Nicht vergessen! Demenz geht uns alle an. (Diakonie Themen 2/2015)

Diakonische Information Nr. 178-4/15

Themen

Nicht vergessen!

Demenz geht uns alle an.

WORD Interview

Wordrap

Seite 10

Seite 14

Heidrun Jannach

RAP

Klaus Maria Brandauer

Gymnasium in Wien

Mein demenzkranker Vater

Seite 20

Seite 22

Matura in Geragogik

Arno Geiger

EDITORIAL

Du bist auf der Welt, und das ist genug Wir sind mehr als nur Geist, Verstand und Vernunft.

Wir sind Leib und Seele, Gefühl und Gestalt.

Erblicken wir das Licht der Welt, werden wir beim Namen gerufen. Wir suchen uns unseren Namen nicht aus. Wir werden genannt. Da spielt es keine Rolle, dass wir noch keine geistvollen Gespräche über Gott und die Welt führen können. Wir sind auf der Welt, und das ist genug.

Wenn Menschen dement werden, zu vergessen beginnen, dann tauchen plötzlich andere Formulierungen auf. Demenz, können wir dann hören, sei eine furchtbare Krankheit, die letzten Endes die Persönlichkeit zerstöre. Da scheint es nicht mehr genug zu sein, auf der Welt zu sein und beim Namen genannt zu werden. Zu bedrohlich ist die Vorstellung, „Ja, ich rief dich bei deinem sich von dem, was uns ausmacht, schrittweise zu verNamen und nannte dich, abschieden, sich nicht mehr da du mich noch nicht kanntest.“ allein orientieren zu können, Jesaja 45,1 Namen zu vergessen oder die Gesichter seiner Liebsten.

Der Schrecken liegt schon im Wort Demenz.

Mens ist ja das lateinische Wort für Geist, Verstand, Vernunft. Demenz meint also die fortschreitende Abwesenheit des Verstands, über den wir uns definieren, mit dem wir die Welt und uns selbst wahrnehmen.

Wir sind aber mehr als nur Geist, Verstand und Vernunft. Wir sind auch mehr als Erinnerung.

Wir sind Leib und Seele, Gefühl und Gestalt. In dieser Zeit um Weihnachten, in der dieses Heft erscheint, tut es gut, sich daran zu erinnern, dass selbst Gott nicht nur reine Vernunft, Geist oder Verstand ist. Gott ist Mensch geworden, so glauben es Christinnen und Christen, und er ist * Andrea Fröchtling: „Und als schutzloses Kind auf die Welt gekommen. dann habe ich auch noch den Kopf verloren ...“ Gott ist Mensch geworden in all seinen Facetten.

Menschen mit Demenz in Was aber, wenn man Gott vergisst, wie die Theologie, Seelsorge und 82-jährige Bewohnerin eines Pflegeheims, die Gottesdienst wahrnehmen. mit ihrer Demenz oder, wie sie es sagt, mit Herrn Leipzig 2008, S. 19.

AN DIESEM HEFT MITGEARBEITET HABEN 2

Themen

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Alzheimer lebt und die Andrea Fröchtling* in ihrem Buch über Demenz erzählen lässt? „Wissen Sie, das Leben, das war dies und das, von jedem was, nicht wahr? Und dann kam Herr Alzheimer und hat alles um- und dummgewirbelt.

Und ich habe vergessen – uh, was habe ich alles vergessen. Und dann ... dann kam so ein Tag ... und dann hab ich auch noch den Kopf verloren.

Wie weg, alles blank. Irgendwie, leben muss ich ja irgendwie mit diesem Herrn Alzheimer, auch wenn ich ihn nicht eingeladen habe. Nun ist der da und basta. Ja. Was ich sagen wollte ... Meine Handtasche, also die ... meine Handtasche, wenn ich sie verliere, die Schwester sagt mir dann, wo sie ist, wenn ich sie suche. Aber dann war auf einmal Gott weg, ja, das mit Gott und so, ... also ich konnte das alles gar nicht mehr begreifen ... ‚Schwester‘, habe ich gefragt, ‚wo habe ich denn Gott hingelegt? Der hat sich versteckt wie meine Handtasche.‘ ‚Nee‘, sagt die Schwester, ‚nee, weiß ich nicht, wo du Gott hingelegt hast.‘ Na, dann ist er wohl weg, was? Mit Handtasche weg, da kannst leben. Mit Kopf weg, na ja, irgendwie auch. Aber mit Gott weg?“ Gott kann man vergessen oder auch verlegen und nicht wieder finden. Aber so wie es bei Jesaja heißt: „Ja, ich rief dich bei deinem Namen und nannte dich, da du mich noch nicht kanntest“, so gilt wohl auch der Satz: Ja, ich rufe dich bei deinem Namen und meine dich, auch wenn du mich nicht mehr kennst. Denn du bist auf der Welt, und das ist genug.

Pfarrer Mag. Michael Chalupka, Direktor Diakonie Österreich

Gudrun Bauer, Karin Brandstötter, Elisabeth Braunsdorfer, Hannelore Kleiss, Margit Kubala, Johanna Pasiecznik, Daniela Scharer, Hansjörg Szepannek, Corina Unterkofler

INHALT

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Was ich nie vergessen werde ...

Menschen aus Einrichtungen der Diakonie erzählen von Erlebnissen, die ihnen immer in Erinnerung bleiben werden.

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Demenz ist eine soziale Aufgabe

Um die Lebensqualität demenzkranker Menschen zu erhalten, ist es wichtig, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen in den Vordergrund zu stellen.

Inhalt 16

„Nimmt Demenz einem Menschen die Persönlichkeit?“

Stimmt’s? Mythen, Märchen und Pauschalansichten.

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Wir werden erst am Du zum Ich

Ein neuer Blick auf die Alltagsbewältigung.

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Die Welt in Zahlen

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Demenzerkrankungen weltweit.

Fachbegriffe zur Demenzerkrankung.

Buch- und Filmtipps, Best of EUrope

Demenz: Diagnose, Vererbung, Alzheimer

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„Weil der Mensch nicht ohne Menschen kann“

Heidrun Jannach über die Begleitung von Menschen mit Desorientierung und die Ausbildung in Validation.

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Projekte

Betreuung in Kärnten und Salzburg, Alzheimer Café, Tanzen und Therapiegärten in Salzburg.

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„Komm bald wieder!“

Eliana hat in Altenarbeit maturiert.

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Kurz gemeldet

Neue Diakonie-Kampagne, Altenhilfe in der Republik Moldau, unterstützte Kommunikation

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Der alte König nimmt den Hut

Vorwärts leben, rückwärts verstehen

Der Schriftsteller Arno Geiger über die Demenz­erkrankung seines Vaters.

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Spendenkonto Diakonie: IBAN AT492011128711966399 BIC GIBAATWWXXX

Wordrap mit Klaus Maria Brandauer.

„Ganz oben im Hellen“

Zwei „HoffnungsträgerInnen“ erzählen.

IMPRESSUM: Medieninhaber, Herausgeber und Redaktion: Diakonie Österreich, ZVR-Zahl: 023242603. Redaktion: Dr.in Roberta Rastl-Kircher (Leitung), Dr.in Gudrun Bauer, Mag. Martin Schenk, Mag.a Margit Kubala. Alle: 1090 Wien, Albert Schweitzer Haus, Schwarzspanierstraße 13. Tel.: (0)1 409 80 01, Fax: (01) 409 80 01-20, E-Mail: diakonie@diakonie.at, Internet: www.diakonie.at. Verlagsort: Wien. Geschäftsführer Diakonie Österreich: Pfr. Mag. Michael Chalupka, Mag. Martin Schenk. Grafik-Design: Info-Media Verlag für Informations­ medien GmbH/Natalie Dietrich, Volksgartenstraße 5, 1010 Wien. Druckerei: AV + Astoria Druckzentrum GmbH, Faradaygasse 6, 1030 Wien. Fotos: Cover: Martina Müller (2), Nadja Meister, Christof Mattes, Peter Andreas Hassiepen; S. 2: Diakonie Österreich/Barbara Krobath; S. 3: Thomas Smetana, Christian Herzenberger (2); S. 4: privat (2); S. 5: Andrea Pollach, privat (3); S. 6: Christian Herzenberger; S. 7: Karin Hofbauer; S. 8: Christian Herzenberger, privat; S. 9: Thomas Smetana, Christian Herzenberger; S. 10: Nadja Meister; S. 11: Nadja Meister; S. 12: Nadja Meister; S. 13: Christian Herzenberger, Roberta Rastl; S. 14: Christof Mattes (2); S. 15: Christian Stemper (2); S. 16: istockphoto.de; S. 17: Thomas Smetana; S. 18: istockphoto.de (2); S. 19: Diakonie; S. 20: Martina Müller (2); S. 21: Brot für die Welt; S. 22: istockphoto.de; Peter Andreas Hassiepen. Die Diakonische Information bringt Sachinformationen und Nachrichten zur Diakonie der Evangelischen Kirchen. Die gendersensible Schreibweise ist uns ein wichtiges Anliegen. Der Bezug ist kostenlos. DVR: 041 8056 (201).

Gedruckt nach der Richtlinie „Schadstoffarme Druckerzeugnisse des Öster­reichischen Umweltzeichens“.

Umweltzeichen (UWZ 734)

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PORTRÄTS

„Was ich nie vergessen werde ...“ Menschen aus Einrichtungen der Diakonie erzählen von Erlebnissen, die ihnen immer in Erinnerung bleiben werden.

JOLANDA BENKÖ „Eine Kaffeejause im Seniorengarten. Der Tisch ist schön gedeckt, alle Tagesgäste sitzen bei Tisch und unterhalten sich.

Ich schenke Herrn Müller eine Tasse ein und sage: ,Einmal Kaffee mit Milch und Zucker, bitte sehr!‘ Herr Müller reibt sich die Hände, hat einen freudigen Gesichtsausdruck und leckt sich immer wieder über seine Lippen. Während ich den Kuchen serviere, steht Herr Müller langsam auf und zieht seine Geldbörse aus der hinteren Hosentasche. Er dreht sie hin und her und verkündet mit lauter Stimme: ,Den Kaffee zol i jetzt und den aundan a. Aber jetzt hob i ka Göd. Da hat ma wer des Geldbörserl ausgramt. Wenn i de dawisch!‘ Ich beruhige ihn:

,Sie sind ja eingeladen!‘ So hat der sonst so wortkarge Herr Müller den Raum mit einer lustigen Atmosphäre gefüllt. Und er selbst lacht am meisten. Er hat sein pflichtbewusstes Verhalten in der Gesell­ schaft und seine Persönlichkeit trotz schwerer Demenz und Wortfindungsstörungen nicht verloren!“ Jolanda Benkö ist seit 2004 Pflege­ helferin im Altenwohn- und Pflegeheim Diakoniezentrum Oberwart mit Schwerpunkt in der Betreuung von an Demenz erkrankten Menschen und hat sich in diesem Bereich intensiv weitergebildet. Jolanda Benkö lebt in Oberwart und hat zwei erwachsene Kinder.

GERHARD EISSCHILL „Es war mein erster Praktikumstag bei meiner Ausbildung zum DSA vor 25 Jahren. Ich betrat eine intensivpädagogisch betreute Mädchenwohngruppeneinheit im Diakonie Zentrum Spattstraße und damit eine für mich neue Welt. Ein Mädchen war gerade dabei, einen Lampenschirm aus der Verankerung zu reißen, an der Innenseite ihrer Handfläche tropfte etwas Blut auf den Boden. Sie tobte, schrie und hatte offensichtlich die Kontrolle über ihre Impulse verloren. Dann war ich mit mir bis dahin unbekannten Schimpfwörtern und weiteren Gefühlsausbrüchen konfrontiert. Ich erlebte im Laufe dieses Praktikums einige Ausnahmesituationen und bekam Einblick in die dramatischen Biografien der Mädchen. Andererseits erkannte ich die großen Stärken der Mädchen. Jede war trotz ihrer Bedürftigkeit und Traumatisierung eine sehr liebenswerte und starke 4

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Persönlichkeit. Imponiert hat mir auch der Umgang der SozialpädagogInnen mit diesen schwierigen Situationen. Sie haben den Mädchen Beziehung, Vertrauen, Wärme und Schutz vermittelt.

Am Abend wollten die Mädchen, dass ich noch komme, um gute Nacht zu sagen. Große Dramatik, Bedürftigkeit, Stärken und Schwächen, klares, liebevolles pädagogisches Handeln, Kind sein dürfen – dieser Tag war prägend und ist ein Grund dafür, dass ich bis zur Pension in der sozialpädagogischen Arbeit im Diakonie Zentrum ,Spatti‘ bleiben werde.“ DSA Gerhard Eisschill, Mitbegründer der Kriseninter­ven­ tions­einrichtung Wàki, seit 2007 Leiter der Abteilung für sozial­pädagogische Angebote/Kinder- und Jugendhilfe, ist seit 22 Jahren im Diakonie Zentrum Spattstraße tätig.

PORTRÄTS

MAHA ABDALLAH

GERTRUDE TINAUER

„Ich werde nie die vier Jahreszeiten in Syrien vergessen. Ich werde nie den Geruch des Regens im Winter vergessen, den Duft des Jasmins im Sommer, die bunten Blätter im Herbst und die ersten Blüten im Frühling. Und ich werde nie den unerträglichen Gestank vergessen, den das Wasser in jenem Fluss hatte, den ich durchschwimmen musste, um in jenes Land zu kommen, das den alten Duft der Blumen in Syrien hat, und noch mehr den Geruch der Freiheit.“

„Eines meiner wichtigsten Erlebnisse mit einem an Demenz erkrankten Menschen war ein Zusammentreffen mit einem sehr redseligen Klienten im Rahmen meines ehrenamtlichen Hospizdienstes. Er freute sich über meinen Besuch und begann zu erzählen. Wie ich bemerkte, passte nur kein Wort zum anderen, und nach einiger Zeit stieg ich auf seine Art der Kommunikation ein. Plötzlich schaute mich der Mann sehr erschrocken an und ich spürte direkt, dass er dachte: ,Diese Frau ist dement oder dumm!‘ Nach der Reflexion meiner Begleitung kam ich zu dem Schluss: So werde ich nie mehr mit einem an Demenz erkrankten Menschen umgehen.“

Maha Abdallah ist allein aus Syrien geflohen. Nur manche aus ihrer Familie haben den Krieg überlebt, jede/n hat es woandershin verschlagen. Maha wohnt jetzt bei Freunden. So blieb ihr als alleinstehender Frau das beengte Schlafen in einem Notquartier und im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen erspart. Noch ein „Lager“ hätte sie nach der langen und bangen Flucht nicht ertragen können, sagt sie. Die Wohnberatung des Diakonie Flüchtlingsdienstes hilft dabei, dass Flüchtlinge schon während des Asylverfahrens privat wohnen können.

Gertrude Tinauer ist „zuagroaste Burgenländerin“, geboren in Wien, beruflich als Sozialpädagogin und Psychotherapeutin tätig, seit 43 Jahren auch Yogalehrerin. Sie ist seit sieben Jahren als ehrenamtliche Hospizbegleiterin auf der Palliativstation und Onkologie im Allgemeinen öffentlichen Krankenhaus Oberwart im Einsatz.

BRIGITTE NUSSDORFER

CHRISTINE HARTL-LEIBETSEDER

„Im heurigen Sommer durfte ich das Flüchtlingsquartier in der Münchner Bundesstraße mit aufbauen. Das war für mich eine spannende, aber auch sehr intensive Zeit, zumal ja bei null begonnen wurde. Niemals vergessen werde ich die zwölf jungen Asylwerber, die noch vor der Eröffnung dem Quartier einen Besuch abstatteten. Man konnte leuchtende glänzende Augen sehen und ganz viel Freude verspüren. Am Ankunftstag gab es dann bereits ein herzliches ‚Hello‘. Vergessen werde ich auch niemals den Augenblick, als ich meine Enkelsöhne David und Simon das erste Mal in den Armen halten durfte.“

„Tim und seine Mutter, Frau R., haben eine schwierige Beziehung zueinander. Sie ist geprägt von Vernachlässigung und Überforderung seitens der Mutter, während Tim große Sehnsucht nach Liebe und Angenommensein hat. Heute ist das anders: Frau R. bäckt für ihren Sohn Tim seine Lieblingsspeise: Palatschinken. Was aussieht wie alltägliche mütterliche Fürsorge, ist in diesem Fall also viel mehr. An diesem Nachmittag können Mutter und Sohn tiefe Zufriedenheit, Entspannung und Freude erleben.

Beide sind glücklich. Ich werde diese Familiensituation nie vergessen, weil es meine Aufgabe in der Therapie war, für Tim einen Rahmen zu schaffen, wo Zuwendung in der Beziehung zu seiner Mutter erfahrbar wurde.“

Mag.a Brigitte Nußdorfer lebt in Hallwang nördlich der Stadt Salzburg und ist Sekretärin in der Tages­betreuung für SeniorInnen des Diakoniewerks in Salzburg-Gnigl.

Im Sommer 2015 war die dreifache Mutter maßgeblich daran beteiligt, das Flüchtlingsquartier in Salz­burgLiefering mitaufzubauen. Ihr großes Hobby ist individuelles Reisen in die ganze Welt.

Mag. Christine Hartl-Leibetseder ist Sonder- und Heil­­­­­pä­ da­­gogin und arbeitet seit 24 Jahren im Diakonie Zentrum Spattstrasse. Im Sonderkrankenhaus für Kinder- und Jugend­psychiatrie begleitet sie die Kinder der Wohngruppen und der Tagesgruppe als Psychotherapeutin.

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SCHWERPUNKT

Demenz ist eine soziale Aufgabe Demenz folgt einem geradlinigen Krankheitsverlauf.

Gerade deshalb ist es wichtig, sich auf die Fähigkeiten der davon betroffenen Menschen zu konzentrieren und ihre Kompetenzen in den Vordergrund zu stellen. Das hilft, ­Lebens­qualität in dieser Lebensphase zu erhalten.

VON GUDRUN BAUER

eden Tag, wenn Frau H. aufwacht, sieht sie verschiedene Bilder, die mit Namen und Bezeichnungen versehen sind. Darauf sind zu sehen: ihre Tochter, ihre Betreuerin, gefährliche Gegenstände, auf die sie achten soll.

Frau H. ist an Demenz erkrankt, ihre Krankheit ist bereits fortgeschritten. Wacht sie in der Nacht oder am Morgen auf, erkennt sie die Personen nicht mehr, die ihr einmal so vertraut waren. Täglich erinnern die Bilder sie daran, welche Menschen sie in ihrem Alltag begleiten – denn sowohl ihre Tochter als auch ihre Betreuerin, die 24 Stunden pro Tag für sie da ist, sind ihr gänzlich fremd geworden.

Zu wenig Früherkennung

Mehr als

130.000 Menschen in Österreich sind an ­Demenz ­erkrankt

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Frau H. ist eine von mehr als 130.000 Menschen in Österreich, die an Demenz erkrankt sind. Prognosen zeigen, dass sich diese Anzahl bis zum Jahr 2050 verdreifachen wird – jede 7. Person wird demnach an Demenz erkrankt sein. Bereits jetzt sind es etwa 30.000 Neuerkrankungen pro Jahr in Österreich.

Diese Anzahl erscheint hoch und die Dringlich­ keit der Situation wird noch deutlicher, wenn man sieht, dass 50 bis 60 % der Demenz­er­kran­ kungen in Österreich wegen mangelnder Früherkennung nicht diagnostiziert werden.

Da Frauen tendenziell ein höheres Lebensalter erreichen, sind sie auch stärker von Demenz betroffen als Männer. Denn je höher die Lebenserwartung, desto größer ist das Risiko, an Demenz

zu erkranken. Trotz dieser Entwicklung, die die aktuelle Situation abbildet, soll und darf diese Krankheit nicht nur als Verlust von Fähigkeiten gesehen werden. Menschen mit einer demenziel­ len Erkrankung verlieren zwar im Verlauf der Krankheit einen Teil ihrer kognitiven Fähigkeiten, die emotionalen Erinnerungen und Fähigkeiten bleiben jedoch umfassend erhalten.

Für Frau H. ist es eine Freude, wenn ihre Betreuerin mit ihr Lieder aus früheren Zeiten singt.

Trotz ihrer sprachlichen Verluste erinnert sich Frau H. an bestimmte Textteile dieser Lieder – denn Singen ist auch immer mit Emotionen verbunden.

Demenz ist eine Krankheit, die einen geradlinigen Weg verfolgt, und gerade deshalb ist es wichtig, sich auf die Fähigkeiten der davon betroffenen Menschen zu konzentrieren und ihre Kompetenzen in den Vordergrund zu stellen.

Das hilft, den Menschen ihre Lebensqualität in dieser Phase des Lebens zu erhalten.

Segregation vs. Inklusion Wenn es um die Lebensqualität geht, die für Menschen mit Demenz erhalten bleiben soll, wird auch die Diskussion rund um „Segregation“ (Trennung/Abschottung) vs. „Inklusion“ (Eingliederung) von Menschen mit Demenz immer wich­ tiger. Hier geht es einerseits um die Form der Betreuung, andererseits um den gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Demenz.

Als wohl prominentestes Beispiel einer segregierten, also „speziellen“ Betreuung dient das

SCHWERPUNKT

Bei guter Betreuung können Menschen mit Demenz so sein und leben, wie sie sind

niederländische Demenz-Dorf De Hogeweyk, Eine Erhebung des Diakoniewerks Salzburg das auch als „Dorf des Vergessens“ bezeichnet zeigt beispielsweise auf, dass der Besuch einer wird. Dort wird es Menschen mit Vergesslichkeit Tagesbetreuungsstätte vielfache positive Effekte nach sich zieht. Neben der Entlastung von ermöglicht, so zu sein und so zu leben, wie sie pflegenden Angehörigen erfahren auch Mensind. Es wird eine Welt geschaffen, die zwar von der Gesellschaft abgeschottet ist, in der Men- schen mit Demenz eine Verbesserung ihres physchen mit Demenz jedoch ein normales Alltags- sischen und psychosozialen Gesundheitszustan­ des, wenn sie ein Tageszentrum besuchen. leben führen können und sich in einem Raum Tageszentren sind somit eine Form der Präbewegen, den sie verstehen. vention, mit der der Einzug in ein Alten- oder Das Dorf ist so gestaltet, dass, egal wo die Menschen auch hingehen, sie immer wieder zu- Pflegeheim hinausgezögert werden kann. Trotzrück zu ihrem Ausgangspunkt finden. Ob Arzt, dem werden in Österreich von insgesamt PflegegeldbezieherInnen lediglich Frisör oder Supermarkt – alles, was zu einem 450.000 6.600 Personen in Tageszentren betreut. normalen Leben dazugehört, ist vorhanden.

Bemerkenswert ist, dass in diesem Dorf auch die verschiedenen Lebensstile der niederlän­­­di­ Angebote und Projekte schen Gesellschaft berücksichtigt werden. So Die Position der Diakonie, die sich auf die wird beispielsweise auf die Kolonialvergangen- „öster­reichische Demenzstrategie“ des Bundes heit der Niederlande durch indonesische Wohn- bezieht, spricht von einer „gesamtgesellschaftlieinheiten Bezug genommen, da viele Nieder­ -­ chen Aufgabe“ im Zusammenhang mit der län­ derInnen einen Großteil ihres Lebens in Inklusion von Menschen mit Demenz. Die SensiIndo­nesien verbracht haben. bilisierung und die Aufbereitung von Informationen für die allgemeine Bevölkerung sowie für Neue Wohn- und Betreuungsformen jene Menschen, die in alltäglichem Kontakt zu Menschen mit Demenz stehen (z. B. Briefträger, Auf der anderen Seite wird anhand von neuen Wohn- und Betreuungsformen und Pilotprojek- Bankangestellte, Supermarktangestellte) sind eine Grundvoraussetzung, um soziale Inklusion ten die Inklusion von Menschen mit Demenz in das gesellschaftliche Alltagsleben forciert. Sei- von Menschen mit Demenz zu ermöglichen.

Nach und nach werden Angebote und Projeken es Hausgemeinschaften oder Tageszentren – te ins Leben gerufen, welche die Inklusion von Menschen mit Desorientierung benötigen ein Menschen mit Demenz zum Ziel haben. Das bestabiles Umfeld, das ihnen auch die Möglichkeit des sozialen und gesellschaftlichen Miteinan- trifft Angebote in den Bereichen Kultur und Sport, um die inklusive und aktive Teilhabe zu ders bietet.

Von

450.000

PflegegeldbezieherInnen werden nur

6.600

Personen in Tageszentren betreut

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SCHWERPUNKT

Menschliche Nähe ist ein wichtiger Aspekt in der Pflege demenzkranker Menschen

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fördern; auch demenzgerechte Apotheken oder Alzheimer-Cafés – wie sie auch von der Diakonie angeboten werden – sind Beispiele dafür, dass es möglich ist, Menschen trotz einer demenzbedingten Desorientierung am gesellschaft­ lichen und sozialen Leben teilhaben zu lassen.

Segregation oder Inklusion Nun stellt sich die Frage: Segregation oder Inklusion? Beide Konzepte haben ihre Berechtigung, solange die jeweilige Form der Betreuung eine hohe Lebensqualität der Menschen und die Anerkennung und Förderung ihrer Kompetenzen zum Ziel hat. Für den Theologen Christian Müller-Hergl ist es ein bestimmtes Maß an Exklusion, das Inklusion erst möglich macht. Denn „jede und jeder von uns ist in manchen Bereichen drinnen und in anderen draußen“, wie er es ausdrückt.

Der berufliche Umgang mit Demenz

DR.IN GUDRUN BAUER ist Sozialexpertin der Diakonie.

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Themen

Unabhängig von der Art der Betreuungsform ist die Ausbildung des Personals im Sozial- und Gesundheitssektor im Hinblick auf kompetenten Umgang mit der Demenzerkrankung essenziell.

Nur so ist es möglich, die Kompetenzen von desorientierten Menschen zu fördern und ihre inklusive Teilhabe zu ermöglichen.

Oft kommen die zwischenmenschliche Komponente und das besondere Eingehen auf desorientierte Menschen sowie der sensible Umgang mit ihnen aufgrund von Personalmangel und knappen zeitlichen Ressourcen zu kurz.

Dazu werden komplexe Anforderungen an das Personal gestellt, wenn desorientierte Menschen aus verschiedenen kulturellen Hintergründen und mit individuellen Lebensgeschichten betreut werden. Maßgeschneiderte Angebote für demenziell erkrankte Menschen mit Migrationshintergrund, mit Lernschwierigkeiten oder auch für desorientierte Menschen, die sich in

der letzten Phase ihres Lebens befinden, sind nach wie vor mangelhaft oder schlichtweg nicht vorhanden.

Entsprechende Weiterbildungen, Schulungen und die Integration von demenzspezifischem Wissen in die Ausbildungscurricula der Pflegeund Betreuungsberufe müssen als Basis für ein professionelles Arbeitshandeln mit desorientierten Menschen verstanden werden.

So bleibt zum jetzigen Zeitpunkt abzuwarten, ob im Zuge der Reform der Gesundheits- und Kranken­ pflegeberufe in Österreich auch die intensiv g ­ eforderten und dringend benötigten Weiter­bildungen und Spezialisierungen für den Lang­­zeit­pflegebereich, darunter insbesondere auch Spezialisierungen für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz, berücksichtigt werden.

Fürsorge und ­Lebensqualität Für Frau H. ist es nicht nur wichtig, dass sie in medizinisch-pflegerischer Hinsicht gut versorgt wird. In der alltäglichen Begleitung sind es gerade die fürsorglichen Aspekte, die ihr zu Orientierung und Geborgenheit verhelfen und letztlich zu einer hohen Lebensqualität beitragen.

Frau H. hat Glück, denn sowohl ihre Tochter als auch ihre Betreuerin gestalten mit ihr den Alltag, geben ihr Halt und Orientierung.

Doch nicht alle Menschen mit einer Demenz­ erkrankung können auf Angehörige zurückgreifen oder sind imstande, eine Rund-um-die-UhrBetreuung zu finanzieren. Dennoch berücksichtigen staatliche U ­nterstützungsangebote für pfle­ ge- und betreuungsbedürftige Menschen die Gruppe der demenziell erkrankten Menschen nach wie vor in einem zu geringen Ausmaß.

Frau H. ist rundum bestens versorgt – und genau das wird auch jede und jeder von uns einmal so haben wollen. Denn Desorientierung kann uns alle (be)treffen – sei es als Familienangehöriger oder sei es, dass uns die Diagnose selbst betrifft.

Für den Demenz-Experten Reimer Gronemeyer ist Demenz keine Krankheit, sondern „das 4. Lebensalter“. So heißt auch sein Buch aus dem Jahr 2013, in dem er vom hohen Alter schreibt, „das einmal eine Ausnahme war und jetzt zum Massenphänomen wird“.

Damit weist Gronemeyer darauf hin, dass die Betreuung und Begleitung von Menschen mit Demenz als eine soziale Aufgabe verstanden werden muss, denn medizinische Forschung alleine greift für diese gesellschaftliche Herausforderung zu kurz.

WISSEN

EN S S I W

Gemeinsames Spielen trainiert das Gedächtnis

emenz und Alzheimer – g Dsame same, but different?

Der Begriff „Demenz“ leitet sich vom lateinischen „demens“ ab und bedeutet sinngemäß „weg vom Geist“.

Demenz ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Krankheiten, deren Symptome einander ähnlich sind. Die häufigste Art von Demenz ist die Alzheimer-Krankheit, die erstmals im Jahr 1901 von Alois Alzheimer bei seiner Klientin Auguste D. diagnostiziert wurde.

Aus Alzheimers Aufzeichnungen ist folgende Konversation mit Auguste D. überliefert: „Wie heißen Sie?“ – „Auguste.“ – „Familienname?“ – „Auguste.“ – „Wie heißt Ihr Mann?“ – „Ich glaube Auguste.“ – „Ihr Mann?“ – „Ach so, mein Mann ...“ – „Sind Sie verheiratet?“ – „Zu Auguste.“ Alzheimer gab dem Krankheitsbild den Namen „Krankheit des Vergessens“. Demenz bedeutet, dass Menschen im Verlauf der Krankheit ihre kognitiven Fähigkeiten verlieren, ihre emotionalen Fähigkeiten bleiben aber erhalten.

g Besteht nur für alte Menschen ein Risiko?

Je älter man wird, desto größer ist das Risiko, an Demenz zu erkranken. Wenn die Symptome bereits vor dem 65.

Lebensjahr auftreten, spricht man von präseniler Demenz.

Präsenile Demenz hat besonders schwerwiegende soziale und finanzielle Auswirkungen, da sie oft Personen trifft, die sich in ihren produktiven Lebensjahren befinden.

g Kann Alzheimer vererbt werden?

Ob Alzheimer vererbt wird oder nicht, kann nicht definitiv gesagt werden, da auch andere Faktoren einen Einfluss auf die Entwicklung der Krankheit nehmen. Verschiedenen Quellen zufolge sind weniger als 2 bis 5 % aller Fälle von Alzheimer durch eine genetische Vererbung bedingt.

Erkrankt man in einem höheren Lebensalter, kann eine genetische Ursache bislang nicht nachgewiesen werden.

Bei einer genetischen Ursache kann die Veränderung eines einzigen Gens für die Entstehung von Alzheimer ausreichen. Rein statistisch gesehen würde das bedeuten,

dass die Hälfte der Nachkommen eines Betroffenen daran erkranken kann. Gene sind aber nur ein Risikofaktor von vielen: Ein hohes Lebensalter, Faktoren des Lebensstils wie Rauchen, Bewegungsmangel sowie andere Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes können die Entwicklung der Alzheimer-Krankheit ebenfalls begünstigen.

g Wie wird Demenz diagnostiziert?

Es gibt verschiedene Methoden und Tests, die helfen, eine Erkrankung früh zu diagnostizieren. Eine frühzeitige Diagnose kann den Verlauf der Krankheit verlangsamen und die Beeinträchtigungen hinauszögern. Ein einfacher und sehr häufig verwendeter Test ist der „Uhrentest“.

Dabei wird die Testperson aufgefordert, die Zahlen eines Ziffernblattes aufzuzeichnen und zusätzlich eine bestimmte Uhrzeit einzutragen. Viele an Demenz erkrankte Menschen scheitern an dieser Aufgabe.

ie weiß man, wie es Menschen mit g W­Demenz geht?

Da Demenz in einer späteren Phase den Verlust sprachlicher Fähigkeiten mit sich zieht, ist es schwierig, die Befindlichkeit und Zufriedenheit von Menschen mit Demenz herauszufinden. „Dementia Care Mapping“ (entwickelt von Tom Kitwood und Kathleen Bredin) ist eine personenzentrierte Beobachtungsmethode, mit der das Verhalten und das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz und die Interaktion zwischen ihnen und den Betreuenden erfasst werden. Die Methode wird eingesetzt, wenn eine neue Form der Betreuung angewendet wird (z. B. Validation nach Naomi Feil) oder wenn es zu Verhaltensänderungen kommt (z. B. aggressives Verhalten). Ziel dieser wissenschaftlichen Methode ist es, die Lebensqualität und das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz zu erhöhen. www.freiewohlfahrt.at www.alzheimer-selbsthilfe.at www.alzheimer-gesellschaft.at

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INTERVIEW

HEIDRUN JANNACH ist seit Langem in der evangelischen Pfarre Mödling aktiv und hat nach ihrer Pensionierung einen Hospiz-Grundkurs und eine neunmonatige Validations-Ausbildung absolviert. Sie begleitet ehrenamtlich ältere Menschen mit Desorientierung in Pflegeheimen und zur Entlastung der Angehörigen auch zu Hause.

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Themen

INTERVIEW

„Weil der Mensch nicht ohne Menschen kann“ Heidrun Jannach, Ehrenamtliche der Diakonie, erzählt über die ­Begleitung von Menschen mit Desorientierung und wie die Methode der Validation sie dabei unterstützt.

INTERVIEW: GUDRUN BAUER FOTOS: NADJA MEISTER

DiakonieThemen: Woher kommt Ihr Interesse,

Menschen mit Desorientierung (Demenz) zu begleiten?

Heidrun Jannach: Mein Interesse, mein innerer Zugang oder auch das „Mehr-wissen-Wollen“, kam durch meine Großmutter. Als sie begonnen hat, Desorientierung zu zeigen, hat man gesagt: „Na ja, sie ist halt schon ein bisserl verkalkt.“ An ihr habe ich sehr viele dieser Zustände, dieser Verhaltensweisen als Kind kennengelernt, und sie haben für mich einfach zu meiner Großmutter dazugehört. Ich sage nicht gerne Demenz, weil es bedeutet, ohne Fähigkeiten, ohne „Geist“ zu sein. Es ist aber so, dass die emotionalen Erinnerungen und die Fähigkeit, Gefühle zu zeigen, voll vorhanden bleiben, nur die kognitiven Fähigkeiten gehen langsam verloren.

? Wie kann man sich Desorientierung

vorstellen?

Desorientierung kann durch die Kombination von biologischen Vorgängen im Gehirn und körperlichen, seelischen und sozialen Verlusten entstehen – vor allem, wenn ein Leben lang die damit verbundenen Gefühle von Trauer, Scham, Wut etc. geleugnet wurden. In der letzten Lebensphase wird oftmals versucht, mit nicht gelösten Lebensaufgaben klarzukommen, sich zu „befreien“. Dies geschieht aber in verschlüsselter Weise. Die Krankheit verläuft in Phasen, wobei zuerst Vergesslichkeit und Unbeholfenheit immer stärker werden, dann die Zeitverwirrtheit dazukommt, später der Sprachverlust und zum Schluss auch Reaktionen immer geringer werden.

? Sie haben eine Validationsausbildung gemacht – wie war das für Sie?

Anstrengend und hochinteressant! (Lacht) Wir mussten ja während der Ausbildung schon früh in der Praxis arbeiten, und was mich gestützt hat, war, dass eine unserer beiden Trainerinnen gesagt hat: „Im Prinzip könnt ihr nichts falsch machen.“ Also die absoluten Don’ts haben wir gekannt. Und wenn man nicht ein Gefühl dafür hat, geht man nicht in diese Ausbildung. Die Trainerin hat auch gesagt: „Es kann nichts passieren, aber es passiert halt auch nichts“ – im Sinne einer Beruhigung und Stützung unserer KlientInnen.

? Was versteht man unter Validation?

Naomi Feil, die die Methode entwickelt hat, nennt es „in den Schuhen des anderen gehen“. Sie meint damit, die Verhaltensweisen, die Aussagen, die Gefühle meines Gegenübers für gültig zu erklären. Das Prinzip in allen Stadien ist: Ich wertschätze und achte mein Gegenüber in seinen Verhaltensweisen und Aussagen.

Denn oft genug hören Menschen gerade in den ersten Phasen der Desorientierung Vorwürfe, erfahren Ablehnung, werden grob mit ihren „Defekten“ konfrontiert: „Jetzt hast du’s schon wieder vergessen.“ – „Red nicht so ein dummes Zeug.“ ... ? Wie funktioniert Validation?

Es gibt drei Säulen der Validation: Die erste Säule, die Grundvoraussetzung für alles, ist die Empathie, die Haltung des Mitgehens, des Mit-

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INTERVIEW

die man sonst als selbstverständlich betrachtet, schon als Glück. Validation gibt Entspannung. Das kann dann natürlich auch Auswirkungen haben auf körperliche Vorgänge. Wenn ich entspannt bin, dann atme ich freier. Das kann nur gut sein für den ganzen Organismus. Ich vergleiche es immer für mich mit einer Palliativmaßnahme – so wie man in der Hospizbewegung von Schmerzbewältigung spricht. Es geht auch hier um Schmerzbewältigung, oft im Sinne einer ersten Benennung eines Schmerzes. Und wenn wir da Schmerzen lindern, dann ist das schon was.

„Es kann nichts passieren, aber es passiert halt auch nichts“ u

fühlens. Nicht des Mitleidens! Das kann schnell falsch und aufgesetzt wirken.

Die zweite Säule ist das Prinzip, dass wir auf die Grundbedürfnisse dieser Menschen reagieren. Und die sind die gleichen wie bei Ihnen und bei mir: Das sind das Stillen von Hunger und Durst, ausreichend Schlaf und das ist, den seelischen Bedürfnissen von Angenommensein, Liebe, Freundschaft und dem Erhalt meiner Menschenwürde zu entsprechen.

Dazu kommen die unterschiedlichen (Kommunikations-)Methoden der Validation als dritte Säule.

? Wann wird Validation nicht angewandt?

Validation wird nicht angewendet bei Menschen, die Schädel-Hirn-Traumata hatten, nach Unfällen oder Schlaganfällen. Wobei ich persönlich meine, diese Umgangsweise, die man da lernt, tut jedem Menschen gut. Aber es ist nicht Validation im klassischen Sinn. ? Ist Validation eine Methode, die das For­t­ schreiten der Krankheit verhindern kann?

Diese Krankheit ist nicht aufzuhalten. Validation kann sie verlangsamen, weil sie den Menschen Momente der Erleichterung, der Wärme und des Glücks geben kann. Glück ist schon ein sehr großes Wort. Allerdings sieht man in manchen Lebensphasen Dinge, 12

Themen

? Im beruflichen Kontext sind Sie mit Desorientierung konfrontiert. Haben Sie Angst vor dieser Krankheit?

Ja, schon, das geht aber fast jedem so, dass man sich manchmal fragt: Werde ich auch einmal so enden? Ja, das denkt man sich. Und es ist real. Schauen Sie sich die Statistiken dazu an: Je älter man wird, desto größer wird das Risiko. Es hat aber natürlich keinen Sinn, sich im Voraus zu fürchten. Ich sehe bei mir allerdings auch eine positive Auswirkung: Ich glaube, ich bin insgesamt aufmerksamer und auch geduldiger geworden … ? Scheitert die Inklusion von Menschen mit Desorientierung an gesellschaftlicher Scham?

Ja, das Thema ist schambehaftet, es ist ein Tabu. Es ist ein ganz diffiziles Thema. Es könnte ja für einen Desorientierten auch sehr schön sein, in „seinen“ Park zu gehen oder in „ihr“ Lieblingscafé. Aber für den Begleiter, die Begleiterin? Da braucht es viel Gelassenheit. Es hat auch mit dem Trend zu tun, „im Leben stehend“, leistungsstark sein zu müssen – wie reagiert die Umwelt auf sichtliche Schwäche? Andererseits erlebe ich auch gerade bei sehr jungem Personal die Überbetonung des „Aufgeschlossenseins“, des Gefühls, alles wäre machbar. Zum Beispiel eine 94-jährige Dame mit der U-Bahn auf den Weihnachtsmarkt am Rathausplatz zu bringen ... Das braucht so viel Fingerspitzengefühl! ? Ein Blick in die Zukunft – was wünschen Sie sich im Hinblick auf die Betreuung von ­Menschen mit Desorientierung?

Also erstens mehr gut ausgebildetes Personal. Zweitens mehr gut ausgebildetes Personal. Und drittens noch einmal: mehr gut ausgebildetes Personal. Denn die Räumlichkeiten sind inzwischen gut. Aber das ist der springende Punkt: Der Mensch kann eben nicht ohne Menschen!

PROJEKTE

Diakonie Projekte zum Thema Demenz

Kärnten: Psychologische Betreuung und Begleitung für Menschen im Alter.

I

n den Häusern für Menschen im Alter der Diakonie in Kärnten gilt der Grundsatz: Es gibt kein „Patentrezept“ für die Betreuung der Menschen. „Wir arbeiten mit Wertschätzung und Toleranz daran, Bedürfnisse wahr- und ernstzunehmen“, so die Fachbereichsleiterin der Diakonie de La Tour, Mag. Daniela Neubert. Seit Sommer 2015 werden die Pflegeteams von klinischen und GesundheitspsychologInnen sowie GerontopsychologInnen unterstützt.

Das ermöglicht es, den Menschen in seiner Gesamtheit zu sehen und neue Perspektiven zu eröffnen.

Das körperliche und das seelische Wohlbefinden stehen gleichermaßen im Mittelpunkt. Die PsychologInnen unterstützen die BewohnerInnen und ihre Angehörigen, wenn es darum geht, Herausforderungen wie z. B. das Einziehen ins Heim zu bewältigen. Die Pflegeteams sind da, um eine bedürfnisgerechte Versorgung und individuelle Betreuung zu bieten.

Gegenseitige Wertschätzung bestimmt den Alltag in der Pflege

www.diakonie-delatour.at/menschen-im-alter

Alzheimer Café, Tanzen und Therapiegärten Demenz-Angebote im Diakoniewerk in Oberösterreich und in Salzburg.

werks wie das Haus für Senioren in Wels und die Senio­ren­ arbeit Urfahr-Umgebung veranstalten spezielle Tanznachmittage, die die Einschränkungen durch Demenz, Alter und verminderte Bewegungsfreiheit vergessen lassen und schöne, entspannte gemeinsame Stunden bringen. Nun wird die Reihe mit „Tanz im Quartier“ in Wels fortgeführt (zumindest bis Ende des Jahres).

Im Garten kann man sich geborgen fühlen

A

LZHEIMER CAFÉS. Bei den „Alzheimer Cafés“ Wels und Mauerkirchen treffen sich Angehörige von Menschen mit Demenz zum Informations- und Erfahrungsaustausch in einer fachlich geleiteten Gruppe. Die von Demenz betroffenen Personen werden bei Bedarf in dieser Zeit von geschulten MitarbeiterInnen betreut. Ziel ist es, pflegenden Angehörigen Anregungen, Ermutigung, Rückhalt und vor allem auch Abstand vom Pflegealltag zu ermöglichen.

TANZEN UND MUSIK sind Wege, Menschen mit Demenz zu erreichen und zu berühren. Einrichtungen des Diakonie-

THERAPIEGÄRTEN. In den Häusern für Senioren des Diakoniewerks Wels und Gallneukirchen wurden spezielle Therapiegärten für Menschen mit Demenz angelegt. Therapiegärten sind besonders für Menschen mit Demenz beruhigend, entspannend und vermitteln darüber hinaus auch Geborgenheit. Die Wege sind so angelegt, dass sie immer wieder zum Ausgangspunkt zurückführen, und man stößt unterwegs wiederholt auf etwas Vertrautes, Bekanntes.

Menschen im Rollstuhl können die Wege einfach passieren.

SALZBURG. Die Demenzberatungsstelle in Salzburg bietet persönliche, gezielte Beratung für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen an. Außerdem gibt es immer wieder Vorträge und Informationsveranstaltungen zu speziellen Themen. www.demenzinfo.at

Themen

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WORDRAP

WORD RAP MIT KLAUS MARIA BRANDAUER, SCHAUSPIELER

Vorwärts leben, rückwärts verstehen JUGEND?

KLAUS MARIA BRANDAUER stammt aus Altaussee in der Steiermark und gehört zu den bekanntesten Schauspielern unserer Zeit. Seit mehr als 40 Jahren ist er Mitglied im Ensemble des Wiener Burgtheaters, seit einigen Jahren ist er auch regelmäßig am Berliner Ensemble zu erleben. Seit Dezember 2013 spielt er den „König Lear“ am Wiener Burgtheater.

Seine internationale Filmkarriere begann 1970 mit „Salzburg Connection“.

Mit István Szabó realisierte er die Trilogie „Mephisto“ , „Oberst Redl“ und „Hanussen“. Er spielte in „James Bond 007 – Sag niemals nie“, sowie in „Jenseits von Afrika“ von Sydney Pollack.

In der TV-Produktion „Die Auslöschung“ spielt er in der Hauptrolle einen Demenzbetroffenen.

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Themen

Ist kein Verdienst.

ALTER? Ebenso wenig.

WEISHEIT? Hat für mich immer etwas mit Gelassenheit zu tun.

VERGESSEN? Kann sehr heilsam sein. Wir könnten nicht leben ohne das Vergessen.

BEZIEHUNG? Die schwierigste ist wohl die zu sich selbst.

VERGANGENHEIT? Die besseren Antworten findet man immer in der Gegenwart.

ZUKUNFT? Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, aber leben muss man es vorwärts.

HERKUNFT?

Wir versuchen es immer wieder, aber wir entkommen ihr nicht. In dieser Erkenntnis steckt viel Trost.

GESUNDHEIT? Ist ein kostbares Geschenk, welches ich mit den Jahren immer mehr zu schätzen weiß.

KÖRPER? Und Geist und Seele – es braucht alle drei.

GEIST? Der Geist bricht manchmal aus, dann müssen die beiden anderen ihn wieder einfangen.

Aber bitte nicht sofort! Das gilt übrigens auch für die anderen beiden …

ERSTREBENSWERT? Ein großes und langes Sonntagsfrühstück mit Familie und Freunden.

MEIN MOTTO? Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.

(William Shakespeare: Hamlet)

„Ganz oben im Hellen“

DIAKONIE WÖRTLICH

Peter Jarosch und Maria Hitz brauchen Unterstützung. Die bekommen sie in einer Hausgemeinschaft der Diakonie in Wien. Beide sind Hoffnungsträger der Diakonie. Sie erzählen, was sie bewegt.

Peter Jarosch

Ein neuer Tag: „Schau ma, was draus wird“ Ich bin jetzt 75 und hoffe, dass ich es noch bis 80 schaffe. ob ich gut oder schlecht drauf bin. Wenn sie weg ist, komm Früher war ich Fernfahrer. Ich bin immer bis Rotterdam geich mir vor wie neu. Mit der kann ich mir alles von der Seefahren. Jetzt wohne ich bei der Diakonie, in einer Hausgele reden. Die hat Zeit, ein bis zwei Stunden. Sie bringt mir meinschaft. Ich hab mein eigenes Zimmer. Da schau ich auch, was ich brauch. viel fern. Die Sozialarbeiterin hat mir DVDs gebracht.

Das Schöne an der Wohnung da ist, dass ich meine Ruh Am meisten Freude macht mir, wenn mich meine Kinder hab. Ich kann meine Tür zumachen, und dann werd ich in besuchen kommen. Am öftesten kommt die Jüngste, sie Ruhe gelassen. Und wenn ich was brauch, dann kommt ist Stationsschwester auf der Unfallchirurgie. Die anderen wer zu mir. Meine Hoffnung ist aber trotzdem, dass ich haben nicht so viel Zeit. Aber was solls. noch einmal eine eigene Wohnung krieg.

Sie sind alle erwachsen. Jeder hat sein LeMir bleibt ja nix anderes übrig, als das Besben. Ich hab auch meins gehabt. te aus der jetzigen Situation zu machen.

Ich mach mir alles selber. Wenn ein neuWeil: Alles kann ich nicht mehr selber. er Tag anfängt, dann sag ich: „Schau ma Manchmal braucht man schon Hilfe. halt amal, was draus wird.“ Da kann nicht Wenn’s net weitergeht. Und dann ist die viel passieren. Schön ist, wenn ich mich G’schicht erledigt. Man muss sich nur an mit jemanden unterhalten kann. Die Sozial­ die richtige Person wenden. Da sind bei arbeiterin kommt alle 14 Tage, und mit der uns ja genug da, die uns helfen. Aber dreinkann ich mich ausreden. Sie sieht gleich, Peter wohnt jetzt nicht mehr alleine reden lass ich mir nicht ...

Maria Hitz

„Ich bin gern da, wo ich jetzt wohne“ 1969 ein schweres Asthma bekommen. Da hab ich dann Seit Mai wohne ich in Simmering in der Hausgemeinschaft um die Pension einreichen müssen. Das war schwierig. Ich von der Diakonie. Davor war ich in Kagran zu Hause. Zum hab geweint, wie ich dort wegmusste, aber ich hab einfach Schluss in Kaisermühlen, da hab ich dann allein gewohnt. keine Luft gekriegt. Mein Chef war ein sehr guter Chef.

Ich bin 1924 im Waldviertel geboren und 1946 nach Wien Und ich wollte meine Sachen dort nie abholen. Weil es mir gekommen, nach meiner Heirat, gemeinsam mit meinem so schwergefallen ist, aufzuhören. Ich wollt nicht daheim Mann. Wir haben eine ausgebombte Wohnung gekriegt. sitzen. Ich wollt nicht nur im Haushalt arbeiten.

Im Waldviertel war ich in der Schule. Und danach mussIch hatte eine Tochter, die hat drei Söhne. Und jetzt hab te man arbeiten. Da war ich eine Dienstmagd am Bauernich sieben Urenkel. Die Buben waren viel bei mir, wie sie hof. Die Eltern haben uns nicht erhalten können. Wir waren klein waren. Sind nach der Schule zum Esdrei Mädchen. Mein Vater hat in einem sen zu mir gekommen. Leider haben sie Steinbruch gearbeitet. Die Mutter hat in sehr wenig Zeit. Ich seh sie nur ab und zu.

Heimarbeit gestrickt.

Leider hab ich schon allerlei Wehwechen.

Ich hab’s aber ganz gut erwischt, ich Aber ich bin schon ganz gern da, wo ich hab gern beim Bauern gearbeitet. Hab ein jetzt wohn. Die kümmern sich gut um mich. bissl Geld dafür gekriegt.

Ich geh manchmal auf die Terrasse. Ich Wie ich geheiratet hab, hab ich in Wien wohne im fünften Stock. Ich hab gesagt, in der Putzerei gearbeitet. Dann musste ich zieh da nur hin, wenn ich oben wohnen ich leider in Pension gehen. Weil ich die Maria erzählt gern aus ihrem Leben kann, im Hellen!

Arbeit nicht mehr vertragen hab. Ich hab

Themen

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MYTHEN & MÄRCHEN

?

STIMMT´S MYTHEN & MÄRCHEN

VON HELGA ROHRA

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Themen

Nimmt Demenz ­einem ­Menschen die ­Persönlichkeit?

„Nein. Ich stehe trotzdem neben dir.“

M

y name is Helga Rohra. I’m a person with dementia of Lewy-Body type but I belong to you. Ich stehe trotzdem neben dir.

Es gibt nicht nur Alzheimer, es gibt viele Formen von Demenz, und alle Formen haben etwas gemeinsam – nennen wir es „vergessen“. Mein Leben ohne das Gestern. Ich kann es literarisch formulieren. Diese Menschen, über die AutorInnen wie Lisa Genova oder Stella Braam oder Arno Geiger geschrieben haben – all diese Menschen behalten ihre Persönlichkeit. Das „Ich“ geht nie verloren, auch wenn meine Sprache schwindet.

Sie kennen doch diese typische Situation: Ihnen fehlt das Wort, um etwas zu bezeichnen, daher umschreiben Sie es. Ich verwechsle Vokale und ich verwechsle die Buchstaben, dabei kommen lustige Sachen heraus. Ich habe das notiert und es nennt sich nicht Englisch, sondern es nennt sich Dementisch. Sie müssen nur gut zuhören und es hat einen Sinn, alles hat einen Sinn.

Warum ich jetzt so gut sprechen kann? Weil ich die Sprachtherapie eingefordert habe. Die Logopädie wurde auf neue Beine gestellt und hat ihr hundertjähriges Bestehen in der Nürnberger Frankenhalle gefeiert. Ich durfte dort zwei Sätze sagen, aber die waren schon ganz wichtig: an sich glauben und diese Hilfe einfordern.

Machen Sie Übungen mit mir, sagen Sie mir, was ich machen soll, ich bin bereit.

Aber damit ich bereit bin, muss ich zuerst diese Diagnose annehmen. Ich muss sagen können: „Ich bin dement, na und?“

Demenz fragt nicht: Wie alt sind Sie? Welche Bildung haben Sie? Wie stehen Sie in der Gesellschaft da? Demenz kommt, ohne zu fragen.

Das Besondere ist, wenn sie früh kommt. Es ist ganz anders, wenn sie mit 80 Jahren kommt – dann kommt sie gewaltig, dann merke ich das nicht mehr. Ich merke zwar nicht, dass ich vergesslich bin, aber der Angehörige weist mich darauf hin. Wenn Demenz früh kommt, merke ich es, denke darüber nach und schreibe es mir sogar auf. Dann spielt auch die Biografie eine Rolle, die Biografie ist das Wichtigste im Leben eines Menschen, der älter wird.

Wenn ich einmal in einem Heim bin, dann geben Sie mir einen Timer und bei dem streichen Sie mir an: waschen, duschen, mit Uhrzeit und Farbe; Frühstück mit Uhrzeit und einer anderen Farbe usw. Wenn Sie mich in diesen Terminkalender blättern lassen, dann bin ich happy. Ohne diesen gehe ich nicht aus dem Zimmer, weil das meine „Biografie“ ist. Damit Sie mit mir gut umgehen und mir die Selbstbestimmung ermöglichen können, müssen Sie mich kennen.

Lassen Sie die Leute hinschauen, zeigen Sie ihnen, wo was passiert. Da bekommt man dann eine andere Sichtweise und dann wissen Sie auch, was passiert, aber der Mensch bleibt immer noch dieselbe Person.

Ich möchte mit ein paar Gedanken enden, die für die Menschen gedacht sind, die sich nicht mehr so artikulieren können wie ich. Wo die Sprache einfach versagt: Wenn die Sprache nicht mehr die Worte sind, dann besteht auf jeden Fall eine andere Ebene. Es heißt, es geht um mehr. Du siehst meinen Glauben nicht, du siehst meine Verwandlung nicht, du siehst deine Zukunft, du siehst alles klar, du stehst da, über mir. Ich lebe meinen Glauben, ich liebe meine Verwandlung, ich sehe mein Jetzt, ich bin unklar, aber ich stehe trotzdem neben dir.

Helga Rohra war 54, als sie die Diagnose Demenz erhielt.

FACHKOMMENTAR INHALT

Wir werden erst am Du zum Ich

Es braucht eine radikale Änderung des Blickes auf den Alltag von Betroffenen.

V

iel wird über Demenz geschrieben, vor allem aus medizinischer und statistischer Sicht. Die wissenschaftliche und statistische Aufbereitung des Themas ist ohne Zweifel wichtig, denn noch immer braucht es viel an Information und Bewusstseinsarbeit.

Vor allem aber bedarf es einer radikalen Änderung des Blickes auf den Alltag von Betroffenen mit neuen Blickwinkeln und neuen Sichtweisen, die sich an Kompetenzen und nicht an Defiziten ausrichten.

Entscheidend für den Alltag, für die tägliche Begleitung, für das Zusammenleben mit Menschen mit Demenz ist, von welchem Menschenbild wir uns dabei leiten lassen: von einem Bild, das Menschen als denkendes und wissendes Wesen in den Mittelpunkt stellt – im Sinne von René Descartes: „Ich denke, also bin ich“; oder von einem Bild, das den Blick auf das Personsein lenkt; auf einen Status, der dem Einzelnen im Kontext von Beziehung und sozialem Sein von anderen verliehen wird – im Sinne Martin Bubers, für den der Mensch seine Identität erst in der Begegnung mit einem menschlichen Gegenüber erhält.

Demenz. Ich bin mehr.

In einer Gesellschaft, in der Wissen und Information einen hohen Stellenwert haben und sowohl auf individueller als auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene bedeutsam und mächtig sind, wird kognitive intellektuelle Leistungsfähigkeit als hohes Gut angesehen. Viel zu leicht und viel zu oft passiert es, dass Menschen,

menschliches Wirken und Sein auf diesen Wert reduziert werden: gerade beim Verlust von kognitiven Fähigkeiten, wie er mit der Demenz einhergeht.

Umso bedeutender ist es, die Dimensionen des Personseins – etwas wert sein, etwas tun und bewirken können, Kontakt zu anderen Menschen haben und dazugehören, Sicherheit, Urvertrauen und Hoffnung verspüren – zu betonen und zu leitenden Werten zu machen.

Menschen mit Demenz dürfen nicht auf den Verlust ihrer kognitiven Fähigkeiten reduziert werden. Sie sind mehr als ihre Demenz. Sie handeln, also sind sie.

An uns als Individuen und an uns als Gesellschaft liegt es, Menschen mit Demenz im Sinne Martin Bubers in den Beziehungen zum Du zu machen – und uns zum Ich. Wir sind es, die Menschen mit Demenz ihren Status in den täglichen Begegnungen geben. Dies gilt sowohl in den institutionalisierten Formen von Unterstützung, Begleitung und Pflege als auch im privaten Kontext. ProfessionistInnen benötigen dabei genauso Unterstützung wie Angehörige.

Die Gefühlswelt bleibt lange intakt, und Menschen mit Demenz spüren, wie wir ihnen begegnen – wie wir mit ihnen in Beziehung treten, ob wir sie auf den Abbau ihrer geistigen Fähigkeiten und ihre Defizite reduzieren oder ob wir uns ehrlich und gewissenhaft darum bemühen, ihnen als Personen zu begegnen, und sie in ihrem Personsein stützen und stärken.

DR.IN DANIELA PALK ist Soziologin und im ­Diakoniewerk Gallneukirchen für die Leitung des Kompetenzmanagements Seniorenarbeit zuständig.

Sie hat sich intensiv mit skandinavischen Alten­ hilfesystemen befasst und ist mit Fragen der Qualitäts­ sicherung, fachlichen Konzepten und der Gestaltung der Dienstleistungen betraut. Langjährige Berufserfahrung hat sie auch in der Sozialplanung der Landesverwaltung Oberösterreich gewonnen.

www.demenzinfo.at

Themen

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ZAHLEN

Die Welt in Zahlen Anzahl an ­Demenz­erkrankungen weltweit

Wovor haben ­Menschen Angst, wenn es darum geht, alt zu werden?

40

Alle

% nn der InderI en aues haben Angst, gr m Haar zu beko men

47,5 Millionen M ­ enschen weltweit leben mit Demenz.

schnitt

(weltweiter ­Durch 15 %).

37

% Innen er pt der Ägy ngst, A e in haben ke

Die Anzahl der an ­Demenz erkrankten Personen wird sich …

… bis 2030 auf 75,6 Millionen … und

wenn sie an das Alter denken (weltweit 8 %).

Sekunden

70

wird weltweit eine Demenz­ diagnose gestellt.

… bis 2050 auf 135,5 Millionen erhöhen.

% en ch ts der Deu

Alter das haben Angst, im verlieren zu ­Gedächtnis 47 t (weltwei %). orschung Quelle: Konsumf g Agentur) (Roper Consultin

Quelle: WHO 2015, www.who.int/features/factfiles/dementia/en

Wie wollen Sie einmal ­gepflegt werden? Österreich

45

36

11

Zu Hause mit Verwandten

EU-27

Dänemark

8

36

50 Zu Hause mit Diensten

23 Stationär

67

Angaben in Prozent, n = 30.000, Rest auf 100 k. A.

Quelle: Eurobarometer 2007, Special Eurobarometer Nr. 283

45 % der Menschen in ÖSTERREICH wollen von ihren Angehörigen zu Hause gepflegt werden. In DÄNEMARK wünschen sich knapp 70 % eine Pflege zu Hause durch häusliche Pflegedienste. Dänemark ist bekannt für ein gut ausgebautes häusliches Pflegesystem, in Österreich sind mobile Pflegedienste nur eingeschränkt verfügbar.

1818Themen Themen

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BÜCHER | EUROPA

Buch- und Filmtipps

Best of EUrope

Vergiss mein nicht Wie meine Mutter ihr Gedächtnis verlor und ich meine Eltern neu entdeckte

David Sieveking, Herder, 2013 Die Mutter hat Alzheimer. Der Sohn, ein bekannter Filmemacher, zieht wieder zu Hause ein, um für sie da zu sein, und dokumentiert seine Erfahrungen. Es gelingt ihm, mit ihr wunderbar lichte Momente zu erleben. Durch die Krise der Mutter findet sich die Familie neu. Eine realistische Darstellung einer Krankheit, vor der wir die Augen nicht verschließen dürfen.

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Ich bin, wer ich war Mit Demenz leben

Erich Fenninger (Hrsg.), Dagmar Fenninger-Bucher, Teresa Millner-Kurzbauer, Residenz-Verlag, 2014 Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen erzählen von ihrem Leben.

Niemand kann das besser als sie selbst, denn sie sind ProtagonistInnen und ExpertInnen zugleich. Sie sprechen über Gewesenes und Zukünftiges, über Liebe und Partnerschaft, über Isolation und auch darüber, wie ihnen manchmal die Kraft ausgeht.

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Das 4. Lebensalter Demenz ist keine Krankheit

Reimer Gronemeyer, Pattloch, 2013 Immer mehr Menschen werden an Demenz erkranken, ihre Familien sind immer weniger in der Lage, diese Menschen aufzufangen. Reimer Gronemeyer sagt: Mit medizinischer Forschung werden wir das Problem nicht lösen! Was wir brauchen, ist eine Strategie gegen die sozialen Folgen von Demenz.

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Still Alice Alzheimer-Drama (Film)

Regie: Wash West und Richard Glatzer, 2015 Oscar-Preisträgerin Julianne Moore verkörpert eine erfolgreiche Forscherin, eine tatkräftige und selbstbewusste Frau, die ihr Leben der Karriere gewidmet hat. Gemeinsam mit ihrem Ehemann John und ihren drei Kindern versucht Alice, mit den zunehmenden Gedächtnislücken zurechtzukommen. Ihr Mobiltelefon wird zum ständigen Begleiter, um sie an Termine oder die Medikamenteneinnahme zu erinnern. Mit einem selbstauferlegten Test, in dem sie acht persönliche Fragen beantworten muss, überwacht Alice jeden Tag das Fortschreiten ihrer Krankheit.

g

Auch Menschen mit Demenz arbeiten gerne im Grünen

„GREEN CARE“ IN NORWEGEN

Soziale Inklusion von ­Menschen mit Demenz

W

ie gelingt es, Menschen mit Demenz eine bedeutungsvolle Beschäftigung zu geben und sie zugleich in das gesellschaftliche Leben zu integrieren? Diese Frage stellte sich Anita Ellefsen von der Oslo Church City Mission, als sie mit der frühzeitigen Demenzerkrankung eines im Erwerbsleben stehenden Mannes konfrontiert wurde.

Auf dem Bauernhof Die Oslo Church City Mission startete im Jahr 2007 das Pilotprojekt „Green Care“, das Menschen mit Demenz die Möglichkeit bietet, auf einem Bauernhof mitzuarbeiten.

Das Projekt versteht sich als Tagesbetreuung für Menschen mit Demenz. Dabei können diese drei Tage in der Woche einer sinnstiftenden, gemeinsamen Beschäftigung nachgehen.

Das Angebot richtet sich speziell an Personen zwischen 55 und 75 Jahren, die an Demenz erkrankt sind, jedoch in einem guten physischen Zustand sind. Neben dem sozialen Miteinander wird den betreuten Menschen eine Reihe von Aktivitäten angeboten, wie Spaziergänge in der Natur oder sich um Schafe und Pferde zu kümmern.

Das „Green Care“-Projekt ermöglicht Menschen mit Demenz einen längeren Verbleib im eigenen Zuhause, da es auch zur Entlastung ihrer Angehörigen beiträgt. Die Mitarbeit am Bauernhof steht dabei im Mittelpunkt. Die Mitarbeit am Bauernhof bedeutet für die Menschen eine aktive und sinnstiftende Beschäftigung mitten in der Gesellschaft.

Weitere Good-Practice-Projekte zur Unterstützung von Menschen mit Demenz und deren ­Familien finden Sie hier: www.eurodiaconia.org/2015/05/report-releasedsupporting-persons-with-dementia-and-their-families

Themen

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DIAKONIE HAUTNAH

„Komm bald wieder!“ Eliana hat sich ein Gymnasium ausgesucht, wo „Altenarbeit“ ein Maturafach ist.

VON ROBERTA RASTL-KIRCHER

E

in Donnerstag im Juni in einer Senioren-Hausgemeinschaft der Diakonie in Wien. Eliana Strotzingen (18) ist zu Besuch und unterhält sich angeregt mit Frau Rothe.

Eliana hat vor zwei Tagen ihre Matura im Evange­ lischen Gymnasium in Wien abgelegt und ist damit eine der zwölf ersten Jugendlichen in Österreich, die den Schwerpunkt „Geragogik“ absolviert haben. Eliana ist für dieses letzte Schuljahr aus ihrer Heimat in Deutschland nach Wien gekommen.

DiakonieThemen: Was ist Geragogik

Eliana bei einem ihrer Besuche in der SeniorenHausgemeinschaft im Gebäude der Schule

und was ist daran interessant für dich?

Eliana: Ich habe vor zwei Jahren ein Praktikum in einem Seniorenheim gemacht, wo ich mich zwei Wochen lang bei der Beschäftigungstherapie umschauen und engagieren konnte. Dabei ging es darum, die großteils sehr alten Menschen im Alltag so zu begleiten, dass sie möglichst viel selbst machen können. Ich habe das Frühstück mit ihnen gemeinsam hergerichtet und am Nachmittag Spiele mit ihnen gespielt, bei denen sie Kopf und Hand koordinieren mussten. Diese Spiele machen den alten Menschen Spaß, und daher hat auch mir diese Aufgabe von Anfang an viel Freude bereitet.

? Wie bist du auf die Idee gekommen, dich für alte Menschen zu interessieren?

Mein Vater ist Hausarzt und hat viel mit älteren Menschen zu tun. Ich habe schon zu Hause von meinen Eltern gelernt, dass es wichtig ist, die alten Menschen zu respektieren. In meinen ersten Begegnungen habe ich gesehen, dass man mit ihnen und von ihnen so viel lernen kann. Und irgendwie macht es mich glücklich, wenn mir alte Menschen sagen: „Komm bald wieder!“ ? Du hast die Schule bewusst ausgewählt?

Ja, ich habe mir die Schule angesehen, habe gesehen, dass es hier möglich ist, praktisch im Seniorenwohnheim mitzuhelfen. Deshalb habe ich mich entschieden, aus Deutschland hierherzukommen und hier meine Matura abzulegen.

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Themen

? Worum geht es im Fach „Geragogik“?

In Geragogik lernt man vor allem die Situation von alten Menschen kennen; man lernt, welche Probleme es geben kann. Die Herausforderung ist, dass es den Menschen trotzdem weiterhin gut gehen soll, dass ihr Leben lebenswert und schön bleiben soll. Sie sind ja nicht „krank“, sondern ein bisschen verwirrt, und sie brauchen Unterstützung. Nicht mehr und nicht weniger. ? Was sind denn so ganz konkrete Erfahrungen, die du in deinem letzten Schuljahr gemacht hast?

Am Anfang haben wir zum Beispiel eine Ergotherapeutin dabei begleitet, wie sie eine ältere Frau mobilisiert hat – wie sie ihr dabei geholfen hat, dass sie gewisse Bewegungen wieder selber machen kann. Mit einem alten Mann hat sie zum Beispiel Kopfrechnen gespielt. Man muss sagen: gespielt, weil es dem Mann – obwohl er eigentlich schon sehr verwirrt ist – noch immer sehr leichtfällt, im Kopf Zahlen zu addieren und zu multiplizieren. Unsereins braucht da schon manchmal den Taschenrechner! ? Was habt ihr sonst noch gemacht in der letzten Klasse?

Wir haben in diesem Jahr einige Tageszentren und andere Senioreneinrichtungen in Wien besucht, haben gesehen, wie dort gearbeitet wird, und haben bei diesen Besuchen auch immer viele Gespräche mit den Bewohnern und Bewohnerinnen führen dürfen. Das ist etwas, was mir besonders gut gefallen hat. Ich habe einfach einen guten Draht zu alten Menschen. Und ich habe auch viel gelernt, bin viel selbstsicherer geworden. ? Was machst du denn jetzt konkret anders als früher?

Hätte mich früher ein alter Mensch nach dem Weg gefragt, hätte ich es vielleicht nur erklärt.

Heute würde ich einen älteren Menschen auf jeden Fall ein Stück begleiten, denn es ist nicht so selbstverständlich, dass sich jemand den Weg merken kann und sein Ziel findet. www.evangelischesgymnasium.at

KURZ GEMELDET

Hoffnung braucht ein Ja! Diakonie-Kampagne für mehr Möglichkeiten.

M

www.diakonie.at/hoffnung-braucht-ein-ja

it TV- und Hörfunkspots, Plakaten und Inseraten stellt die Diakonie zwischen November 2015 und Februar 2016 Menschen und Projekte vor, die Lebensqualität, sozialen Zusammenhalt und Solidarität fördern und weiterentwickeln. Wir machen uns dafür stark, dass in Angebote investiert wird, die Menschen helfen, egal ob mit Behinderung, Migrationshintergrund, Lernschwierigkeiten oder aus zerrütteten Familien.

Damit stellt sich die Diakonie gegen Maßnahmen, die immer mehr Menschen ausgrenzen. Mit 24 Vorschlägen fordert die Diakonie die Regierung auf, zu handeln. Gegen Schwarzsehen, Krankjammern und Hoffnungslosigkeit: Wir können etwas tun!

Der Winter naht auch in Moldau

Jeder Mensch hat ein Recht auf Kommunikation

Besuch mit guten Nachrichten.

„Ohne Ihre Hilfe sind viele Menschen sprachlos!“

Unterstützte ­Kommunikation Besonders alte Menschen leben oft in desolaten Häusern

I

m Oktober besuchten Projektverantwortliche von „Brot für die Welt“ gemeinsam mit VertreterInnen österreichischer Medien aktuelle Altenhilfe-Projekte in der Republik Moldau.

Moldau ist als „Armenhaus“ Europas bekannt. Trotzdem kann man sich kaum vorstellen, unter welchen Bedingungen die Menschen, vor allem alte Menschen, auf dem Land dort leben müssen.

Der Besuch brachte für die pflegebedürftigen KlientInnen mehrere gute Nachrichten. So konnte über die Massenmedien einmal mehr deutlich gemacht werden, wie dringend jede Hilfe vor Ort gebraucht wird. Gleich nach den ersten Medienberichten konnten wir uns über steigende Spendeneingänge freuen. Ein österreichischer Spender hat eine „Patenschaft“ für eine der alten Frauen übernommen, die ganz besonders auf die Hilfe des Pflegeteams angewiesen ist.

Wir freuen uns über weiteres Interesse. www.brot-fuer-die-welt.at

Ohne Hilfe bleiben viele sprachlos!

I

n Österreich sind etwa 60.000 Menschen in ihrer Kommunikation beeinträchtigt. Viele von ihnen erhalten keine finanzielle Unterstützung für die Anschaffung von Hilfsmitteln, die sie zu ihrer sprachlichen Verständigung benötigen.

Die Diakonie unterstützt in Zusammenarbeit mit LIFEtool und Verbund die Forderung, dass jeder Mensch, der sie benötigt, Zugang zu unterstützter Kommunikation und zu assistierenden Technologien erhält.

Die Diakonie hat im Herbst zu einer Aktion aufgerufen, um diesen Menschen zu ihrem Recht auf Sprache zu verhelfen. Sie soll den zuständigen Sozialminister Rudolf Hundstorfer darauf aufmerksam machen, dass Menschen ein Recht auf Kommunikation haben und dass er dafür Sorge tragen muss, eine ausreichende Finanzierung bereitzustellen.

Die Aktion hat eine große Breitenwirkung erzielt: Bis Ende November hat der Sozialminister an die 2000 Postkarten erhalten. Wir hoffen, dass uns diese Aktion dem Rechtsanspruch auf assistierende Technologien einen großen Schritt näherbringt. www.diakonie.at/recht-auf-kommunikation

Themen

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AUF DEN PUNKT GEBRACHT

Der alte König nimmt den Hut VON ARNO GEIGER

Das Hämmern mit der Faust gegen den Kopf hat nicht dieselbe Wirkung wie in meiner Kindheit, als mein Vater aufstand und mit der Faust auf den Fernseher haute, weil das Bild zu wandern angefangen hatte.

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Themen

ie Alzheimererkrankung meines Vaters macht sich seit über einem Jahrzehnt bemerkbar. Die Schnittbilder des Gehirns, die der Neurologe anfertigt, zeigen das ganze Ausmaß der Zerstörung.

Trotzdem tritt mein Vater fast täglich für kurze Momente aus seiner Krankheit heraus und fragt auf die eine oder andere Art verzweifelt: „Was ist mit meinem Kopf los?“ Er klopft sich gegen die Stirn: „Da stimmt doch etwas nicht. Kannst du mir sagen, wie wir das reparieren können?“ Dann schaut er mich Hilfe suchend an und ist enttäuscht, wenn ich wenig überzeugend antworte: „Hilfe kommt aus Bregenz.“ Das hat Franz Kafka fast auf den Tag genau zehn Jahre vor der Geburt meines Vaters in sein Tagebuch notiert, am 6. Juli 1916. Und wie ein Kafkascher Held muss sich mein Vater fühlen, obwohl er vom Garten seines Hauses nach Bregenz sehen kann. Kafka fährt fort: Und als der Kranke angestrengt die Augen zusammenzog, fügte der Arzt hinzu: „Bregenz in Vorarlberg.“ – „Das ist weit“, sagte der Kranke.

Auch für meinen Vater ist Bregenz weit, zumindest gemessen an dem, wie wenig man ihm helfen kann. In den hellen Momenten, die er hat, windet er sich vor Verlangen nach einem funktionierenden Gehirn – doch Besserung tritt nicht ein. Das Hämmern mit der Faust gegen den Kopf hat nicht dieselbe Wirkung wie in meiner Kindheit, als mein Vater aufstand und mit der Faust auf den Fernseher haute, weil das Bild zu wandern angefangen hatte.

Vor einiger Zeit machte Daniela, die Betreuerin, die ihm am nächsten stand, meinen Vater zum Spazierengehen fertig. Er trug bereits Stra-

ßenschuhe und Jacke. Daniela setzte ihm den Hut auf und sagte: „Hier hast du deinen Hut.“ „Das ist recht und gut. Aber wo ist mein Gehirn?“ „Dein Gehirn ist unter dem Hut“, sagte ich von der Küche aus; ich machte einen meiner sporadischen Besuche.

Mein Vater nahm den Hut wieder ab, schaute hinein und erwiderte: „Das wäre aber ein Wunder.“ Er zögerte, dachte nach, und indem er den Hut wieder aufsetzte, fragte er schüchtern: „Ist es wirklich unter dem Hut?“ – „Ja, es ist dort, wo

„Ist das Gehirn wirklich unter dem Hut?“ – „Ja, es ist dort, wo es hingehört“

es hingehört“, sagte ich. Er zog die Brauen hoch und ging verdattert hinter Daniela zur Tür.

Der erste Tag im Heim Es war ein warmer, sonniger Morgen, deshalb brachte ihn meine Mutter, die nach der Kapitulation einer Betreuerin auch diesmal wieder kurzfristig angereist war, um meinen Vater zu versorgen, zu seinem Gartenstuhl vor dem Haus. Von dort aus wechselte er mit vorbeigehenden Nachbarn einige Worte. Mittags aß er Käsknöpfle. Nach dem Mittagsschlaf, gegen drei am Nachmittag, trank er Tee und half dann, seine Reisetasche zum Auto zu tragen. Anschließend stieg er ein und ließ sich von meiner Mutter zum Seniorenheim fahren.

In der Eingangshalle saß eine kleine Frau auf der Couch, mein Vater sagte „Halleluja!“ und hob die Hand. Er ging auf die Frau zu, nahm sie bei der Hand und gemeinsam folgten sie meiner Mutter zur Tür in den Aufenthaltsraum der Pflegestation. Dort begrüßte die Leiterin der Station meinen Vater und zeigte ihm sein Zimmer, auch die Bilder seiner Großeltern, die dort bereits hingen. Er meinte, er habe die Leute schon gesehen, kenne sie aber nicht.

Ich wartete ein ­wenig, dann setzte ich mich zu ihm, wir redeten und spielten Arm­ drücken. Er legte sich mächtig ins Zeug und grinste dabei.

Das Alter als Kulturform Als ich ihn vor einigen Tagen besuchte, saß er bei meinem Eintreffen allein an seinem Tisch und sang. Ich wartete ein wenig, dann setzte ich mich zu ihm, wir redeten und spielten Armdrücken. Er legte sich mächtig ins Zeug und grinste dabei. Er hatte sichtlich Freude und wirkte nicht, als sei er zum Leben nur gezwungen. Seine Heiterkeit mochte durch seine gesundheitliche Lage nicht gerechtfertigt sein. Wen kümmert‘s.

Ich sagte zu ihm: „Du bist eh sehr kräftig.“ Er grinste erneut und antwortete: „Es reicht bei mir nicht mehr, jemanden in den Schnee zu stecken, aber ich bin auch kein Pappenstieler. Das wollte ich dir zeigen, sonst hätte ich es gar nicht gemacht.“ Und kurz darauf fügte er hinzu: „Wir haben eh keine andere Wahl, als dass wir uns wehren. Wenn nicht, dann sind wir arme Hunde.“ Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass mein Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Voraussetzungen. Denn Vergeltung am Tod kann man nur zu Lebzeiten üben.

ARNO GEIGER ­ist ­Schriftsteller.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Der alte König in seinem Exil“, dtv 2011.

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