DIE HEIMAT ist unzerstörbar

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DIE HEIMAT ist unzerstörbar Der Bergsturz von Bondo und gewaltige Murgänge haben Häuser, Ställe und Strassen verwüstet. Nicht aber den Glauben der Bergeller an ihr Tal. Gemeindepräsidentin Anna Giacometti fasst in Worte, woran viele Menschen hier auch nach der Katastrophe glauben: «WIR HABEN EINE ZUKUNFT.» Text Jost Auf Der Maur Fotos Tomas Wüthrich

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Anna Giacometti vor der Schadenzone in Bondo GR, wo die Aufräumarbeiten andauern. Sie s

sagt: «Das Leben im Bergell wird weitergehen.»

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«Das Leben im Bergell muss weitergehen – und es wird weitergehen.»

Anna Giacometti, Präsidentin der Gemeinde Bregaglia

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Ivana Walther in ihrem Haus in Promontogno.

Sie funktioniert weiter im Alltäglichen.

GR

AUSSCHNITT

Maloja Malojapass

Bondo Soglio Chiavenna MERA

Castasegna

ll Berge

ITALIEN

«Alles wirkt entrückt, weit weg.

Ich suche jetzt in den Zeitungen nach Aspekten, die positiv auf mich wirken.»

J

Ivana Walther, Ausstellungsmacherin und Hausfrau

etzt ist nur noch das Rauschen da.

Das Kreischen der Baggerraupen, das Rumpeln der mannshohen Bollensteine in den Mulden der Lastwagen, das Rattern der Helikopter, die Stosswellen von den Sprengungen der Felsmocken – dieser anhaltende Lärm ist bis zum nächsten Morgengrauen verstummt. Er ist neu und zugleich beruhigend, er ver-

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heisst, dass etwas geht, dass etwas getan werden kann nach dem Unglück. Im Gemeindehaus brennt noch Licht. Die Fledermäuse haben zu jagen begonnen. Sie werden satt. Seit dem Tag, als der Berg kam, sind die Mücken da. Seit dem Tag, als der Piz Cengalo sich ins steile Bondascatal erbrach und dann Felsen, zerriebenes Gestein und Gletscherwasser zu

Vicosoprano

Promontogno Val Bondasca

Piz Cengalo 5 km

einem schnellen Geschiebe vermengt hinaus ins Haupttal des Bergells schossen, die neuen Häuser am Rande des alten Dorfes Bondo überfielen, seit jenem Mittwoch, dem 23. August, halten die Menschen den Atem an. Sie sind gefasst. Sie wissen, da hinten im steilen Bondascatal, da wartet noch mehr und will raus. Da hinten sind acht Menschen grauenvoll begraben worden, unauffindbar tief. Eine ungewöhnliche Ruhe liegt über dem unvergleichlich schönen Bergell, das doch sonst um diese Jahreszeit gut besucht ist von Feriengästen. Die Uhr am romanischen Kirchturm von Bondo schlägt acht Uhr, sie zählt die Zeit noch. Das Rauschen der beiden Flüsse ist zu hören, jenes der Bondasca und der Maira; hier fliessen sie zusammen. Die Menschen schauen von Promontogno nach Bondo hinüber, über das zum Auffangbecken erweiterte Bett der Bondasca, das jetzt voll gefüllt und 150 Meter breit ist. Das Hotel Bregaglia thront wie eine verwunschene 130-jährige Prinzessin unversehrt über der Verwüstung. Die Gäste sind abgereist. Der Hotelier schliesst das Haus einen Monat früher als sonst und entlässt das brave italienische Personal von einem Tag auf den andern.

Doch die Bergellerinnen und Bergeller sind stark. Dispute, der viele Neid und alte Fehden spielen nun keine Rolle mehr, die Menschen können sich jetzt aufeinander verlassen, sie gehen in derselben Seilschaft. Und zuvorderst geht die Präsidentin der Gemeinde Bregaglia, Anna Giacometti, 56.

Als am 23. August am Piz Cengalo Fels vom Volumen von 4000 Einfamilienhäu-

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Gian Andrea Walther im Palazzo Castelmur bei Stampa. Er will an die Zukunft des Bergells glauben.

«Die Menschen hier resignieren nicht, auch wenn sie erschüttert sind.

Ich bin vorsichtig optimistisch.»

Gian Andrea Walther, Kulturführer im Palazzo Castelmur

sern hinabstürzt, die Erde unter dem Aufprall bebt, da rennt Anna Giacometti vom sicheren Gemeindehaus in Promontogno hinüber nach Bondo, trommelt an die Haustüren, ruft den Menschen zu, dass sie sofort gehen, dass sie flüchten sollen vor einem möglichen Murgang. Eine Tat wie aus einem Bergler-Roman. Anna Giacometti sagt: «An mein Leben habe ich dabei nicht gedacht.» Und dann beantwortet sie auch jene Frage, die sich viele bodenständige Menschen in den Berggebieten stellen: Lässt es sich mit der Klimaerwärmung, schmelzenden Permafrostböden und Gletschern in den Alpen noch leben?

Bleibt die Lebensgrundlage erhalten?

Eine existezielle Frage. Anna Giacomett sagt: «Wir haben eine Zukunft. Das Leben im Bergell muss weiter gehen – und es

wird weiter gehen.» Das Bergell, weit ab vom gern beschimpften Gouvernement der Hauptstadt Chur gelegen, erfährt in diesen Tagen von Seiten der Behörden eine hervorragend funktionierende Unterstützung.

Gian Andrea Walther, 72, ehemaliger Sekundarlehrer, 48 Jahre lang Organist in der Kirche von Bondo, heute Wächter und Kulturführer im Palazzo Castelmur, er stand auf der Brücke über die Bondasca zwischen Promontogno und Bondo. Er sagt: «Ich hörte die schiere Gewalt im Bondascatal, ich sah den unheimlichen Nebel, roch den Feuersteingeruch. Danach ‹il silenzio assordante›, die ohrenbetäubende Stille. Und heute bin ich schockiert, die To-

ten tun mir weh. Früher war die Angst vor dem Hochwasser zwar immer gegenwärtig, und ohne die Staumauern von Salecina und Albigna wäre das Bergell 1987 wahrscheinlich ausgelöscht worden. Jetzt aber ist das Leben im Bewusstsein vermeintlich ewiger Berge erschüttert. Eine Verletzung ist geschehen. Der Cengalo, diese Kathedrale aus Granit, bricht entzwei. Doch die Menschen hier resignieren nicht, auch wenn sie erschüttert sind. Ich bin vorsichtig optimistisch. Vor zwei Monaten hat der Alpenforscher Werner Bätzing im Tal eine Rede gehalten, die mich mit Hoffnung erfüllt hat. Das Bergell sei kein «potenzialarmer Raum», wie das Politiker abwertend behaupten. Das Bergell gehöre mit seiner einzigartigen Kunstgeschichte, den Ortsbildern, der Kulturlandschaft, den gepflegten Wegen und seiner Natur vom Potenzial her im ganzen Alpenraum zu den Spitzenreitern. Das hat dieser Bätzing gesagt, darauf können wir aufbauen.»

Davide Fogliada, 31, Architekt, Bergsteiger, Weltreisender, Gestalter, hilft im Sommer während dreier Monate seinen Eltern in der Bäckerei und dem Café in ➳ Schweizer Familie 36/2017

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Ursula und Davide Fogliada in der Bäckerei in Castasegna. Der Sohn kehrt jeden Sommer für drei Monate in die Heimat zurück.

«Das Bergell ist authentisch, es hat all das, was ich in Sydney, Saigon Bangkok nicht mehr gefunden habe.»

Davide Fogliada, Architekt

Castasegna. «Es ist seltsam, dass das Tal der Bondasca, das ich so gut kenne, praktisch verschwunden ist. Noch am Vorabend war ich drin im Tal und habe trainiert, jetzt ist es weg.» An zwei Eigenschaften des Bergells denkt er, wenn es um die Zukunft geht. Er sagt: «Das Bergell ist keine Sackgasse, es ist ein Durchgangstal und damit wichtig als Verkehrsverbindung. Es wird gebraucht, die Durchgänge werden schnell wieder repariert. Und: Das Bergell stellt Produkte von hoher Qualität her, die unabhängig sind vom globalen Markt. Das Bergell ist authentisch, es hat all das, was ich in Sydney, Saigon, Bangkok nicht mehr gefunden habe oder nur für sehr viel Geld vielleicht beschaffen könnte. Diese Art der Lebensqualität hier, die mit dem Aufkommen der Glo14

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balisierung eher belächelt worden ist, wird spätestens heute wieder gesucht und als hochwertig anerkannt. Wenn ich Steinpilze sammeln gehe am Berg da drüben, dann brauche ich keinen Starbucks».

Ursula Fogliada, 58, Confiseurin, Erfinderin des Kastanienkuchens im Weckglas, Mutter von Davide, hat den ins Spital evakuierten Menschen von Bondo Torten gebracht. Sie sagt: «Ich habe viele Änderungen erlebt hier.

Die Post, die Bank und die Tankstelle haben dicht gemacht. Aber die Villa Garbald ist zur Filiale der ETH Zürich umfunktioniert worden, und das hat neues Leben, neue Gesichter, neue Ideen gebracht. Ich habe drei Söhne, und ich hatte erwartet, dass alle drei das Tal für immer verlassen

werden. Doch das stimmt nicht, sie kommen immer wieder zurück. Man muss sich anpassen können. Die elektronische Vernetzung ist für uns formidabel. Ich habe zwei Computerkurse besucht, einen für unsere Buchhaltung, weil ich die schnell erledigt haben möchte. Ja, wer an der Grenze lebt, muss offene Augen haben.»

Ivana Walther, 66, gelernte Schaufensterdekorateurin, Ausstellungsmacherin, Hausfrau, lebt in Promontogno und spürt die Wirkungen des Schocks erst allmählich in sich aufsteigen. Ihr sei nichts ­passiert, sie funktioniere weiter im Alltäglichen. Sie sagt: «Aber alles wirkt entrückt, weit weg. Ich suche jetzt in den Zeitungen nach Aspekten, die positiv auf mich wirken. So bin ich froh, lesen zu können, Ursache für das Desaster sei nicht der auftauende Permafrost.

Sonst müssten wir das Leben in den Bergen aufgeben. Ich bewundere zudem Anna Giacometti, unsere Gemeindepräsidentin – was für eine würdige Haltung. Ich wünsche mir eine Aufwärtsbewegung, Initiativgeist.

Es gibt Tendenzen im Tal, die den Einfluss von aussen ablehnen. Aber nur weil man in

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«Wir im Bergell brauchen

den Kontakt in den Kanton und hinein in die Schweiz.»

Giulio Scartazzini, Bäcker-Konditor

den Bergen lebt, weiss man nicht alles besser. Es brauchte die überzeugenden Argumente von aussenstehenden Geologen, um die Einheimischen für den Bau eines Auffangbeckens hier an der Bondasca zu gewinnen. Zum Glück ist es gebaut worden.»

Vittorio Scartazzini, 29, gelernter Müller, Bergretter, hat die Westwand des Piz Badile auf der Route «Ringo Star» durchstiegen, als der Bergsturz am benachbarten Piz Cengalo sich ereignete. Er hat den anhaltenden schweren Donner als Echo erlebt und wurde ausgeflogen, um mit der Rettungskolonne nach den Vermissten suchen zu können. Er führt zusammen mit seinem Bruder Giulio und dem Vater Gian Andrea die «Molino Scartazzini & Co.» Er sagt: «Wir sind seit 400 Jahren hier, und wir sind eine der wenigen kleinen Mühlen, die überlebt haben in der Schweiz. Die Zahl der Bauern und Privaten, die aus ihrem Korn ihr eigenes Mehl gemahlen haben wollen, wächst. Wir sind beweglich, wir können kleine Chargen verarbeiten. Wir mahlen biologisches Korn aus Graubünden. Ja, es braucht neuen Mut hier im Tal. Ein Kollege von mir ist Bauer, er hat als erster seit 100 Jahren wieder Weizen angebaut im Bergell.

Vor einem Monat hat er mir die erste Ernte geliefert.»

Die Scartazzinis werden zudem in zwei Monaten einen alten Traum verwirklichen: Ihr altes kleines Wasserkraftwerk an der Maira wird – vollständig erneuert – nach über einem halben Jahrhundert wieder Strom liefern.

Giulio Scartazzini, 31, Bäcker-Konditor mit Abschluss einer Handelsschule, Bruder von Vittorio, hat vor sechs Jahren mit Erfolg Teigwaren aus dem eigenen Mehl und Kastanien zu produzieren begonnen.

Er sagt:

Vittorio (l.) und Giulio Scartazzini vor ihrer 400 Jahre alten Mühle in Promontogno.

Die Brüder setzen auf einheimische Produkte wie Mehl oder Kastanien.

«Wir müssen über das Bergell hinausschauen. Nur unter uns zu bleiben, das reicht nicht. Wir brauchen den Kontakt in den Kanton und hinein in die Schweiz. Wer hier lebt, weiss das.»

Der Piz Cengalo ist noch nicht wieder zur Ruhe gekommen. Immer wieder brechen Felspartien ab. Regen versetzt das über zehn Meter hohe stahlgraue Geschiebe im Bondascatal wieder in Bewegung und lässt es hinausquellen ins Haupttal.

Das versetzt die Flussläufe der Bondasca und der Maira, als wär’s ein Kinderspiel.

Die alte und die neue Strasse sind nicht mehr zu sehen, die Brücken nach Bondo sind eingebrochen. Für die vierräderigen

Klimaerwärmer, die Autos, gibt es zeitweise kein Durchkommen mehr. Und die Menschen im Tal der Maira? Als 1927 katastrophale Überschwemmungen zalreiche Häuser, Ställe und eine Fabrik zerstörte, schrieb Schriftstellerin Silvia Andrea: «Es ist Bergeller Art, Missgeschick klaglos hinzunehmen». Das weiss Gemeindepräsidentin Anna Giacometti. Sie sagt: «Wir ● haben eine Zukunft.»

Unterstützung für das Bergell Spenden mit dem Vermerk «Donazione per frana Cengalo», an Comune di Bregaglia, 7606 Promontogno, IBAN: CH33 0077 4010 0577 1811 2 Schweizer Familie 36/2017

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