Rückblick 6. Nordwalder Biografietage

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6. Nordwalder

Do. 19.09.2013 bis So. 22.09.2013

R端ckblick

E X I L


Impressum Redaktion Dr. Robert Kloppenborg Matthias Grenda

Layout Bernd Laukötter

Fotografie & Bilder Edition Memoria Seiten: 5, 9, 11, 12, 17, 18, 22, 25, 29, 35, 37, 38 Steven Haberland Seiten: 3, 4, 10 Bernd Laukötter Seiten: 13 & 28 Gerd Kaemper Seite 19 Erika Schmid Seite16 Alexander Paul Englert Seite 30 Sebastian Bolesch Seite 21

Herausgeber: Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V. Kohkamp 1 48356 Nordwalde


Inhaltsübersicht Nordwalder Biografietage Biografieforschung Biografie & Film Zeuge der Wahrheit Schildkrötenwut Woodstock in Timbuktu Eröffnung 6. Nordwalder Biografietage Verleihung 6. Deutscher Biographiepreis 2013 Eröffnungsrede Marias langer Weg vom Kokeltal ins Loisachtal Vorabend Chansons gegen das Vergessen Auch darüber wird Gras wachsen Apostel der Erinnerung Exil in der Antike Landgericht Rose Ausländer Presseübersicht Förderer & Sponsoren


Nordwalder Biografietage „Nicht nur alles Denken und Schreiben sind biografisch, sondern auch alles Handeln. Kein Leben gleicht einem anderen. Häufig finden wir im Alltäglichen die größte Außergewöhnlichkeit und vor allem immer wieder Menschliches!“ Selbstverständnis der Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V.

Nordwalder Biografietage

Der biografische Ansatz „Biografische Kommunikation ist die Anleitung zum Austausch von Lebenserfahrungen, Sehnsüchten und Ängsten, um sich und andere besser verstehen zu können. Dies soll dem Einzelnen den Zugang und die Teilhabe an der Gesellschaft in allen Lebensphasen erleichtern. Richtig vermittelt, verstanden und angewendet schafft biografische Kommunikation Verständnis, Erkenntnis und Identität ohne Vorurteile gegenüber anderen Kulturgruppen.“ Grundsatz der Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V.

Mit dem biografischen Ansatz als Leitmotiv initiierte und etablierte die Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V. in Nordwalde 2008 die Veranstaltungsreihe „Nordwalder Biografietage“, auf der Lebensgeschichten in Form von Lesungen, Vorträgen, Gesprächen, Foto- und Kunstausstellungen, Musik-, Film- und Theatervorführung präsentiert werden . Der Verein schaffte damit ein kulturelles Leuchtturmprojekt, welches Identität und Identifikation bildet, einen wichtigen Beitrag zur Bildung liefert, den Tourismus in der Region fördert und vor allem eines der wichtigsten Themen der Menschheit bearbeitet: „Wie gehe ich mit der Endlichkeit des Lebens um?“ Die Nordwalder Biografietage werden jährlich zu wechselnden Themen durchgeführt. Sie haben sich innerhalb von wenigen Jahren mit dem Mix aus prominenten und "alltäglichen" Biografien zu einem erfolgreichen Veranstaltungsformat mit jährlich mehreren hundert Besuchern und deutschlandweiter Medienresonanz entwickelt. Diverse Biografien von „alltäglichen“ Menschen mit außergewöhnlichen Erlebnissen schafften es so zu einem größeren Publikum. Mittlerweile kooperieren auch diverse namhafte Verlage mit der Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V. Gemeinsam mit der Bürgerstiftung Bispinghof und der Gemeinde Nordwalde möchte der Verein aus Nordwalde das Biografiedorf Deutschlands werden lassen.


Biografieforschung Menschliches Leben beschreitet einen Weg. Von Anfang an speichern wir Erfahrungen, Eindrücke, Emotionen und kreieren somit Erinnerungen. Eine „Biografie“ baut sich auf. Was aber bedeutet das für die Menschen, da sie überall und tagtäglich aufeinandertreffen, miteinander umgehen?

Biografieforschung nimmt den Menschen, sein inneres ebenso wie sein äußeres Erscheinungsbild, verstanden als Kommunikationsfaktor in Beziehung zu seinem Umfeld, in den Fokus. Ziel ist es, zu erforschen, wie biografische Elemente auf das Zusammenleben, das Zusammenwirken, das „Miteinander Auskommen“ einwirken; besonderes Augenmerk wird dabei auf die mögliche Verzerrung von Interaktion durch gegenseitige Fehleinschätzung gelegt, die Kommunikation beeinträchtigt. Das Ergebnis solcher Forschung ist ganz auf die Praxis ausgerichtet: Mit mehr Verständnis für sich selbst und den Anderen ausgestattet, können beide Seiten das Miteinander effizienter gestalten, Kommunikation optimieren. Beide (oder mehrere Seiten) anzuhören, ist daher Prinzip. Welche Bedeutung derartige Analysen für die Gesellschaft haben können, zeigen die Betätigungsfelder von „dialogBiografie“. Scheinbar disparate Gesellschaftseinheiten wie Jung und Alt, Mann und Frau, Stadt und Land, Lehrer und Schüler oder auch Belegschaft und Chefetage können aus ggf. erstarrten Konfrontationssituationen gelöst und auf eine neue, funktionalere Ebene gehoben werden. Dieses Analyseangebot ist auf nahezu alle denkbaren sozialen Konfigurationen anwendbar. Selbst hochdiffizile Probleme wie ethnische Konflikte können so über Dialogangebote einer Lösung zugeführt werden. Nicht die Struktur, also ein Gebäude, eine Landschaft, ein spezieller Ort oder eine bestimmte Zeit stehen dabei im Vordergrund, sondern der Mensch und seine ganz persönliche Geschichte. Das Verständnis für die Lebensgeschichte der Anderen ist ein wichtiger Schritt für das Zusammenleben innerhalb einer Kulturgruppe, aber auch mit anderen Kulturgruppen.

Menschliche Interaktion erfordert demnach die Beachtung der Makro- wie der Mikrosphäre, des Individuums und der Vergesellschaftung. Biografische Faktoren kommen als Konditionierung im Alltagsleben zur Austragung; wie sich Menschen gruppieren, hängt wesentlich von ihrer inneren, psychosozialen Prägung ab. Das Konzept von „dialogBiografie“ sieht daher eine interdisziplinäre Vernetzung von Soziologie und Psychologie in der Hauptsache, aber auch die Konsultation anderer Fachgebiete vor. Ziel ist eine Optimierung menschlicher Beziehungen durch besseres gegenseitiges Ve r s t ä n d n i s , u m d a s Wohlbefinden in der Kommunikation, Persönlichkeitsstabilität und Kommunikationsbereitschaft zu steigern, um letztendlich auch Produktivität, Kreativität, Funktionalität und Effizienz zu erhöhen.


Donnerstag 19.09.2013

6. Nordwalder

Biografie & Film Eine neue Kooperation

Als fester Bestandteil der münsterschen Kulturlandschaft ist das CINEMA vom ursprünglichen Anspruch her ein Programm-kino. Die Programmkinos CINEMA und KURBELKISTE existieren seit mehr als 35 Jahre in Münster, davon mehr als 20 Jahre an der Warendorfer Straße. Sie haben sich im Lauf der Zeit als feste Einrichtung im kulturellen Angebot der Stadt Münster etabliert — als "Spielstelle für den gesellschaftlich, politisch, künstlerisch und historisch relevanten Film". Das CINEMA verfügt über drei Kinosäle: das CINEMA 1, CINEMA 2 und die KURBELKISTE.

Dieses Jahr starteten die 6. Nordwalder Biografietage bereits am Donnerstagabend mit dem vorgelagerten Programmpunkt „Biografie & Film“ im Programmkino Cinema & Kurbelkiste in Münster. Matthias Grenda, dem Gründer und 1. Vorsitzenden der Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V., schwebte eigentlich schon seit 2008, also bei der Einführung der Nordwalder Biografietage, eine eigene biografische Filmreihe vor. Leider gibt es in Nordwalde kein Kino und so blieb es bisher immer beim Abschlussfilm zum jährlichen Leitthema über Beamer und Leinwand. Da aber bei der Planung des diesjährigen Themas klar war, dass der biografische Ansatz weiter in der Region verankert werden sollte und der Verein daher Kooperationen mit anderen Einrichtungen und Organisationen außerhalb von Nordwalde eingehen wollte, wurde kurzerhand das bundesweit bekannte Kino Cinema & Kurbelkiste mit dem angeschlossenen Verein Die Linse in Münster angesprochen. Die Verantwortlichen dort waren sofort begeistert. So entstand ein Filmeabend zum Thema „Exil“, der über drei ganz unterschiedliche Dokumentarfilme Anlässe und Auswirkungen von Exil in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spiegelte. Jeder Film wurde persönlich von den Filmschaffenden vorgestellt und verdeutlichte in den Gesprächen mit dem Publikum auf ganz besondere Weise die biografischen Konsequenzen der Porträtierten, aber auch der Zuschauer.


Biografie & Film Fred Spiegel Zeuge der Wahrheit Gast: Regisseur Adnan G. Köse

Das Porträt FRED SPIEGEL – WITNESS OF TRUTH vom deutsch-türkischen Autor und Regisseur Adnan G. Köse präsentierte einen Überlebenden des Holocaust und Zeugen der Shoah Foundation, der sich dem Vergessen aktiv widersetzt. Fred Spiegel wurde in Dinslaken geboren, überlebte die Konzentrationslager Bergen-Belsen und Westerbork und ging nach seiner Befreiung in die USA ins Exil.

„Zu verzeihen, aber niemals zu vergessen!“ 2012 kehrt er zurück, begleitet von der Kamera, um vor Schülern in seiner Heimatstadt zu sprechen, so wie er es bereits hunderte Male in seiner neuen Heimat New Jersey getan hatte. Eindrucksvoll und mahnend vermischen sich Bilder des Holocaust mit der Biografie von Fred Spiegel, beklemmend wirkt die im Film vorgetragene Korrespondenz während der KZ Zeit zwischen ihm und seiner Mutter auf Postkarten. 25 Worte waren erlaubt, alle paar Monate. „Geschichtsbewältigung statt Verdrängung. Das ist das, was ich überall in der Welt zu lehren versuche. Zu verzeihen, aber niemals zu vergessen.“ So das Credo des heute 82 jährigen. Eine Besonderheit des Films ist, dass er komplett durch den Lions Club Dinslaken finanziert wurde und wie dessen Vertreter Albert Wösthoff dem Publikum erklärte, dadurch vielen Mitgliedern neue Perspektiven eröffnete.

Donnerstag 19.09.2013


Donnerstag 19.09.2013

Biografie & Film Schildkrötenwut

Gäste: Pary und Musa El-Qalqili

Der zweite Film des Abends hieß SCHILDKRÖTENWUT und wurde von der deutsch-palästinensischen Regisseurin Pary El-Qalqili präsentiert, die ihren Vater Musa El-Qalqili mitbrachte, von dem der Film handelte. Eine vom israelischpalästinensischen Konflikt zerrissene Biografie und die Suche einer Tochter nach Antworten. Musa lebt schon lange im Exil in Deutschland. Pary wurde in Berlin geboren und studierte Film in München. Er ist der Wüstensohn, sie die Tochter. Musa zog es immer wieder ins Land seiner Vorfahren zurückzog, er, der nicht mit seinem Leben in Deutschland klar kam, aber auch nicht mit dem in seiner Heimat und der immer wieder enttäuscht, oft nach Gefängnisaufenthalten und Ausweisungen, wieder bei seiner Familie in Deutschland unterkriechen musste. Pary hielt irgendwann sein Schweigen und damit seine Schildkrötenwut nicht mehr aus. Eine gemeinsame Reise führt Vater und Tochter durch Ägypten, Palästina und Jordanien. Eine biografische Spurensuche mit vielen Zwischentönen, die eine Einordnung in Opfer und Täter, Gut und Böse, Schwarz und Weiß unmöglich macht und gerade deshalb ein Glanzstück biografischer und familiärer Kommunikation ist. Ein Dialog über Ängste, Sehnsüchte und Erwartungen an das Leben. Musa El-Qalqili war sehr beeindruckt vom Gespräch und Interesse des Publikums an seinem Lebensweg. Pary ElQalqili arbeitet nun an einem Drehbuch für ihren ersten Spielfilm, der diese neuen biografischen Erfahrungen fortführt.


Biografie & Film

Donnerstag 19.09.2013

Woodstock in Timbuktu

Gast: Désirée von Trotha

Die dritte Dokumentation des Abends war WOOSTOCK IN TIMBUKTU – DIE KUNST DES WIDERSTANDS von der deutschen Regisseurin Désirée von Trotha und präsentierte die Biografie eines Volkes, das zu verschwinden droht. Im Januar 2011 fand das elfte internationale Festival au Désert in den Dünen vor Timbuktu (Mali) statt. Dazu eingeladen haben Tuareg oder besser gesagt Kel Tamaschek, wie sich die Sahara-Nomaden selbst nennen. Drei Tage und Nächte bietet dieses Festival eine ideale Plattform für die Begegnung mit diesem legendären Wüstenvolk, das sich nicht erst in Zeiten der Globalisierung zum Widerstand aufgerufen fühlt. Désirée von Trotha lebt und arbeitet seit 20 Jahren jedes Jahr sechs Monat bei und mit den Kel Tamaschek, schreibt Berichte für internationale Organisationen, fotografiert und dokumentiert den Kampf einer Jahrhunderte währenden Kultur ums Überleben. „Gratulation an Bombino aus dem Niger! Er hat sich der Kalaschnikow verweigert und stattdessen zur Gitarre gegriffen!“ Mit diesen Worten beginnt der Film nach einem Bühnenauftritt auf dem Festival. Désirée von Trotha gelingt mit ihrem Film nicht nur ein faszinierender Einblick in eine fremdartige und komplexe Kultur, die Filmemacherin schafft es auch buchstäblich, den Horizont des Zuschauers zu erweitern. Und dass ohne die üblichen Klischees einer „weißen Massai“, also eines ethnischen Groupies, wie sie im Gespräch mit den Besuchern anschließend demonstrativ feststellt. „ Einen Mann, der dort lebt und arbeitet würde man so etwas nie fragen!“ Die angeregte Gesprächsrunde nach dem Film verdeutlichte die Faszination der Zuschauer für eine Welt, die unterschiedlicher nicht sein kann, aber auch viele emotionale Parallelen zu unserem Leben aufzeigt.

Der Applaus der weit über 100 Besucher des „Biografie & Filmabends“ überzeugte auch die Macher vom Cinema & Kurbelkiste und der Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V. Ein Anfang ist getan, die biografische Filmreihe wird bei den nächsten Nordwalder Biografietagen fortgesetzt, und wer weiß, vielleicht entwickelt sich daraus ja auch ein eigenes Biografie Film Festival, was ein weiteres bundesweites Alleinstellungsmerkmal hätte und den biografischen Ansatz noch mehr in der Region verorten würde.


Freitag 20.09.2013

6. Nordwalder

Eröffnung & Verleihung 6. Deutscher Biographiepreis 2013 14:00 Uhr - Rathaus Nordwalde

Preisträger des 6. Deutsches Biographiepreises 2013 Verlagsbiographie: „Inszeniertes Leben“ Franziska Rogger & Madeleine Herren Privatbiographie: „Mehr geht nicht!“ Dagmar Wagner

Laudatoren: Dr. Andreas Mäckler Stefan Schwidder

Der deutsche Biographiepreis wird vom Biographiezentrum / Förderverein für biographische Arbeit e.V. vergeben.

Die feierliche Eröffnung der 6. Nordwalder Biografietage um 14 Uhr im Rathaus ließ keinen Zweifel daran, welche Bedeutung die Veranstaltung mittlerweile für die Region hat. Vertreter der Kommunalpolitik, Sponsoren und Ehrengäste, Vertreter vernetzter Kulturvereine stellten sich ein. Nach den Grußworten des stellvertretenden Landrates, des stellv. Bürgermeisters von Nordwalde und der Vorsitzenden angeschlossener Kulturvereine ergriff M. Grenda das Wort, würdigte die zahlreichen Persönlichkeiten, die sich um die Biografietage verdient gemacht haben. Er ließ es sich nicht nehmen, die aktuelle Situation mit den Anfängen des Formates zu vergleichen und verwies auf die Probleme, die man in jenen Tagen gehabt hatte. Nach der Vorstellung seines Teams und der Bewillkommnung aller Gäste ging man zur feierlichen Verleihung des 6. Biografiepreises über. Preisträgerinnen sind in diesem Jahr Dr. Franziska Rogger und Dagmar Wagner. Aus den Laudationes ging hervor, welche herausragenden Leistungen in Recherche und Umsetzung der Biografien beide erbracht haben. Sie stellten ihre Werke vor. Das Leben eines Menschen lückenlos nachzuerzählen, so ließen beide durchblicken, sei unmöglich, man könne nur Schlaglichter darauf werfen. Besonders Frau Dr. Rogger, von Hause aus Historikerin, hatte dabei das Schmunzeln der Anwesenden auf ihrer Seite, denn ihre Biografie zeichnet das Leben eines Hochstaplers nach, der, im Grunde ohne jede geeignete Qualifikation, in höchste akademische und gesellschaftliche Kreise aufgestiegen war und sich den Nimbus einer Koryphäe zugelegt hatte. Am Ende der Preisverleihung eröffnete M. Grenda offiziell die 6. Nordwalder Biografietage und lud die Gäste zu einem kleinen Umtrunk ein, der für rege Gespräche genutzt wurde. Man begab sich darauf geschlossen zum Speicher auf dem Bispinghof, wo die erste Lesung stattfinden würde.


6. Nordwalder

Freitag 20.09.2013

Eröffnungsrede

Matthias Grenda

Sehr geehrte Damen und Herren, ich kann es kaum glauben, schon wieder ist ein Jahr vergangen. Feierten wir letztes Jahr noch unser erstes kleines Jubiläum, sind es 2013 schon die 6. Nordwalder Biografietage, die ich heute eröffnen darf. Das bedeutet aber auch, dass ich selbst schon seit über 7 Jahren in Nordwalde bin, einem Ort, den ich mir nicht unbedingt freiwillig ausgesucht habe, den ich bis zu meinem Hinzuziehen noch nicht einmal gekannt habe und der es, wie man letzten Dienstag in den Westfälischen Nachrichten ausführlich lesen konnte, auch nicht immer leicht gemacht hat. Und, ganz wichtig, damit werde ich mich zum letzten Mal zu der in der Zeitung erwähnten Auseinandersetzung öffentlich äußern! Diese Gedanken begleiteten mich aber, als es um die Wahl des diesjährigen Themas für die Nordwalder Biografietage ging - Exil. Oh ha, haben einige gesagt, schon wieder so ein schweres Thema, nach „Tod – Teil des Lebens“ vom letzten Jahr. Tja, dazu muss man vielleicht meine Arbeitsweise verstehen, wie Themen oder besser Lebensgeschichten zu mir kommen. Ich lese etwas über Menschen und deren Biografien im Internet, in Zeitungen und Zeitschriften oder in Büchern, was mich anspricht, oder unterhalte mich mit Menschen aus meinem Umfeld, reflektiere das Gesagte mit meiner eigenen Lebenserfahrung, führe also einen inneren Dialog, und wenn es mich dann berührt und bewegt, eine Relevanz auch in meinem Leben hat, kommt es in die engere Auswahl. Wichtig dabei sind vor allem die Brüche in einer, auch meiner Biografie, denn diese schaffen erst eine Persönlichkeit, entwickeln einen Charakter und geben uns die Chance, Bedeutung für unser Leben zu finden. Eine zentrale Lebenssehnsucht! Besonders wichtig ist dann der Austausch mit anderen Menschen darüber, also der äußere Dialog, was mich kurz zu unserer Definition von biografischer Kommunikation bringt:


„Biografische Kommunikation ist die Anleitung zum Austausch von Lebenserfahrungen, Sehnsüchten und Ängsten, um sich und andere besser verstehen zu können. Dies soll dem Einzelnen den Zugang und die Teilhabe an der Gesellschaft in allen Lebensphasen erleichtern. Richtig vermittelt, verstanden und angewendet schafft biografische Kommunikation Verständnis, Erkenntnis und Identität ohne Vorurteile gegenüber anderen Kulturgruppen.“ Kommunikation ist übrigens in meinen Augen ein Grundrecht, aber leider auch eine Königsdisziplin. Sie muss vermittelt, gelernt und gelebt werden, um für den Einzelnen aber auch die Gesellschaft ihre volle Kraft zu entwickeln. Leider ist das nicht unbedingt gelebte Realität in der modernen Familie, an der Schule, in der Ausbildung oder im Beruf. Das ist, als Vergleich, wie bei tollem elektrischem Spielzeug, werden die Batterien oder die Software nicht mitgeliefert, liegt es schnell ungenutzt in der Ecke. Dieses Jahr wollen wir den inneren und äußeren Dialog also zum Thema „Exil“ führen. Übrigens, Entwarnung für die 7. Nordwalder Biografietage, das Thema wird in gewisser Weise leichter, positiver. 2014 wird die Liebe im Mittelpunkt stehen, auch ein zentrales Thema einer jeden Biografie. Sie dürfen sich freuen. Obwohl, wenn ich jetzt so drüber nachdenke, vielleicht sollte ich auch einen Scheidungsanwalt einladen und ihn nach seinen Lebenserfahrungen bezüglich der Liebe fragen… Jetzt aber zum diesjährigen Thema Exil. Der Schweizer Journalist und Autor Walter Ludin sagt dazu: „Nirgends leuchtet die Heimat so hell wie im Exil“. Bei den 6. Nordwalder Biografietagen werden wir viele spannende Lebensgeschichten und Perspektiven zu diesem großen Thema der deutschen Geschichte präsentieren, ohne dabei internationale Aspekte oder auch andere Formen wie z.B. das innere Exil zu vernachlässigen. Hier eine mögliche Definition von Frido Mann, dem Lieblingsenkel von Thomas Mann, die er anlässlich einer Rede mit dem Thema „Exil als Herausforderung“ gab und die ihn zu zwei Fragen führte, die auch wir bei den diesjährigen Biografietagen im Hinterkopf behalten sollten.


Ich zitiere: „Heute, im Zeitalter einer globalen Migrationsbewegung, Völkerwanderung und Völkermischung, fast 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, ist „Exil“ zu einem sehr weiten Begriff mit unterschiedlichen Bedeutungen und unterschiedlichen Schwerpunkten geworden. Es gibt auch nach dem Ende des Faschismus in Europa weltweit das mehr oder weniger erzwungene, politische Exil aus totalitären Staaten. Aber mit dem politischen Exil vor allem aus den Ländern der Dritten Welt mischt sich heute noch sehr viel stärker das wirtschaftlich oder ethnisch bedingte, mehr oder weniger freiwillige Exil, welches von der Migration, der Umsiedlung von einem Land zu einem anderen, kaum zu trennen ist. Sogar die Grenzen zwischen freiwilligem und erzwungenem Exil verschwimmen zunehmend. Allen heutigen Formen des Wechsels vom alten zu einem neuen Lebensraum gemeinsam ist einerseits der Verlust der angestammten Heimat, andererseits aber auch die Hoffnung, im neuen Lebensraum wieder Fuß zu fassen.“ Zitat Ende. Die beiden zentralen Fragen daraus sind also: Erstens: „Wieweit ist ein Zwangsexil nur leidvoller Heimatverlust und wieweit enthält es auch die Chance für eine neue Existenz als Weltbürger?“ Zweitens: „ Welches sind die begünstigenden Faktoren für ein besseres Überstehen eines Exils im Sinne einer erleichternden, neuen Beheimatung besonders in der Welt als Ganzer?“ Dazu wollen wir uns über die spannenden Lebensgeschichten der diesjährigen Nordwalder Biografietage austauschen, mehr Bewusstsein schaffen und immer auch die Bedeutung für das eigene Leben beleuchten.


Kreissparkasse Steinfurt filmservice münster.land Westfalen Initiative Werbegemeinschaft Nordwalde e.V.

Gestern haben wir damit übrigens schon in Münster bei einem eigenen Filmeabend zum Thema „Exil“ im Cinema an der Warendorfer Straße begonnen. Standen im letzten Jahr so klangvolle und prominente Namen wie Mario Adorf, Steve McQueen und Noelle Chatelet im Vordergrund, legen wir 2013 nämlich ein besonderes Augenmerk auf die Kooperation mit anderen Vereinen, Einrichtungen und Gemeinden im Münsterland.

Bürgerstiftung Bispinghof Die Linse e.V. Cinema & Kurbelkiste Biographiezentrum

Neben dem Cinema & Kurbelkiste und dem Verein die Linse in Münster arbeiten wir auch mit dem Kulturforum Arte e.V. aus Münster und Altenberge zusammen und präsentieren gemeinsam einige Biografien. Weiteres dazu finden Sie übrigens in dem mittlerweile 20 Seiten umfassenden Programmheft, was hier überall ausliegt.

Kulturforum ARTE e.V. Gemeinde Nordwalde Förderverein Bispinghof e.V. Kanzlei Krusch & Wattendorff Agentur 3Buchen Bernd Laukötter & Team

Der biografische Ansatz dient uns dabei als Orts- und Regionalmarketinginstrument und soll weiter und dauerhaft in der Region verortet werden, damit er auch zur Identifikation und Identität mit dem Münsterland beiträgt. Das geht natürlich nur mit einer Vielzahl von Partnern und Förderer, bei denen ich mich nun, bevor wir zur Preisverleihung des 6. Deutschen Biographiepreises 2013 kommen, herzlich bedanken möchte.


6. Nordwalder

Freitag 20.09.2013

Marias langer Weg von Kokeltal ins Loisachtal Gäste: Dagmar Wagner & Heidi Gunesch

Die Eröffnungslesung von Dagmar Wagner machte den Anwesenden auf Anhieb klar, mit welchen Härten Menschen im Exil und auf langen Wanderschaften zu kämpfen haben. Sie stellte die Biografie Maria Ludwigs vor, die am 1.1. 1945 von Siebenbürgen in das tiefste Russland verschleppt wurde, von dort etappenweise über Österreich nach Westdeutschland floh und dort eine neue Heimat fand. Insgesamt legte die heute 89-Jährige dabei über 6000 km zurück, um vom Kokeltal (heute Rumänien) in das Loisachtal zu gelangen; eine aufgestellte Landkarte verdeutlichte die Wegstrecke. Diese Erlebnisse hätten die Mutter das ganze Leben lang nicht losgelassen, bekräftigte Tochter Heidi Gunesch, die anwesend war und abwechselnd mit D. Wagner aus den Memoiren der Mutter las. Das Besondere am Schicksal dieser Frau ist zunächst die Herkunft aus Siebenbürgen, eine Vertreibungsgeschichte, die in der öffentlichen Wahrnehmung hinter dem Flüchtlingselend der Schlesier und Ostpreußen zurücktritt; zudem reist sie ihrem Verlobten hinterher, den es durch die Kriegswirren bald hierhin, bald dorthin verschlägt. Sie wird nicht aufgeben, ihn tatsächlich eines Tages wiedersehen. Außergewöhnlich ist auch die versöhnliche Haltung dieser Frau, deren Zeilen in keiner Weise verbittert klingen, obwohl, so flicht die Tochter H. Gunesch immer wieder in die Lesung ein, sich ihre Mutter jahrzehntelang mit dem Erlittenen herumtrug und selbst belastete, sich abmühte, es zu verarbeiten. Die Entstehung des Buches ist der Tochter zu verdanken, die ihr eines Tages nahelegte, alles aufzuschreiben, die Seele damit zu erleichtern. Mit Erfolg – es entstand ein spannendes Buch, eine Art Abschluss dieses Themas, wie H. Gunesch heiter dem Publikum erzählt, denn die Mutter immer wieder betrübt oder grüblerisch zu sehen, hatte sie schließlich auch angegriffen. Nie habe sich die Mutter, so erzählt sie, vom Erlebten niederdrücken lassen, sich in alles Neue gestürzt mit all ihrer Kraft. Und doch habe sie immer wieder die Geschichte ihrer Wanderung erzählen müssen. Ständig sei da dieses Etwas gewesen, obwohl die Mutter ansonsten ihr neues Leben voll angenommen und gemeistert habe. Die Tochter lacht, macht bei ihrer Schilderung keinen Hehl daraus, dass ihr das mitunter auch an das Nervenkostüm ging. Heute aber könne ihre Mutter über dem Erlebten stehen. „Und Schluss ist!“, sagt sie, erheitert damit die Zuhörerschaft, die den Stein, der Mutter und Tochter da vom Herzen gefallen ist, poltern hören können. Zugleich aber zeigt sich Heidi Gunesch vom Ergebnis, jenem Buch, zutiefst beeindruckt und dankt der Biografin ihrer Mutter, Dagmar Wagner, für die Unterstützung, die hauptsächlich darin bestanden habe, Ordnung in all die Erinnerungen zu bringen, aber auch in einer unglaublichen Geduld. Mit einer Geste des Loslassens schließt die Tochter das Buch und sagt: „Das war´s!“.


Lang anhaltender Applaus, dann kommen auch schon die ersten Fragen; unter den Zuhörern sind offensichtlich auch Menschen mit Vertriebenenhintergrund, die intensiv nachfragen. So verwiesen einige Eingaben auf Gewalt und Gräuel während Flucht und Vertreibung; die Tochter der (Co)Autorin wehrte diese aber mit dem Hinweis ab, dass man derlei im Buch nachlesen könne, es sei zudem historisch bekannt. Sehr wohl aber zitierte sie ihre Mutter mit deutlicher Kritik an den Rumänen, die es erst mit Hitler-Deutschland gehalten, sich dann aber den Russen angebiedert und deshalb die Siebenbürgener vertrieben hätten. Krieg und Politik standen einen Augenblick lang als der große Mahlstein, als Menschenmühle, im Raum. Doch der Moment wurde aufgelöst durch ein bemerkenswertes Zitat der Mutter: „Selbstmitleid ist ein Bazillus, der alles nur noch schlimmer macht!“ Im Anschluss konnten Interessierte die Biografie erwerben. Ein großes Kompliment gebührt an dieser Stelle noch der Biografin Dagmar Wagner; sie hielt sich weitestgehend zurück und ließ es so zu, dass diese beeindruckende Lesung auch zu einer Aufarbeitung zwischen Mutter und Tochter werden konnte: Die Mutter sei, so hieß es, glücklich über das Buch, die Tochter Heidi Gunesch in gewisser Weise befreit. Gleich die erste Lesung der 6. Biografietage zeigt die ganze Bandbreite dessen, was den Machern der Veranstaltung wichtig ist, wie auch M. Grenda in seinem Epilog betonte. Konkretes Leben soll hautnah geschildert, nacherlebbar gemacht werden; zugleich wird ein solcher Schatz an Erfahrung für die Nachwelt in einem Buch erhalten, sozusagen zum Anfassen. So müssen es auch die Gäste empfunden haben, denn während der 60-minütigen Lesung hatte kaum jemand zu hüsteln gewagt.


Freitag 20.09.2013

6. Nordwalder

Vorabend

Gast: Peter Kurzeck - „Der radikale Biograf“

Im Anschluss an den beeindruckenden Abstecher in die Geschichte las der gefeierte Schriftsteller Peter Kurzeck. Den Bogen dorthin zu schlagen, so M. Grenda in der Begrüßungsrede, sei nicht einfach. Der Programmpunkt steche ein wenig aus dem Rahmen heraus, da Kurzecks Roman „Vorabend“ keinen Exilhintergrund habe. Doch stamme der Autor aus Böhmen und sei bekannt dafür, dass er über seine dort verbrachte Kindheit spannend, detailreich und farbig erzählen könne. Das greift Kurzeck gern auf, nachdem er sein Publikum herzlich begrüßt hat und amüsiert es gleich mit einer Warnung: Oft komme er aus dem Erzählen gar nicht heraus und vergesse ganz, aus seinem Buch zu lesen. Einmal sei gar ein Hörbuch daraus gemacht worden. Erheiterung geht durch den Raum. Man glaubt es gern, denn Kurzeck lässt den Worten die Tat folgen. Ein Herbstblatt, eine weite Wiese könne ihn an sein Kindheitsböhmen erinnern; wenn er dann Menschen träfe, die Böhmen auch kennen, seine Erinnerungen teilen, könne er sich endlos mit ihnen unterhalten. Und schon mit sieben Jahren habe er angefangen zu schreiben, aber davon sei kaum etwas erhalten. Schreiben, das hebt er hervor, sei ihm schon immer enorm wichtig gewesen. Schnell wird klar, mit welch reflektierendem Charakter und sprühendem Geist es das Publikum hier zu tun bekommt. Kurzeck ist ein Phänomen. Er spricht druckreif, auf allerhöchstem Sprachniveau, rein, klar, strukturiert, ohne auch nur annähernd zu künsteln oder zu schwülsteln. Kurzeck erzählt, und ist er fertig damit, enden seine Sätze, er meidet alles Überflüssige. Dann lächelt er verschmitzt in das Publikum, als erwarte er eine Antwort. Kindheit in Böhmen, Hippie-Jahre in Frankfurt, auch dass er einst der Flasche zugesprochen habe, verhehlt er nicht. Doch dann, plötzlich, eine seltsame Wendung. Mit einem Mal habe er gewusst, er müsse Schriftsteller werden, Ernst machen mit dem Schreiben. Als Kind, so schildert er, hat ihn manches von einer Sekunde zur anderen nicht mehr interessiert, er fasste es dann konsequent nicht mehr an. In ihm ist, so verrät er, das Bedürfnis entstanden, sich sein Leben in allen Details noch einmal nachzuerzählen. Er müsse sich auf diese Weise vergewissern, dass es auch wirklich so gewesen sei. Das nun meint er sehr ernst, wie an seinem eindringlichen Tonfall erkennbar ist. Er breitet vor seiner Zuhörerschaft sein Leben aus, mit seiner Frau, seinem Kind, in der Tat als Nacherzählung, suchend, prüfend, sich selbst bestätigend an der Realität. Gerade so, als hätte Kurzeck sein Publikum eingestimmt wie ein Instrument, greift er nun zu seinem Buch und liest.


Sein Schreibstil ist auf eine ganz andere, eigene Art faszinierend, wie sich nun herausstellt; Kurzeck lässt Sätze unvollendet, überlässt dem Leser, den Rest zu ergänzen. Das Ganze erhält dadurch etwas Gehetztes, als eile der Lesende von Sekunde zu Sekunde; Situationen streichen vorbei, von wenigen Worten umrissen, der Zuhörer eilt mit, über die Straße, ein Kind an der Hand, es muss in den Kindergarten. Unterwegs begegnet man Menschen, über die es etwas zu sagen gibt, oder besser: anzudeuten. Unmöglich, es hier wiederzugeben. Der Raum ist still, nur erfüllt von Kurzecks Gedankenwelt, die er pointiert aufgezeichnet hat, sprunghaft, von einem Eindruck zum nächsten rasend, was zu der ruhigen Vortragsweise des Autors so gar nicht passen will und doch auf geniale Weise stimmig ist: Kurzeck ist ruhig. Die Hektik ist draußen, in der Stadt, der Welt. Er schreibt (und liest) so, wie das Sehen und Denken des Menschen vor sich geht, die Schreibmaschine scheint nicht nachzukommen. Urplötzlich ist es vorbei, er endet an einem Punkt, den er für geeignet hält, in die hypnotisierte Stille hinein. Niemand hat auf die Uhr gesehen, jeder ist verblüfft, wie sie davongeeilt ist. Ein erster, anhaltender Applaus erklingt. Kurzeck sieht sein eigenes Buch an und sagt, er könne nicht glauben, dass es je fertig geworden sei, über 1000 Seiten. Einen geregelten Tagesablauf brauche er dafür; schreiben, wenn nötig, etwas ruhen, wieder schreiben. In seiner gewohnten Umgebung, am nächsten Tag genau so, denn, so sagt er: „Jeder Mensch ist in der Fremde ein anderer. Man ist auch morgens ein Anderer als abends!“ Er erklärt, wie oft er etwas revidiere, dann seien die Manuskriptseiten von handschriftlichen Ergänzungen so übersät, dass man nichts mehr lesen könne. Praktikanten im Verlag hätten mit ihm gemeinsam da Ordnung hineingebracht, manches sei gar nicht mehr lesbar gewesen, sei aus seiner Erinnerung komplettiert worden. Gleich mehrere Kräfte seien mit der Reinschrift des Romans betraut gewesen. Das himbeerrote Buch, das so charmant daherkommt, verrät weder diese Mühen, noch die Rasanz des darin Erzählten. Der Eindruck ist nachhaltig. Nur schleppend trauen sich einzelne Zuschauer, Fragen zu stellen. Kurzeck nutzt beinahe jede, um erneut zu erzählen. Wie zum Beispiel über ihn einmal ein Film gedreht werden sollte und das Filmteam in sein Leben einbrach. Man habe ihn inszenieren wollen. Er trifft, mit viel Humor, mit seinem Bild von Filmemachern in das Schwarze:


„Ich mag diese Regisseure nicht, die einem sagen, schlendern Sie da vorn mal um die Ecke, gerade so, als schlenderten sie da vorn um die Ecke!“ Ein Augenblick großer Erheiterung und ein authentischer Kurzeck: Das Leben ist sein Regisseur, die Realität, sonst nichts.

„Tradition ist für die Kritiker“ Ähnlich rigoros geht er mit Kritikern und Literaturwissenschaftlern um, die möglicherweise eine Geistesverwandtschaft zu Autoren wie dem Franzosen Perec sehen. Auf die Frage, ob er sich in der Tradition solcher Techniken wie des short cut eines Burroughs oder des stream of conciousness eines Frisch sehe, antwortet er, das sei nichts für ihn, es gäbe da keine Tradition. Er betont: „Tradition ist für die Kritiker. Nein, das ist mein Stil, das bin ich!“ Dies vermag er sehr glaubwürdig zu vermitteln, wird sehr eindringlich dabei. Schreiben sei Realitätsbewältigung, an irgendeine Tradition denke er dabei nicht. Das Leben selbst gibt diesen Telegrammstil vor. Damit beendet der Autor die Lesung und erntet stehende Ovationen. M. Grenda würdigt die Lesung, dankt dem Autor herzlich und findet, wie selten, kaum Worte. Peter Kurzeck signierte noch eine Weile Ausgaben seines Buches „Vorabend“, plauderte hier und da mit den Gästen und verabschiedete sich dann. Er ließ Menschen in dem Bewusstsein zurück, eine Ausnahmeerscheinung erlebt zu haben. Niemand wunderte sich am folgenden Abend darüber, als aus Insiderkreisen bekannt wurde, Kurzeck sei für eine Nominierung zum Literaturnobelpreis im Gespräch…


Freitag 20.09.2013

6. Nordwalder

Chansons gegen das Vergessen Gast: Maegie Koreen

Am Freitagabend durften sich die Besucher der Museumskneipe Kalhoff auf ein besonderes Erlebnis freuen, einen Chansonabend mit Liedern und Geschichten aus den 20iger bis 40iger Jahren des letzten Jahrhunderts. „Die kleine Bühne im Exil – Eine Hommage an Annemarie Hase und Stella Kadmon“, so der Titel des Programms. Mit wenig Technik, einem guten Konzept, sehr viel Talent und großer Begeisterung, wurden die Lebens- und Leidensgeschichten von zwei Künstlerinnen vor den Augen und Ohren eines nachhaltig beeindruckten Publikums wieder zum Leben erweckt. Maegie Koreen und ihr kongenialer Pianist Vlad Kalina können das! Maegie Koreen ist eine profunde Kennerin und Interpretin der Chansonkultur. Sie stammt aus Gelsenkirchen. 1970 erhielt sie den Nachwuchspreis des Ersten Deutschen Fernsehens, 1978 war sie Preisträgerin beim Bundeswettbewerb Gesang. Sie singt und erzählt uns die Geschichten der Menschen, die besondere Werke der Kleinkunst geschaffen und dafür gekämpft und gelitten haben. Vlad Kalina, geboren und aufgewachsen in Odessa am Schwarzen Meer, wo er auch seine musikalische Ausbildung absolvierte, bringt als Konzertbegleiter mit ausgefeilten Klavierarrangements den Werken verfolgter und vergessener Autoren eine besondere Sensibilität entgegen. Mit der Konzertreihe "ChansonCafé Europa - zwischen Heimat und Exil" hat Maegie Koreen ein Erinnerungsprojekt gegen das Vergessen der Chansonkunst im Widerstand und im Exil initiiert. Erschreckende Wissenslücken tun sich heute auf, wenn nach den Werken der Künstlerinnen und Künstler gefragt wird, die während des NS-Regimes in die Emigration oder in Lager gezwungen und umgebracht worden sind. Den roten Faden durch den Chansonabend bildeten die Biografien von zwei fast vergessenen Ausnahmetalenten dieser Zeit. Annemarie Hase (1900-1971) begann ihre Kabarettkarriere in Berlin 1921 im SCHALL UND RAUCH II. Der Durchbruch glückte ihr in der WILDEN BÜHNE als groteskkomische Bänkelsängerin. 1926 wurde sie eine der Hauptdarstellerinnen in den Revuen von Friedrich Hollaender. 1930 gehörte sie zum Ensemble der KATAKOMBE. 1936 emigrierte sie nach London, wo sie ab 1938 bei der BBC als Frau Wernicke auftrat. 1947 kehrte sie aus dem Exil nach Berlin zurück. Stella Kadmon (1902-1989) eröffnete 1931 im Souterrain des "Café Prückel" in Wien ihr buntes Nummern-Brett'l DER LIEBE AUGUSTIN mit Chansons, Sketchen und Parodien. 1938 emigrierte sie nach Palästina und gründete die Kleinkunstbühne PAPILLION in Tel Aviv. 1947 kehrte sie aus dem Exil nach Wien zurück und übernahm wieder die Direktion im AUGUSTIN. Das Cabaret AUGUSTIN ist heute Teil der österreichischen Theater- und Kulturgeschichte.


Die beiden Lebens- und Leidensgeschichten wurden von Maegie Koreen einfühlsam in die historischen Zusammenhänge eingefügt, unterstützt von an die Wand projizierten Bildern der Protagonisten und eindrucksvoll verbunden mit den Liedern aus der Zeit. Welch eine Stimme, diese Kraft, dieser Ausdruck!

Die goldenen Zwanziger Zum Beginn der 1930er Jahre hatten sich die "Goldenen Zwanziger" grußlos verabschiedet. Sie dauerten eigentlich nicht länger als vier, fünf Jahre - dann war die Weltwirtschaftskrise da. Die Zeitungen meldeten über drei Millionen Arbeitslose. Bei den Wahlen im September 1930 war die NSDAP zweitstärkste Partei geworden. Die Republik stand vor dem Bankrott. Während es wirtschaftlich bergab ging, erblühte in neuen Kleinkunstbühnen ein Publikumsinteresse an Programmen, die den Zeitgeist literarisch und politisch erfassten. Eine neusachliche Nüchternheit und die Agitationspropaganda-Kultur traten den champagnerseligen Schlagerträumen der vom Großkapital kontrollierten Unterhaltungsindustrie entgegen. Eine neue, junge, sich gegen die rückwärtsgewandte gesellschaftliche Norm stellende Künstlerschar begab sich in Kabarettkollektiven ("Die Brücke", "Die Wespen") und auf eigenen Kleinbühnen ("Küka", "Katakombe") in Berlin und Wien ("Lieber Augustin") auf die Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Dabei besannen sie sich bewusst auf die Literatur, ja auf die Lyrik, die ja schon an der Wiege des Kabaretts Pate gestanden hatte. Dieser liberale Geist der fortschrittlichen Künstler war für die Nazis eine unliebsame Konkurrenz. Nach der Machtergreifung setzten sie ihre Drohungen schnell in Taten um und verwirklichten die längst schon geplanten Vertreibungen, Internierungen und Morde. Diese Zerstörung der deutschen Kleinkunstkultur konnte bis heute nicht überwunden werden. Die Schauspieler, Musiker, Sänger und Autoren, die dem Machtbereich der Nazis entkommen konnten, setzten ihre Arbeit unter den schwierigen Bedingungen des Exils fort. In fünfzig Ländern fanden sie Asyl und in rund zwanzig dieser Länder spielten und sangen sie ihre musikalisch-literarischen Programme in Cafés, Kellerbars und kleinen Theatern. Das Kabarett und das Chanson brauchen nur einen geringfügigen äußeren Aufwand, um die Notwendigkeiten der Brett'l-Kunst herzustellen. So hat sich auch das deutschsprachige Chanson unfreiwillig über die Welt verteilt.

„Großstadtniveau!“ Das Publikum war restlos begeistert vom Abend, dem Programm und vor allem der tollen Präsentation von Maegie Koreen und Vlad Kalina. Einziger Wehrmutstropfen war die überschaubare Menge an Besuchern, wahrscheinlich, da an diesem Abend einfach zu viele Veranstaltungen parallel in Nordwalde stattfanden. Den Gastgeber Matthias Grenda machte das aber gar nicht traurig und er lieferte gleich mehrere plausible Begründungen. Ein Ziel der Veranstaltungsreihe ist es, ganz individuell, über die Qualität des Dargebotenen, das Leben eines jeden Besuchers zu bereichern. Maegie Koreen hätte „Großstadtniveau!“ und damit ein großes Licht in das kleine Nordwalde getragen. Der Erfolg dieses Prinzips der dialogBiografie misst sich nicht an der Anzahl von Besuchern, sondern an der Art und Weise der persönlichen Auseinandersetzung mit den Lebensgeschichten, die auf der Bühne wie ein Medium dazu fungieren sollen. Auch Matthias Grenda sei ganz eigenes mit seiner persönlichen Lebensgeschichte vom Abend berührt worden und sehe als echter Großstadtmensch, den es in seine Art des Exils nach Nordwalde verschlagen hat, viele Parallelen zur heutigen Zeit, den Krisen, der Dekadenz im Umgang damit, aber eben auch im Ausdruck von Kunst und Kultur. Die Begeisterung der Besucher gibt ihm Recht!


Samstag 21.09.2013

6. Nordwalder

Willy Brandt. Auch darüber wird Gras wachsen Gast: Heli Ihlefeld

Im Foyer der Parteizentrale der SPD steht eine überlebensgroße Figur aus Bronze. Sie streckt dem Besucher einladend die Hand entgegen; Frisur und Gesichtszüge haben großen Wiedererkennungswert. Es ist Willy Brandt, geboren 1913 als Herbert Frahm, Kanzler der Deutschen von 1969 bis 1974, gestorben 1992. Der Kniefall in Polen, Ost-Entspannung, Friedensnobelpreis, daran denkt man gemeinhin, wenn man seinen Namen hört. Für eine ganze Generation war er zudem eine Heldenfigur; er reformierte das Kindergeld zugunsten der Unterschicht, ermöglichte den akademischen Aufstieg von „unten“, wagte mehr Demokratie und befriedete damit die im Aufruhr befindliche Jugend der 60er Jahre. Er ist zeitweilig so beliebt, dass selbst Künstler und Intellektuelle seinen Wahlkampf unterstützen. Für andere war er Zielscheibe des Hasses; er wurde als rote Socke diffamiert, man bewarf ihn wegen seiner unehelichen Geburt und seines Decknamens im norwegischen Exil mit Schmutz, beargwöhnte ihn auf Schritt und Tritt. In seiner Begrüßungsrede hob M. Grenda hervor, auf wie banale Weise man gelegentlich mit solch geschichtsträchtigen Themen in Kontakt kommt; er hatte auf ein Interview im Fokus reagiert und von der Referentin Antwort erhalten, sie auf diesem Wege kennengelernt. Heli Ihlefeld war in ihren Jahren als Bonner Korrespondentin des Magazins STERN Vertraute Willy Brandts und kannte ihn, wie sonst nur wenige Menschen. Ihre Anekdoten ließen den geliebten, geschmähten, intrigengebeutelten und mitunter von Melancholie heimgesuchten Kanzler wieder lebendig werden. In der Zuhörerschaft fanden sich fast ausschließlich Zeitgenossen; sie hatten Brandt noch erlebt, ihnen klingt seine markante Stimme im Ohr, wenn Heli Ihlefeld so hautnah von ihm erzählt. Der Saal atmet historische Authentizität weit ab von den üblichen Fernsehdokumentationen und Biografien über diesen Mann, denen man Daten, Fakten, Details entnehmen kann, die aber den Menschen Brandt, den Spaßvogel wie den Melancholiker hinter den politischen Kulissen, so nicht wiedergeben können. Denn Brandt spaltete die Geister, fand sich, je bekannter er wurde, desto mehr, in einem Geflecht politischer Interessen hin und her gezerrt. Mit Heli Ihlefeld nun lernt das Publikum in Nordwalde eine Frau kennen, die erlebte, wie Brandt sich privat, hinter diesen öffentlichen Vorgängen, dazu äußerte oder verhielt. Das Publikum lacht kurz auf – einmal habe Brandt gesagt, „es lebe der kleine Unterschied, jetzt mache ich die Termine !“, womit er durchblicken ließ, dass das Tanzen nach der Pfeife anderer ihn doch ziemlich geärgert hatte und dies jetzt, da er Kanzler sei, aufhöre.


Auch Witze, Heli Ihlefeld hält die Erheiterung im Raum mit einer Kostprobe noch etwas aufrecht, habe Brandt gern gehört, ebenso gern auch erzählt. Peinlichkeiten konnte Brandt galant überspielen; er schmuggelt sich, so erzählt die Autorin, einmal als Beifahrer in das Fahrzeug von Adenauer, als dieser, auf dem Rücksitz im Gespräch mit einem anderen prominenten Beifahrer, ihn übel durch den Kakao zieht. Als Adenauer Brandt bemerkt, behauptet er, nur über Rosen parliert zu haben; Brandt belässt es höflich dabei, wohl auch aus Respekt vor „dem Alten“.

„Sein Exil war für ihn selbst jedoch kein Thema.“ Heli Ihlefeld beschränkt sich jedoch nicht auf Lustiges; das angespannte Verhältnis zwischen Adenauer und Brandt spricht sie ausführlich an. So habe Adenauer, im Wahlkampf nicht zimperlich, Brandt bisweilen rüde attackiert, dabei unter der Gürtellinie agiert, doch sei dies auf den ersten Blick an Brandt abgeprallt. Auch im späteren politischen Leben sei dieser hart im Nehmen gewesen, habe aber auf Dauer unter den ständigen Anwürfen gelitten. Dies mag am Ende auch zu seiner regelmäßigen Niedergeschlagenheit beigetragen haben. Heli Ihlefeld war hautnah dabei, auch mit ihr, so gesteht sie, hätten Brandts Depressionen etwas gemacht. Während derartiger Schübe habe er sich aus der Politik herausgenommen, sich einen persönlichen Mythos als Ruheraum geschaffen; sein Exil war für ihn selbst jedoch kein Thema. Zwischen Helmut Schmidt und Brandt knisterte es ebenfalls: Beide hatten sich nicht viel zu sagen; dem Pragmatiker Schmidt mag Brandt, der Visionär, zu wenig greifbar gewesen sein, vor allem aber ärgerte Schmidt, so betont Heli Ihlefeld, dass Brandt nicht autoritär sein wollte. Dieser hatte das Ideal, jeden anzuhören, andere Meinungen zu respektieren. Der Konflikt passt für die Zuhörer in das Bild: Schmidts Ansichten über „Sabbelei“ sind ja allenthalben bekannt. Für eine regelrechte Sensation sorgt die Autorin, als sie auf den Rücktritt Brandts wegen der Guillaume-Affäre zu sprechen kommt. Die Abdankung sei noch lange nicht entschieden, noch in der Schwebe gewesen, da habe Herbert Wehner, der immer wieder einmal Intrigen gegen Brandt schmiedete, alle wichtigen Stellen informiert, der Kanzler sei soeben zurückgetreten. Er habe, so resümiert Ihlefeld, Tatsachen schaffen, Brandt beiseite drängen wollen. In den Kontrast dazu stellt sie die kalte Rede Wehners bei der Verabschiedung Brandts, die gestelzte Geste mit dem Blumenstrauß. Ein Raunen geht durch das Publikum – dieses Detail ist neu, obwohl man dachte, Wehner bereits recht gut gekannt zu haben…


Es bleibt noch eine Weile still, nachdem Heli Ihlefeld geendet hat, dann erklingt tosender Beifall. Zeitgenossen erhalten Klarheit auf Fragen, Heli Ihlefeld beantwortet sie und verweist bescheiden darauf, dass Biografen Flicken sammeln. Zwar entstehe ein Teppich daraus, er werde aber immer Löcher haben. Sie geht dann über zum Signieren ihres Buches „Auch darüber wird Gras wachsen“, in denen sie Brandt-Anekdoten seit 1968 gesammelt hat. M. Grenda ergreift in seiner Dankesrede die Gelegenheit, auf genau diesen Unterschied in Biografiearbeit zu verweisen – das eine sei die bloße Chronologie von Daten, die man Historikern überlassen könne, das andere aber sei spannend, gelebt, Wirklichkeit, eben das Anliegen der Biografietage.

Was bleibt, sind die Verdienste Willy Brandts. Heli Ihlefeld gewährt tiefen Einblick in die Philosophie des einstigen Kanzlers, der eine Politik des langen Atems, der äußersten Geduld avisiert habe. Seine Versöhnung mit dem Osten Europas sei eine Vorausschau kommender Jahrzehnte, Brandt der Botschafter eines neuen Deutschlands gewesen, vor dem sich niemand mehr fürchten müsse; genau betrachtet habe er sogar die Einheit bewirkt, eine Tatsache, die von der politischen Gegenseite nur zu gern verschwiegen werde, so Heli Ihlefeld.

„Nun wächst wieder zusammen, was zusammen gehört!“ Hätte es Brandt nicht gegeben, wäre man beim status quo der Blockbildung geblieben, litte Deutschland noch heute unter der Teilung. Ein Augenblick tiefer Rührung entsteht, als sie in diesem Zusammenhang erwähnt, wie froh sie gewesen sei, dass er selbst die Wiedervereinigung noch erlebt, mit auf jenem berühmten Balkon gestanden habe. Denn dort, so unterstreicht sie, habe Brandt in diesem Moment hingehört. Es war der krönende Abschluss eines Politikerlebens, ein Kreis, der sich geschlossen habe. „Was zusammen gehört, ist auseinander gerissen worden“, so hatte Brandt anlässlich des Mauerbaus 1961 gesagt. Er kann diese Worte am 3.10.1990 selbst revidieren: „Nun wächst wieder zusammen, was zusammen gehört!“ Deutsche (und europäische!) Geschichte zum Anfassen.


6. Nordwalder

Samstag 21.09.2013

Apostel der Erinnerung

Gast: Thomas B. Schumann

Wer sich für belesen hält, erlebt bei einer Begegnung mit Thomas B. Schumann eine Offenbarung. Ob Literat oder bildender Künstler: wir kennen zumeist die Namen derer nicht, die in das Exil gehen mussten und machen uns von ihrer Bedeutung für ihr damaliges Umfeld, die einstige Kulturszene, keinen Begriff. Thomas B. Schumann hat als Sammler von Kunst und Büchern zu all diesen Kulturträgern intensiv recherchiert und sich ein auf diesem Gebiet wohl einzigartiges Wissen angeeignet. Darauf verweist auch M. Grenda in seiner Begrüßung; „Apostel der Erinnerung“, das sei schon ein Titel, über den man stolpere, der stutzig mache. Schumann sei, so Grenda weiter, der Herausgeber zahlreicher Exilautoren und habe eigens dafür den Verlag „memoria“ gegründet; er habe ihn durch einen Artikel kennengelernt und sein Haus besucht, das auf beeindruckende Weise mit Büchern und Bildern angefüllt sei. Dann beginnt Schumann mit seiner Lesung.

„Ein Aderlass der Kultur.“ Sehr schnell gelingt dem Sammler und Herausgeber verschollener Literatur, das Gehör und Gefühl seiner Zuhörer zu gewinnen. Er beginnt mit einer unter die Haut gehenden Darstellung von Exil und seiner Bedeutung für die Betroffenen. Es ist der Massenexodus der geistigen und künstlerischen Elite, die Flucht der Exzellenten vor Verfolgung, Unfreiheit, Gewalt. Etwa 500 000 solcher Köpfe verlassen während des Dritten Reichs Deutschland, ein Aderlass der Kultur. In der Fremde erwartet sie Ablehnung, denn im Grunde, so Schumann, sind sie dort nicht willkommen; sie erleiden Demütigung, Niedergang, Armut, reiben sich auf am Überlebenskampf. Ihre Lebensqualität, man bedenke, dass sie zuvor berühmt waren, nicht wenige recht wohlhabend, sinkt dramatisch – einige sterben an Erschöpfung. Es ist ein Teufelskreis. Denn die Einbürgerung ist sündhaft teuer, der Erwerb von Geld ist ohne Staatsbürgerschaft verboten. So sind die Exilanten Schwarzarbeiter, Bettler, Opportunisten und Arbeitslose, gezwungenermaßen.


Nach diesem eindringlichen Epilog schlägt Schumann den Bogen zur jüdischen Malerfamilie der Spiros. Eugen Spiro (1874 – 1972) war im Deutschland der 20er Jahre eine Legende, bekannt wie Malerkollege Max Liebermann, gehörte dem Gründerkreis und dem Vorstand der Berliner Sezession (Deutscher Impressionismus) an und verkehrte mit Prominenz verschiedenster Couleur, wie Schumann mit vielen Details, Anekdoten und Geschichtsdaten zu untermauern weiß – und mit ebenso vielen Namen. So habe der später sehr bekannte Maler Balthus als Kind mit Spiros etwa gleichaltrigem Sohn gespielt und sei ein rechter Zankhahn gewesen. Spiro war ein illustrer Zeitgenosse wie die Manns; in seiner Familie gab es erfolgreiche Musiker, die Creme der Gesellschaft ging bei ihm ein und aus – bis die Nazis ihm die Existenzberechtigung absprachen: Sie beendeten Spiros Karriere.

„Im Grunde haben die Nazis bekommen, was sie wollten.“ Die Familie Spiro muss 1940, nach einem Intermezzo in Frankreich, in den USA neu anfangen. Dies gelingt relativ gut; der talentierte Maler wird auch dort ein bekannter Porträtist – das berühmte Bild von Albert Einstein im roten Pulli mit Pfeife, sinnierend über Notizen, ist von ihm. Es hängt noch immer in der Universität Princeton. Doch während Namen wie eben jener Einstein, aber auch Adorno und Mann heute noch berühmt, solche wie Anders, Koestler, Döblin und andere mehr immerhin noch bekannt sind, gerieten die Spiros, wie so viele, in Vergessenheit. Denn als der Faschismus besiegt, die Bundesrepublik gegründet und das Wirtschaftswunder eingeleitet wurde, vergaß man, die Exilanten einzuladen, nach Deutschland zurückzukehren. Eugen Spiro und seine Familie büßen in Deutschland ihre Bekanntheit vollkommen ein. Die Dramatik, das Tragische an dieser Tatsache bleibt dem Publikum nicht verborgen; im Grunde, so spürt man grollend, haben die Nazis bekommen, was sie wollten. An dieser Stelle unterbricht Schumann seinen faszinierenden Vortrag. Er hat eine Ankündigung zu machen: Im Nachbarsaal der Museumsschänke Kalhoff hat er Gemälde von Eugen Spiro, einem seiner Söhne und seiner Enkeltochter ausgestellt und lädt im Anschluss an die Lesung zu deren Besichtigung ein. Bevor es soweit ist, hat er allerdings noch ein dringendes Anliegen.


Thomas B. Schumann geht noch mit einigen Worten auf den modernen Literaturbetrieb ein. Haben zuvor flüssiger Duktus, Intonation und Liebe zum Detail Licht auf einen dunklen Bereich der Kunstgeschichte geworfen, kämpft der Verleger nun mit flammenden Worten gegen die Ignoranz der neuen Zeit. Das Exil, so erklärt er, sei heute innerlich, man schicke den Geist in die Verbannung. Es sei ein Bestsellerwahn ausgebrochen, was sich nicht wie warme Semmeln verkaufe, finde gar keine Beachtung mehr. Exilliteratur, so meint er ironisch, sei nicht gerade eine Marktlücke. Er deutet jedoch unmissverständlich auf die Wichtigkeit des Anliegens. Es dürfe nicht zugelassen werden, dass Exilliteratur endgültig verloren gehe.

„Ein Gemälde ist ein sehr intensives Zeugnis der Persönlichkeit von Künstlern.“ In diesem Zusammenhang eröffnet er den Zuhörern, ein Museum, mit seinen Sammelstücken als Exponaten, sei geplant. Derartiges Engagement nötigt Respekt ab. Das Publikum spendet langen und heftigen Beifall, auch M. Grenda würdigt in seiner Danksagung diesen enormen Einsatz und freut sich sichtlich darauf, jetzt mit den Besuchern und T. B. Schumann hinüber zu den Bildern zu gehen, die bei den Anwesenden das Gefühl auslösen, die Familie Spiro sei persönlich zu Gast in Nordwalde, haben doch die Leinwände die Hand des Meisters gespürt, und das gilt auch für die Werke zweier darauf folgender Generationen von Spiros. Ein Gemälde ist ein sehr intensives Zeugnis der Persönlichkeit von Künstlern.

Im Anschluss an diese außergewöhnliche Veranstaltung hielt die Biografiegesellschaft mit den anwesenden Künstlern, darunter auch jene, die für Lesungen am Sonntag eingetroffen waren, einen geselligen Umtrunk mit Abendessen. In diesem Kreis wurden Kontakte geknüpft, Erinnerungen ausgetauscht und – das freut die Veranstalter außerordentlich – viel erzählt und gelacht.


Sonntag 22.09.2013

6. Nordwalder

Exil in der Antike

Gast: Witold Wylezol

Das Gelände der Grünwerkstätten lädt zu einem kleinen Spaziergang ein, man kann dort Gartenbaukunst von alternativ bis klassisch bewundern. Der Lehrgarten fasziniert vor allem durch seine Steininstallationen und die Integration alter, aus gediegenem Holz und Mauerwerk errichteter Nutzgebäude. Ein Café ist ebenso vorhanden wie ein Restaurant, eine Boule-Bahn stellt eine besondere Attraktion dar. Bei strahlendem Sonnenschein machen die Besucher der Biografietage ihre Runde; „Neulinge“ staunen, Wiederkehrende nicken oder kommentieren Neues, noch nicht Gesehenes. Nach einem verheerenden Brand sind die Werkstätten umso schöner wieder aufgebaut worden. Dem Gartenareal angeschlossen ist ein großzügiger Pavillon, in dem Lesungen mit einer ansehnlichen Zahl von Gästen stattfinden können. Dorthin hat Witold Wylezol, Kulturmanager und Mitbegründer des „Kulturforums Arte e.V.“, zu einem Vortrag über „Exil in der Antike“ geladen. In seiner Begrüßung zieht M. Grenda einen Kreis von der Antike in die heutige Zeit, geleitet von dem Aspekt der Aktualität – weder werde das Unglück je aussterben, noch das Exil selbst. Dann übergibt er das Wort an den Referenten.

Cicero, Seneca, Sokrates und Odysseus Eingangs listet Wylezol eine Reihe antiker Persönlichkeiten auf, die in das Exil gehen mussten und deren bekannteste wohl Marcus Tullius Cicero und Lucius Aeneas Seneca waren. Ohne auf die näheren Umstände ihrer Verbannung oder Flucht einzugehen (Cicero floh vor mörderischen Intrigen, Seneca war bei seinem einstigen Schüler Nero in Ungnade gefallen), schildert der studierte Philosoph und Germanist zunächst die Gräuel, die in der Antike jene erwarteten, die nicht das Heil im Exil suchten; so zog Sokrates es vor, sich mit dem seither sprichwörtlichen Schierlingsbecher zu töten. Andere ereilten Folter und grausame Tode. Wylezol amüsiert das Publikum mit einem Archetypus des Exilanten, Odysseus nämlich, berühmt für seine Klugheit, berüchtigt für seine List. Mit einem Augenzwinkern freilich, denn der König von Ithaka ist eine Sagengestalt Homers. Er trat jedoch eines Tages den Göttern zu nahe, weshalb sie ihn mit der Odyssee, einer Wanderung von einem seltsamen Ort zum anderen, abstraften. Beispielhaft an Odysseus ist, dass er den Mächtigsten seiner Zeit, den Himmlischen also, in die Quere kam, ein Motiv, das Wylezol zu gegebener Zeit wieder aufgreifen wird.


Es geht dem Philosophen Wylezol nicht um die Nacherzählung antiker Schicksale, so ertragreich sie für die Literatur auch waren. Kerngedanken sind für ihn einerseits die Freiheit des Menschen, seit den alten Griechen zentrales Thema der Philosophie, andererseits aber auch die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Wylezol zitiert Heraklit, der sagte, die Natur der Dinge liebe es, sich zu verstecken. Er zieht diese Weisheit hinüber in die Moderne, für die nach Kant gilt, die „Dinge an sich“ seien nicht für den Menschen durchschaubar. An dieser Stelle verblüfft Wylezol seine Zuhörer mit einem gewagten Sprung in die heutige Zeit. Statt den in den Medien weit verbreiteten Vergleich mit dem Hollywood-Spektakel „Matrix“ zu bemühen, zieht er das Höhlengleichnis Platons aus der Politeia heran. Wie die Gefangenen dort sitzen wir alle in einem dunklen Verlies. Hinter uns brennt ein Feuer, das die Wärter wie Puppenspieler dazu nutzen, Schatten an die Wand zu werfen, über deren Bedeutung wir grübeln können. Mehr an Wahrnehmung ist uns, dieser Parabel gemäß, nicht gestattet. Doch wer sind, wenn wir konsequent in diesem Bild bleiben, in unserem Leben die Marionettenspieler? Vorerst benennt Wylezol nur die Schatten, die wir sehen: Schule, Beruf, Gesellschaft; Deformiertes wie Geschichtswissen, Ökonomie und Bildungssystem. Auch wir erkennen nicht, was wirklich ist.

„Wir alle sind Vertriebene“ Wir alle sind, so Wylezol, seit Adam und Eva Vertriebene – aus dem Paradies und leben seitdem im Exil. Wir waren einst frei, sind es nun nicht mehr, in keiner Weise. Zuallererst ist da der Konsum zu nennen, der uns alle gefangen hält, schon allein, weil wir zu seiner Befriedigung Geld verdienen müssen. Damit, so Wylezol, geraten wir in die Tretmühle: Wir sind dadurch auch „aus der Wahrheit“ vertrieben.


Witold Wylezol hinterlässt ein völlig perplexes Publikum. So hat die Fülle der Details vielleicht ein wenig erschlagen, sicherlich hat das Fazit aber auch sehr überrascht, worauf auch M. Grenda in seinem Dankeswort hinweist. Dass im Anschluss an seinen Vo r t r a g k e i n e F r a g e n aufkamen, mag aber auch am Frühstücksbuffet gelegen haben, das bereit stand und nun reichlich frequentiert wurde. Nach so viel Geistigem plagte einige Gäste ein rechter Hunger, der mit frischen Bioprodukten aus den Grünwerkstätten gestillt werden konnte. Auch eine kleine Partie Boule wurde noch gespielt – allerdings mit echten Kugeln und Spielern, nicht in der Matrix…

Aus dem philosophischen Gedankenspiel wird nun h o c h b r i s a n t e r, p o l i t i s c h e r S t o ff : D i e h e u t i g e n Marionettenspieler sind die Mächtigen unserer Tage, Politiker und Lobbyisten. Wir alle werden unserer Zeit, unserer Freiheit, unserer Identität, ein Stück weit unseres Lebens beraubt. Denn die Bedingungen des Gelderwerbs diktieren uns andere Menschen. Es sind die Inhaber der 50 größten Megakonzerne, der Turbokapitalismus, die großen Haie, wie Wylezol sie nennt. Wir sind im Grunde genommen nicht mehr als deren Eigentum, existieren nur, um ihren Wohlstand zu erwirtschaften. Und wie einst die Götter der Antike bestimmen sie das Schicksal des Einzelnen, sind auch sie heute unbarmherzig gegen jede Kritik: Wylezols Beispiel ist die Schulmedizin, die jeden alternativen Ansatz, etwa Homöopathie, gnadenlos verfolgt, für Schwachsinn erklärt. Kommt man solchen oder vergleichbaren Moguln zu nahe, kann alles geschehen. „Am liebsten würden sie solch einen Menschen töten“, sagt Wylezol und blickt durchdringend in die Reihen der Zuhörer.

„Wir leben im Exil aus dem eigenen Leben“ Doch wir sind, so suggeriert er, nicht ohnmächtig. Wir könnten Sand in dieses Getriebe streuen. Nun wird auch klar, dass Wylezol den Begriff des Exils hier doppelbödig benutzt; wir leben, wenn wir das System weiter unterstützen, im Exil aus dem eigenen Leben, laufen überdies aber auch Gefahr, für jede Unangepasstheit real verfolgt und vertrieben zu werden. Finden wir uns dagegen damit ab, leben wir unter der Definition der Siegertypen und lassen es zu, dass die wahre Geschichte im Dunkeln bleibt. Dann, so sagt er etwas provokativ, werden wir jedoch von „asozialen Tyrannen“ beherrscht.


6. Nordwalder

Sonntag 22.09.2013

Landgericht

Gast: Ursula Krechel

Am Vorabend zu dieser Lesung hatten Veranstalter und geladene Gäste, bewirtet in der Museumsschänke Kalhoff, die große Ehre, eine humorvolle, lustige und viel erzählende Ursula Krechel kennen zu lernen. Das nun dort versammelte Publikum bemerkt es nicht, die Veranstalter aber erleben eine wie verwandelte Autorin. Ernsthaft, gesammelt, konzentriert geht sie an das Werk, die Zuhörenden erleben eine wahre Schriftstellerin, die jedes Wort genau abwägt. Das würdigt in der Begrüßung auch M. Grenda, der die Autorin als Trägerin des „Deutschen Buchpreises 2012“ vorstellt und die Bedeutung ihres Buches „Landgericht“ hervorhebt. Hier kommt jemand aus dem Exil nach Deutschland zurück und muss mit unvorhergesehenen Problemen kämpfen.

Mit dem Deutschen Buchpreis zeichnet die Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung jährlich zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den besten Roman in deutscher Sprache aus. Ziel des Preises ist es, über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autoren, das Lesen und das Leitmedium Buch.

Bevor sie liest, schildert Krechel die Fährnisse der Recherche, denn die Figur in ihrem Roman ist authentisch. Richard Kornitzer, Richter, ist 1947 aus dem Exil zurückgekehrt und hat enorme Schwierigkeiten, wieder in das normale Leben hineinzufinden. Erschwert sei die Spurensuche durch die weite Zerstreuung der Familie zwischen Bodensee, der Städte Mainz und Havanna (!) und England gewesen – letztendlich auch für Kornitzer selbst ein gravierendes Problem beim Neuanfang. Das Problem habe für sie als Schriftstellerin, angesichts der Fragmente, die sie zusammentrug, darin bestanden, den „konzisen Narrativ“ (die zusammenhängende Erzählhaltung) aufrecht zu erhalten, das Ganze nicht zu einem Stückwerk werden zu lassen. Bei solchen Gelegenheiten merkt man U. Krechel die promovierte Literaturwissenschaftlerin an, die hinter der Schriftstellerin bei der Lesung völlig zurücktritt.

Verlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz können sich mit ihren Titeln direkt um die Auszeichnung bewerben. Die Besonderheit: Auch Titel, die sich zum Zeitpunkt der Ausschreibung noch in der Produktion befinden, sind zum Auswahlverfahren zugelassen. Sieben Juroren prüfen alle eingereichten und den Teilnahmekriterien entsprechenden Bücher.


Sie schließt eine Probe aus ihrem Buch an. Selten hat man eine solch ausgefeilte Sprache mit Mut zu verschachteltem Satzbau und scheinbar ausgestorbenen Wörtern erlebt – angesichts solcher Verdichtung der Sprache drängt sich dem Kenner der Vergleich mit Thomas Mann oder Franz Werfel auf. Der Hauptakteur Kornitzer läuft durch die enge Gasse einer Kleinstadt und blickt auf die alten Häuser, die sie säumen. Ihm fallen „vorkragende Dachgauben“ auf, fast kann der Zuhörer das Fachwerk der alten Mauern vor dem inneren Auge sehen. In jeder weiteren geschilderten Szene wird diese Intensität aufrecht erhalten. Man ist beinahe geneigt, von einem psychologischen Roman zu sprechen, so sehr spielt das innere Erleben darin eine Rolle. Nur wird der Autorin das vielleicht nicht recht sein, denn sie will, so sagt sie später im Anschluss, echte Menschen in echten Situationen beschreiben. Und fügt schmunzelnd hinzu, das sei bereits schwierig genug; etwa auch noch fiktive Figuren zu erfinden, das sei ihr zu viel, nicht ihre Art, zu schreiben. Der Autorin ist, so kurz der gelesene Abschnitt den Hörern auch vorgekommen sein mag, nachfühlbar gelungen, die zum Teil doch trostlose Realität der Zeit direkt nach dem 2. Weltkrieg, geprägt von Niedergeschlagenheit und dem Drang, nun etwas tun zu müssen, eindringlich zu illustrieren. Man ahnt, der Protagonist könnte es vielleicht nicht schaffen. Doch das müssen die Anwesenden, wenn sie es wissen wollen, mit dem Kauf und dem Lesen des Romans selbst herausfinden. Auch diese Lesung ist wie im Flug vergangen. Es folgt ein großer Applaus, dann melden sich die ersten Fragesteller. So will man unter anderem wissen, ob die hohe Authentizität des Buches nicht auch Probleme mit sich gebracht hätte? Ursula Krechel verweist hier auf die schon erwähnte, durch ihren Anspruch bedingte Notwendigkeit, echte Menschen als Vorlagen zu nutzen, räumt aber auch ein, die Anonymität der wahren Personen hinter dem Roman durch Verschleierungen zu schützen, da das Geschilderte eben auch sehr in das Detail gehe. Sie erwähnt noch die Zusammenarbeit mit dem Künstler Otto Piene, der Siebdrucke für ihr Buch kreiert habe. M. Grenda macht nach Worten des Dankes das Publikum auf die Möglichkeit aufmerksam, den Roman „Landgericht“ an Ort und Stelle erwerben zu können, was viele Gäste auch wahrnehmen, um ihn sich signieren zu lassen. Für den nächsten Vortrag müssen sich die interessierten Zuhörer zum Speicher auf dem Bispinghof begeben; viele der Zuhörerinnen und Zuhörer sind den Biografietagen über die gesamte Strecke treu und begrüßen jeden neuen Gast mit unverbrüchlicher Aufmerksamkeit, großer Wissbegier und begeistertem Applaus. Es ist zu einer Art Institution geworden, auf dem Weg von einer Veranstaltung zur nächsten vielleicht irgendwo einzukehren, um eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen. An diesem Wahlsonntag eilen einige noch zur Abstimmung, andere, die schon gewählt haben, suchen Nordwalder Lokale auf – z.B. für eine echte „Currywurst“, wie ein weit angereister Gast lachend verrät. Ein schönes Stück Kuchen tut es aber auch.


6. Nordwalder

Sonntag 22.09.2013

Rose Ausländer

Gast: Helmut Braun

Nachdem das Publikum Platz genommen hat, wendet sich M. Grenda ihm mit einigen einleitenden Worten zu. Er stellt Helmut Braun vor, der dem Beirat der Rose-Ausländer-Stiftung vorsitzt, ihren Nachlass regelrecht geerbt hat. Wie es dazu gekommen sei, so Grenda, werde H. Braun sicherlich gleich selbst erzählen. Grenda ist sichtlich bewegt. Das Schicksal der Rose Ausländer (1901 – 1988) ist so außergewöhnlich, dass es für ihn ein Muss gewesen sei, ihren Herausgeber H. Braun einzuladen. Dafür, dass dieser solches Interesse gezeigt hat und der Einladung gefolgt ist, dankt Grenda ihm ganz besonders. Dann beginnt Helmut Braun, aus dem Leben einer Frau zu erzählen, die auch weniger an Lyrik interessierten Teilnehmern nach diesem Abend in Erinnerung bleiben wird. Das liegt, wie vorab schon einmal gesagt sei, sicherlich auch an dem angeschlossenen Dokumentarfilm, in dem man sie in Aktion sehen kann und zu dem fast alle Teilnehmer blieben.

„Lyrik reißen sie einem nicht gerade aus der Hand“ Helmut Braun hat Gedichte von Rose Ausländer mitgebracht und schiebt sie gekonnt in seine Erzählungen über die Lyrikerin ein. Sie steigen wie Feuerwerkskörper empor und entfalten ihren Zauber. „Blinder Sommer“, „Regenbogen“ und „Schnee im Dezember“, so die Titel dreier Gedichte, die Braun, unter anderen, verlas. Für letzteres erhielt Rose Ausländer 1967 den Droste-Preis. Aus den Begebenheiten, die das Publikum hört, entsteht ein eigenartiges Doppelwesen; die Dichterin steht auf der einen Seite, mit ihrem unnachahmlichen Ausdruck, minimalistisch, gekonnt mit dem Beigeschmack der Wörter arbeitend. Andererseits aber findet man eine starke Frau, die genau weiß, was sie will, sich nicht gern hineinreden lässt und, wenn sie genug hat, auch schon einmal jemandem die kalte Schulter zeigt. Bis dahin, vor allem bis zur Verfügbarkeit ihrer Gedichte für die Leserschaft, war es allerdings ein weiter Weg, den Braun maßgeblich mitging. „Lyrik“, so lacht er, „reißen sie einem nicht gerade aus der Hand!“ und deutet damit nicht nur seine Anfangsprobleme an, sondern schildert damit auch den schweren Start der Dichterin selbst; in einem Fall waren nur wenige hundert Gedichtbände von ihr gedruckt und kaum etwas verkauft worden. Helmut Braun erinnert sich genau daran, wie er den Rest aufkaufte. Er hat auch als Archivar der Rose Ausländer keine Mühen gescheut. Geboren wird sie als Rose Scherzer in Czernowitz, in dem Gebiet Bukovina in der K und K – Monarchie Österreich. 1920 trifft sie der erste schwere Schicksalsschlag: Der Vater erliegt einer Tuberkuloseerkrankung. Solche Dinge bewegen sie zunächst viel intensiver als irgendwelche Heimatgedanken. Das sollte erst viel später kommen.


Aber eine „Sängerin der Bukovina“, so ein Titel, den man ihr anhängen wollte, sei sie nicht gewesen, das sei Unsinn, so Braun; man müsse in Rechnung stellen, dass junge Menschen eine ganz andere Wahrnehmung haben, als ältere oder gereifte. Wie früh sie auch mit dem Schreiben begonnen habe, erst die spätere Erfahrung, Exil und Berichte von der Shoah hätten sie maßgeblich geprägt. Sie selbst meint dazu, sich in einem „Steinbruch der Wörter“ zu befinden – das sagt einiges aus über ihr Verhältnis zur harten Arbeit des Schreibens. In der Tat kann Helmut Braun davon berichten, wie viel sie schrieb und vor allem, wie oft sie es revidierte. Mit dieser Anstrengung ist sie denn auch nicht fertig geworden, denn von etwa 3000 Gedichten seien 2500 sogenannte Stücke „letzter Hand“, der Rest blieb in der Urfassung. An dieser Stelle betont Braun auch, dass der Computer keine Entstehungsdokumentation mehr erlaube; Gelöschtes sei eben weg, während Korrekturbögen bleiben. In diesem Zusammenhang sei es interessant zu erwähnen, so Braun, dass Rose Ausländer im New Yorker Exil ursprünglich auf Englisch geschrieben habe – eingedenk der Feststellung, Deutsch sei „die Sprache der Mörder“. Doch sie hielt es nicht lange durch. Sie kam zu dem Schluss: „Vollkommene Lyrik kannst du nur in der Muttersprache schreiben!“ So entstanden die Meisterwerke, die Braun dann zu editieren und zu sammeln begann. Nun, im Exil, erkennt Rose Ausländer auch erst die verlorene Heimat, so Braun, und beginnt, sie in glühenden Farben zu malen. Das Plätschern und Vorbeirauschen eines Flusses, Schnee und so weiter, scheinbar Belangloses, das durch Konnotation und Assoziation in späteren Werken auch einen Bezug zum Holocaust bekommt. Tiefgründig und vielschichtig, stets mehrdeutig sind ihre Worte, die Wahrnehmung des Lesers subtil verschreckend, mahnend, Erinnerung anstoßend. Im Ton ist sie sehr verwandt mit Paul Celan, gegen den gar Plagiatsvorwürfe im Raum standen, weil einige Zeilen der Todesfuge sich sehr nach Rose Ausländer angehört hatten. Das kann nach neuerer Forschung ausgeräumt werden, bekräftigt Braun, hier liege allenfalls zufällige Korrespondenz vor. Einen Einblick in den Literaturbetrieb, der auch Rose Ausländer weitgehend ignorierte, gibt H. Braun mit einem Zitat von Walter Jens, der Celans Todesfuge, das als das Gedicht des 20. Jahrhunderts gelte, als „Geseiere der Synagoge“ bezeichnet habe. Ein Raunen geht durch das Publikum – das ist in der Tat hart formuliert. Helmut Braun hat Rose Ausländer entdeckt und ihre Gedichte aus der Vergessenheit wieder an das Tageslicht gehoben. Rose Ausländer hat, erklärt Braun, eine Art Exil auf psychologischer Ebene gelebt, alles verarbeitet. Eine „gute, alte Zeit“ habe es für sie nicht gegeben. Schon deshalb sei sie keine „Heimatsängerin“ gewesen. Zu ihrer Arbeitsweise und Schreibtechnik merkt H. Braun an, dass es drei Ebenen in der Dichtkunst gebe, das Beherrschen des Handwerks, die Rationalität oder Kopfarbeit, sowie die Emotionalität und den Transport von Gefühlen. Gelinge der Einklang dieser Ebenen, so habe ein Gedicht Bestand. Aber wie um dieser klassischen Poesiedidaxe zu widersprechen, betont Rose Ausländer, das Schreiben, die Welt komme zu ihr, dann schreibe sie. Käme nichts, so könne sie auch nicht schreiben. Diesen berührenden Moment werden die Zuschauer später, im Dokumentarfilm, sogar hautnah miterleben. Braun hält unterdessen fest, sie habe eben doch sehr handwerklich daran gefeilt – ihr Zimmer sei vollgestopft gewesen mit Versionen ihrer Gedichte. Er muss es wissen. Denn nur ihm vertraute sie, nur ihm erlaubte sie, darin zu kramen, ihm vertraute sie bei der Herausgabe der ersten Sammelwerke, an ihn vererbte sie ihr Werk. Wer, und Braun berichtet einfühlsam davon, einmal erkannt hat, wie menschenabgewandt sie zuletzt lebte, muss darüber aufrichtig staunen. Mit diesem Hinweis auf sehr persönliche Züge der resoluten Frau, er bezeichnete sie an einer Stelle als misanthrop, schließt Braun seinen Vortrag, verweist auf den enormen Wert des Dokumentarfilmes für genau diese Zusammenhänge. M. Grenda kann in seiner Danksagung kaum fassen, dass die 6. Biografietage schon wieder fast vorbei sind. Aber, so sagt er und lächelt, es sei auch ein ganz schöner Schlauch für die Veranstalter, denen man am letzten Tag vielleicht hier und da einen Anflug von Erschöpfung angemerkt hat. Nachdem sich alle mit Getränken versorgt haben, geht es (geschlossen!) ein Stockwerk höher. Alle wollen Rose Ausländer nun sehen.


6. Nordwalder

Sonntag 22.09.2013

Der Traum lebt mein Leben zu Ende. Die Dichterin Rose Ausländer Filmvorführung

Die eindrucksvolle Dokumentation zeigt Rose Ausländer in der Heimat, im Exil, berichtet von der Preisverleihung 1967, bei der sie beinahe von der Bühne gestürzt wäre. Ein böses Omen, denn genau das, ein Sturz und ein Oberschenkelhalsbruch, werden ihr dereinst zum Verhängnis. Als das Schreckliche geschieht, beschließt sie, das Bett nicht mehr zu verlassen, erlaubt nur noch engsten Vertrauten, das Zimmer im Nelly-Sachs-Haus, einem jüdischen Wohnheim, zu betreten, das ihr Alterswohnsitz geworden ist. Dort sehen die Zuschauer sie liegen.

Es bleibt lange totenstill. Dann ein großer Applaus – für Rose Ausländer. Und dann auch für Helmut Braun, der, wie er sagt, den Film schon siebenmal gesehen hat. Ihn heute mit interessierten Gästen noch einmal anzuschauen, sei ihm allerdings eine ganz besondere Freude gewesen.

„Fragste die Rose? Warumse? Weshalbse? Wiesose?“

Es ist wie in dem Kinderreim.

Da wird sie nun gefragt, wie denn das sei mit dem Schreiben. Recht rüde, beinahe polternd beharrt sie: Die Wörter kämen zu ihr und sie schreibe sie auf. Kämen sie nicht, schreibe sie auch nicht. Mehr Worte benötigt sie nicht, um dichterischen Genius zu umschreiben oder das, was man auch den „furor poeticus“ nennt. Das erinnert sehr an die bekannten Worte von Hilde Domin: „Fragste die Rose? Warumse? Weshalbse? Wiesose?“ Muss es für alles ein Warum – Darum geben? Es ist eine stille Doku, die von unglaublichen Naturaufnahmen, lebendigen Schnappschüssen aus ihrem Leben getragen wird und den Zuschauer am Ende sogar mit auf ihren letzten Weg nimmt. Im Film steht Helmut Braun vor ihrem Grab und verabschiedet sich.

Film aus, Licht aus, Biografietage aus. Aber bevor sie alle gehen, gibt es noch einmal einen Ansturm auf den Verkaufstisch: Eine ganze Menge Leute möchten die DVD mit der Dokumentation als Erinnerung mit nach Hause nehmen. Damit enden die 6. Biografietage in Nordwalde.


Presse체bersicht

6. Nordwalder

Artikel und Beitr채ge:

Ausschnitte:




„Daß wir miteinander reden können, macht uns zu Menschen.“ Karl Jaspers (1883-1969), dt. Philosoph

Das Team:

Matthias Grenda (49), verfügt über langjährige Erfahrungen als Medien- und Kommunikationsberater, ist Kommunikationstrainer (IHK), als Gründer und 1. Vorsitzender der Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V. ist er der kreative Kopf.

Bernd Laukötter (27), ist selbständiger Veranstaltungskaufmann, als Geschäftsführer der GeBiKo GmbH & Co. KG und 2. Vorsitzender der Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V. zieht er die organisatorischen Fäden im Hintergrund.

Dr. Robert Kloppenborg M.A. (44) ist Soziologe, Sprachwissenschaftler und der Interaktionsanalytiker im Team. Als wissenschaftlicher Leiter hat er umfangreiche Kenntnisse in Kommunikationstheorie und historischbiografischer Forschung.

Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V. Kohkamp 1 - 48356 Nordwalde Tel.: 0 25 73 / 79 98 88 0 Email: info@biografische-kommunikation.de www.biografische-kommunikation.de www.biografieshop.de


Presseübersicht

6. Nordwalder

Artikel und Beiträge sind bei folgenden Medien erschienen: Print, Online, Fernsehen & Radio

Zahlen insgesamt: ca. 600 Besucher bei 14 Einzelveranstaltungen Etliche Millionen Leser von Print- und Onlinemedien Etliche Hunderttausend Fernsehzuschauer und Radiohörer

Print: Westfälische Nachrichten, Münstersche Volkszeitung Ibbenbürener Volkszeitung, Ahlener Zeitung Hallo am Sonntag, Wir in Greven, Kaufen & Sparen Siebenbürgische Zeitung, Lokalkompass

Online: www.westfaelische-nachrichten.de, www.dzonline.de, www.ahlener-zeitung.de, www.mv-online.de, www.ivzonline.de, www.dialogbiografie.de, www.biographiezentrum.de, www.meine-biographie.com, www.wagner-biografien.de, www.cinema-muenster.de, www.presse-service.de www.roseauslaender-stiftung.de www.westfalen-heute.de, www.siebenbuerger.de, www.wasmitbuechern.de, www.literaturlandwestfalen.de, www.kultur-port.de, www.lokalkompass.de

Fernsehen & Radio: WDR Fernsehen - Lokalzeit Münsterland, Nachrichten Radio Steinfurt - RST, WDR2, vois.tv - Vor Ort in Steinfurt


6. Nordwalder

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Gesellschaft für biografische Kommunikation e.V. Unterstützt durch:

Partner: Biographiezentrum Vereinigung deutschsprachiger Biographen, Bad-Sooden-Allendorf Cinema & Kurbelkiste Die Linse e.V. Münster Kulturforum ARTE e.V. Münster / Altenberge Bürgerstiftung Bispinghof Nordwalde Förderverein Bispinghof Nordwalde Gemeinde Nordwalde Krusch & Wattendorff Nordwalde


„Dass da mehr der

Bürger

im Fokus steht und weniger die Gewinnmitnahme ...“ Michael Pieper -

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