Stuttgarter Nachrichten - 2014

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Adrian Lobe, 08.10.2014 19:30 Uhr

http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.smartwatches-gesundheitscheck-am-handgelenk.63ca15bb-c492-40a1-8233-34f3c8ee4499.html

Gesundheitscheck am Handgelenk

Das Silicon Valley entdeckt das Gesundheitswesen. Mit riesigen Datenmengen soll die Vorsorge verbessert werden. Google und Co. frohlocken, Big Data könne Leben retten. Eine Illusion. sammeln können. Über 100 000 Gesundheits-Applikationen gibt es bereits, allein Apple hat 40 000 Apps für sein Betriebssystem iOS entwickelt. Der jüngste Coup aus dem Hause Apple ist die Digitaluhr iWatch, mit der der Gesundheitscheck bald am Handgelenk erfolgen könnte.

Ob Brille oder Fitnessband: Die „Wearables“ lesen GesundheitsdatenFoto: fotolia

Intelligente Waagen berechnen neben dem Gewicht den Körperfettanteil und Body-Mass-Index. Diese Daten können über WLAN oder eine App auf mobilen Geräten ausgelesen und über Statistiken analysiert werden. Und sie können an die Krankenkassen und Versicherungen weitergegeben werden. Hat der Nutzer in letzter Zeit zugenommen? Hat er zu viel gegessen und sich zu wenig bewegt? Dann könnte die Versicherung die Beiträge erhöhen. Solche Belohnungs- und Bestrafungssysteme gibt es bereits.

Das Silicon Valley entdeckt das Gesundheitswesen. Mit riesigen Datenmengen soll die Vorsorge verbessert werden. Google und Co. frohlocken, Big Data könne Leben retten. Eine Illusion.

Die AOK Nordost bietet in Zusammenarbeit mit dem Unternehmen Dacadoo AG eine Gesundheits- und Fitnessplattform an. „Mit Hilfe der Dacadoo-Tracker-App werden Ihre Aktivitäten aufgezeichnet und automatisch auf diese Gesundheitsplattform übertragen“, heißt es auf der WebStuttgart - Jahrzehntelang döste die Medizin in einem da- site. Ein „health score“ ermittelt auf einer Skala von 1 bis tentechnischen Dornröschenschlaf. Zwar wuchs der me- 1000 den aktuellen Gesundheitszustand und das Fitnessdizinische Fortschritt mit neuen Geräten und Medikamen- niveau. Der Nutzer erhält eine kostenfreie Jahreslizenz im ten, doch an der Diagnostik und Auswertung von Daten Wert von knapp 60 Euro im Austausch seiner Daten. Veränderte sich kaum etwas. Das könnte sich nun ändern. Mit mutlich zahlt er aber einen viel höheren Preis. dem Aufkommen mobiler Technologien, allen voran Wearables, Smartphones und Sensoren, stehen Ärzten mitt- „Es kann sehr riskant sein, Informationen mit Dritten zu lerweile massenhaft Daten zur Verfügung. Fitness-Tracker teilen“, sagt Ramon T. Llamas, Research Manager bei der wie das Armband Jawbone Up zeichnen Schrittfrequenz, International Data Corporation (IDC), im Gespräch mit unSchlafverhalten und Herzfrequenz auf. serer Zeitung. Die Informationsnutzung müsse transparent sein und dem Nutzer mitgeteilt werden. „Ich denke, Big Data war bislang ein Thema für Logistik oder Einzel- der Fokus liegt gar nicht auf der Herzfrequenz oder den handel. Doch nun könnten Big-Data-Lösungen auch im Schritten. Die Frage ist, wie Wearables sensible InformatiGesundheitswesen zum Einsatz kommen. Die Beratungs- onen gewinnen können“, so Llamas. Zum Beispiel, ob der firma McKinsey beziffert das Marktvolumen auf umge- Nutzer an Diabetes leidet. Fakt ist: Wearables produzierechnet 240 bis 360 Milliarden Euro. Google hat kürzlich ren gigantische Datenmengen. einige Millionen in das Start-up 23andMe investiert, das eine Datenbank für Genome erstellt. Die Forscher fahn- In Boston fand im Mai eine Konferenz zum Thema „Big Data den durch die systematische Auswertung unstrukturierter in Healthcare“ statt. Alan Stein, der bei Hewlett-Packard Daten nach der Formel für die Heilung von Krankheiten. für Gesundheitstechnologie verantwortlich zeichnet und In Googles Geheimlaboren suchen sie nach dem Algorith- an der Konferenz teilnahm, sagt auf Anfrage: „Big Data mus der Unsterblichkeit. Das klingt unheimlich verwegen, hilft, ganz bestimmte Fragen zu beantworten, zum Beidoch es passt zum heilsbringerischen Mantra des Silicon spiel bei Patienten, die ein hohes Infektionsrisiko auf der Valley. Google hat sogar eine smarte Kontaktlinse ent- Intensivstation tragen.“ Ärzte frohlocken bereits, Big Data wickelt, die den Blutzuckerspiegel misst. Im Juni hat der könne Leben retten. Einige kühne Zukunftsforscher bekalifornische Internetkonzern seine Plattform Google Fit haupten gar, dass der Roboter irgendwann nicht nur den vorgestellt, auf der Nutzer ihre Gesundheitsdaten zentral Physiker, sondern auch den Arzt ersetzen kann. Seite 1


Adrian Lobe, 08.10.2014 19:30 Uhr

http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.smartwatches-gesundheitscheck-am-handgelenk.63ca15bb-c492-40a1-8233-34f3c8ee4499.html

Für die Krankenkassen ist der Datenfluss ein Segen. Die Versicherer können genau abschätzen, wer ein Risikopatient ist. Wear­ables speisen in Echtzeit Informationen in ihre Datenbanken ein. Doch die Kehrseite dieser Gesundheitsoptimierung ist der gläserne Patient. „Die Privatsphäre bleibt meine Hauptsorge“, sagt Llamas. Tech-Giganten wie Google oder Samsung erhalten gewissermaßen frei Haus ein umfangreiches Bewegungs- und Aktivitätenprofil ihrer Nutzer. Wer hält sich wo zu welcher Zeit auf? Wessen Puls schlägt wann besonders hoch? Die Geräte sind überdies anfällig für Manipulationen und Missbrauch.

Der Chef von Proteus Digital Health, Andrew Thompson, sagte gegenüber dem Fachmagazin „EP Vantage“: „Wir sind daran, Medizin zu einem digitalen Event zu machen, wo das, was Sie schlucken und wie Ihr Körper antwortet, sofort auf einem Handy auftaucht.“ Medizin als Event. Und Geschäft. Proteus Digital Health sammelte im Juni 120 Millionen Dollar Kapital.

Der IBM-Supercomputer Watson, bekannt geworden durch die US-Quizshow „Jeopardy!“, wird bereits in der Krebsforschung eingesetzt. Statt eines Medizinstudiums hat Watson in den vergangenen Monaten Berge von TexIT und Medizin verschmelzen zu einer Disziplinierungs- ten in sich „hineingefressen“: zwei Millionen Seiten aus maschine. Eine smarte Pille von Proteus zum Beispiel teilt 42 Fachjournalen, 1,5 Millionen Patientenakten und 600 dem Arzt durch Absenden einer Textnachricht mit, ob die 000 Forschungsberichte. Gleichwohl wird die künstliche Tabletten eingenommen werden. IBM hat ein elektroni- Intelligenz wohl niemals die Expertise eines Mediziners sches, temporäres Tattoo entwickelt, das wie ein Barcode erlangen. Algorithmen ersetzen keinen Arzt. Wie sehr die unter die Haut gestochen wird und bei schwangeren Frau- Technik danebenliegen kann, zeigt das Beispiel Google en den Fötus beobachtet. Die Daten über das heranwach- Flu Trends. Aus der Häufung von ein paar Dutzend Suchsende Kind könnten dereinst an eine Cloud ausgelagert wörtern wie Fieber oder Husten wollte Google die Ausbreiund vom Arzt in Ferndiagnose überprüft werden. Wissen- tung der Grippewelle vorhersagen. Die Prognosen lagen schaftler tüfteln an Bluetooth-fähigen Zahnimplantaten, jedoch 50 Prozent über den tatsächlichen Grippefällen. die unsere Essgewohnheiten überwachen. Was daran so Die Daten wurden durch Googles Änderungen seiner verstörend ist, ist nicht die schiere Möglichkeit der Tech- Suchalgorithmen verfälscht. Das lehrt: Big Data ist selbst nik, sondern auch das Menschenbild, das dahinter steckt. infiziert von unsauberen Daten und Modellen – und kann Der Mensch ist nicht mehr mündig, sein eigenes Leben allein keine Krankheiten heilen. zu führen. Die Internetkonzerne beobachten uns nicht nur ständig, sondern bevormunden uns auch. „Schnall dich an! Iss weniger Fett! Bewege dich mehr! Ich sehe dich!“

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