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Gesellschaft
TAZ.AM WOCHENENDE SONNABEND/SONNTAG, 18./19. APRIL 2015
354.493
Todesfälle gab es 2013
aufgrund von HerzKreislauf-Erkrankungen Quelle: Statistisches Bundesamt
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Millionen Deutsche nutzen bereits Fitness-
Tracker. Beliebteste Funktionen: Schrittzähler und Bewegungserinnerungen Quelle: Bitkom-Studie
ANSTUPSEN Ein Schweizer Unternehmer will mit einer einzigen Zahl das Wohlbefinden jedes Menschen messen.
Und so die maroden Krankenkassen sanieren. Seine App soll Versicherte belohnen, die sich mehr bewegen
Wie weit gehen Sie für Ihre Gesundheit? AUS BERLIN UND ZÜRICH JOHANNES GERNERT (TEXT) UND CHRISTIAN BARTHOLD (ILLUSTRATION)
evor Peter Ohnemus wieder bereit zur Weltrettung war, quälte er sich mit Fellen unter den Skiern die Walliser Berge hoch. Sein letztes Start-up hatte er gerade verkauft, und wie immer an diesem Punkt brauchte er eine Denkpause. Anfangs fühlte er sich in diesem Januar vor fünf Jahren müde, kaputt und übergewichtig, aber je länger er nach oben stapfte und durch den Tiefschnee hinunterschwang, je mehr er schwitzte, mit sich rang, desto mehr spürte er, wie er fitter wurde. Ohnemus, der seinen ersten Burn-out schon hinter sich hatte, begann, sich ein Maß zu wünschen für seinen Gesundheitszustand. „Wenn ich die Gesundheit der Menschen benchmarken könnte, das wäre eine Riesensache“, habe er beim Skiwandern gedacht, erzählt er. Oben auf der Hütte habe er seine Frau angerufen. Die sei auch Unternehmerin und gleich begeistert gewesen. Fünf Jahre später ist Peter Ohnemus dabei, den Krankenkassen dieser Welt seinen Index zu verkaufen. Eine Zahl, die den Gesundheitszustand eines Menschen exakt bemisst. Jedes Menschen, jederzeit. Peter Ohnemus, offener Hemdkragen, große Uhr, fünf Kinder, ist ein kräftiger Mann, dessen runder Kopf ohne Haare glänzt. Einer, der gewohnt ist, dass man ihm zuhört. Er kam in Dänemark zur Welt und lebt seit Jahren in der Schweiz. Seine Sätze haben etwas Sanftes, eine beschwingte Melodie. Er sitzt in seinem Büro in Zürich in einem Sessel aus weichem Leder und zieht immer neue Belege aus dem Papierstapel, in dem sich Balkendiagramme, Studien von Unternehmensberatungen und Zeitungsartikel mischen. Ohnemus will der Menschheit etwas schenken: seine Benchmark. Normalerweise hilft eine Benchmark einem Unternehmen, seine Leistung mit der der stärksten Wettbewerber zu vergleichen. Ein Mensch ist wie ein Unternehmen und ein Unternehmen wie ein Mensch, glaubt er. „Beides Lebewesen.“ „Was die ganze westliche Welt zum Zusammenbrechen bringen kann, ist nach wie vor der Gesundheitssektor“, sagt Ohnemus. Das ist die Katastrophe, die er mit seiner Zahl abwenden will. Eine Uhr von Apple, die in dieser Woche auf den Markt kommt, soll ihm dabei helfen. Wenn die Menschen solche Geräte am Körper tragen, werden sie sich hoffentlich so verhalten, dass sie weniger oft, weniger schnell oder weniger schwer krank werden. Und weil der Mensch Peter Ohnemus, 50 Jahre alt, Unter-
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nehmer ist, gibt es sein Geschenk nicht gratis. Es kostet 4,99 Euro im Monat. Im Internet-Kalifornien würde man Ohnemus einen „Serial Entrepreneur“ nennen. Er hat einige Start-ups gegründet. Zuletzt eines, das Asset4 hieß und börsennotierte Unternehmen auf Nachhaltigkeit prüft. Jetzt also Gesundheit. „Die meisten Krankenkassen sind pleite. Das können Sie drehen und wenden, wie Sie wollen“, sagt er. Er hat es so gedreht, dass eine Geschäftsidee daraus wurde. Die Gesundheitsindustrie sei die größte Industrie der Welt. Trilliarden US-Dollar. Hinzu komme: „Übergewicht kostet heute mehr als der weltweite Krieg. Das sind McKinsey-Daten.“ Er sagt die Quellen immer gleich dazu, weil er den Eindruck hat, dass die Leute ihm nicht glauben wollen. Sein neuestes Start-up nennt sich dacadoo. Ohnemus bezeichnet die App als „Lebensnavigationssystem“. Man kann mitstoppen, wenn man Sport macht, oder eingeben, wie gestresst man sich fühlt. Man bekommt Essenstipps. Die Einheiten dieses digitalen Gesundheitssystems sind: Energie und Bewegung. Kalorien und Schritte. dacadoo soll ein bisschen klingen wie Musik. Eine Idee mit Rhythmus daca-da-ca-da-ca-doo. Ohnemus trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Es gibt Menschen, die sind der Ansicht, dass Weltrettungsvorschläge wie die von Peter Ohnemus geradewegs in eine gesellschaftliche Katastrophe führen, noch viel größer als die, die er abwenden will. Die Schriftstellerin Juli Zeh nennt diese Katastrophe Gesundheitsdiktatur. In ihrem Roman „Corpus Delicti“ hat sie eine Welt beschrieben, in der Menschen vor Gericht landen, wenn sie in „Sportrückstand“ geraten. Sport ist darin eine Bürgerpflicht, die digital überprüft wird. „Ein Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon“, lässt Zeh einen Vordenker dieser Gesellschaft schreiben. Als der Roman 2009 erschien, war er ein Zukunftsszenario. Peter Ohnemus schafft jetzt die technischen Voraussetzungen. Dafür hat er sich unter anderem die Allgemeine Ortskrankenkasse Nordost ausgesucht. Obwohl Sebastian Morzinek den Sonntag auf der Couch herumgelümmelt hat, sind alle Para-
meter seines Lebens im grünen Bereich. Körper, Befinden, Lebensstil. Die Uhr an seinem Handgelenk misst einen Ruhepuls von 59 und zeigt ein grünes Herz. Sein Gesundheitsindex schwankt leicht zwischen 762 und 765. Heißt: Es geht ihm gut. Sebastian Morzinek, 29 Jahre alt, trägt einen dunklen Anzug und eine schmale Krawatte, die eine Idee zu elegant ist für das Namensschild der AOK, das er ans Revers geheftet hat. Auf der Kreuzung vor seinem Büro rumpeln Straßenbahnen durch den Berliner Autolärm. Kaum einer seiner Kunden hat einen Gesundheitsindex, und wenn sie einen hätten, läge er bei den meisten deutlich unter dem des Sozialversicherungsfachangestellten Morzinek, der diese AOKFiliale leitet.
Jeden Tag ein paar Stupser. Kein Moralvortrag Es ist bald zwei Jahre her, dass er sich über das Programm AOK mobil vital bei dacadoo registriert hat, um seine Schritte zu zählen, seine Blutwerte in die Formulare der App zu tippen, sein Stresslevel abends um acht mit einem Schieberegler einzuschätzen oder die Ernährungstipps zu lesen. Andere Kollegen haben das Interesse wieder verloren. „Mich hat es nicht mehr losgelassen“, sagt Morzinek. „Man wird ja auch täglich daran erinnert.“ Er geht heute regelmäßiger ins Fitnessstudio und tippt die Zeiten auf dem Fahrradergometer und beim Bauchmuskeltraining ein. Er hat gelernt, weniger Cola light zu trinken und mehr Hülsenfrüchte zu essen. Sein Ziel: ein Gesundheitsindex über 750. 750 von 1.000. Der Durchschnitt liegt um die 600. Der psychologische Trick, der bei Sebastian Morzinek perfekt zu funktionieren scheint, nennt sich Nudging. To nudge heißt anstupsen. Man verpasst jemandem täglich ein paar Stupser, damit er mehr von dem tut, was ein anderer als wünschenswert definiert hat, und weniger von dem, was als weniger wünschenswert gilt. Im Kanzleramt sitzen mittlerweile Experten fürs Nudging, der Internetintellektuelle Evgeny Morozov sieht ein NudgingImperium heraufziehen. Ich halt dir keinen Moralvortrag, ich geb dir einen Knuff. Nudging soll helfen, dass Leute das Licht ausmachen, wenn sie es nicht brauchen, dass sie mehr Organe spenden oder dass der Sprühverlust beim Pinkeln durch höhere Zielgenauigkeit sinkt. Dafür werden etwa MiniFußballtore in öffentlichen Pissoirs installiert. Es ist ein Beispiel für eine Untermethode des Nudging, die Gamification genannt wird, also Spielifizierung. Die Spielifizierung soll nun also nicht nur Toilettenfliesen sauber halten, sondern auch die Gesundheitssysteme dieser Welt retten. Wenn die Perspektive hier zunächst etwas männlich wirkt,