Dating the Chorus - Issue 2

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Ungerechtigkeit ist hermeneutische Ungerechtigkeit: Sie entsteht, wenn eine Lücke in den kollektiv-interpretativen Ressourcen (z.B. Konzepte oder Begriffe) dazu führt, dass Personen ihre sozialen Erfahrungen nicht einordnen können oder Personengruppen per se einen Nachteil in dieser Hinsicht haben. Wie zum Beispiel, wenn man sexuelle Belästigung erleiden muss, weil man in einer Kultur lebt, die dieses Konzept nicht bezeichnet (vgl. Fricker 2007, 2ff.). Nun könnte man sich fragen, wie diese beiden Formen der genuin epistemischen Ungerechtigkeit den unterschiedlichen Personengruppen eines Museumsbesuches zugesprochen werden können. Die Vermutung liegt nahe, dass es oft die Kunstvermittler*in sei, der testimoniale Ungerechtigkeit widerfährt, während die Besucher*innen bereits hermeneutischer Ungerechtigkeit unterliegen, weil ihnen die meisten Konzepte, Begriffe und Entwicklungen moderner bis zeitgenössischer Kunst nicht zugänglich sind. Ich glaube dies nur zum Teil: Vielmehr scheint es mir, dass Rezipienten von Kunst, beinahe egal welchen Alters, beide Formen der Ungerechtigkeit aufzeigen und der Vermittler der Kunst zu jemandem wird, der in oft sehr kurzen Zeitabständen an zwei Fronten kämpft. Zum Beispiel würde testimoniale Ungerechtigkeit eigentlich mindestens zwei Akteure umfassen: einen Hörer und einen Sprecher. Durchschnittliche Museumsbesucher beherbergen aber auf geradezu erstaunliche Art und Weise beide Rollen in sich, indem sie sich erstens in der Konfrontation mit Kunst selbst als Wissenden nicht trauen, also Vorurteile gegen sich als Sprecher hegen, was meiner Ansicht nach der Grund ist, warum Personen in Führungen (oder vergleichbaren Formaten) sich oft

nicht trauen, etwas zu sagen. Zweitens treten aber auch Vorurteile in der Rolle des Hörenden auf, nicht nur sich selbst und der Vermittler*in gegenüber, sondern auch gegenüber den Kunstwerken und ihren Urhebern, denen in diesen Momenten das Potenzial abgesprochen wird, wirklich wissenswerte Inhalte und Möglichkeiten zu vermitteln. Wenn ich an hermeneutische Ungerechtigkeit denke, erinnere ich mich gerne und gut an den Zeitpunkt, als ich zum ersten Mal mit der Aufgabe der Kunstvermittlung in Berührung kam. Damals war ich vierzehn Jahre alt und nahm an dem Projekt Kinder führen Kinder in der Kunsthalle Fridericianum unter René Block teil. Das Ziel eines Kinder führen Kinder Projektes ist natürlich nicht nur, selbstverständliche Sprachbarrieren zu überwinden, sondern auch, die Vermittlung von Kunst nicht per se für Kinder unnahbaren Erwachsenen zu überlassen, mit denen sie sich nicht solidarisieren können und die am Ende noch mit ihnen schöne Bilder mit bunten Stiften malen wollen. Gerade Kindern und Jugendlichen scheint anhaltend und im Vorhinein jeglicher Autonomisierungsprozess bei der Rezeption von Kunst zum Beispiel durch das Stellen von wichtigen theoretischen Fragen abgesprochen zu werden. So erinnere ich mich, damals im Rahmen einer Fluxus-Ausstellung (Eine lange Geschichte mit vielen Knoten / Fluxus in Deutschland 1962-1994) am meisten Erfolg und Spaß in den Gruppen mit der Frage gehabt zu haben, was die minimalen Bestandteile eines Kunstwerkes sein müssen, damit man es überhaupt noch als Kunstwerk erkennt? Heute scheint mir dies nicht nur eine höchst theoretisch anspruchsvolle, sondern auch zentrale Frage ohne Altersbeschränkung zu sein.

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