Dating the Chorus - Issue 2

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Oxytocin: Zwischendrin, abschalten. Nicht hören müssen. Mal nicht hören zu müssen, ist bei diesem Job ein echtes Geschenk. Es ist heiß. Im ABC-Buchladen habe ich Zuflucht gefunden vor der Hitze, vor dem Lärm. Ich schätze mich glücklich, hier arbeiten zu dürfen. In der kühlen Stille dieses Bücherwalds kann ich sortieren und formulieren. Warum bin ich eigentlich so weinerlich? Schutzbedürftig? Wie lange habe ich eigentlich überhaupt nicht mehr geschrieben? Serotonin: Treiben lassen. Heute in der Post, in der großen Halle: Niemand braucht meinen Ausweis zu sehen, alle grüßen mich. Endlich habe ich an einem freien Tag die Muße und Lust die Transkription für die Audioarbeit von Theo Eshetu fertigzustellen. Erschreckend: viele Passagen kannte ich doch nicht – oder hatte ich vergessen zu transkribieren, weil ich dachte, sie wären nicht in der Ausstellungsversion, nur online.

Was machen eigentlich all MEINE Projekte? Vielleicht bin ich einfach müde und erschöpft und bräuchte eine Pause. Stattdessen: Heute noch mich besuchende Freunde zum drum kümmern und morgen wieder Gruppen, Gruppen, Gruppen. Ich habe mich nicht umsonst hierhin geflüchtet, hier muss ich erst mal nicht hören, nicht agieren; ich habe hier keine Verantwortlichkeit, keine Verpflichtung.

Ich mag die Drömeligkeit dieser Regentage; gedämpftes Murmeln im Innenraum. Wie gut, dass ich mir draußen die Füße nass gemacht habe, so bleibe ich länger sitzen als nötig und lasse mich auf Gespräche mit interessierten Besuchern ein beginne abzudriften: Ich habe es nicht mehr eilig, brauche keinen Umweg zu machen, gehe Tee trinken und esse Sütlaç dazu, nehme Gedanken wahr und lasse sie wieder los... … ich hätte meinem Impuls nachgeben und meinen alten klapperigen Regenschirm gegen ein schöneres Modell austauschen sollen. 68


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