dérive Zeitschrift für Stadtforschung dérive Jul — Sept 2023 No 91 dérive ISSN 1608-8131 11 euro
TECH URBANISMUS
Wenn ein Automobilkonzern wie Mercedes, der die räumliche Entwicklung des letzten Jahrhunderts ganz wesentlich mitgeprägt hat, verlauten lässt, dass die Einkommen der Zukunft nicht aus dem Verkauf von Autos resultieren werden, sondern aus den Daten, die diese Fahrzeuge generieren, wird etwas deutlich: Dass der Kampf um die Daten lange schon nicht mehr nur online geführt wird, sondern in der Stadt angekommen ist. Ging die klassische Ökonomie noch von einer Dreiteilung der Produktionsfaktoren in Kapital, Arbeit und Boden aus, die in den nachfolgenden (neoklassischen) Theorien noch um den Faktor Wissen ergänzt wurde, ist heute das Verständnis von Data als unverzichtbarer Produktionsfaktor im Mainstream angelangt. Welche Konsequenzen resultieren daraus für unser Zusammenleben und den Umgang mit Raum?
Gleich vorweg: die Algorithmen, die diese schier unüberblickbaren Mengen an Daten verarbeiten, haben nicht das kybernetische »Zeitalter nach der Arbeit« eines »Fully Automated Luxury Communism« (Aaron Bastani) gebracht, nicht das ersehnte Land eines New Babylon, wie es Constant Nieuwnhuys noch in den 1960er herbeisehnte; sie brachten auch nicht die Architekturen einer fully automated society wie jene des Fun Palace von Cedric Price, sondern Datafarmen und Chipfabriken, generische Architekturen – dort wo das Bauland leistbar und Energie verfügbar ist. Begleitet wird die volle Automatisierung –so zeichnet es sich zumindest ab – nicht durch eine von Arbeit befreite Gesellschaft auf dem Weg zur demokratischen Selbsterfüllung, sondern paradoxerweise von einem Heer digitaler Arbeiter:innen, die für wenige Cent in der Stunde in digitaler Handarbeit Maschinen ihr Wissen lehren oder alles das leisten, wofür komplexe Algorithmen wohl zu teuer wären. Während einige dieser Kisten bereits weitgehend personalkostenbefreit funktionieren, entsteht an anderer Stelle neue – meist prekäre –Beschäftigung statt Freizeit.
Um die komplexen Zusammenhänge zwischen Plattformkapitalismus, dem Umgang mit Daten, der physischen Infrastruktur des Digitalen und den daraus resultierenden Verschiebungen der Raumproduktion besser zu verstehen, müssen wir uns über disziplinäre Themenfelder hinauswagen. Denn die Welt der Daten zeigt uns einmal mehr, dass die Dinge vernetzt sind Mit dieser dérive-Ausgabe wollen wir uns daher dem Verhältnis von Digitalisierung und Raum in verschiedenen Maßstäben nähern, um so die vielen Verschränkungen und Größenordnungen zu behandeln, in denen Daten eine mittlerweile zentrale Rolle zukommt. Eine dieser Maßstabsebenen ist die der Fabrik, auch wenn sich die heutigen digitalen Fabriken, wie sie Moritz Altenried in seinem Beitrag beschreibt, räumlich nicht mehr klar eingrenzen lassen. Von den Megafabriken bis zu den digitalen Plattformen: »Überall fnden sich Formen von Organisation und Kontrolle der Arbeit, die historisch vor allem mit der disziplinären Architektur der industriellen Fabrik verbunden waren, nun aber mithilfe digitaler Technologien über ihre Mauern hinausreichen.«
Mit dem Beitrag Work, Body, Leisure unternimmt Marina Otero Verzier gleich mehrere Maßstabssprünge (vom Territorium bis hin zum Bett), um so die veränderten Beziehungen zwischen Arbeit und Freizeit im Kontext von digitalen Technologien und Automatisierung in den Niederlanden zu verhandeln. Gleichzeitig eröffnet sie jedoch auch eine globale Perspektive: während Arbeit an einer Stelle verschwindet, taucht sie an einer anderen wieder auf.
Ausgehend von einem abgewetzten Werbeplakat mit dem Slogan »Echte Autos in Deiner Nähe suchen Dich«, stellt Jochen Becker die Frage, wie autonome Fahrzeuge die Stadt wahrnehmen. Mit der Entwicklung von raumabtastender und datenverarbeitender Automobiltechnologie entsteht auch eine neue Bildpolitik die der Autor u. a. mit Anlehnungen an das Werk von Filmemacher Harun Farocki erörtert.
Keller Easterling spricht im Interview mit dérive über Schnittstellen und Wechselwirkungen digitaler und räumlicher Welten und nimmt dabei insbesondere die damit verbundenen Ein- und Ausschlussmechanismen auf sozialer Ebene in den Fokus. Easterling formuliert auch hier wieder ihre Kritik an einer veralteten modernistischen Sichtweise, die das Neue primär als Überschreibung des Alten versteht und plädiert dafür, Potenziale überlieferter Systeme in »neuverschaltete« Zukunftskonzepte miteinzubeziehen.
Helen Hester und Nick Srnicek widmen sich dem Maßstab der städtischen Wohneinheit. Die Autor:innen hinterfragen das Smart Home als digitales und vernetztes Zuhause, welches zeitintensive Hausarbeit zu reduzieren verspricht, und kontextualisieren die jüngsten Entwicklungen diverser Haushaltstechnologien in einem Abriss über die historischen Veränderungen sozialer Reproduktionsarbeit.
Im Magazin-Teil schreiben AKT & Hermann Czech über die soziale Wirksamkeit des Raumes in Zusammenhang mit ihrem Beitrag bei der aktuellen Architekturbiennale in Venedig, Ursula Probst spricht mit Mechtild Widrich über ihre Publikation Monumental Cares und Jochen Becker diskutiert Umstrittene Methoden von Jezko Fezer.
Vor der Sommerpause sollte unbedingt noch der Kalender für den urbanize! »Reality Check: Urban Commons« blockiert werden: Von 3. bis 8. 10. 2023 erkundet das Festival das soziale, demokratische, ökonomische und ökologische Transformations-Potenzial von Commons und Commoning im urbanen Raum. Im Zentrum stehen der Status quo der theoretischen Entwicklungen ebenso wie die Auseinandersetzung mit international gelebter Praxis. Mehr ab August auf urbanize.at.
Unvermittelt stolperten wir – obwohl dérive in der einen oder anderen Form lange schon eng verbunden – in diesem Frühling in die Rolle einer geteilten redaktionellen Verantwortung, weil Christoph Laimer krankheitsbedingt vorübergehend aussetzen muss; daher auch die Verzögerung, mit der dérive 91 erscheint. Wir hoffen dennoch eine weitere Ausgabe mit Beiträgen zu brisanten Entwicklungen des Städtischen, mit Anspruch – und mit dem für dérive altbekannten Lesegenuss vorlegen zu können.
Alles Gute euch allen, wünschen Jerome Becker, Jochen Becker, Michael Klein und Andre Krammer
01
Editorial
»Das was oft als
GESCHICHTE der De-Industrialisierung erzählt wird, ist bekanntermaßen vor allem eine Geschichte geographischer VERSCHIEBUNGEN «
Moritz Altenried, S. 5
ANGEBOT: ABONNEMENT + BUCH*
8 Ausgaben (2 Jahre) dérive um 70,–/94,– Euro (Österr./Europa) inkl. ein Exemplar von:
Peter Bescherer, Anne Burkhardt, Robert Feustel, Gisela Mackenroth, Luzia Sievi
Urbane Konflikte und die Krise der Demokratie. Stadtentwicklung, Rechtsruck und Soziale Bewegungen
Münster: Westfälisches Dampfboot, 2021
246 Seiten, 28,80 Euro
Bestellungen an: bestellung@derive.at
*Solange der Vorrat reicht
www.derive.at Zeitschrift für Stadtforschung
Editorial
Jerome Becker, Jochen Becker, Michael Klein, Andre Krammer
Schwerpunkt
04—09
DIGITALE Fabriken
MORITZ ALTENRIED
10—13
Arbeit, Körper, FREIZEIT MARINA OTERO VERZIER
14—20
ECHTE Autos in Deiner Nähe SUCHEN Dich
Notizen zum ›Betriebsraum‹ einer maschinenlesbaren Stadt
JOCHEN BECKER
21—23
»LOOKING for a lot of GOOD PROBLEMS«
An Interview with Keller Easterling on digital infrastructures
ANDRE KRAMMER, JEROME BECKER, KELLER EASTERLING
24—31
Zuhause im PLATTFORMkapitalismus
HELEN HESTER, NICK SRNICEK
Kunstinsert
32—36
Feiermaterial
Rozafa Elshan und Stephanie Stern
Magazin
37—41
PARTECIPAZIONE/BETEILIGUNG AKT & HERMANN CZECH
42—45
We’re HERE to MAKE history NOT RELIVE it. URSULA MARIA PROBST, MECHTILD WIDRICH
46—50
KYBERNETIK und Revolte JOCHEN BECKER
Besprechungen
51—57
Die Stadt und das Gemeine S. 51
Die Kunst des stillen Widerstands S. 52
Erinnerungsarbeit zum
Wiener Nordwestbahnhof S. 53
»Im Rückwärtsgang zum Rütteltisch« S. 54
Gelebte Utopie des Mittelstandes S. 56
Unruhe im Stadtraum S. 57
–
dérive – Radio für Stadtforschung
Jeden letzten Dienstag jeden zweiten Monat von 14.00 bis 14.30 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0 oder als Webstream http://o94.at/live.
Sendungsarchiv: https://derive.at/radio
03
01
Inhalt
60 IMPRESSUM
Digitale FABRIKEN
Die Fabrik bleibt auch im digitalen Kapitalismus eine zentrale Konfiguration. Allerdings sind ihre Räumlichkeit und Form flexibel geworden. Von den Megafabriken, in denen Computer und Smartphones produziert werden, bis zu den digitalen Plattformen, die Essenslieferung und Taxifahrten organisieren: Überall finden sich Formen von Organisation und Kontrolle der Arbeit, die historisch vor allem mit der disziplinären Architektur der industriellen Fabrik verbunden waren, nun aber mithilfe digitaler Technologien über ihre Mauern hinausreichen.
04 dérive No 91 — TECH URBANISMUS
MORITZ ALTENRIED Schwerpunkt Plattformen , Arbeit , Fabrik , Post-Fordismus , di g italer Ka p italismus , Künstliche Intelli g enz , Tech-Unternehmen , Produktion , Gi g Econom y
Die Bildstrecke Steel Cities stammt aus der gleichnamigen Publikation, herausgegeben von Katerˇina Frejlachová, Miroslav Pazdera, Tadeáš Ríha, and Martin Špicˇák (VI PER und Park Books, 2019); Foto — Zdeneˇk Porcal
Arbeit, Körper, FREIZEIT
Die Niederlande sind wohl ein Versuchsfeld, auf dem die Zukunft der Arbeit immer wieder neu erdacht wurde und weiterhin wird. Die sorgfältig geformte und gestaltete Landschaft ist das Ergebnis jahrhundertelanger Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Das Gleiche gilt für die Organisation der Gesellschaft. Die im asketischen Rationalismus des Calvinismus begründete und in der zeitgenössischen Kultur immer noch hoch angesiedelte Betonung von Arbeit und Disziplin gegenüber der Freizeit kommt auch in unterschiedlichen Maßstäben der Architektur zum Ausdruck, vom Territorium bis hin zum Bett. Diese Architekturen, die über die Stadt hinausgehen und in jeden Winkel des Landes vordringen, machen sichtbar, wie sich die veränderten Beziehungen zwischen Arbeit und Freizeit, ausgelöst durch die aufkommenden Technologien der Automatisierung, auf die gebaute Umwelt auswirken und sich in neuen Formen des Zusammenlebens manifestieren.
Garten
Der fache Horizont der Niederlande, der durch Hochwasserschutzsysteme – wie Sanddünen, Deiche, Entwässerungsgräben, Pumpstationen und Kanäle sowie spezialisierte technische und politische Einrichtungen – verwaltet und geschützt wird, ist durch den Klimawandel gefährdet, der vom Anstieg des Meeresspiegels bis hin zu abweichenden Niederschlägen reicht. Wir haben »keine Zeit zu verlieren«, argumentiert Henk Ovink, Sonderbeauftragter für internationale Wasserangelegenheiten des Königreichs der Niederlande. Ovinks Manifest ist sowohl ein Appell als auch eine mahnende Erinnerung daran, was nötig ist, um tief liegende Gebiete für die Besiedlung und Produktion trocken zu halten. Neben dem Bau von vierzig neuen Wohnhügeln und einem der größten Auenparks Europas wurden 200 Familien umgesiedelt, um weniger Platz für Landwirte und mehr für das Unternehmertum zu schaffen.
Die Regelmäßigkeit der Grundstücke wird durch die Gewächshäuser verstärkt, die sie füllen; diese Anlagen, in denen die Produktivität des Bodens durch automatisierte Technologien kontrolliert und maximiert wird, machen die Niederlande zum zweitgrößten Lebensmittelexporteur der Welt. In diesen »neuen Gärten von Eden«, wie AMO sie nennt, wachsen süße Tomatenpfanzen, unterstützt durch Klimakontrolle, künstliche Beleuch
tung und Wasser- und Nährstoffverteilungssysteme. Sie sind nicht durch äußere Bedingungen, ihre unmittelbare Umgebung und bald auch nicht durch menschliche Arbeit beeinträchtigt.
Büro
Diese offenen, fachen, klimatisierten Innenräume scheinen endlose Möglichkeiten für Experimente auch außerhalb der Gewächshaustypologie zu bieten. Das fexible Büro und seine Ideologie sind zu einer Landschaft langer gemeinsamer Tische und offener Büroräume geworden, in denen die Arbeitnehmer:innen keinen reservierten Platz mehr haben, sondern ihren persönlichen Arbeitsbereich jeden Morgen neu erfnden. Neben diesen sich ständig verändernden Gemeinschaftsräumen stellen Spindwände das systemische Gegenbild individualisierter, geschlossener Welten für die Verwaltung privater Identitäten und Besitztümer dar. In Fabriken, Lagerräumen, Co-Working-
Denn der Spind ist eine Schnittstelle zwischen dem arbeitenden und dem nicht arbeitenden Selbst, falls es heute noch eine Unterscheidung zwischen dem einen und dem anderen gibt.
10 dérive No 91 — TECH URBANISMUS MARINA OTERO VERZIER Mensch und Maschine , Automatisierun g, Lebensmittel p roduktion , Bürolandschaften , Lo g istik , Arbeit und Freizeit , Wohnen , New Bab y lon , Niederlande
ECHTE Autos in Deiner Nähe SUCHEN Dich
Notizen zum ›Betriebsraum‹ einer maschinenlesbaren Stadt
Folgt man dem Philosophen und Künstler Daniel Rubinstein, so befinden wir uns in einer »Repräsentationsdämmerung« (Rubinstein 2020): Die Fotografie ist nicht mehr das Medium des Sichtbaren, sondern des Sichtbarmachens von Unsehbarem.1
Wie ›sehen‹ autopilotierte Autos die Städte, die sie durchkreuzen? Welche Räume misst schon ein einzelner autonomer Staubsauger aus, und wie erkundet das elektronische Band am Arm des Amazon-Mitarbeiters dessen Performance quer durch die Lagerhallen? Mit Kameraauge und Sensoren lesen ›smarte‹ Geräte unsere plattformisierte Welt aus, treten verstärkt untereinander in Kontakt und verstärken so ihre Prozessualität.
Das Terrain ist den autonomen Vehikeln in Form digitaler Karten eingeschrieben: Als »Roboter, die ihren Betriebsraum gespeichert haben« beschrieb Harun Farocki diese Entwicklung (Farocki 2003). Auf Basis von digitalen Karten lesen Maschinen ihre Umwelt weiter aus, sodass sie bald schon einen eigenen, neuen und erweiterten ›Operational Space‹ (Betriebsraum) vorliegen haben. Hacker konnten die ungesicherten Daten eines simplen Staubsauger-Roboters auslesen und fanden auf dem Memorychip detaillierte Kartierungen seiner Betriebsräume, sodass der lernfähige Miniroboter nicht immer neu Irrwege gehen muss.
14 dérive No 91 — TECH URBANISMUS JOCHEN BECKER
Autonomes Fahren , Sensoren , Karten , maschinenlesbare Stadt , Smart Cit y, Mobilität , Bilder p olitik , Daten , Automobiltechnolo g ie , Software , Sehen
Echte Autos in Deiner Nähe suchen Dich, oply Werbeplakat; Foto — Jochen Becker
»LOOKING for a lot of GOOD problems«
An Interview with Keller Easterling on digital infrastructures
In a conversation with dérive Keller Easterling spoke about the question of how digital infrastructures and innovations influence spatial systems, and where there are inclusions or exclusions in new networks that also need to be perceived and discussed at a social and political level.
21
ANDRE KRAMMER UND JEROME BECKER IM GESPRÄCH MIT KELLER EASTERLING
infrastructure , urbanism , trans p ortation networks , di g ital technolo gy, broadband , se g re g ation , medium desi g n , p rotocols
g — » LOOKING for a lot of GOOD PROBLEMS «
Andre Krammer, Jerome Becker, Keller Easterlin
Steel Cities; Foto — Zdeneˇk Porcal
Zuhause im PLATTFORMkapitalismus
Das Smart Home wird heute als die Zukunft des Wohnens beworben.1 Gestützt auf die Infrastruktur, Forschungsabteilungen und Finanzkraft von Plattformunternehmen wie Amazon und Google sind Smart-Home-Geräte mittlerweile allgegenwärtig. Doch inwieweit kann die versprochene Zukunft die Bedürfnisse von unbezahlten Reproduktionsarbeiter:innen im Haushalt erfüllen – und spiegeln sich ihre Bedürfnisse in diesem Versprechen überhaupt wider? Ist das Smart Home vielleicht eher ein bloßer Ausdruck des Plattformkapitalismus?
Der vorliegende Beitrag versucht diese Fragen zu beantworten, indem er das Potenzial des Smart Home untersucht, die häusliche Reproduktionsarbeit zu reduzieren. In Entwürfen eines zukünftigen idealen Haushalts besitzt eine solche Reduzierung traditionell eine große Bedeutung. So veranlassten etwa die im späten 19. Jahrhundert einsetzenden Veränderungen des Haushalts feministische Reformerinnen, für ein »easy-to-clean house« einzutreten (Gardiner 1997, S. 177). Auch in den Anfängen des Smart Home in den 1990er Jahren waren neue Reinigungstechnologien der am stärksten gefragte Aspekt von Automatisierung (Hardyment 1990). Und zuletzt fand das selbstreinigende Haus bei einer Umfrage von 2019 unter einer Reihe von technischen Innovationen, die noch Zukunftsmusik sind, den größten Zuspruch (Samsung 2019). Doch wie wir sehen werden, ließ sich dieses Bedürfnis nach weniger Arbeit bislang nur schwer befriedigen. Wir beginnen mit einem Blick auf die Geschichte von Haushaltsgeräten und ihren (mangelnden) Auswirkungen auf die im Haushalt verausgabte Arbeitszeit, um danach das Smart Home in dieser längeren Geschichte zu verorten.
Die industrielle Revolution im Haushalt
In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts bewirkte eine Phase beispielloser Veränderungen eine »industrielle Revolution im Haushalt« (Cowan 1976). Am Endpunkt dieses Prozesses hatten sich die Mittel der sozialen Reproduktion – von der Infrastruktur, auf die sich die Hausarbeit stützte, bis zu den verwendeten Geräten und Technologien – tiefgreifend gewandelt. Unmittelbar vor dieser Phase war Hausarbeit überaus kräfte-
zehrend. Lebensnotwendige Rohstoffe mussten von außerhalb herangeschafft werden. Petroleumlampen und Feuerstellen sorgten für Beleuchtung, erforderten aber einen erheblichen Aufwand in Form von Holzhacken, Kohlen besorgen oder Lampen nachfüllen, auch für das Heizen mit Öfen mussten große Mengen Holz gehackt und ins Haus getragen werden. Wasser wiederum holte man sich an der Pumpe und schleppte es zum Kochen, Putzen und Baden nach Hause (eine Aufgabe, die Frauen in aller Welt bis heute viel Arbeit bereitet). Und so wie man Ressourcen ins Haus bringen musste, mussten Unrat und Abfall hinausgebracht werden.
Die lebensnotwendigen Dinge – Nahrungsmittel und Kleidung – wurden überwiegend noch im Haushalt hergestellt. So verbrachten Frauen das Gros ihrer ›Freizeit‹ mit Nähen, Stricken und Stickerei (Hardyment 1988, S. 12). In dieser Zeit setzte der Übergang zur Versorgung durch den Markt ein, die allerdings noch weitgehend wohlhabenderen Familien vorbehalten blieb. Zu den mühsamsten Aufgaben gehörte das Waschen; gewöhnlich nahm es viele Stunden an einem bestimmten Wochentag in Anspruch – der »Waschtag war so anstrengend wie fünf Meilen zügiges Brustschwimmen« (ebd., S. 10).
Der Einsatz von Technik im Haushalt war so gering, dass eine zeitgenössische sozialistische Feministin klagte, in dieser Hinsicht lägen Frauen- und Männerarbeit »drei Jahrhun-
24 dérive No 91 — TECH URBANISMUS HELEN HESTER, NICK SRNICEK
Wohnen , Re p roduktionsarbeit , Haushaltstechnik , ,Infrastruktur Cowan-Paradox , Arbeitsverteilun g, Smart Home , Plattformka p italismus
1
Teile dieses Beitrags stammen aus unserem Buch After Work. The Fight for Free Time (Verso, im Erscheinen).
Rozafa Elshan und Stephanie Stern Feiermaterial
Rozafa Elshan und Stephanie Stern haben wir durch ihre derzeit laufende Ausstellung Love Letters in der Galerie Senn kennengelernt. In dieser Ausstellung, die von Paul Feigelfeld und Kathi Senn kuratiert wurde, werden sehr ähnliche Themata wie jene dieser Ausgabe von dérive künstlerisch verhandelt. Dabei sei erwähnt, dass das Konzept von Love Letters sich spielerisch den digitalen Sehnsuchtsräumen auf sehr unterschiedlichen Ebenen nähert: »Die Schau bringt eine völlig heterogene Gruppe von Künstler:innen und Werken verschiedener Medien zusammen, um ein komplexes Spektrum (nicht-)menschlicher Emotionen zu eröffnen und über Formen des Zusammenseins zu refektieren«, so der Ausstellungstext von Paul Feigelfeld. Das in dieser Ausgabe vorgestellte kollaborative Projekt behandelt das Thema einer künstlerischen Fernbeziehung. Dieses gemeinsame Projekt der beiden Künstlerinnen entstand erst wenige Wochen vor der Eröffnung von Love Letters. Im Gegensatz zu den vielfach im digitalen Bereich angesiedelten Positionen wird hier eine analoge Gegenposition formuliert. Dies spielt eine umso größere Rolle, da die beiden Künstlerinnen in der Erarbeitung auf die digitale Kommunikation angewiesen waren, und der analoge Raum dadurch umso mehr zum infrapräsenten Sehnsuchtsraum wird. Das haptische Gegenüber in der Ausstellung ist eine Speisetafel, eine Versuchsanordnung, die für ein Modell von Begegnung in der Zukunft stehen könnte. So wird rasch klar, dass das ›Feiermaterial‹ fast eine Gegenposition zu Daniel Spoerris Fallenbilder darstellt, die die Spuren eines vorangegangenen Festes als ›gefundene Situationen‹ festhalten.
Und trotzdem knüpft das Insert für dérive genau hier an: Es startet auf der ersten Seite mit tagebuchartigen sprachlichen Sequenzen, die auch auf die darunterliegenden Ebenen der Arbeit verweisen. So steht am Anfang »Wird es wieder einen Kuchen geben?« bzw. am Ende »Wie kommt es aus einem Heraus«. Auf der mittleren Doppelseite fnden sich zwei Seiten aus einem Skizzenbuch mit den Untertiteln »Pass und Aufschlag«. Vermutlich ist es nebensächlich, ob man den Tisch oder die Skizze überhaupt genau erkennt. »Pass« und »Aufschlag« sind aber durchaus Teil unserer täglichen Kommunikationsstrategien. Auf der letzten Seite sieht man dann die gesamte Tischskulptur und darunter dieselbe als Art Montage mit einem Bild von zwei Ameisen, die möglicherweise gerade etwas (zer/geteilt haben). Darunter steht wieder in eckiger Klammer: »Solange der Kuchen in seiner Komplexität nicht erkannt werden kann, ist man in der Arbeit wohl zu wenig weit gegangen, sodass der andere gar nicht auf die Idee kommt, dass dies nur ein Kuchen sei.«
Barbara Holub / Paul Rajakovics
Rozafa Elshan hat an der School of Graphic Research und der École Supérieure des Arts de l’Image in Brüssel studiert, wo sie heute lebt und arbeitet.
Stephanie Stern lebt und arbeitet in Wien. Sie hat an der Akademie für Bildende Künste in Wien (Martin Guttmann) und an der Slade School of Fine Art – UCL in London im Fachbereich Skulptur, sowie an der Schule Friedl Kubelka studiert.
Die Ausstellung Love Letters in der Galerie Senn, Schleifmühlgasse 1A, 1040 Wien, ist noch bis 17. Juli zu sehen.
Courtesy: GABRIELE SENN GALERIE and the artists
Die Bildrechte für das Insert liegen bei Vor- und Rückseite © kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez Mittelseite © Künstler:innen www.stephaniestern.net/ www.rozafaelshan.com
32 dérive No 91 — TECH URBANISMUS Kunstinsert
PARTECIPAZIONE / BETEILIGUNG AKT & Hermann Czech
Der symmetrische Pavillon sollte geteilt und eine Hälfte zum angrenzenden Stadtteil geöffnet werden. Sowohl der Durchgang als auch die Brücke wurden abgelehnt, so wird der Leerstand zum Exponat der Ausstellung; Grafik — AKT & Hermann Czech
Wenn die Krisen unserer Zeit direkt mit der Herstellung von Raum verbunden sind, so kommt der Architektur selbst eine zentrale Rolle zu. Neben der intensiven Auseinandersetzung mit ihrer Umweltverträglichkeit muss sich Architektur auch mit ihrer sozialen Wirksamkeit auseinandersetzen. Das bedeutet unter anderem die Beschäftigung mit der Frage der Zugänglichkeit von Räumen, nach dem Verhältnis von öffentlich und privat, gemeinschaftlich und individuell.
Für die 18. Internationale Architekturausstellung La Biennale di Venezia haben das Architekturkollektiv AKT und der Wiener Architekt Hermann Czech einen gesellschaftlich wirksamen, temporären Umbau des österreichischen Pavillons konzipiert. Der Pavillon liegt an der nordöstlichen Grenzmauer des Biennale-Areals zur Stadt. Sinnbildlich steht diese Nachbarschaft für die sozialräumliche Entwicklung Venedigs im Laufe der vergangenen Jahrzehnte. Die Biennale als Exklave des internationalen Kunsttourismus, der umliegende Stadtteil Castello als einer der noch überwiegend von lokaler Bevölkerung bewohnten Bezirke Venedigs und gleichzeitig umstrittenes Entwicklungsgebiet.1 Der symmetrische Pavillon wird geteilt. Die westliche Hälfte bleibt von der Biennale aus begehbar. Die östliche Hälfte des Gebäudes sollte samt
Hof über einen neu hergestellten Zugang von der Stadt aus frei zugänglich sein, wofür die Genehmigung jedoch versagt wurde. Dieser Teil sollte als Versammlungsraum an die Bevölkerung des angrenzenden Wohnquartiers und an städtische Initiativen abgetreten werden. Im intensiven Austausch mit lokalen Akteur:innen ist das Projekt als Hinwendung der Biennale zur umgebenden Stadt konzipiert: nicht in Form einer weiteren räumlichen Ausbreitung wie in den letzten Jahrzehnten, sondern als Abgabe von Raum und somit als Umkehrung dieser räumlichen Praxis. Diese ist in den vergangenen Jahren auch in der internationalen Presse in die Kritik geraten (vgl. Norman 2022). Der Diskussion über die Rolle der Biennale in der Stadt wird über die Laufzeit der Ausstellung eine international sichtbare Bühne gegeben.
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AKT & HERMANN CZECH
Biennale , Venedi g, Giardini , Architekturausstellun g, Öffentlicher Raum , Zu g än g lichkeit , Beteili g un g, Nachbarschaft , Kunsttourismus , Wohnun g smarkt , Verdrän g un g, Öffnun g
AKT & Hermann Czech — PARTECIPAZIONE/BETEILIGUNG
We’re HERE to MAKE history NOT RELIVE it.
Mechtild Widrich ist seit 2015 Professorin am Department für Kunstgeschichte, -theorie und -kritik an der School of the Art Institute of Chicago, wo sie zu Kunst im öffentlichen Raum, Architektur und performativen und partizipativen Praktiken forscht und lehrt. Nach einem Kunstgeschichtestudium an der Universität Wien wurde sie 2009 am Architekturdepartment des MIT promoviert. 2022 war sie Gastprofessorin an der Universität für angewandte Kunst und Mitglied der Expertenkommission für die Ausschreibung der Rekontextualisierung des Karl-Lueger-Monuments in Wien. Ihr neuestes Buch Monumental Cares (Manchester University Press, 2023) diskutiert die Denkmaldebatten des letzten Jahrzehnts gemeinsam mit Themen, die uns als monumental und überwältigend erscheinen, wie Klimakrise, Migration und globale politische Spannungen.
Ursula Maria Probst: In deinen Publikationen geht es darum, Monumente und öffentlichen Raum neu zu denken bzw. zu überdenken, aus tradierten oder festgeschriebenen Strukturen herauszulösen. Was ist deine Motivation dafür?
Mechtild Widrich: Mein i nteresse gilt vor allem der Frage, wie eine funktionierende politische Öffentlichkeit geschaffen werden kann. i nwieweit meine ›Unruhe‹ zwischen den d isziplinen Kunst, Architektur, Geografe und Gesellschaftstheorie ein analytisches i nstrument ist, oder mich auf a bwege treibt, die dann im besten Fall zu innovativen Gedanken führen, müssen andere beurteilen. ich schreibe über zeitgenössische Monumente und zu Monumentaktivismus, aber auch zu Performance im öffentlichen r aum und Mediatisierung (das inkludiert soziale Medien in Protestkulturen), zu Fragen eines zeitgenössischen r ealismus, der an die Geschichte der Kunst anknüpft, und zu Machtstrukturen in Kunst und a rchitektur. der ungleiche Zugang zu r epräsentation und Öffentlichkeit ist wohl meine Motivation.
Deine Publikation Monumental Cares. Sites of History and Contemporary Art ist gerade erschienen. Wie kam es zu dem Titel Monumental Cares, der ja im doppelten Sinne vom Care-Gedanken (als ›Pfege‹ – wörtlich und bildlich), aber auch von der Überlegung des Betroffenseins verstanden werden kann? d iese Übereinstimmung ist nicht nur ein sprachlicher Zufall. i nhaltlich bestehen tiefere b eziehungen zwischen Pfege, Sorge und Betroffen-Sein. Die
debatte um denkmäler gibt a nlass, um über ›monumentale‹ t hemen der Gegenwart nachzudenken: die Klimakrise, aber auch Migration, und was Kunst oder kunstorientierter a ktivismus beitragen kann, damit wir diese verstehen. d ie schwierigkeit aber ist die systemische a bstraktheit solcher Probleme und daher die schwierige darstellbarkeit. Wie kommt man im gleichen buch von der denkmaldebatte zum Klimawandel? e s geht nicht nur um die Probleme der r essourcen in den Materialien (stein, stahl, bronze), obwohl auch das eine r olle spielen muss. r ücksichtslose e xtraktion, also die ausbeutung der erde, die Versklavung von Menschen als r essourcen, und Aufbau einer falsifzierten triumphalen Geschichte, die den schaden für Menschen und den Planeten leugnet, sind offensichtliche Kompliz:innen.
Wir sehen das heute an den Protestaktionen der Klimaaktivist:innen, deren Kriminalisierung aufzeigt, wie sehr Ignoranz in der Wertenomenklatur noch immer vorherrscht. Künstlerische
42 dérive No 91 — TECH URBANISMUS Monumente , Aktivismus , Geschichte , Erinnerun g, Denkmal , Kunst , Protest , Verantwortun g, Öffentlicher Raum , Re p räsentation
UrsU la Maria Probst i M GesPräch M it Mechtild Widrich
MONUMENTAL CARES von Mechtild Widrich (2023)
KYBERNETIK und Revolte
Mit der Neuerscheinung Umstrittene Methoden verfolgt Jesko Fezer die Politisierung der Design-Praxen von Ulm über Lima und Harlem bis nach Lissabon
Die »Urbane Praxis« genannte Bewegung einer Stadtentwicklung von unten ist getrieben von Machenden und Gestaltenden ebenso wie durch Reflexion und Analyse. Das muss nicht immer harmonieren: Konflikte etwa zwischen intuitivem Machen und wissenschaftlich getriebenem Entwickeln – folgt man dem aktuellen Buch von Jesko Fezer über Umstrittene Methoden – kehren immer wieder. Dieser Widerstreit zwischen künstlerisch-schwärmerischen oder alleinig technisch-rationalen Handlungsweisen »verdeckt bis heute das Gemeinsame beider Entwurfshaltungen: ihre Distanz zur Wirklichkeit, ihre Leidenschaftslosigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Umständen und ihr Desinteresse an den Betroffenen oder Ausgeschlossenen von Gestaltung.« (Fezer 2022)
Die »Strittigkeit des Entwerfens« hochzuhalten, ist Kern der Publikation mit dem spröden Untertitel Architekturdiskurse der Verwissenschaftlichung, Politisierung und Partizipation im Umfeld des Design Methods Movement der 1960er Jahre. Jesko Fezer spielt hierbei nicht Theorie und Praxis gegeneinander aus, sondern arbeitet deren Lückenhaftigkeit und produktive Konfliktlinien der 1960er bis Mitte 1970er Jahre auf – bis die »erlebnisorientierte Postmoderne« ihren wertewandelnden Siegeszug antrat. Damit ist der zeitliche Horizont des Buchs abgesteckt. Am Ende – so viel sei vorweggenommen – lässt der Autor die vorderen Kapitel implodieren, und es verbleiben als Glutkern die Kapitel zur situierten Planung im Globalen Süden, in den US-amerikani-
schen Slums oder portugiesischen Elendsquartieren: »So gesehen liegt im Scheitern der Entwurfsmethodik tatsächlich ihr größter Verdienst.« (Fezer 2022)
Besser wissen
Der Autor, Buchhändler und Architekt, Mitherausgeber der Reihe Studienhefte problemorientiertes Design wie auch des An Architektur Archivs sowie Professor für Experimentelle Gestaltung, konnte als Tutor schon früh auf die Bibliothek des Grazer Partizipations-Architekten und Berliner Hochschullehrers Eilfried Huth zu »informeller Gestaltung, Counter Culture, politischem Aktivismus, Selbstbau, Mieter:innen Organisation, kritischer Stadttheorie und natürlich partizipativer Architektur« zurückgreifen. Bei einer Übernachtung in Lucius Burckhardts nach dessen Tod verbliebener Privatbibliothek kamen noch »Systemtheorie, Methodologie, Wissenschaftsgeschichte, Kybernetik, Operations Research, Forschungsplanung, Informationsverarbeitung, Verhaltensforschung, Urteilsbildung, Entscheidungstheorie, Spielsimulationen oder Entwurfsmethodik« hinzu. Christopher Alexander, Jacob Berend Bakema, Giancarlo de Carlo, Ralph Erskine, Yona Friedman, John Habraken, Herman Hertzberger, Frank van Klingeren, Lucien Kroll, Frei Otto, Cedric Price, SAAL, Walter Segal,
46 dérive No 91 — TECH URBANISMUS Gestaltun g, Methodenstreit , Partizi p ation , ,Entwurfskultur Planun g s p rozesse Verwissenschaftlichun g, Stadt p roduktion , Recht auf Stadt , Antineutrales Entwerfen
JOCHEN BECKER
Umstrittene Methoden von Jesko Fezer (2022)
Besprechungen
Die Stadt und das Gemeine
Judith Haslöwer
tungsreihe umfasste performative Übungen, Gespräche und theoretische Seminare. Entlang der inhaltlichen Schwerpunkte Straße, Versammlung, Eigentum, Umweltgerechtigkeit, Kollektive und Daseinsfürsorge trafen darin interdisziplinäre Expert:innen aus den Bereichen Wissenschaft, Kunst und Aktivismus aufeinander.
Die Stadt dient aufgrund ihrer hohen Dichte seit jeher als Brennglas sozialer Missstände. So überrascht es nicht, dass die Corona-Pandemie imstande war, Motive wie Gemeinschaft und Zusammenhalt wieder mit neuer Bedeutung zu füllen. »Zusammen durch die Corona-Krise« hieß es auf Plakaten und Broschüren, die von der Stadt Wien verteilt wurden. Doch was bleibt postcorona von diesem ›Zusammen‹ ? Was teilen wir eigentlich, abseits der längst etablierten Sharing- Economy?
Die auf der gleichnamigen Veranstaltungsreihe basierende Online-Publikation
Gemeine Stadt hat es sich zum Ziel gesetzt, das uns Gemeine, das Banale, das Zusammen im Stadtleben zu bezeichnen und zu befähigen. Gemeine Stadt entstand im Auftrag der Berliner Landeszentrale für politische Bildung mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung, MetroZones und Pepperlint. Die Veranstaltungsreihe wurde von Kathrin Wildner, Sabrina Dittus und Stephan Lanz konzipiert und kuratiert. Trotz des Fokus auf die deutsche Hauptstadt, lassen sich die Inhalte und Themen der Publikation problemlos auf andere Städte übersetzen.
Die Webseite ist als ständig anwachsende Online-Publikation zu verstehen, bei der Vertreter:innen der Forschung und Kunst eingeladen sind, eine Vielfalt von Beiträgen zu produzieren. Die Veranstal-
Als Ausgangspunkt für Gemeine Stadt fungiert ein 2007 geführtes Interview mit dem französischen Philosophen Jean-Luc Nancy. Hierin erörtert Nancy, wie wir mit dem real-existierenden Kommunismus das Gemeinsame verloren haben. Auf das Gemeine, Banale, das Alltägliche, so argumentiert er, müssen wir zurückkommen, um zu verstehen, wie wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede organisieren können. Ist das Spaltende womöglich das, was uns gemein ist?
Gemeine Stadt gliedert sich – trotz digitalem Dasein – in Kapitel und verspricht damit einen leichten Einstieg. Noch leichter wäre die Navigation wohl mit einem zusätzlichen Verzeichnis aller Beiträge. Eine Kommentarspalte könnte die Webseite um eine Dimension erweitern und Austausch ermöglichen. Dennoch bringt Gemeine Stadt durch die breite Medienvielfalt und ästhetische Gestaltung viele Anregungen. Einige Beitragsempfehlungen, um Orientierung zu schaffen:
In einem Audioessay geht Jasmina Al-Qaisi der Frage nach, wie wir uns umeinander kümmern und welche Rolle Daseinsfürsorge in einer funktionierenden Gemeinschaft einnimmt. Sich zu sorgen, zu kümmern, sich verantwortlich zu fühlen und besorgt zu sein, ist Grundlage für ein neues WIR. Al-Qaisi führt multilinguale Gespräche über die Ent- und Aufwertung von Care-Arbeit, ihre Abwesenheit und strukturelle Dilemmata, die sich aus der Neuzentrierung einer Gemeinschaft entwickeln.
Spannend sind die Beiträge des Künstlers Marcos Garcia Pérez, in denen Übungen zur Gruppenbildung sowie zum gemeinschaftlichen Erkenntnisgewinn dokumentiert und entworfen werden. Die Zeichnungen, diskursiv und kollektiv, geben Einblicke in die Workshops, auf denen die
Publikation basiert. Zugleich erkunden die Beiträge Zeichnungen als Tool für gemeinschaftliches Arbeiten und um Beziehungssysteme sicht- und handhabbar zu machen. Garcia Pérez spricht dem Konzept des Spiels und spielerischen Arbeitens große Bedeutung zu. So viel, dass Leser:innen sich befähigt fühlen können, die Schritt-für-Schritt-Anleitung in das nächste Plenum zu tragen.
Zuletzt soll das Interview mit Ellen Gomes, einem Mitglied des Black Earth Kollektivs, erwähnt werden. Das Black Earth Kollektiv gründete sich aus einem Netzwerk, das von Schwarzen Studierenden innerhalb der Klimabewegung ins Leben gerufen wurde und es sich zur Aufgabe macht, über Umwelt-Intersektionalität und globale Klimagerechtigkeit aufzuklären. Das von Sabrina Dittus geführte Interview eröffnet den Lesenden einen Blick auf das durch alle Demographien Verbindende im Kampf gegen die Klimakrise. Thematisiert wird auch der Status quo der Berliner Klimafitness aus BIPoC-Perspektive. Der Terminus Umweltrassismus gewinnt an Plastizität und drängt zum Einbezug verschiedener Meinungsund Handlungsträger:innen, allen voran aber Betroffenen.
Gemeine Stadt präsentiert sich aufgrund der vielfältigen medialen und inhaltlichen Zugänge zugleich als Handbuch, Erfahrungsbericht, Dokumentation, Interviewreihe und Manifest. Womöglich die genau richtige Weise, sich der großen Frage nach der Gemeinschaft und dem Zusammen in der Stadtgesellschaft anzunähern. Zum Browsen, mit und ohne Vorwissen zur Thematik, eignet sich Gemeine Stadt für Menschen, die bereits von der Notwendigkeit des Gemeinsamen überzeugt sind und Interesse an der eigenen Rolle in dessen Entwicklung haben.
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Sabrina Dittus, Stephan Lanz, Kathrin Wildner metroZones – Center for Urban Affairs e. V. Die gemeine Stadt gemeinestadt.net
Impressum
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber: dérive – Verein für Stadtforschung
Mayergasse 5/12, 1020 Wien
Vorstand: Michael Klein, Christoph Laimer, Elke Rauth
ISSN 1608-8131
Offenlegung nach § 25 Mediengesetz
Zweck des Vereines ist die Ermöglichung und Durchführung von Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu den Themen Stadt und Urbanität und allen damit zusammenhängenden Fragen. Besondere Berücksichtigung fnden dabei inter- und transdisziplinäre Ansätze.
Grundlegende Richtung
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung versteht sich als interdisziplinäre Plattform zum Thema Stadtforschung.
Redaktion
Mayergasse 5/12, 1020 Wien
Tel.: +43 (01) 946 35 21
E-Mail: mail(at)derive.at
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dérive – Radio für Stadtforschung
Jeden letzten Dienstag, jeden zweiten Monat von 14:00 bis 14:30 Uhr in Wien live auf ORANGE 94.0 Webstream und Sendungsarchiv: https://derive.at/radio
Redaktion: Jerome Becker, Jochen Becker, Michi Klein und Andre Krammer
Mitarbeit: Elisabeth Haid, Barbara Holub, Karin Lederer, Paul Rajakovics, Elke Rauth
Autor:innen, Interviewpartner:innen und Künstler:innen dieser Ausgabe:
AKT & Hermann Czech, Moritz Altenried, Jerome Becker, Jochen Becker, Johannes Bretschneider, Keller Easterling, Rozafa Elshan, Judith Haslöwer, Helen Hester, Barbara Holub, Katharina Kircher, Andre Krammer, Christoph Laimer, Vanessa Joan Müller, Ursula Maria Probst, Paul Rajakovics, Michael Rieper, Stephanie Stern, Nick Srnicek, Marina Otero Verzier, Mechtild Widrich
Anzeigenleitung & Medienkooperationen: Helga Kusolitsch, anzeigen(at)derive.at
Website: Artistic Bokeh, Simon Repp
Grafische Gestaltung: Atelier Anna Liska
Mitarbeit Lucia Elena Pru˚sˇa
Lithografie: Branko Bily
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Hersteller: Resch Druck, 1150 Wien
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BMKOES – Kunstsektion
Stadt Wien Kultur
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60 dérive No 91 — TECH URBANISMUS
»Wäre New Babylon »ohne die Arbeit der »anderen möglich?«
Marina Otero Verzier, S. 13
digitale Plattformen, Urbanismus, Automatisierung, Arbeiten, Freizeit, Infrastruktur, Fabrik, Künstliche Intelligenz, soziale Reproduktion, Segregation, Smart Home, Algorithmus, Wohnen, Logistik, Disziplin, Gig Economy, Tech-Unternehmen