Dating the Chorus - Issue 2

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normal. Unsicherheit ist normal. Solidarität – auch mit Fremden – ist normal. Sichmit-den-Bullen-Schlagen ist normal. Mitte dreißig wieder bei den Eltern einziehen, weil Jobs mittlerweile nur noch 400€ in Vollzeit abwerfen, keine Kinder zur Welt bringen, weil es keine Planbarkeit gibt: Normal. Am Ende des Monats sein Essen trotzdem nicht mehr bezahlen zu können, weil Steuern die Preise in die Höhe treiben – auch das ist normal. Von Athen lernen: Aus meiner Wahrnehmung bedeutet das für die documenta, als Institution, dass sie ausgetretene Pfade verlässt und damit konfrontiert wird, wie unglaublich privilegiert ihre Position in Kassel ist, wo alle Funktionäre und nahezu alle Bürger mittlerweile vollends überzeugt sind, dass sie unterstützt werden muss. Es mag eine kritische Begleitung geben, aber niemand würde sagen: documenta? Was ist das? Wofür braucht man so was? Von Athen lernen, in Bezug auf die Bewohner Kassels: Wieso sollten wir nicht den ganzen documenta-Kuchen teilen können? Auch hier, »im Süden«, gibt es Institutionen – Institutionen, die noch dringender Unterstützung brauchen, als unsere vergleichsweise Gesättigten. Europa hat im Jahr der letzten documenta den Friedensnobelpreis gewonnen! Wenn wir es schon nicht schaffen, innerhalb Europas solidarisch zu sein, wie dann mit der Welt? »South« existiert, eben nicht nur »as a State of Mind« in Publikationsform. »Der Süden« existiert, auch wenn man dort (gerade) nicht Urlaub macht und auch außerhalb der eher abstrakt bleibenden und allzu einfach verdrängten Nachrichten. Nach den ersten Wochen der documenta in Kassel kann ich es langsam nicht mehr hören: »mir geht es doch gut«, bzw.: »ICH habe doch schon genug Angst um meine Rente!«, »Wer 83


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