Deutsche Umschau 1/2019

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Kultur

Klänge aus dem Musikwinkel Industriezweige aus der ehemaligen Heimat Informiert man sich heute über die „Musikgemeinde“ Nauheim im Kreis Groß-Gerau, so fällt einem auf, dass diese hessische Gemeinde im Jahre 1946 von damals 3290 Einwohnern 565 Heimatvertriebene beherbergte. Das waren 17,2 Prozent der örtlichen Bevölkerung. Und glaubt man der im Jahre 1990 entstandenen Dokumentation über die Heimatvertriebenen im Kreis Groß-Gerau „Geflüchtet, Vertrieben, Aufgenommen“ der Autorin Ortrud Becker, so erreichte in manchen Riedorten der Bevölkerungsanteil der deutschen Heimatvertriebenen einen Anteil von bis zu 30 Prozent. Besonders zu Beginn der Ankunft dieser Menschen war die Eingliederung in die gewerbliche Wirtschaft oft nicht problemlos. Schaut man in diese Zeit zurück, so hatten es die früheren vertriebenen Kaufleute, Unternehmer und Handwerker wie auch die Landwirte gegenüber den unselbständigen Arbeitnehmern ungemein schwerer, im neuen Zuhause wieder Fuß zu fassen. Fast die Hälfte aller Berufstätigen im Sudetenland war in Industrie und Gewerbe beschäftigt. Eine Anfang 1947 vorgenommene provisorische Zählung ergab, dass sich unter den bis zu diesem Zeitpunkt nach Hessen eingewiesenen rund 640.000 Heimatvertriebenen zahlreiche selbständige Unternehmer befanden. Dazu gehörte auch die Musikinstrumentenindustrie aus den westböhmischen Orten Graslitz und Schönbach. In einem

Beitrag der Industrie- und Handelskammer Frankfurt aus dem Jahre 1963 heißt es: „Die Heimatvertriebenen- und Flüchtlingsbetriebe haben auf ihren Gebieten zum wirtschaftlichen Aufstieg beigetragen und dabei aus dem Nichts heraus beginnend ein Beispiel unternehmerischer Arbeit geboten.“ Die Dokumentation „15 Jahre heimatvertriebene Wirtschaft in Hessen“ nennt die im Jahre 1963 im Kreis Groß-Gerau angesiedelten Gewerbetreibenden, soweit sie Mitglied in diesem Verband waren. Danach hatten sich in Nauheim insgesamt neun Betriebe der Musikinstrumentenindustrie angesiedelt, die ihre Wurzeln im sogenannten westböhmischen „Musikwinkel“ hatten. Als „Musikwinkel“ bezeichnet man noch heute mehrere Gemeinden im sächsischen Vogtland. Bis zum Zweiten Weltkrieg bildete diese Region zusammen mit Schönbach und Graslitz auf böhmischer Seite das globale Zentrum des Musikinstrumentenbaus. Der Begriff Musikwinkel für diese Gegend geht ursprünglich auf den Zwotaer Heimatdichter Max Schmerler zurück, der diese in zwei Publikationen 1914 und 1923 als sächsischen Musikwinkel bezeichnete. Schaut man in die Geschichte zurück, so begann der Musikinstrumentenbau im Vogtland in der Stadt Markneukirchen. Hier siedelten sich böhmische Exulanten aus dem Grenzort Graslitz an, die im Zuge der Gegenreformation aufgrund ihres evangelischen Glaubens ihre Heimat

Altes Foto von Graslitz, heute Kraslice: Lange Gasse, vormals Goethestraße, heute Pohraniční stráže (Foto: Wikimedia Commons, gemeinfrei) Seite 22

verlassen hatten. Sie brachten die Kunst des damaligen Geigenbaus in die Stadt. Bereits 1677 schlossen sich zwölf Meister in Markneukirchen zu einer Innung zusammen. Schlendert man heute durch die südhessische Gemeinde Nauheim, so ist es gegenüber der „Gründerzeit“ der Musikinstrumentenindustrie der Heimatvertriebenen in den letzten Jahren spürbar ruhiger geworden. Es gibt zwar noch eine „Graslitzer Straße“, die an die ehemaligen Bewohner der westböhmischen Musikstadt erinnert, Entwicklungen in diesem Marktsektor durch Globalisierung und konkurrierende ostasiatische Billigprodukte haben jedoch für manche der damaligen Betriebe eine wirtschaftliche Weiterführung erschwert und oft auch zur Aufgabe gezwungen. Dass aber einige Musikinstrumentenbetriebe von damals bis heute überlebt haben, zeigt das Beispiel der Firma J. Püchner Spezial-Holzblasinstrumentebau GmbH bereits in der vierten Generation in Nauheim. In der Chronik anlässlich der Festschrift zu Firma Püchners 100-jährigem Firmenbestehen heißt es: „Am 25. August 1897, als Josef Püchner im böhmischen Graslitz, damals Teil der österreich-ungarischen Donaumonarchie, das Licht der Welt erblickte, meldete sein Vater Vinzenz Püchner gleichentags ein selbständiges Gewerbe als Holzblasinstrumentenmacher an. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Graslitz Hauptsitz der österreichischen Instrumentenfabrikation.“ Der Enkelsohn Walter Püchner erinnert sich an diese Zeit: „Die Erlebnisse nach dem Kriegsende 1945, das ich fünfzehnjährig als Zusammenbruch erlebte, und die Zeit bis April 1948, als unsere ,Aussiedlung‘ stattfand, würden einen Abenteuerroman ergeben. Eine Situation scheint mir erwähnenswert. 1947 kam eine Kommission aus Prag und verkündete die Liquidation unserer Firma. Mein Großvater Vinzenz nahm seine Mütze ab und sagte zu dieser Kommission folgende Worte: „Der Herr hat´s gegeben und die Herren können es nehmen“. Die Stille, die nach Großvaters Abgang herrschte, vergesse ich nie.“ Heute betreiben die im Jahre 1988 gegründete „J. Püchner Spezial Holzblasinstrumentebau GmbH“ die beiden Kinder von Walter Püchner, Gabriele und Gerald, als vierte Püchner-Generation. ■ Deutsche Umschau Nr. 1 – 2019


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