und Lodges.

Die Milford Sounds Lodge war am anderen Ende des Ortes und lag grandios direkt an der See.

Es wurde schon dunkel und ich ging auf Seitenwegen zum Hotel. Jetzt begann eigentlich der verrückte Teil meines Plans. Ich wollte versuchen an einer pregnanten Stelle in der Anlage mein Zelt aufzustellen und dort zu schlafen. Hinter einer Hecke zwischen zwei Einraumhäusern fand ich einen geeigneten Platz, nahe am Hotel und doch vor den Blicken geschützt, sodass ich die Chance hatte, unentdeckt zu bleiben.

Ich kuschelte mich gerade in meinen Schlafsack, als jemand am Zelt zu rütteln begann. Erst verstand ich den Mann gar nicht gut und versuchte mich taub zu stellen, was natürlich eine blöde Idee war. Der Mann wurde lauter und ärgerlicher. Ich stellte mich der Situation und kroch aus meinem Zelt.

Who are you?, faucht er mich an. Kindly, yours. My name ist Mister Josef Mayr. I’m the husband of Miss Mayr in house nr. 3. We have some troubles this evening and so I`m sleeping in my tend“.

Das klappte eigentlich immer. Ich wußte ja die Zimmernummer von Maria.

Er nahm mich am Arm und schleppte mich zu Haus Nr.3. Maria öffnete und spielte perfekt mit. „Nein, den Mann kenne ich nicht.“ Was denn los sei? Das müsse ein Hochstapler oder ein Einschleichdieb sein. Dem Housekeeper blieb somit nichts anderes übrig als mich in die Rezeption zu bringen und die Polizei zu rufen, die mich wiederum mit auf die Wache nahm und mir ein Bett zuwies. Mir wurde Rowdytum und Hausfriedensbruch vorgeworfen.

Am nächsten Morgen wurde es dann ernst. Da die Papiere in Ordnung waren, sagte mir der Chiefinspector, dass ich bei Zahlung einer Ordnungwidrigkeit von 300 NZD gehen könne. Das war nun mein Problem. Ich wußte es, meine Kreditkarte war seit dem Flug gesperrt und Bares hatte ich nicht mehr soviel. Also blieb mir nicht anderes übrig, als nochmal Maria anzurufen und um den Freikauf zu bitten.

Als ich dann freikam ging ich direkt zu Maria und sie empfing mich glücklich.

„Mein kleiner Rowdy, du kleiner wilder Hund, ich liebe dich.“ Die Tage und Nächte mit ihr waren dann die glücklichsten meines Lebens. Wer versteht schon die Frauen.

Ich wollte schon immer verreisen

Ich wollte schon immer verreisen. Da war es ein guter Moment, dass Angelika und Thorsten ein Reiseunternehmen hatten. Eigentlich kein richtiges Unternehmen, aber sie hatten gute Beziehungen zu einem Busunternehmer und organisierten immer Reisen. Ich war schon bei einigen dabei.

Morgen sollte es los gehen und ich packte meine Sachen für die Reisewoche. Am Busbahnhof warteten auch schon einige Menschen und die Reise ging los.

Wir fuhren Richtung Osten. Nach Russland. Das war mein eigentlicher Traum schon immer gewesen. Die slavischen Länder. Schon die neuen Bundesländer haben mich immer elektrisiert. Es sollte mit dem Bus nach Moskau gehen, was zwar dauerte, aber diese Fahrt enthielt ein schönes Unterhaltungsprogramm. Warschau, Brest, Gomel, usw. Auf einer Raststätte, schon tief in Russland, stoppte der Bus und wir gingen Pinkeln. Auf der Toilette fiel mir eine Frau im Rollstuhl auf, die ich im Bus so gar nicht wahr genommen hatte. Sie blickte aber unschlüssig auf die Toiletten und ich wußte, das ist ein Fall für meine gute Seele. Die Toilette war nicht rollstuhlgerecht und sie hatte alleine keine Chance auf den Topf zu kommen. Also bot ich meine Hilfe an und das ganze ging auch recht flott voran. Als sie wieder im Rollstuhl saß, rollte ich sie raus – und da war es eigentlich sofort klar. Der Bus war nicht mehr da.

Wie die Blinde und die Lahme zogen wir den Rastplatz rauf und runter, um das Toilettenhäuschen herum und andersherum. Es half alles nichts. Da standen wir beiden auf dem Parkplatz mit Toilettenhäuschen und waren völlig allein.

Ich war hilfslos. Keine Handtasche. Seit wann geht eine Frau ohne Handtasche auf die Toilette. Nun, ich halt. Dieser Mythos kam bei mir nicht gut an. Ich schminkte mich nicht, hatte auch eine Kurzhaarfrisur, brauchte keinen

Kamm und keine Bürste. Rauchte nicht. Verdammt, ich war stolz darauf keine Handtasche zu brauchen. Aber so war dann halt auch kein Handy da. Doch Rosa, meine Begleitetein hatte alles dabei. Ich nahm ihr Handy, stellte fest, es gab noch Akku und auch Netz. Es gab sogar die Nummer von Angelika und Thorsten. Doch die gingen nicht dran. Wir machten es uns bequem auf dem Parkplatz. In der Nähe floss ein Fluss, welcher auch immer. Darauf gab es Boote und richtige Schiffe. Der Parkplatz blieb verwaist. Kein weiteres Auto kam vorbei und keiner wollte parken. Doch am Fluss sah ich Menschen, die mit den Booten umgingen. Doch wie sollte ich Rosa dahin bringen. Da waren nur buckelige Wiesen und kein Weg. Alles nicht behindertengerecht. Entweder tragen oder alleine gehen. Es war sofort klar, allein geht gar nicht –also tragen. Nun, ich bin schon sehr sportlich, ich ging gerne zuhause in die Fitnesssalons und hatte schon einige Stunden trainiert. Rosa sah auch nicht glücklich aus, aber ich schulterte sie und wir gingen gemächlich runter an den Fluss.

Welch ein Glück. Gleich trafen wir einen Fischer mit seinem Boot. Doch er sprach nur russisch, glaubte ich wenigsten. Wir sahen uns an. Rosa saß am Boden, ich sportlich stehend, er saß in seinem festgemachten Boot und schaute mich erwartungsvoll an. Ich erklärte ihm mit Augen, Beinen, Händen, Fingern, Lautsprache, meinen klaren Deutsch und Englisch die Situation. Irgendwie erwiderte er mir ebenfalls mit allem was er hatte, dass es klar gehe, ich und sie können auf das Boot und er nehme uns mit bis in den nächsten Hafen. Wobei ich hoffte, dass es dort auch Menschen mit einer Sprache gebe, die uns weiterhelfen könnte.

Inzwischen hatten wir sooft Angelika und Thorsten angerufen, dass der Akku inzwischen leer war. Kein Kontakt in einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht sprechen konnte. So sehen moderne Märchen aus.

Wir bugsierten Rosa in das Boot, sie saß etwas feucht auf dem Boden auf sowas wie Fischernetzen. Sein Fang befand sich lebend in Eimern. Ich

machte mir weitere keine Gedanken über die Lebensumstände des Fischers, der etwas wie Kollja hieß. Ich wollte raus aus dieser Situation. Und das Leben schien es gut mit uns zu meinen. Nach einiger Zeit kam tatsächlich ein Dorf in Sicht, mit einem Bootssteg. Kollja hielt darauf zu. Ich wünschte mir ein Empfangskommitee mit Essen und Sekt, ein Hotelzimmer und eine Botschaft, die schon alles geregelt hatte. Doch so sind nun mal Träume. Sie gestalten zwar die Situation neu, aber wie es mir vorkam auch andersrum, sie steigerten das Paradoxe. Kein Empfangskommitee, sondern eine ziemlich kaputter Steg. Kollja hielt das Boot am Steg fest und ich kümmerte mich um Rosa, die inzischen doppelt so schwer geworden war und sich auch nicht mehr bereitwillig helfen lassen wollte. Irgendwie hatte sie wohl noch schönere Träume gehabt. Als ich ihr unter die Arme greifen wollte, zuckte sie unkontrolliert und ich verlor das Übergewicht und flog über Bord in den Fluss.

Im Nachhinein war mir klar, dass ich meinen Kopf an irgendetwas angeschlagen hatte und wohl bewußtlos gewesen sein musste, denn als mein Schädel wieder aufklarte, lag ich am Ufer. Aber nicht am Steg, sondern ganz woanders. Keine Ahnung wo.

Ich bekam feuchte Augen, eigentlich vor Wut, denn nichts war einfach und noch weniger wurde einfacher. Ich war klatschnass, allein, irgendwo am Ufer eines unbekannten Flusses, und ich hatte einen Fisch in meiner Hosentasche. Der flutsche allerdings aus meinen Händen als ich ihn rauszog und fort war auch mein einsamer Begleiter.

Zum guten Glück wurde es jetzt auch noch dunkel. Ich entschloß mich, mich nicht meiner Endzeitstimmung hinzugeben, sondern mich an mein Fitnessstudio zu erinnern. So fing ich an meinen Zustand zu untersuchen.

Meine Jacke. Ich hatte tatsächlich eine Jacke an. Ich zog sie aus untersuchte die Taschen, leer und hängte sie an eine Pfosten am Ufersteg. Meine Bluse war klatschnass, ich zog sie trotzdem aus und wrang erstmal soviel Wasser wie ging raus. Auch sie hing ich zum Trocken auf. Ich hatte Gott sei Dank,

normale Schuhe an, die wanderten ebenfalls auf den Steg. Die Jeans waren eng, doch ich quetschte mich raus. Auch der Slip und BH tropften und ich hing sie auf. Ich saß splitternackt am Ufer des Flusses. Ich spürte zwar ein paar leichte Blessuren an mir, aber eigentlich konnte ich mich bewegen und ich begann mich mit der Situation abzufinden. Ich war Fasten gewöhnt und spürte keinen Hunger. Mir wurde richtig wohlig bei dem Gedanken, dass ich lebte, nicht erschlagen und nicht ertrunken war. Ich saß zwar nackig am Ufer des Flusses in einem Land, dessen Sprache ich nicht sprechen konnte und sich auch keine Bewohner zeigten, mit denen ich auf universalisch reden könnte. Ich fühlte, dass ich angekommen war.

Lisboa, du Schöne

Es schien eine absurde Idee zu sein. Wir saßen auf der Couch von Maria, als sie mir von den Plänen ihrer Mutter erzählte. Die 85jährige Magdalena wollte zu ihrem Sohn nach Lissabon. Und keiner ihrer Kinder wollte sie begleiten. Das hatte natürlich Gründe.

Abgesehen von Broterwerb und Kindern dachte tatsächlich kein Kind daran, sie zu begleiten. Die Kinder hatten von Anfnag an unter dem Regime der Generaldirektorin des Familienclans, wie Maria sie nannte, zu leiden. Nichts ging ohne sie. Alles will sie bestimmen und lenken. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Sie will sogar bestimmen, was ihre Kinder mit dem Erbe tun sollen.

In meinem Liebestaumel sagte ich spontan und unüberlegt: „Ich begleite sie gerne.“ Maria lachte laut auf. „Hey, meine Mutter ist eine Dame, die Wert auf Konventionen und Prestige legt. Sie ist ein Prototyp einer großbürgerlichen Gesellschaft.“ Nun, ich bin das Gegenteil davon. Konventionen, Prestige, das sind Dinge, die mir fremd sind. Ich lebe einen alternativen Lebenstil, habe wenig Geld, bin Konsumverweigerer, ökologisch orientiert, trage Kleidung bis es nicht mehr geht. Pflege keine bürgerlichen Gewohnheiten, kenne nicht einmal die normalen Höflichkeitsfloskeln und Verhaltensweisen nach Knigge. „Ich bin wie ich bin“, sagte ich. „Was solls, stell mich Magdalena doch vor und sie kann selbst entscheiden, ob sie mich als Begleitung akzeptiert oder nicht. Es tut mir ja nicht weh, wenn sie ablehnt. Doch für mich ist das eine Chance nach Lissabon zu kommen.“ Wenn sie nicht anders hin kann, habe ich schon eine Chacnce, dachte ich und schaute Maria tief in die Augen. Dort sah ich Belustigung. Darunter lag etwas Dunkles, Sorgenvolles. Ich wußte, was das war. Sie hatte meine Existenz inklusive unserer Beziehung noch niemanden gegenüber zugegeben. Wenn sie mich jetzt ihrer Mutter empfehlen wollte, brauchte sie eine gute Geschichte

ohne in Erklärungsnot zu kommen.

Doch Geschichten sind nunmal mein Metier. Ich schlug vor, sie solle mich als Dichter, als einen Jugendfreund, der lange im Ausland lebte und den sie vor kurzem zufällig in der Bahnhofshalle wieder getroffen hatte, vorstellen. Ich hätte kein Geld, sei schon einmal in Lissabon gewesen, lebe frei und ungebunden. Ich würde die Begleitung für Spesen und einem Taschengeld machen.

„Der Dichter könnte klappen“, ging Maria auf meinen Vorschlag ein. „Dichter sind unkonventionell und mittellos, aber interessant genug, vielleicht...“ sann Maria nach.

Okay, dann fehlte nur noch die Gelegenheit, mich der Frau Generaldirektorin vorzustellen. Wir planten ein Essen bei Maria, zu dem sie ihre Mutter holen sollte und ich klingle dann passgenau an ihrer Tür. Sie kann mich ja schlecht wegschicken und dann sollte das Theater losgehen. Wenn ich ihre Mutter beeindrucken könnte und das geschickt händelte, dann wollten wir auf ihre Reisepläne kommen und auf meine Liebe zu Lissabon. Der Gedanke war, dass sie mich selber einladen sollte. Es müßte ihre eigene Idee sein. Am Liegestuhl im Hotel Casa do Barão, dachte ich über die außergewöhnliche Begegung nach. Nichts hatte damals geklappt. Ich war von der Dominanz von Magdalena so beindruckt, dass ich nur vor mich hin stotterte. Der brotlose Dichter hatte sie amüsiert und sie sah in meinen Augen sofort das Interesse an ihrer Tochter. Das war dann wohl auch der Grund, der sie dazu brachte, mich doch nach Lissabon einzuladen. Sie wollte mich testen. Ob ich nun endlich der richtige Mann für ihre Tochter sein könnte.

Beim Flug nach Lissabon passierte es, dass der Flugkapitän mitteilte, dass der Treibstoff knapp aber ausreichend sei. Die Fluggäste bräuchten sich keine Gedanken zu machen. Das war Grund genug für eine Panik. Hier war es von Vorteil, dass ich so bin, wie ich bin. Ich nahm Magdalenas Hand und gestand ihr die ganze Geschichte. Vielleicht war das ja die letzte Gelegenheit, ehrlich zu sein. Ich gestand ihr auch, dass ich noch nie in einem Luxushotel

untergekommen sei, dass ich Angst habe. Ich erzählte alles, inklusive der Generaldirektorin. Magdalena war die Ruhe selbst und sagte selber nichts mehr bis wir landeten. Dann nahm sie mich bei der Hand und führte mich zum Taxi.

Es war schon fast Mittag, als Magdalena zu mir an den Pool kam. Sie brauchte ihren Schlaf und sie genoß die Annehmlichkeiten des Hotels. Sie streichelte sanft meinen Arm und schaut mir in die Augen. „Du siehst einfach toll aus“, entfuhr es mir. Sie drückte mir einen Kuss auf die Stirn und nahm meine Hand. Zärtlich strich sie über meine Finger. Und ich spürte ihre Liebe durch und durch. „Ich wußte gleich, dass es nur so gehen konnte“, flüsterte sie. „Ich wollte dich bei dem Flug damals in meiner Nähe haben, ich wollte immer in deiner Nähe sein und die einzige Möglichkeit war, dass ich dich als Schwiegersohn akzeptierte.“

„Pass auf, Maria kommt!“ Meine Frau, mit der ich nun schon seit fünf Jahren verheiratet bin, schenkte uns ihr liebreizendestes Lächeln und ich streichelte Magdalenas Hand. „Magdalena, deine Tochter ist dir wirklich gut gelungen!“

Die Generaldirektorin lächtelte in sich hinein.

Kaminkehrer Schtozmayer

Ich stand im Keller und schaute auf unseren gar nicht schönen alten Holzofen – für die Zentralheizung. Als Notfallhelfer gedacht, falls das Öl wirklich mal zu Ende geht, oder der Russe den Gashahn abdreht. Er war wirklich nicht schön – aber ich konnte mich nicht entscheiden. Soll er raus und wir gewinnen dadurch Platz im Keller? Brauchen wir denn wirklich den Platz? Die Frage war auch, wo denn das Holz gestapelt werden soll, wo kann es lagern? Durch den Heizungskeller führte eine Brandschutztür zu dem wirklich alten Teil des Hauses. Dort lagerten wir den Wein. Dort war die Tür zum Kamin. Da kam einmal im Jahr immer der Kaminkehrer und reinigte den Kamin. Dazu ging er immer auf den Dachboden und lies seine Besen durch die dortige Luke runter. Dazu mussten wir jedesmal den Dachboden aufräumen, damit der Kerl, Herr Schtozmayer, auch an die Luke kam. Der Kaminkehrer war kurz vor der Rente und wir fragten uns, wer nach ihm kommen könnte. Gibt es in Zukunft eigentlich noch Kaminkehrer? Oder wird es eine automatische Internet gesteuerte Reinigungsoftware geben. Also kein Holzhofen mehr, also keinen Kaminkehrer mehr. Wir hatten den Herrn Schtozmayer in unser Herz geschlossen.

Naja, letztlich mußte er dann in den Keller, um die Asche, bzw den Dreck aus der unteren Luke rauszuholen. Womit ich wieder beim Holzhofen bin. Soll der jetzt raus oder nicht. Brauchen tun wir ihn ja wirklich nicht. Die alte Heizung funktioniert doch noch ganz gut. Aber was weiß ich schon. Wir holten den Energiesparberater ins Haus und der lachte uns aus. Die Heizung ist 26 Jahre alt und bringt gar nichts mehr. Ein neuer Brennwertkessel wirkt dagegen Wunder. Und wenn der da ist, dann kann der anstelle des alten Holzofens stehen und die alte Heizung, die ungefähr 5mal so groß ist wie ein neuer Brennwertofen, kann raus. Und es werde Platz, viel mehr Platz. Und wir brauchen außerdem viel weniger Gas als

jemals zuvor. Die Ersparnis ist enorm. Und damit auch ökologisch.

Der Rat der Gemeinschaft traf sich dann und diskutierte die ganze Geschichte noch ein paarmal. Vertagte und tagte und vertagte. Die Zeit verging. Wir holten Kostenvoranschläge ein, rechneten die Kosten der Ersparnis gegen und kamen letztlich zu dem Schluß, das es jetzt Zeit ist, die Ökologisierung unserer Heizanlage vorzunehmen.

Dann kam die Zeit der Realisierung. Doch zuerst mussten wir noch den Gasanschluß graben, denn bisher heizten wir mit Flüssiggas. Nun mit dem russischen Stadtgas, welches eine neue Leitung von der Straße zum Heizungskeller brauchte. Naja, gemeinschaftlich packten wir Pickel und Schaufel aus und gruben den Graben. Ging eigentlich ganz leicht. Der Heizungsbauer hatte auch Zeit und der neue Ofen kam und wurde installiert.

Und dann kam der liebe Herr Schtozmayer mit seinen Messgeräten. Er hatte keinen Reinigungsbesen dabei, sondern maß, ich weiß nicht wirklich was. Das Ergebnis war aber schon erschreckend. Der Kamindurchmesser muss verkleinert werden. Ich hab vergessen warum. Was ich aber nicht vergessen werde, ist der Tag an dem der Laster mit dem Kran vorfuhr und das Kaminrohr, 12 Meter lang, von oben in den Kamin einführte. Das war ein Moment, wie das Rohr über dem Haus schwankte und der Gehilfe des Heizungsbauers das Rohr liebevoll in unseren alten Kamin einführte. Er stand oben auf dem Dach und das Rohr versenkte sich im Innern des Hauses.

Dann war es geschafft, das Kaminrohr war angeschlossen, ein Dach über dem Kamin erfreute sich seiner Notwendigkeit. Herr Schtozmayer war froh, dass die Daten dann mit den Vorschriften übereinstimmten. Der Kamin bleibt trocken. Wir sparen mit der Zeit viel Geld. Das ist doch eine schöne Geschichte. Leider hab ich vergessen was das Kaminrohr gekostet hat.

Herr Schtozmayer ging kurz darauf in Rente.

Ich aber saß auf den Stufen am Ufer des Sees und weinte

Es war ein schöner Tag. Heiligabend und wir haben in einer Gemeinschaft mit Freunden den Tag und den Abend verbracht. Jeder bringt etwas zum Essen und Trinken mit. Während ich mein Leibgericht kochte, sind die Kinder schon im Saal und schmücken den Baum. Luis und Noah sind nicht aufzuhalten und schmückten den Baum mit dem wenigen Schmuck, den wir haben. Zuvor haben sie den Baum zusammen mit Alex aus dem Wald geholt. Luis besorgte gleich die Säge.

Rechtzeitig beim Dunkelwerden trafen alle dann ein und wir sangen ein paar Weihnachtslieder, wir saßen an einer langen Tafel und ließen es uns schmecken. Werner hatte selbstgebrautes Bier mitgebracht, Ulrike ein Dhal, ich meine Senfeier, Gerd einen Wintersalat, Michaela einen großen Topf Kürbissuppe. Martha brachte Kartoffelsalat und Wienerle mit. Also Weihnachten zwischen Tradition und Fülle.

Nach dem Essen wird wieder gesungen und dann der erste Höhepunkt des Abend, wir wichteln drei Runden, bis jede und jeder das richtige Weihnachtsgeschenk bekommen hat. Wir erzählen uns Geschichten von Weihnachten. Weihnachten als Übergang vom Paradies in die Menschheit. Symbole waren die roten Äpfel und die roten Rosen. Symbole für die neue Zeit. Damals wie heute.

Ich erinnerte mich an Peter, der vor 26 Jahren an Weihnachten gestorben ist und dem ich am Totenbett dann das Johannesevangelium vorlesen hatte. Ein erstes Mal in meinem Leben, an dem ich etwas tat, das ich mir vorher nicht einmal vorstellen konnte. Er hat dabei gelächelt.

Dankbarkeit überschwemmte mein Herz und ich mußte weinen. Ich erinnerte mich an die gemeinsamen Feiern in meinem früheren Leben, immer in einer größeren Gemeinschaft, ein paar Jahre lang mit Peter, dann die Familienfeiern und später zusammen mit den Freunden aus Syrien. Gestern war ein neues

Fest wieder am alten Ort. Allein. Und in Gemeinschaft. Es war schon sehr lange her, seit ich das letzte Mal geweint habe.

Am nächsten Tag ging ich dann bei zweifelhaftem Wetter von zu Hause los, um mein Herz zu beruhigen. Ich war unruhig und nervös, warum eigentlich weiß ich nicht wirklich. Wenn ich in den Wald oder überhaupt raus gehe, dann werde ich ruhig, bekomme klare Gedanken und kann mich letztlich für das entscheiden, was mir guttut.

Ich ging an den See, dessen weite Oberfläche in mir immer Ruhe auslöst, doch an diesem Tag war es schwer. Ich saß auf den Stufen am See und musste schon wieder weinen. Die tiefe Traurigkeit war noch tiefer als ich dachte. Ich dachte über die Liebe nach. Die Liebe, die ich empfand, als wir in unserer Runde an Weihnachen dachten. Meine Liebe, die auf sich warten ließ und ich saß am See um mich zu beruhigen. Lange passierte gar nichts. Mein Leben flog langsam an mir vorbei und die Bilder liessen mich die Traurigkeit fühlen. Zuviele Erinnerungen an Gelungenes und Mißlungenes gingen mir durch den Kopf. Die Liebe war gekommen und gegangen. Was ist Liebe?

Der Wind brauste, die Wellen plätscherten, die Farben des Wasser passten sich dem Himmel an und waren grau, blau, und türkis, in vielen Zwischentönen. Für kurze Zeit öffnete sich der Himmel und ließ helles Licht durchscheinen. Die Stimmung ließ mein Herz sich öffnen. Mitten drin flog ein knallroter Luftballon über das Wasser. Ein Wunschballon?

Ein losgerissener Ballon, dem ein Kind nachguckte? Traurig wie ich? Doch der Ballon trieb seine Scherze auf dem Wasser und war kurz darauf um die Ecke verschwunden. War das ein Zeichen nicht nur alles in den Farben der Natur zu sehen, sondern auch die Menschen zu sehen? Das Kind, nun ohne Luftballon? Ich, der der Liebe nachsann?

Die Natur war ein Freund, der Wind, die Wellen, das Wasser verströmte trotz viel Bewegung eine Ruhe, eine tiefe Ruhe. In mir spürte ich bald darauf wie ebenfalls eine tiefe Stille in meinem Herzen sich breit machte und ich mich darin wieder fand.

Meine Knickerbocker waren bald von der Nässe durchdrungen und die Welt hatte mich wieder. Es war kalt und naß. Ich aber liebte, den See, den Wind, den Himmel, die Farben, das Rauschen. Mich. Und dich.

Bericht an den Club of Bludenz von Heiner Wankelmeier in einfacher Sprache

Es ist tiefe Nacht. Wie anders sollte man sich das auch vorstellen? Alles ist von Membranen und einen flächenförmigen Kanalsystem umwickelt, so das eigentlich kein Licht rein oder raus kann. Und in dieser Dunkelheit entwickeln sich wichtige lebenserhaltende - das auszuführen führt jetzt zu weit, - Stoffe, die die Alltagsgifte unschädlich machen.

Wir verstanden zwar nicht alle Zusammenhänge, aber wir verstehen, dass die tierischen und pflanzlichen Zellen das überwiegend haben und brauchen. Der Mensch hat das nicht.

Hier liegt eine eigentliche Aufgabe der Göttlichen Zellforschung (kurz GZ), die wir an unserem Institut betreiben, wir versuchen die Mebranen auf menschliche Zellen zu übertragen. Das ist gegen die göttliche Ordnung und wir müssen diese Forschung natürlich vor Gott verbergen. Dazu haben wir uns verschiedenen Vorsichtsmaßnahmen ausgedacht. Zum einen tarnen wir unser Labor als Bärenhöhle. Das ist so naheliegend, dass die Späher, Engel und Erzengel in Gottes Namen, gar nicht darauf kommen könnnen.

Eine Bärenhöhle symbolisiert die Mebranschicht des Endoplasmatischen Retikulums (kurz ER) so stark, dass kein Licht von außen hereinkommt und unsere Gedanken kommen dabei umgekehrt auch nicht wirklich raus. Wie gesagt, vergleichen Sie unser System mit der Nacht. Natürlich benötigen wir dazu ein weiteres Täuschungsmanöver, denn die geistigen Kräfte der Schöpfung können sich natürlich über alle Grenzen hinwegsetzen und verfügen ja bekanntermaßen über telepathische Kräfte. Eigentlich können wir Menschen diesen geistigen Wesen gar nichts verheimlichen, aber das ist ja der Reiz der Aufgabe.

Wenn wir den göttlichen Plan ändern wollen, müssen wir zum einen Gott ablenken und seine Helfershelfer in die Irre führen. Wir haben eigens dazu

eine Sprache entwickelt, die sich sich zwar sehr dem eigentlich Kern des ER ähnelt, aber letztlich sich nur um den Kern eines Kaugummis dreht. Auch hier finden wir das ER, also vereinfacht ausgedrückt, das Kanal- und Membransystem. Allerdings hilft uns dabei die Entwicklung der glatten und rauhen Oberflächen der akuellen Kaugummis. Das System ist einfach. Während der Kaugummi sich durch Bewegung verdickt, hat unser neue Sprache eine Verdünnung eingeführt, die helfen soll, die Verdickungen der Gummiwände durch leichte Sprache zu durchbrechen. Das Tag-Nacht-Prinzip. Wir glauben stark daran, dass somit es unmöglich wird, unser Tun und unsere Gedanken selbst von geistigen Kräften der ersten Wahl zu erkennen.

Erschwerend kommt dazu, dass wir unsere Bärenhöhle in sogenannte „Goldbärchen-Höhlen“ unterteilt und eingebettet haben und damit den Austausch noch deutlicher undeutlich machen können.

Stellen sie sich also nocheinmal die tiefe Nacht vor. Die Dunkelheit wird wie durch einen Nebel wabbelig und zähflüssig. Ihre Gedanken (ein Synoym für zähflüssiges Ribosomen) dringen durch das Kanalsystem nicht nach Außen.

Dabei kommen sie am Zellkern vorbei und übertragen dessen Eigenschaften auf eine neue Art. Was letztlich dazuführen soll, dass der Einfluss Gottes sich auf das alte System beschränkt, weil er das neue nicht durchdringen kann. Denn das feingliedrige Mebransystem beherrschen wir inzwischen im Dunkeln und die Übertragung auf die menschliche Zelle steht kurz vor dem Durchbruch – damit ist die „Zelle der Weisheit“ und die „Unsterblichkeit (des Zellkerns)“ sehr nahe. Durch die asexuelle Zellteilung ist es uns gelungen, die Fortpflanzung bzw. die Vermehrung der Zellen derart zu aktivieren, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu kommen wird, dass wir in der Lage sind, dank der Übertragung von ER auf den Menschen, den Alterungsprozess zum

Stillstand zu bringen und die Anzahl der Menschen exakt zu planen. Wiederum stellen Sie sich die tiefdunkle Nacht vor und versuchen etwas zu sehen. Zwar werden Sie sich heute an die Dunkelheit gewöhnen, aber durch unsere Forschung wird die Nacht taghell werden. Diejenigen die behaupten,

dass dadurch der Tag sich verdunkeln wird, halten wir entgegen, das unsere Forschungen dafür noch keine Hinweise geliefert haben. Vielmehr glauben wir, dass das Institut Zeitforschung (kurz ZF) sich über die Umkehrung der Zeit irrt.

Wir möchten für die Weiterarbeit unserer Forschung am GZ weitere 23 Milliarden Euro für 2019 beantragen. Der Betrag setzt sich zu 90 Prozent aus Schutzmaßnahmen und zu 10 Prozent aus wissenschaftlichen Gerät aus. Die eigentliche Leistung unseres Institut erbringen wir rein aus der Überzeugung heraus, dass Gott ausgespielt hat, freiwillig.

Herzlich

Ihr Heiner Wankelmeier

PS: dieser Bericht zerstört sich durch Ihr Lesen von selbst. Fragen Sie nicht nach.

Luis, der Tausendfüssler

667. Das ist einfach ziemlich viel, aber noch bin ich nicht fertig, dachte der Tausendfüssler Luis. Ich werde es nicht schaffen und dann ist alles verloren. Ich bin wie ich bin, dachte Luis. Das ist gut und ich werde weitermachen. 669. Oh, sie ist so schön. Ihr Haar leuchtete im Sonnenlicht und er will sie küssen. Luis träumt schon so lange von ihr, er hat ein idealisiertes Bild und er wird davon nicht lassen. Sie hat so eine feine Nase. Sie hat so ein tiefes Gespür für Gerechtigkeit und für Freiheit. 671. Sie kann so schön laut lachen und damals als er ihr sehr nahe kam, beugte sie den Kopf so leicht weg. Luis konnte sie so nicht küssen, aber die Bewegung war voller Grazie. So leicht und zart. Da brauchte es keinen Kuss. 673. Aber wird sie mich auch ansehen, wenn ich mich vor sie knie und ihr meine Liebe schwöre, dachte Luis. Sie kann so lauschen und vergnügt schauen, wenn ich liebesäusle. 675. Sie hatte ihm ihre Hand gereicht und er durfte sie streicheln. Welch eine Wonne wogte durch sein Herz, wenn er zart ihre Finger entlangfuhr. Doch machte er weiter, zog sie ihre Hand zurück. 677. Luis dachte mit Freude an den letzen Spaziergang, den er mit ihr gemacht hatte. Es war kühl und nass gewesen. Sie plauderte ununterbrochen und lachte mit ihm am Waldesrand. Der Schirm war nur ein kleiner Schutz und die Nässe zog die Beine hoch. Doch in ihrer Nähe war das egal. Was ist schon Nässe bei Liebe. 679. Eigentlich, dachte Luis, bin ich ja schon geduldig. Aber das dauert jedesmal so lange. Ich werde auf sie warten und warten und warten. Aber dazu müßte er jetzt mal einen Zahn zulegen, sonst verpasste er sie noch. 681. Luis erinnerte sich an Heatcliff und Cathy, das verliebte Geschwisterpaar, das sich trennen musste und sie zu spät wiederkam. Heatcliff war schon fort und Cathy wollte zu ihm. Lass mich rein, mir ist so kalt. 683. Luis arbeitete weiter, immer zwei auf einmal. Ungeduldig zerrte er an den Schnüren und riss einen ab. Geduld ist nicht meine Stärke,

dachte er. Luis aber ist voller Zuversicht. Sie wird meine Frau werden. Davon bin ich überzeugt. Ich werde sie überzeugen. Aber dafür brauche ich Geduld. 685. Sie ist so romantisch mit ihren Fotos, die sie ihm schickt. Luis erinnerte sich gut an das Bild mit dem Fahrrad unter dem Baum am See. Das strotzt von Gemütlichkeit und Selbstsicherheit. 687. Luis träumt sein Leben mit ihr. Er ist voller Liebe und denkt: Liebe heißt doch Freiheit, Liebe kennt keinen Besitz. Liebe ist teilen. Da erinnert sich Luis an eine Zeile in einem ihrer Lieder. Warum willst du mir was schenken, wir teilen doch eh alles. 689. Wenn du mir deine Liebe schenkst, dann teile ich alles mit dir, dachte Luis. Verdammt noch 311 Senkel muss ich schnüren bis meine verdammten Schuhe sitzen. Warum bin ich kein Mensch mit zwei Beinen, dann wäre ich schneller bei ihr, dachte Luis und legte einen Zahn zu, denn er war um 20 Uhr mit ihr verabredet.

Wie im Apfelstrudel

Er ist mit dem Motorrad auf die Bieler Höhe gefahren. Die Serpentinen hoch, das machte ihm Spaß. Er konnte es sich leisten. Dann hat er sich auf den Felsen gesetzt, der ihm schon beim Hochfahren vor der letzten Schleife aufgefallen ist. Von dort hast du einen tollen Blick zurück ins Tal. Allein dafür hätte es sich gelohnt. Er wollte sich auch belohnen. Die Geschichte mit Luis hatte er klug eingefädelt und Luis hatte endlich ja gesagt. Luis war sein Freund, er war seit einiger Zeit in ihn verliebt gewesen und endlich hatte er zu seiner Beziehung ja gesagt. Er hatte sich gefreut, ja innerlich jubiliert und wollte sich belohnen. Mit dem neuen Motorrad auf die Bieler Höhe. Dort wollte er im Hotel sich verwöhnen lassen und morgen wieder züruck.

Doch zuerst setzte er sich auf de Felsen und genoß die Aussicht. Dann passierte das, was er sich nicht erklären konnte. Es fühlte sich so an, als ob er immer größer wurde und alles in sich aufnahm, alles sich mit ihm vereinigte. Alles wurde er. Das hatte auch so ein indischer Guru gesagt, der so ein Erleuchtungserlebnis hatte. Er aber war nicht erleuchtet. Das wußte er gewiss. Und doch war es so schwer zu erklären, was da oben sich auf dem Felsen mit ihm ereignete. Dass er sich ausdehnte, schob er erst auf das Koks, obwohl es schon eine Woche her war. Aber das er sich ausdehnte und selbst der See sich in ihn hinein goß, war unbestreibar. Es fühlte sich etwas kalt an, als das Wasser in ihn hineinfloss. Die Gesteinsbrocken der Staumauer passten auch in ihn hinein, auch wenn er dabei das Gefühl hatte, dass das mehr Trümmer waren als eine Mauer, als eine riesige Mauer. Er wuchs nicht. Nein, er dehnte sich aus und die Bergwiesen mit den Felsen gingen in ihm auf, die Straße führte erst von außen um ihn herum und plötzlich war sie in ihm. Selbst die drei Autos waren in ihm. Sie kitzelten ihn. Was wohl in diesem Augenblick die Fahrer dachten. Es war ihm nicht klar geworden, ob

sie lebten oder starben. Doch sie waren eindeutig in ihm. Er bekam plötzlich etwas Angst. Was passiert wenn der Himmel in ihm ist: Das wollte er sich gar nicht vorstellen. Womit er sich auch immer wieder ablenken wollte, es blieb dabei. Ein eindeutiges Gefühl der Ausdehnung und der Einverleibung seiner Umgebung. Ob der indische Guru das auch so beschrieben hätte. Sollte er meditieren, hilft das? Wobei? Er spürte plötzlich, wie das Hotel sich in ihn hinein begab. Nicht stürzte, es war eher so als ob er sich über das Hotel stülpte. Wo hatte er das von der Umstülpung schon mal gelesen? Das Hotel war nun in ihm und er wollte sich wundern. Dass er in die Küche ging. Niemand war dort. Es war anders als bei den Autofahren, die ja in ihm fuhren. In der Küche aber war niemand. Es gab auch kein Geschäft. War er außerhalb der Saison los gefahren? Deshalb war niemand hier. Er spürte auf einmal ein doppeltes Ausdehnen. Obwohl die Küche inzwischen in ihm war, ging er selber durch die Küche. War er schizo geworden. Und überhaupt, wo war eigentlich sein Motorrad? Er ging weiter durch die Küche und spürte wie auch hier die Gegenstände sich in ihn stürzten. Er verleibte alles ein, immer weiter dehnte er sich aus und wurde eins mit dem Apfelstrudel, der auf dem Tisch in der Hotelküche stand. Er verband sich auf eine eigenartige Weise mit den Apfelstücken, gewürzt mit Zimt und Zucker. Die Nüsse und Mandeln kratzten an seiner Haut. Wo war denn seine Haut? War er ein doppeltes Lieschen, im erleuchteten Sinne. Er stieg über die Apfelstücke und die Nussstücke immer tiefer in den Apfelstrudel hinein und fühlte sich vom Blätterteig umhüllt. Es war ihm urplötzlich klar, dass der bisherige Vorgang sich umdrehte. Nicht mehr er umfing alles, sondern der Apfelstrudel umfing alles. Der Blätterteig schien wie ein dichter Nebel um ihn herum sich zu verdichten und immer weiter zu werden. Der Nebel war in ihn und um ihn und um ihn herum. Nach einer langen Zeit wachte er auf und lag gemütlich auf dem weichen Grasflecken neben dem Felsen, auf den er sich anfangs gesetzt hatte. Er dachte, was für ein Traum. Das einzige was ihn nachhaltig irritierte war, dass sein Motorrad nicht mehr da war.

Es war still. Sie schlief in ihrer Koje. Aber es war zu still. Sie spürte die drohende Gefahr in ihrem Körper. Das hatte sie schon lange. Immer wenn es brenzlig wurde, dann hatte sie diese Vorahnung. Auch wenn sie schlief. Ihr Körper war hellwach. Sie bemerke, was sie störte. Ihr Körper wurde hochgehoben und in Wellen wieder runtergelassen. Hoch, höher, höher und wieder runter. Die Wellenberge wuchsen mit jeder Sekunde. Es war immer noch stockfinster und still. Sie wachte auf und begann sich Sorgen zu machen. Hab ich alles fest? Hab ich den Balken fixiert? Sind alle Luken dicht? Ist alles verräumt und gesichert? Die Fragen stellte sie sich rhetorisch. Sie wußte, dass alles in Ordnung war. Naja, bis auf den Sturm, der gleich losbrechen würde und dass sie sich mitten auf dem Atlantik befand. Ganz allein und in einem Segelbot, das ziemlich klein rauskam, wenn man sich den Atlantik vorstellte. Seit zwei Wochen ist sie unterwegs. Und es passierte bis dato gar nichts. Sie nutzte die Zeit um einen meditativen Bericht über ihre Seele zu schreiben. Doch jetzt war es erstmal aus damit. Das Boot schlingerte gewaltig und sie hatte Mühe sich in ihrer Koje zu halten.

Ein Sturm auf dem Atlantik ist nicht außergewöhnlich, aber ihn auszuhalten ist schon was für Mutige. Sie war sich ihrer Aufgaben bewußt und das half immer gegen die Panik. Jetzt fing der Wind an am Boot zu zerren. Das ruhige Auf und ab war vorbei und das Boot schlingerte gewaltig. Wasser fegte über das Deck. Alles war sicher und dicht. Sie gab sich dem Versuch des bewußten Atmens hin. Damit verging die Zeit und die Gedanken blieben im Maße. Sie ist sicher und Panik ist des Teufels.

Die Stunden vergingen und dann bemerkte sie die Veränderung. Das Schlingern hatte aufgehört und das Auf und Ab wurde weniger. Der Wind riss nicht mehr und sie wagte einen Blick nach draußen. Natürlich sah sie nichts.

Schokolade

Es war immer noch dunkel und ansonsten nur Wasser. Es war fast vorbei und soweit sie es überblickte war nichts geschehen. Alles war wie vorher. Sie ortete sich sogar gar nicht weit von ihrem Kurs und war ihrem Ziel nähergekommen. Besser kanns gar nicht laufen. Draußen wurde es hell und ihre Stimmung hellte sich wieder auf. Sie wollte nach Hause. Im Tagebuch ihrer Seele kam sie auf Jan zu schreiben, wegen dem sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Er sprach vom Klimawandel und davon Zeichen zu setzen für eine bessere Welt. Da war es doch sonnenklar, dass sie sich auf diesen Segeltör mit Schokolade - CO2 freier Schokolade - eingelassen hatte. Doch die Einsamkeit auf dem Atlantik hatte sie von Jan entfernt und sich nähergebracht. Sie würde Schluß machen.

Vom Gang in den Himmel

Ich heiße Fritz, bin 64 Jahre alt, verheiratet und erzähle euch eine Geschichte, die ich meiner Frau so nicht erzählen werde, wie ich sie euch erzähle. Es war in jenem Sommer, der sich in die Erinnerung der Menschen durch Hitzerekorde und lange Trockenzeit im wahrsten Sinne des Wortes einbrannte. Die Folgen der Hitze, nämlich aufkommende Gewitter sorgten auch dafür, dass wir eine Stunde früher aufbrachen. Nämlich schon am frühen Morgen, die Gewitter waren für den Nachmittag angekündigt.

Der Parkplatz des Bergdorfes war noch leer als wir die Wanderstiefel schnürten und losgingen. Die Bergtour war als gemeinsames Ritual zur Feier unseres Freundes Niels gedacht. Wie jedes Jahr ging es zweitägig in die Berge auf eine Alpenvereinshütte, wo wir Niels` Jubiläum feierten.

Jeder Beteiligte konnte hinkommen, wie er oder sie wollte. Der Auf- und Abstieg war frei wählbar und individuell gestaltbar. Wie nicht anders zu erwarten startete die Gruppe jedoch gemeinsam von diesem leeren Parkplatz. Der nächste Tag war jedoch für mindesten zwei getrennte Touren geplant. Wir fingen zügig an und stiegen gleich in den kleinen Steig ein, der am Wasserlauf, an zahlreichen Wasserfällen vorbei uns in die Höhe brachte. Das Wasser rauschte und der Weg nahm durch das achtsame Gehen und Atmen die innere Unruhe auf und wir entspannten uns und gaben uns der Natur hin. Aber die Wettervorhersage hatte sich wiedermal geirrt.

Kaum waren die zwölf tapferen Männer und Frauen durch den lichter werdenden Wald gestartet, da zogen auch schon dichte Wolken auf, aus denen alsbald auch die ersten Tropen fielen. Dann war die Tour, eingepackt in Regenjacken und Ponchos, bald ein nasses Vergnügen. Die Köpfe gesenkt, die Blicke auf den Weg vor sich gerichtet, stiegen wir in immer stärker

werdenden Regen hinauf. Es sollte ein langer Weg werden. Vier Stunden waren eingeplant, die ich

als letzter auch voll ausnutzen musste. Ich schwitzte wie im Hochsommer, aber nicht vor Hitze, sondern vor Anstrengung. Der Regen sorgte dafür, dass ich bald von innen und außen klatschnass wurde. Doch das Gewitter blieb harmlos beim Regen.

Schon bald ließ der Regen nach und die Sonne schaute hervor. Als ich dann als letzter auf der Hütte ankam, war es wieder heiß wie immer. Die Kleider und Schuhe trockneten schon beim ersten Glas Wasser. Meine Bergkameraden hatten schon gegessen und getrunken, doch ich war glücklich, auch weil Britta den Aufstieg über an meiner Seite blieb.

Britta war der eigentliche Grund warum ich unbedingt bei der Bergtour dabei sein wollte. Sie wohnt in meiner Nähe und ich sehe sie mehrmals die Woche, was mir aber nicht wirklich reichte. So war die Tour eine weitere Gelegenheit in ihrer Nähe zu sein. Dass sie mich beim Aufstieg nicht allein lies und meine Pausen mitmachte, machten mich frohen Mutes für das Kommende.

Der Hüttennachmittag und der -abend waren ein Beispiel von gelungener Kameradschaft. Wir tranken und aßen, erzählten Geschichten und kamen uns beim gemeinsamen Spiel näher. Wir lernten andere BergwanderInnen kennen und freuten uns über die Natur, die Berggewalten und über die Sicherheiten der Hütte.

Die Nacht verbrachte ich zwischen Niels und Britta im Matratzenlager. Ich durfte neben ihr liegen, das war ein neues Stück Weg auf unserer Gemeinsamkeit. Ich wagte mich kaum zu rühren und lag mit achtsamem Atem neben Britta und schlief bald glückselig ein.

Bald nach dem Frühstück ging es weiter. Wir wollten über das Gralsgang in den Breiten Himmel.

Nun muss ich es verraten. Ich habe Angst in den Bergen und dort den Göttern nahe zu kommen. Meine innere Bescheidenheit zeigt sich aber dann bald brutal in Angst in den großen Höhen, wo das Gras zurückblieb und der nackte

Fels, Steine und Geröll die Gestaltung übernahmen. Ein Schwindel erfasst mich und ich beginne zu fliegen. Unweigerlich zieht es mich dann folgerichtig

in die Tiefe.

Mein besorgtes Nachfragen nach dem kommenden Weg übergingen aber die Kameraden. Sie waren jede Woche in den Bergen und hatte keine Sorgen. Der nackte Fels vor dem Joch könnte ja auch eine Täuschung sein. Immerhin ist es ja ein gekennzeichneter Weg. Ich fasste meinen Mut zusammen und sagte mir, schau mal was da kommen wird. Und es kam heftig.

In meiner Erinnerung waren es fünfzig Meter hochalpiner Klettersteig. Astrid meinte, es sind ja nur fünf Meter. Doch für mich zu viel. Genau fünf Meter zuviel.

Da geschah etwas für mich außergewöhnliches. Astrid streckte ihre Hand aus und sagte „Ich führe dich nach Oben.“ Die Hilfe von Brittas Schwester nahm ich dankbar an – und sie führte mich an ihrer Hand nach oben. Aber kaum sah ich auf die andere Seite des Jochs, da nahm es mir den Atem. Steil zog sich der kleine Pfad in die Tiefe. Ich setzte mich und war sprachlos. Ich hatte einen sanften, steilen Grashang mit einem Weg quer erwartet, doch nicht diesen höllischen Abstieg in den Himmel.

Wir waren auf dem Joch noch zu sechst. Die anderen hatten einen Steig gewählt, den ich nie und nimmer mitgegangen wäre, doch auch jetzt sagte mir mein Gefühl, dass hier mein Weg zu Ende sei. Weiter kam ich nicht und zurück ging nicht.

Da kam Britta, setzte sich vor mich und sagte: Willst du deine Angst loswerden, dann mach alles, was ich dir vormache und sprich mir nach. Egal was für einen Scheiß ich mache, du machst es auch. Vertrau mir. Ich versuche deine Ängste zu lösen, damit wir alle den Berg hinunterkommen. Ich verstand immerhin, dass es meine Angst nehmen sollte und ich vertraute mich der Reise mit Britta an. Sie klopfte sich auf den Kopf und sagte: Ich liebe und akzeptiere mich mit all meiner Angst, so wie ich bin. Dann überm Auge und neben dem Auge und unter dem Auge und unter die Nase und noch auf viele andere Punkte meiner Energiefelder. Emotional Freedom Technik, das habe

ich dann später erfahren, heißt diese Methode.

Ich heulte los, so wie in meiner Kindheit, ich heulte und meine Angst ergoss sich aus mir heraus auf diesem schmalen Joch, wo fünf Menschen bei mir waren und ausharrten, der Dinge, die da kommen sollten. Doch meine sich heftig ergießende Angst wollte nicht geringer werden. Sie fühlte sich so groß und kräftig an. Sie nahm mir den Atem – und sie zeigte mir den Weg, den ich gehen konnte. Zurück, an der Hand von Astrid.

Ich blickte in die Augen von Britta, spürte unsere Verbundenheit, meine Hingabe an sie und mein Vertrauen in sie. Ich wünschte mir ich könnte fliegen.

Die brennende Sonne, die schwindelerregende Höhe, die Bergkameraden, die tiefe Verbundenheit, der erlösende Angstausbruch. Ich befand mich an der Grenze der Welt.

In mir brachte diese Erfahrung vieles in Bewegung. Ich spüre Dankbarkeit und Vertrauen. Und ahnte die Abgründe in mir. Die, die ich nicht sehen und gehen will. Dass ich auch dabei Hilfe brauche und das Vertrauen in einen Helfer auf dem Weg ins Innere des Himmels und der Hölle des menschlichen Seins, des Mein-Seins.

Jetzt heulte ich vor Dankbarkeit und Astrid nahm mich bei der Hand und wir stiegen den Felsen runter.

Auf der Hütte gab es Wasser, Radler, Essen und die Verbundenheit mit meinen Bergkameraden, die den Weg zurück klaglos und fraglos mitgingen. In den Bergen lässt man niemanden zurück und wir bleiben immer zusammen. Naja, nach einer längeren Pause trennten wir uns doch. Niels und Astrid blieben auf der Hütte. Britta, Diego und ich machten uns auf den Weg zurück ins Tal.

Wenn ihr denkt, das wars schon, dann irrt ihr euch aber mächtig, denn hier unterschätzte ich die eintausend Höhenmeter gewaltig. Statt knapp zwei Stunden brauchte ich vier. Britta und Diego bleiben an meiner Seite und machten sich erneut große Sorgen um mich. Ich bekam Betonbeine. Die Schönheit des Tales, des Waldes, der Bergblumen, die Frische des Schattens

und die Leichtigkeit der Ebene verloren sich in Betonbeinen. Der Weg zog sich hin, die Abschnitte des Gehens wurden kürzer, die Pausen immer länger und das Ziel wollte nicht näher kommen. Da ergab sich ein zweites Wunder. Elias, ein junger Bergwanderer, lief den Berg hinunter, sah mein Elend und fühlte mit mir und fand die Lösung. Er lief weiter ins Tal und kam mit seiner Freundin und ihrer Mutter und einem Auto uns abholen. Elias lief nochmal ins Tal, um uns allen Platz im Auto zu machen. Und Christine, seine womöglich zukünftige Schwiegermutter fuhr uns alle ins Tal zu unserem Auto. Fraglos, selbstverständlich und mit Freude. Eine neue Welle der Dankbarkeit überkam mich und ich wusste, die Welt ist gut.

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