crescendo Premium 06/2016

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AUSGABE 06/2016 OKTOBER – NOVEMBER 2016

www.crescendo.de 7,90 EURO (D/A)

PREMIUM AUSGABE

CD

inkl.

SCHWERPUNKT ISLAND Der sympathische Inselstaat hat neben gutem Fußball auch extravagante Musik zu bieten

ECHO KLASSIK 40 Sonderseiten zum wichtigsten ­Klassikpreis des Jahres 2016

JONAS KAUFMANN Der Strahlemann der Musikwelt und „Bestseller des Jahres“ über das Durchbrechen von Grenzen B47837 Jahrgang 19 / 06_2016

SALZBURGER ADVENTSINGEN

25. November bis 11. Dezember „Gib uns Frieden“ 70 Jahre Adventsingen aus dem Großen Festspielhaus in Salzburg



P R O L O G

ECHO KLASSIK 2016

WINFRIED HANUSCHIK Herausgeber

Liebe Leser, für Künstler, Plattenfirmen und natürlich auch für uns ist die letzte Juliwoche immer besonders spannend: Denn da verkündet die Deutsche Phono-Akademie die ECHO KLASSIK-Preisträger des Jahres. Die elf Jury­ mitglieder hatten sich dazu die über 1.000 Einreichungen angehört, bevor die eigentliche Arbeit begann: sich auf einen Preisträger in der jeweiligen Kategorie zu ­einigen. Wie mir ein Insider verraten hat, ging es da durchaus turbulent zu. Aus eigener Erfahrung weiß ich: So ein Jury-Job ist undankbar. Man kann es eigentlich niemandem recht machen: Gewinnt der eine, ist der andere enttäuscht und umgekehrt. Ehrlich gesagt, geht uns das auch so: Die ganze Redaktion stürzt sich auf die Liste und sucht nach unseren crescendo-Favoriten. Und wir freuen uns natürlich, wenn die Jury die Aufnahme genauso ausgezeichnet fand wie wir. Umgekehrt gibt es natürlich auch die Aufreger: Was hat sich die Jury denn dabei gedacht, diese und jene Aufnahme nicht auszuzeichnen? Bei der Olympiade gibt es wenigstens drei Medaillen – beim ECHO KLASSIK nur einen Preisträger pro Kategorie. Zweite oder dritte Plätze gibt es nicht. Und wenn dann ein Genie wie Sokolov eine seiner seltenen Einspielungen vorlegt, wird für andere Pianisten die Luft dünn. Der Höhepunkt ist dann die festliche Preisverleihung, die dieses Jahr am 9. Oktober im Konzert-

haus Berlin stattfindet: Allein der rote Teppich ist ein Schaulaufen der internationalen Klassik-Elite. Darum beneidet uns die ganze Welt: Nirgendwo anders kann man so viele Klassikkünstler hautnah und aus nächster Nähe erleben. crescendo ist natürlich mittendrin: Für die ganze Redaktion ist der ECHO KLASSIK ein jährlicher Fixtermin im Kalender. Wir bringen sogar ein eigenes Fernsehteam mit, und unser Kolumnist Axel Brüggemann trifft in der crescendo-Lounge einen Großteil der Preisträger und VIPs zum persönlichen Gespräch. Je später der Abend, umso launiger werden die Interviews. Ich erinnere mich immer wieder mit Freude daran, wie die Pianistin Hélène Grimaud ihre mit einem ECHO KLASSIK ausgezeichnete Einspielung auf Brüggemanns Rücken interpretierte oder er der verdutzten Janine Jansen ihre millionenschwere Barrere-Stradivari aus der Hand nahm und ihr erstaunlich sauber Alle meine Entchen vorspielte. Ein paar Highlights der letzten Jahre können Sie auf Seite 62 ansehen. Natürlich dreht sich in dieser Ausgabe fast alles um den ECHO KLASSIK. Auf 40 Seiten stellen wir Ihnen die diesjährigen Preisträger vor, lassen Sie sich überraschen. Und auf www.crescendo.de/echoklassik finden Sie die Interviews aus den letzten Jahren. Die Interviews dieses Jahres stellen wir sukzessive im Oktober online. Der einfachste Weg ist Facebook: Liken Sie einfach www.facebook.com/crescendomagazin, dann verpassen Sie kein Interview. Viel Spaß! PS: Das ZDF überträgt die ECHO KLASSIK-Gala am 9. Oktober zeitversetzt um 22 Uhr. Herzlichst, Ihr

Fotos Titel: Julian Hargreaves; Salzburger Adventsingen

An dieser Stelle ist keine Abo-CD vorhanden? Sie sind Premium-Abonnent, aber die CD fehlt? Dann rufen Sie uns unter 089/85 85 35 48 an. Wir senden Ihnen Ihre Abo-CD gerne noch einmal zu.

Winfried Hanuschik

ONLINE PREMIUM-SERVICES: TRETEN SIE EIN! Ihre Abo-CD In der Premium-Ausgabe finden Sie nicht nur doppelt so viel Inhalt: mehr Reportagen, Porträts, Interviews und ­ Hintergründe aus der Welt der Klassik – in einer besonders hochwertigen Ausstattung, sondern auch unsere ­ crescendo Abo-CD. Sie ist eine exklusive Leistung unseres ­crescendo Premium-Abonnements. Premium-Abonnenten erhalten sechs Mal jährlich eine hochwertige CD mit Werken der in der aktuellen Ausgabe vorgestellten Künstler. Mittlerweile ist bereits die 62. CD in dieser crescendo Premium-Edition erschienen.

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Ok tober – November 2016

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P R O G R A M M 100 95 75

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12 ECHO KLASSIK Nicht nur enthält dieses Heft das große ECHO KLASSIK Spezial, auch sonst dreht sich einiges um begehrte Klassikpreise.

16 REGULA MÜHLEMANN Schon als Kind war die Sopranistin begeisterter Mozart-Fan. Nun hat sie ihm ihr neues Album gewidmet.

71 ALISA WEILERSTEIN Mut zum Schostakowitsch-Exzess! In ihrer Interpretation seiner Cello-Konzerte wagt die Amerikanerin ein großes Spektrum an Emotionen.

STANDARDS

KÜNSTLER

HÖREN & SEHEN

03 .... PROLOG Der Herausgeber stellt die Ausgabe vor 06.... ENSEMBLE Mit unseren Autoren hinter den Kulissen 08.... BLICKFANG Ha! Ist das nicht ein Doppelgänger der Elbphilharmonie? 10 .... OUVERTÜRE Ein Anruf bei ... Leonhard Kubizek Tabelle: Musikpreise 64.... PERSONALIEN Pietrari Inkinen, Thomas Bauer, Sasha Waltz NACHRUF Johan Botha 69..... IMPRESSUM 80.... R ÄTSEL 100 93 .... K LASSIK IN 95 ZAHLEN 106... KOMMENTAR 75 Axel Brüggemann über Zwischenrufe im Konzert 114... HOPE TRIFFT ... Jasper Hope, Direktor des 25 neuen Opernhauses in Dubai

14..... EIN KAFFEE MIT ... Klaus Heymann 16..... R EGULA ­M ÜHLEMANN Die junge Schweizer Sopranistin im Mozartrausch 18..... ISABELLE FAUST Mozarts Violinmusik und ihre Zerbrechlichkeit

Fotos: BVMI; Henning Ross / Sony Classical; Decca / Harald Hoffmann

23.... ECHO KLASSIK Spezial 26.... PREISGEKRÖNT Eine Übersicht über die Gewinner 28.... A LFRED BRENDEL Für sein Lebenswerk geehrt, gibt sich der Pianist augenzwinkernd wie eh und je 40.... A NNA NETREBKO Sie hat nicht nur ihr neues „Verismo“-Album herausgebracht, sondern wurde auch noch „Sängerin des Jahres“ 46.... JONAS KAUFMANN Oper ist für alle! Mit seiner Authentizität wurde der Tenor „Bestseller des Jahres“

65.... DIE WICHTIGSTEN EMPFEHLUNGEN DER REDAKTION 66.... ATTILAS AUSWAHL Mit großen Interpreten in den Herbst 77..... U NERHÖRTES & NEU ENTDECKTES Christoph Schlüren über Richard Itter und dessen Label Lyrita 78.... DIE MOZARTARZNEI Menschen mit Bewegungseinschränkungen in einem eindrucksvollen ­Klavierprojekt

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nuPro® Aktiv-Standboxen

Fotos: Salzburger Adventsingen; promote Iceland; Sony Classical

Mehr Klangfaszination

88 SALZBURGER ­A DVENTSINGEN Zehntausende Besucher strömen inzwischen alljährlich zu dieser schönen Vorweihnachtstradition.

93 ISLAND Wilde Natur, mutige Architektur und kuriose Künstler – der Inselstaat kann mehr als nur guten Fußball ...

108 LANG LANGS NEW YORK Die Wahlheimat des Star­ pianisten ist der Big Apple. Uns hat er seine Lieblingsorte verraten.

ERLEBEN

GESELLSCHAFT

LEBENSART

81..... DIE WICHTIGSTEN TERMINE UND VERANSTALTUNGEN IM HERBST 88.... SALZBURGER ADVENTSINGEN Eine außergewöhnliche Tradition wird 70 90.... MUSIKSTADT LINZ Die Stadt an der Donau zeigt ihr breites ­kulturelles Spektrum

93.... SCHWERPUNKT: ISLAND Die sympathische Insel im Norden und ihre Musik 97.... N ICHT NUR BJÖRK Die isländische ­Avantgarde überschreitet alle Genregrenzen 98.... JÓN LEIFS Nordisch, schroff und klar: der wohl ­berühmteste isländische Komponist 100... ÓLAFUR ­ELÍASSON Von spektakulären Installationen mit Licht, Wasser, Dampf und Baumstämmen 102... ÓLAFUR ARNALDS Inselgesänge und eine Hommage an Island 105... WOHER ­KOMMT EIGENTLICH ... die Musik Islands?

108... L ANG LANGS NEW YORK Mit dem Klavier­ virtuosen auf ganz persönliche Reise durch die amerikanische Metropole 112... WEINKOLUMNE John Axelrod über Feuer, Eis und rumänische Kostbarkeiten

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Musikgenuss ohne zusätzliche HiFi-Anlage Verstärker + Klangmanagement in der Box ■ Einfach Abspielgerät anschließen ■ Hochpräzise, bassstark, fernbedienbar ■ Bequem online bestellen: www.nubert.de ■ ■

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Hören Sie die Musik zu u­ nseren Texten auf der ­crescendo Abo-CD – exklusiv für Abonnenten. Infos auf den Seiten 3 & 92

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Ehrliche Lautsprecher


E N S E M B L E

Hinter der Bühne Die Welt von crescendo lebt von den Künstlern und Mitarbeitern, die sie mit Leben füllen. Deshalb der gewohnte Blick hinter die Kulissen der Produktion.

AXEL BRÜGGEMANN Seit Jahren berichtet Axel Brüggemann zum ECHO KLASSIK und auch in dieser Ausgabe hat er sich ausführlich mit den Preisträgern des Jahres 2016 auseinandergesetzt. Auf 40 Sonderseiten werden alle Gewinner präsentiert (ab Seite 23). Besonders freut sich der crescendo-Autor aber darauf, die diesjährigen ECHO KLASSIK Gewinner nach ihren Auftritten bei der Preisverleihung in Berlin bei einem Glas Champagner in der crescendo-Lounge zu interviewen. Denn da erlebt man sie authentisch, und sie nehmen sich Zeit. Das größte Klassentreffen der klassischen Musik eben!

ÁRNI HEIMIR INGÓLFSSON Árni Heimir Ingólfsson ist ein isländischer Musikwissenschaftler und Pianist. Als einer der führenden Wissenschaftler über isländische Musik der Vergangenheit und Gegenwart hat er seine Doktorarbeit in Harvard fertiggestellt. 2017 wird seine Biografie über den isländischen Komponisten Jón Leifs bei der Indiana University Press erscheinen. Nebenbei ist er Dramaturgischer Berater des Iceland Symphony Orchestra. Zu unserem IslandSchwerpunkt schrieb er eine umfangreiche Reportage über die verschiedenen Facetten der isländischen Musikszene (Seite 94).

Unsere neue Redakteurin Maria Goeth hat im Musiktheater- und Konzertbereich schon fast jede erdenkliche Position eingenommen: ob Opernregisseurin, Dramaturgin, Kuratorin freier Kunstprojekte, Orchestermanagerin, Inspizientin, Moderatorin oder Gastspielleiterin. Festanstellungen führten sie als Assistentin der Musikalischen Direktion an die Bayerische Staatsoper, als Konzertdramaturgin ans Theater Heidelberg und zuletzt ins Projektmanagement von „Jugend musiziert“. Sie hat einen Doktortitel in Musikwissenschaft und ist als Lehrbeautragte an der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig, ihr Spezialgebiet: Musik und Humor. Bei crescendo kann sie das tun, was sie am liebsten macht: schreiben und sich mit allem möglichen Neuen, Kuriosen und Spektakulären aus der Klassikwelt beschäftigen.

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Fotos: privat

MARIA GOETH


on tour

Bayerische Staatsoper GEWA music GmbH | Oelsnitzer Str. 58 | D-08626 Adorf info@gewamusic.com | www.gewamusic.com


B L I C K F A N G

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Sehr elb­ philharmonisch

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Foto: Zaha Hadid Architects

„Puh“, haben sich wahrscheinlich die Hamburger gedacht, als sie dieses Bauwerk in der belgischen Stadt Antwerpen entdeckten. Es gleicht dann doch ziemlich der Elbphilharmonie, wurde aber bereits eröffnet. Anders als das hanseatische Landmark Building ist dieses neue Wahrzeichen am Wasser aber kein Konzerthaus, sondern – Achtung! – die neue Zentrale für die staatlichen Hafenmitarbeiter. Designt und entwickelt wurde es natürlich von einer echten Stararchitektin der Branche – Zaha Hadid. Hadid hat die Vollendung des Gebäudes allerdings nicht mehr miterlebt, sie verstarb im März diesen Jahres. Die Eröffnung in Hamburg ist übrigens am 11. Januar.


O U V E R T Ü R E

„Musiker sind besonders gefährdet“

Foto: privat

Ein Anruf bei Leonhard Kubizek, der eine neue Strategie gegen den sehr verbreiteten Musiker-„Burn-Out“ ausgeklügelt hat. mechanismen: entweder Kampf, Davonlaufen crescendo: Herr Kubizek, Sie beschäftigen sich seit 25 Jahren inoder Totstellen. Die einzige Möglichkeit ist, tensiv mit dem „Performers Burn-Out Syndrom“. Was haben sich mit dem eigenen Nervensystem zu wir darunter zu verstehen? verbünden, ihm beizubringen, wie wunDas Performers Burn-Out Syndrom ist der Verlust von Perderbar und großartig die eigene Exisspektive und Erfüllung. Wie im Spitzensport hat man tenz und das eigene Können sind, und sein erstes Rennen gewonnen – das Probespiel. Statt die dass das dann von innen nach außen Möglichkeit zu nutzen, Teil eines größeren Ganzen zu fließt. werden, werden wir zu kleinen Cyborgs oder KlonWie sieht konkret die Arbeit mit den kriegern, die nur danach beurteilt werden, ob sie Musikern aus, mit denen Sie zusamperfekt funktionieren. Kaum kommt eine Kleinigmenarbeiten? keit – etwa Nervosität oder Lampenfieber – dazu, In einem ersten Telefongespräch – etwa ist die Mission verloren. Mein Bruder hat sich vor 90 Minuten – wird eine persönliche Ho15 Jahren deshalb sogar umgebracht. logramm-Strategie entwickelt. Was erfüllt Warum sind Musiker besonders betroffen? mich, warum mache ich das, was kann ich Tatsächlich sind Instrumentalisten und vor allem ausdrücken? Dann werden die Einzelteile so Sänger besonders gefährdet. Wenn ich als Techniübersetzt, dass sie sich im Großhirn über das ker oder Chemiker arbeite und einen Fehler Denken, aber auch die Emotionen im mache, dann bin ich immer noch gut. Körper manifestieren und automaAls Musiker mache ich einen tisieren. Dazu gibt es konkrete TraiFehler und habe sofort das Ge„Herausfinden, was wirklich Spaß macht!“ ningsmodule, zum Beispiel zum Fofühl, nicht mehr gut zu sein. Leonhard Kubizek, früher selbst erfolgreicher Klarinettist, hilft kus der Aufmerksamkeit. Wenn Sie Was gibt es für ein GegenmitMusikern mit Burn-out. Infos unter: www.mozartscan.com sich jetzt in dem Raum umschauen, tel? in dem Sie gerade sind, und sich alWir nennen es die HologrammStrategie. Der Fokus muss darauf gerichtet werden, weshalb man les Rote merken und ich Sie dann bitte, die Augen zu schließen und begonnen hat. Wir haben uns viel zu sehr daran gewöhnt, dass es nach allem Blauen frage, werden Sie sich unter Umständen schlecht Binsenweiseheiten und Patentlösungen von außen gibt – ob das ei- erinnern. Wir sehen eben nur das, worauf wir uns konzentrieren. ne Pille, ein Betablocker, Alkohol oder andere Substanzen sind. Es Wenn wir uns nur darauf fokussieren, was alles nicht so gut ist, werist eigentlich ganz einfach: Man muss erkennen, dass die Schmerzen den wir auch nur das wahrnehmen, und es wird größer und größer und die Perspektivenlosigkeit ausschließlich darauf zurückzuführen werden. sind, dass wir uns von außen abhängig machen, dass wir verges- Was ist der Vorteil der Hologramm-Strategie gegenüber anderen sen haben, weshalb wir eigentlich eingestiegen sind. Deshalb Holo- Methoden wie etwa autogenem Training, Feldenkrais etc.? gramm-Strategie: Selbst in der kleinsten Zelle der Fotoplatte ist die Bei den anderen Methoden gibt es viele gute Ansatzpunkte, die ausganze Information enthalten. Wir müssen wieder wissen, was unser genutzt gehören, das schließt sich also nicht aus. Viele Orchesterübergeordnetes Ziel ist und wie wir dieses im Alltag automatisiert musiker haben schon unendlich viel probiert, und es hat nicht funkkriegen. Unser Nervensystem will uns vor Schmerzen schützen, tioniert, weil sie eines außer Acht gelassen haben: die Begeisterung, wenn es uns aber vor dem eigenen Job beschützen möchte, haben die Leidenschaft, das Wachstum, die Liebe und die Freude! wir ein echtes Dilemma. Das Nervensystem hat dann drei Schutz- Interview: Maria Goeth

1. Krzysztof Penderecki: „Seven Gates of Jerusalem“

PLAYLIST Welche Werke hört Trompeter Gábor ­Boldoczki privat? Und vor allem, warum?

Es ist mir eine große Ehre, dass er mir sein Trompetenkonzert gewidmet hat und ich es gerade in meinem neuen Album „Oriental Trumpet Concertos“ einspielen durfte. 2. Dmitri Schostakowitsch: Cellokonzert mit László Fenyö

Sehr energische, vielfarbige Interpretation von László, ich liebe seine besondere Art des Cellospiels. 3. Wolfgang Amadeus Mozart: Gesamte Violinkonzerte mit Kristóf Baráti

Elegante, frische Einspielung und große Virtuosität. 4. Orgelwerke von Johann Sebastian Bach und Philipp Glass mit Iveta Apkalna

Eine sehr spannende Zusammenstellung. Außergewöhnliche Interpretation. Sein neues Album: „Oriental Trumpet Concertos“ (Sony)

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5. Diana Damrau: „Fiamma del Belcanto“

Belcanto vom Feinsten. Wenn ich Diana Damrau höre, bin ich fasziniert von der Leichtigkeit ihrer Koloraturen.

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Stan Hema; Fotografie Š Satoshi Fujiwara

Die Hugenotten

Giacomo Meyerbeer Premiere am 13. November 2016 Musikalische Leitung: Michele Mariotti Inszenierung: David Alden www.deutscheoperberlin.de


O U V E R T Ü R E

Preise, Preise, Preise! Den ECHO Klassik gibt es seit 22 Jahren. Aber was war eigentlich in anderen Zeiten los in Sachen Anerkennung für Musiker? Und was gibt es heute für Musikpreis-Superlative?

Musikpreise im 18. / 19. Jh.

Franz Liszt bekam einst eine Würdigung, auf die er lange warten musste. Trotz Heines Häme – „Ja, er ist hier, der große Agitator, unser Franz Liszt, der irrende Ritter aller möglichen Orden (mit Ausnahme der französischen Ehrenlegion, die Ludwig Philipp keinem Virtuosen geben will)“ – wurde Liszt 1845 tatsächlich zum Ritter der Ehrenlegion ernannt.

Der westfälische Hof ernannte Paganini zum Baron und Comtur. Der Teufelsgeiger war darauf so stolz, dass er veilchenfarbene Visitenkarten mit Goldrand drucken ließ, auf denen stand: „Le Baron N. Paganini. Commandeur et Chevalier de plusiers ordres“. Heine lästerte, er sei, „ein Vampir mit der Violine, der uns, wo nicht das Blut aus dem Herzen, doch auf jeden Fall das Geld aus den Taschen saugt“.

Der Geigenvirtuose Joseph J­ oachim erhielt als Concert­ direktor a. D. die Goldene Ehrenmedaille für Kunst und Wissenschaft, eine knapp 100 Gramm schwere Goldmedaille, die König Ernst August I. von Hannover auch dann noch verlieh, als er längst im Exil lebte. Zudem bekam Joachim den Orden Pour le Mérite, eine Auszeichnung, die Albert Einstein zurückgab und Louis Pasteur gar nicht erst annahm.

Vor 137 Jahren das erste Mal vergeben, ist der Felix Mendelssohn Bartholdy-Preis der älteste Musikpreis Deutschlands. Vorsitzender des Kuratoriums war bis 1907 Joseph Joachim. Obwohl der Preis schon alt ist, die Bewerber dürfen es nicht sein. Laut Ausschreibung müssen es Studierende sein, die „bis zum Ende der Durchführung des Wettbewerbs das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet haben“.

Für Wagner-Interpretationen brauche man „bequeme Schuhe“, soll die schwedische Opern­ legende Birgit Nilsson gesagt haben. Der von ihr ins Leben gerufene Birgit-Nilsson-Preis ist der höchst dotierte Musikpreis der Welt. Bekannt dafür, hohe Gagenforderungen durchsetzen zu können, schuf sie ideale Voraussetzungen, hohe Preisgelder zu vergeben.

Der Grammy ist weltweit der wichtigste Musikpreis. Aufgeteilt in Sparten von Pop bis Klassik, gilt allein die Vermutung einer Nominierung schon als Ritterschlag. Wer in den Dunstkreis kommt, gehört schon fast dazu, er oder sie ist „grammyverdächtig“. Ungeachtet aller Rubriken konnte der Dirigent Sir Georg Solti mit 31 Grammys die bisher meisten Trophäen einheimsen.

Ob als Preisträger oder Backstage-Moderator, David Garrett, so scheint es, ist beim ECHO KLASSIK immer dabei. Der Saitenzauberer hat bereits acht ECHOS bekommen. In Sachen Rekordbruch profiliert, spielt der leinwanderprobte Teufelsgeiger 13 Noten pro Sekunde. Zwei Jahre lang hielt er den Guinessbucheintrag, Rimski-Korsakows Hummelflug in nur 66,56 Sekunden zu absolvieren.

Gordon Kampe, Neutöner aus dem Ruhrgebiet, bekam den Komponistenpreis der Ernstvon-Siemens-Musikstiftung für Schmackes-Variationen für Klavier und Zuspielungen. Er komponiert auch „Schweinisches“ und sagt: „Ich mag es, wenn es wummert. Das ganze Leben sollte wummern“ und brachte so Humor in die ansonsten ernste Angelegenheit einer Preisverleihung.

Einen Nobelpreis für Musik gibt es nicht. So stiftete 1992 Stig Andersson, einst Manager von Abba, den Polar-Musikpreis. Ein Preisgeld in Höhe von je einer Million wird in den Sparten „Pop und Jazz“ und „Klassik“ vergeben. Allein, es sind schwedische Kronen, die etwa 100.000 Euro ergeben. Den Anspruch, den Nobelpreis der Musik zu verleihen, erheben mehrere Preisgeber.

FRANZ LISZT

Musikpreise im Superlativ

BIRGIT NILSSON

ECHO KLASSIK heute

DAVID GARRETT

George Enescu International Violin Competition 2016: Gewinnerin des mit 15.000 Euro dotierten ersten Preises ist die 23 Jahre alte Südkoreanerin Gyehee Kim. +++ Stuttgart bleibt Kulturmetropole: Laut dem Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) sind Stuttgart, München, Dresden, Berlin und Bonn Deutschlands Städte mit den meisten Beschäftigten im Kulturbereich. Stuttgart verteidigt seine Spitzenposition bereits zum dritten Mal. Nürnberg und Hannover machten in den letzten zwei Jahren den größten Sprung nach vorn. +++ Robert-Schumann-Preis: Heinz Holliger erhält die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung der Stadt Zwickau. +++ Beethoven unterm Hammer: Ein handschriftlicher Entwurf des Klavierkonzerts Nr. 5 Es-Dur „Emperor“, das wichtige Rückschlüsse über seinen Kompositionsprozess zulässt, wird bei Sotheby’s versteigert. Der Schätzwert liegt bei rund 175.000 bis 230.000 Euro.

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Fotos: Universal Music; Louis Held; Sven Järlås

VON STEFAN SELL


O U V E R T Ü R E

Daniel Hope holt Brandauer nach Zürch Unser crescendo-Kolumnist und Stargeiger Daniel Hope ist neuer Musikdirektor des Zürcher Kammerorchesters. Damit steht erstmals kein Dirigent, sondern ein Instrumentalist als leitender Solist am Pult des 1945 gegründeten Klangkörpers. Der in Südafrika geborene und in Großbritannien aufgewachsene Hope eröffnete die Saison am 27. September mit einem gemischten Programm von Bach bis zu einer Schweizer Erstaufführung von Mieczyslaw Weinberg. Am 25. Oktober wird Hope zusammen mit Klaus Maria Brandauer zum Thema Krieg, es lebe der Krieg!? im Großen Saal der Tonhalle Zürich unter anderem eine halbszenische Aufführung von Strawinskys Geschichte vom Soldaten präsentieren. Die erste Gastspielreise führt Hope, der das Orchester gerne stärker internationaliseren möchte, nach Südkorea und China. ■

PA S   D E   D E U X Unsere Rubrik mit Doppelgängern aus der Klassikwelt. Diesmal: Riccardo Chailly und Dieter Gorny

Foto: Markus Nass

Internationaler

Passend zum ECHO KLASSIK Heft haben wir diesmal den Doppelgänger des Chefs des Bundesverbandes Musikindustrie, Dieter Gorny, gefunden: den italienischen Dirigenten Riccardo Chailly. Witziges Detail: Beide sind im Jahr 1953 geboren. Bild würde fragen: „Also doch Zwillinge?“

W.A. MOZART The New Complete Edition Die umfassendste Mozart-Edition aller Zeiten

Weltweit auf 15.000 Exemplare limitiert und nummeriert 200 CDs | Erhältlich ab 28. Oktober 2016 Für weitere Informationen besuchen Sie: www.mozart225.com


K Ü N S T L E R

Auf einen Kaffee mit ...

KLAUS HEYMANN VON MARIA GOETH

Foto: privat

Klaus Heymann ist Gründer und mit 80 Jahren noch immer Chef des Musiklabels Naxos

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crescendo: Herr Heymann, Ihre Biografie liest sich wie ein AbenWas ist mit dem „Rosenkavalier“? Wir haben gehört, den mögen teuerroman. Studium in London, Paris, Lissabon und FrankSie auch gern ... furt, und im Jahr 1967 wanderten Sie bereits nach Hongkong aus. (lacht) Den gut aufnehmen, das wird ein teures Unterfangen! ­­ Ganz schön mutig und reiselustig ... Na ja, wir haben gerade den Ring mit dem Hongkong Philharmonic Klaus Heymann: Ich habe schon immer sehr viel Geschäftssinn gegemacht, das kam erstaunlich gut an. Jaap van Zweden ist ein toller Dirigent und hat mit Matthias Goerne auch einen sehr guten Sänger habt. Nach dem Krieg gab es nichts zu lesen, keine Bücher. Aber es als Wotan gefunden. gab diese Lux-Lesebögen. Ich war elf oder zwölf, ging zur FreiherrIrgendwie waren Sie immer ein Glückskind oder gab’s auch herbe vom-Stein-Schule in Frankfurt, die lag nah am Südbahnhof, wo es einen Kiosk gab. Ich habe mit meinem Taschengeld alle Lux-Lesebö- Rückschläge? gen aufgekauft und mit zehn Pfennig Gewinn an Klassenkameraden Eigentlich nicht. Ich habe ja, bevor ich ins Schallplattengeschäft einweiterverkauft. Ich war auch Balljunge gestiegen bin, andere Geschäfte betriebeim Tennis, später Caddy beim Golf ben und gelernt, dass man keine unkal„ICH HABE MIT MEINEM TASCHENund habe eigene Tennisturniere orgakulierbaren Risiken eingehen soll. Und ich muss sagen, die Großen haben Gott nisiert. GELD ALLE LUX-LESEBÖGEN sei Dank die Geburt und Entwicklung Aber so ein Schritt nach Asien in ­AUFGEKAUFT UND MIT ZEHN von Naxos verschlafen. Es gab Enttäu­dieser Zeit? Ich hatte nach der Universität – die schungen, aber keine Desaster. PFENNIG GEWINN AN KLASSEN­ ich übrigens nicht abgeschlossen habe Sie machen mit 80 immer noch weiter. KAMERADEN WEITERVERKAUFT“ – meinen ersten Job bei einer amerikaSind Sie Workaholic, macht es einfach nur Spaß oder ist es schlichtweg Ihr nischen Zeitung gefunden, einer WoLeben? chenzeitschrift für Soldaten, die in EuEin bisschen von allem: Ich bin kein Workaholic, aber die Arbeit ropa stationiert waren. Im Zuge des Vietnamkriegs waren alle nach macht mir Spaß. Ich bin mit einer Geigerin verheiratet, meiner bestFernost verlegt worden. Dann kam der Anruf: „Willst du mit?“ Ich dachte: „Mensch, Hongkong, toll!“ Dann bin ich mit einer Schreibverkauften Künstlerin. Sie arbeitet auch noch und ist mittlerweile 72. Sie macht gerade Fernunterricht für ihre Schüler in Hongkong. maschine und einem Koffer nach China gereist und habe erst mal Ich bin mit vielen unserer Künstler wenn schon nicht befreundet, so das Büro der Zeitung aufgemacht. Da bin ich hängen geblieben, hadoch gut bekannt. Das ganze macht Spaß, ist erfolgreich. Und was be gelernt, wie man eine Firma startet und habe mich selbstständig soll ich denn machen? Ich spiele zwar gerne Golf – das geht hier in gemacht, was in Deutschland nie gegangen wäre. Neuseeland, wo wir fünf Monate pro Jahr verbringen, ganz gut –, Und die Idee mit dem Musiklabel, die kam dann aufgrund Ihrer aber die anderen Menschen dort sind so alt, pensioniert, haben alle Frau, die ja Geigerin ist? möglichen Krankheiten, haben Knieersatz, Hüftersatz, SchultererJa, ich war immer sehr musikbegeistert. Hatte auch in London und Lissabon viele Opern und Konzerte besucht. Das habe ich in satz, sind mental pensioniert. Da habe ich keine Lust dazu. Ich treffe Hongkong vermisst und habe angefangen, Konzerte zu präsentieren. natürlich Vorkehrungen, habe ein gutes Management-Team, aber Damals hatte ich schon den Vertrieb für Revox und Bose übernomsolange es geht ... Ich habe gerade wieder einen Bluttest über mich ergehen lassen, der absolut perfekt war, kasteie mich sogar mit vegamen, und dann kamen Künstler, die ihre eigenen Schallplatten nicht im Laden finden konnten – also begann ich, welche zu importieren. ner Ernährung. Weil wir ein gutes Marketing für die Konzerte gemacht haben, hat Haben Sie nie überlegt nach Deutschland zurückzukommen? mich das Hongkong Philharmonic Orchestra in den Vorstand einWir machen jedes Jahr einen Event in München und das ist schon schön, aber ich habe eine japanische Frau, und wir haben hier zum geladen. Ich sagte: „Auf ein Amateurorchester habe ich keine Lust, Beispiel Dienstboten, was schon sehr praktisch ist. aber wenn ihr professionell sein wollt, mach ich mit!“ Dann haben Aber das war ja nicht immer so? wir das Orchester professionell aufgestellt und in der ersten Saison Also, ich war relativ schnell erfolgreich: Als ich mich 1969 selbsthabe ich meine liebe zukünftige Ehefrau kennengelernt. Es gab in Hongkong nur ein Orchester und wenige Konzerte, also dachte ich: ständig gemacht habe, war ich innerhalb von einem Jahr MultiIch mache Aufnahmen. So fing das Ganze an. millionär. Hongkong ist zwar sehr schmutzig, aber man hat sehr Kommen Sie jetzt noch viel zum Musikhören? viele Freiheiten, auch viel mehr unternehmerische Freiheit als in Jein. Am Anfang habe ich mir alles, was wir aufgenommen haben, Deutschland, und die Leute lassen einen in Ruhe, wenn man nicht auch angehört. Jetzt ist es mit den Labels, die uns gehören wie Ongerade ein Verbrechen begeht. Natürlich ist es schön, durch Mündine oder Capriccio, so viel geworden, dass ich nur noch höre, was chen zu laufen, die schönen alten Häuser, Spargelzeit mit Sauce mich interessiert. Hollandaise – aber die muss ich mir mit der veganen Ernährung Und Ihre persönliche Lieblingsmusik? ja nun sowieso verkneifen. Das ist sehr schwierig. Wenn man so involviert ist ins Geschäft, Was halten Sie von Musikpreisen wie dem ECHO KLASSIK? dann ist es eigentlich immer das, wo wir gerade dran sind. Gut, ich (lacht) Also, solange wir keine bekamen, standen wir dem ablehnend habe ein paar Lieblingskomponisten wie Janáček, bin auch ein grogegenüber, aber als wir erst mal anfingen, Grammys – wir haben ßer Pfitzner-Fan. Ansonsten höre ich gerne die Mozart- und Haydn- jetzt 25 – und ECHOS zu gewinnen, waren wir happy. Viel verkauZeitgenossen. fen kann man heute allerdings nicht mehr damit. ■ 15


K Ü N S T L E R

„Die Oma schwingt mit“ Die Sopranistin Regula Mühlemann ist nicht nur Mozart-Fan, sondern inzwischen eine seiner bekanntesten Stimmen. Auch ihr neues Album hat sie dem großen Komponisten gewidmet.

Foto: Henning Ross / Sony Classical

VON CORINA KOLBE

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Mozarts Musik fasziniert die junge Schweizer Sopranistin Regula Mühlemann seit ihrer Teenagerzeit. Als Despina, Zerlina, Barbarina oder Papagena war sie bereits auf bedeutenden Bühnen zu erleben. Auch ihr erstes Soloalbum bei Sony Classical ist dem berühmten Salzburger gewidmet.

REGULA MÜHLEMANN LIVE

Harnoncourt einmal sagte, Mozart lasse sich immer wieder neu erfinden. Ich glaube 31.10./1.11.16: Konstanz nicht, dass man sich mit anderen KompoMozart: Exsultate nisten so unendlich beschäftigen kann wie 3.12./4.12.16: Stuttgart mit ihm. Bach: Weihnachtsoratorium BWV 248 Nach welchen Kriterien haben Sie die Stü13.5.17: Stuttgart cke auf dem Album ausgewählt? Schubert, Mozart Ich habe mir so ziemlich alles angehört, was für mein Fach möglich ist. Aus diesem Funcrescendo: Frau Mühlemann, Ihre Stimme dus habe ich mir meine Lieblingsstücke auswird als „brillant“, „lupenrein“ und gesucht. Etwa Die Abschiedsstunde aus dem weniger bekannten „höhenklar“ gelobt. Wie sind Sie zur Musik gekommen? Singspiel Der Schauspieldirektor. Oder Strider sento la procella aus Regula Mühlemann: Ich war eigentlich eine Quereinsteigerin. der Oper Lucio Silla, die auch nicht so häufig aufgeführt wird. Bei Allerdings ist meine Familie ziemlich musikalisch. Meine Mutter der Auswahl wollte ich mich nicht nur auf Opern beschränken. Die hat in einem kleinen Theater nahe Luzern Operette gesungen. Motette Exsultate, jubilate fand ich ebenfalls sehr geeignet. Ich Auch meine Großeltern standen da auf der Bühne. Verwandte von wollte kein tragisches Repertoire aufnehmen oder mich als Diva zeimir sagen, in meiner Stimme schwingt die Oma mit. gen. Viele fröhliche Arien, die gewissen Ansprüchen genügen, gibt Gab es ein besonderes Schlüsselerlebnis, das Sie dazu bewogen es aber selbst bei Mozart nicht. hat, professionelle Sängerin zu werden? Welche Anforderungen stellt dieses Repertoire an die Stimme? Irgendwann habe ich gemerkt, dass mir Singen großen Spaß Ihre Intonation hört sich jedenfalls ganz klar und mühelos an. macht. Den ersten Unterricht habe ich aber erst mit 14, 15 Jahren Manche Stücke klingen zunächst leicht, wie etwa die erste Arie auf genommen. Die Lehrerin schickte mich in die Kantorei in Luzern. der CD, Schon lacht der holde Frühling. Die Koloraturen gehen Bei der ersten Probe sang ich Rossini und war total begeistert. Ich einfach rauf und runter. Doch irgendwann merkt man als Sängedurfte dann schon bald Solopartien singen. Wie sehr lassen Sie sich von der Musik berühren, die Sie singen? rin, dass es sportlich wird und man viel Atem braucht. Die richtig heiklen Passagen kommen bei Mozart oft zum Schluss. Selbst dann Zu den Stücken, die ich darf das Singen aber nicht nach Akrobatik klingen. einstudiere, habe ich ALS KÜNSTLERIN BIN ICH Wie etwa am Ende der äußerst schwierigen Konzertarie Vorrei zuerst einen emotionaspiegarvi, oh Dio, wenn ein Sprung nach oben über zwei len Zugang. Danach TECHNISCH UND MUSIKALISCH kommt die Technik. Bei Oktaven und eine Terz zu bewältigen ist. IMMER WEITER AN MOZART Konzerten ist es wichtig, Diese Arie habe ich nicht ausgewählt, weil ich etwas besonders Virtuoses zeigen will, sondern weil sie mir so unglaublich gut zum ersten Moment GEWACHSEN zurückzufinden, in dem gefällt. Ich liebe auch dieses Oboen-Solo … Auf der CD wollte ich unbedingt ein Stück haben, in dem mein Lieblingsinstrument mit man zum Kern der der Stimme kombiniert wird. Auch bei dieser Arie gehe ich zuerst Musik vorgedrungen ist. Bei einem Auftritt habe ich gesehen, wie von meiner eigenen Empfindung aus. Die Tonsprünge werden ein Zuhörer in der ersten Reihe in Tränen ausbrach. In solchen dann eigentlich zur Nebensache. Situationen merkt man, welch eine enorme Kraft Musik haben Wie war die Zusammenarbeit mit dem Kammerorchester Basel kann. Wir Sänger haben die Aufgabe, über die Emotionen Türen und dem Dirigenten Umberto Benedetti Michelangeli, einem zu öffnen. Das funktioniert aber nur, wenn sich das Publikum Neffen des legendären Pianisten Arturo? darauf einlässt und aufmerksam zuhört. Bei dem Orchester bin ich vor ein paar Jahren kurzfristig eingeMüssen Sie in ihrem Alltag ständig aufpassen und Ihre Stimme sprungen, als ein Sopran für Händels Der Messias gesucht wurde. schonen? Weil ich die Erfahrung toll fand, wollte ich mit diesen Musikern Ich versuche, möglichst normal zu leben. Am Abend vor einem auch mein erstes Album aufnehmen. Umberto Benedetti Michel­ Konzert verzichte ich zwar beispielsweise auf Alkohol. Ansonsten angeli lud mich vorher zu sich nach Hause nach Brescia ein, wo wir gehe ich aber sogar in Bars, in denen geraucht wird. Auch in das Repertoire intensiv durchgearbeitet haben. Wir waren uns fast Grippezeiten bleibe ich nicht nur zu Hause. Zum Glück werde ich in allem einig, außer bei der Arie Vorrei spiegarvi, oh Dio. Bis ich nur selten krank. Ich habe großes Vertrauen in meine Stimme, das verstand, dass ich da etwas völlig falsch verstanden hatte. „Oh Dio“ bewahrt mich vor allzu viel Stress. wird oft wie ein Gebet zu Gott gesungen. Er hat mir dann erklärt, Was verbinden Sie persönlich mit Mozart, mit dessen Arien Sie dass sich dieser Ausruf an einen Menschen richtet, fast wie ein auf Ihrem ersten Soloalbum zu hören sind? Kraftausdruck. Daraufhin habe ich auch meine TempovorstellunZum ersten Mal hat mich Mozart richtig gepackt, als ich als gen korrigiert. Am nächsten Tag haben wir die Arie wiederholt, Teenager die Barbarina in Figaros Hochzeit am Opernhaus Zürich und auf einmal passte alles perfekt zusammen. Vom Orchester hörte. Als Künstlerin bin ich dann technisch und musikalisch habe ich mich bei der Aufnahme förmlich getragen gefühlt. Ich immer weiter an ihm gewachsen. Das Wichtigste ist, dass man als stand mittendrin, zwischen den Celli und Violen. Interpret Ehrlichkeit in die Rolle legt. Ansonsten wirkt alles nur Es war wirklich ein Zusammenmusizieren. oberflächlich und berührt niemanden. Ich habe gelernt, tief in das ■ Innere einer Figur vorzudringen und mich mit ihr zu identifizieRegula Mühlemann: „Mozart Arias“, Kammerorchester Basel, ren. Mozarts Charaktere sind oftmals sehr vielschichtig. Auch bei Umberto Benedetti Michelangeli (Sony) der Gesangstechnik kann man da nicht schummeln, ohne dass es auffällt. Ich erinnere mich daran, dass der Dirigent Nikolaus 17


K Ü N S T L E R

„AN MANCHEN STELLEN DIESER MOZART-OPERN KANN MAN SICH LEBHAFT VORSTELLEN, WIE EIN BASSO HINTER EINER HECKE LAUERT UND EINE LIEBESKRANKE SOPRANISTIN VERÄPPELT“

Foto: Felix Broede

ISABELLE FAUST

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„Wolfang Amadeus wie eine Zwiebel geteilt“ Die fünf Violinkonzerte von Mozart seien das Schwierigste, das sie bisher aufgenommen habe, sagt die Star-Geigerin Isabelle Faust. Warum das so ist, erklärte sie uns bei einem entspannten Treffen in Berlin. VON CORINA KOLBE

offerpacken gehört für Isabelle Faust zum Alltag. Meist ist die international gefragte Geigerin mit dem markanten Kurzhaarschnitt kreuz und quer durch Europa unterwegs, denn sie spielt um die 130 Konzerte pro Jahr! Da genießt man schon mal einen „Ausflug“ nach Berlin, wo sie ihre Familie um sich hat. Hier, im Dunst des Großstadtgewirrs, treffen wir sie zum entspannten Gespräch und beginnen gleich mit dem Thema „Heimat“. Isabelle Faust muss nicht lange überlegen, was ihr unterwegs ein Gefühl von Heimat vermittelt: „Eigentlich immer die Musik, an die ich gerade denke. Heimat ist doch vor allem das, was man in sich trägt.“ Ständige Reisebegleiterin seit nunmehr 20 Jahren ist auch die „Dornröschen“-Stradivari von 1704, eine Leihgabe der Landesbank Baden-Württemberg. 150 Jahre lang galt das edle Instrument als verschollen, bis es 1900 zufällig auf einem Dachboden entdeckt wurde. „Dornröschen“ kam auch zum Einsatz, als Isabelle Faust für ihr gerade bei Harmonia Mundi erschienenes Album mit dem italienischen Barockensemble Il Giardino Armonico alle fünf Violinkonzerte sowie drei Orchestersätze von Wolfgang Amadeus Mozart einspielte. Faust, die sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der sogenannten historisch informierten Aufführungspraxis befasst hat, zog ihrer Geige für dieses Projekt wieder Darmstatt Stahlsaiten auf. „Mit Mozarts Musik bin ich schon mit elf oder zwölf Jahren in Berührung gekommen. Da hatte ich gerade mein eigenes Streichquartett gegründet“, erinnert sie sich. „Zuerst spielte ich sein G-DurViolinkonzert KV 216, dann natürlich auch die Streichquartette. Ich spürte sofort, dass diese Musik von der Bühne aus gedacht war.

Mozarts Opern sind so unglaublich schön und einfallsreich, sie haben einen zentralen Platz in meinem Herzen. Wenn man diese Opern gehört hat, kann man sich an manchen Stellen der Violinkonzerte lebhaft vorstellen, wie ein Basso hinter einer Hecke lauert und eine liebeskranke Sopranistin veräppelt.“ In den Werken des Salzburgers nimmt Isabelle Faust immer ein gewisses Augenzwinkern wahr. „Die Idee zu den abschließenden Rondo-Sätzen seiner Violinkonzerte hat er aus Frankreich übernommen. Diese Komponisten wiederholten aber ihre ,Ritornelli‘ zumeist eins zu eins, während Mozart jedes Mal rhythmisch etwas veränderte. Er komponierte unerhört fantasiereich und geschmackvoll. Und selbst wenn er in den frühen Konzerten mal zwei gleiche Themen verwendete, wird er sie selbst auf der Geige kaum identisch gespielt haben. Vermutlich ließ er sich bei jeder Aufführung etwas Neues einfallen.“ In den Finalsatz des Konzerts KV 216, auch Straßburger Konzert genannt, fügte Mozart unvermittelt zwei kurze Liedmelodien ein. Auch die langsame Einleitung zum A-Dur-Konzert KV 219 sei für das damalige Publikum sicherlich eine Überraschung gewesen, meint die Geigerin. „Die Zuhörer haben sich bestimmt gefragt, was das zu bedeuten hatte. Im Allegro zeigte sich der Solist entgegen allen Erwartungen gar nicht als kühner Virtuose, sondern spielte ein Adagio. Mozart war eben sehr ironisch. Er hatte Witz und Sinn für das Theatralische, war andererseits aber auch immer bereit, zum Lyrischen umzuschwenken. Als Interpret muss man sich ständig wie ein Fisch im Wasser bewegen, um diese raschen Stimmungswechsel zu bewältigen.“ 19


K Ü N S T L E R

Die fünf Violinkonzerte Moment lang fremd gefühlt“, seien vielleicht sogar das sagt sie. „Man muss immer Schwierigste, das sie bisher aufüberlegen, wie weit man sich als genommen habe, gesteht die Solist einbringt und wie man Geigerin, die ein breit gefächersich andererseits der charaktetes Repertoire vom Barock bis zur Gegenwart beherrscht. „Als ristischen Spielweise eines Ensembles anpassen kann. Bei Il GiarMozart die Stücke schrieb, war er noch nicht einmal 20 Jahre alt. Bis dino Armonico tritt das italienische Element besonders deutlich auf das erste sind alle diese Konzerte 1775 binnen weniger Monate hervor. Das ist ein interessanter Ansatz, denn die italienische Musik entstanden. Er besaß eine Genialität, die man nicht imitieren kann. hat Mozart ja bekanntermaßen stark beeinflusst.“ Selbst bei minimalen Veränderungen riskiert man als Musiker, die Ursprünglich wollte Isabelle Faust die fünf Konzerte mit ClauBalance zum Kippen zu bringen. Seine Stücke sind so filigran, dass dio Abbado und seinem Orchestra Mozart aufnehmen, mit denen alles wie ein Kartenhaus einzustürzen droht, sobald man nur an sie über mehrere Jahre eng zusammengearbeitet hatte. Da der welteiner einzigen Ecke etwas wegnimmt.“ bekannte Dirigent im Januar 2014 starb, Der Flötist und Dirigent Giovanni konnte das Projekt nicht mehr realisiert Antonini und sein Ensemble Il Giardino werden. Zuvor hatte sie mit Abbado, ebenArmonico erwiesen sich als höchst experifalls für Harmonia Mundi, Violinkonzerte ISABELLE FAUST LIVE mentierfreudige Partner, mit denen Isabelle von Beethoven und Berg eingespielt. Das 27.10.16 Konzerthaus Dortmund Faust tief in die Materie eintauchen konnte. 2012 erschienene Album wurde mit dem Beethoven: Violinkonzert D-Dur op. 61 „Die Violinkonzerte und die Orchestersätze Diapason d’Or, einem ECHO KLASSIK, 12., 13., 15.1.17: Gewandhaus Leipzig haben wir in zwei verschiedenen Arbeitsdem Gramophone Award und dem japaniBeethoven: Tripelkonzert C-Dur op. 56 phasen in Berlin aufgenommen. Vorher schen Record Academy Award ausgezeich17.3.17: Konzerthaus Freiburg hatten wir das Repertoire schon gemeinsam net. Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll op. 64 auf die Bühne gebracht.“ Antonini sei sehr Isabelle Faust erinnert sich noch gut 18.3.17: Kammermusiksaal Berlin anspruchsvoll: „Er gibt sich erst dann daran, wie sie mit Abbado und seinem Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll op. 64 zufrieden, wenn auch das letzte Detail perOrchester aus Bologna Mozarts letztes Viofekt stimmt. Obwohl wir die Stücke vorher linkonzert KV 219 aufführte. Einer der Aufhäufig miteinander gespielt hatten, waren wir im Studio noch lange tritte fand in dem prächtigen barocken Teatro Farnese in Parma damit beschäftigt, über unterschiedliche Interpretationsansätze zu statt, das zu diesem Anlass im Juni 2011 nach über 200 Jahren erstdiskutieren. Alles wurde immer wieder neu ausgelotet. Dabei habe mals wieder bespielt wurde. Auch beim Lucerne Festival waren sie ich unglaublich viel dazugelernt. Gemeinsam haben wir Schicht für mit diesem Werk gemeinsam zu erleben. „Claudio war ein sehr lyriSchicht von der ‚Zwiebel‘ Mozart abgetragen.“ scher Musiker. Sein Mozart war mit Gold übergossen und weniger Das Musizieren auf Darmsaiten ist Faust bestens vertraut. Mit provokant. Immer wenn ich versuchte, den komischen Charakter der historisch informierten Spielweise setzte sie sich unter anderem mancher Passagen besonders hervorzuheben, zwinkerte er mir kurz auseinander, als sie mit dem Freiburger Barockorchester, dem Pia- zu. Dann wusste ich, aha, das war wohl doch ein bisschen zu viel. nisten Alexander Melnikov und dem Cellisten Jean-Guihen Quey- Übertriebene Effekte wollte er immer vermeiden. Dabei wurde mir ras unter Leitung von Pablo Heras-Casado Werke von Robert Schu- klar, wie schwierig es ist, bei Mozart die Balance zu halten.“ mann aufnahm. Vor dem Mozart-Projekt habe sie allerdings länger Im nächsten Januar wird Isabelle Faust mit dem wiederbelebnach einem passenden Bogen gesucht. „Ich habe unter anderem ten Orchestra Mozart unter Leitung von Bernard Haitink in Boloeinen klassischen Bogen, der relativ kurz und mit wenigen Haaren gna und Lugano Beethovens Violinkonzert aufführen. Zukünftige bespannt ist. Für die langsamen Sätze der Violinkonzerte würde er Mozart-Projekte möchte sie mit Il Giardino Armonico in Angriff nicht ausreichen. Bögen aus der Barockzeit sind aber heute nicht nehmen. „In gewisser Weise sind wir zu Komplizen geworden“, mehr spielbar und meist nur noch in Museen zu finden. Von einem lacht sie. „Diese Zusammenarbeit finde ich unglaublich spannend Bogenbauer habe ich mir deshalb verschiedene historische Modelle und befriedigend. Ich denke, wir sind alle bereit, diesen Weg nachbauen lassen.“ gemeinsam weiterzugehen.“ ■ Nicht nur künstlerisch, auch menschlich fühlt sich Faust Il Wolfgang Amadeus Mozart: „Violin Concertos“, Isabelle Faust, Giardino Armonico tief verbunden. „Die Musiker sind unermüdIl Giardino Armonico, Giovanni Antonini (Harmonia Mundi) lich bei der Arbeit, sie glühen förmlich für ihre Sache und sind sehr Track 2 auf der crescendo Abo-CD: Allegro aperto aus dem Violinkonmiteinander verwachsen. Obwohl ich von außen zu dieser eingezert A-Dur KV 219 schworenen Gemeinschaft gestoßen bin, habe ich mich nicht einen 20

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Foto: Felix Broede

Violinistin Faust: „Jedes Detail muss stimmen“


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NEUHEITEN

BEI SONY MUSIC

CAPELLA DE LA TORRE FEUERMUSIK Das zweite „Elemente“ Album nach Water Music: Die farbenreichen Werke von Praetorius, di Lasso und anderen Komponisten befassen sich mit „feurigen“ Themen wie Hölle, Liebe, Weltenbrand und dem Feuervogel Phönix. www.capella-de-la-torre.de

REGULA MÜHLEMANN MOZART ARIAS Die junge Schweizer Sopranistin wurde bei den Salzburger Festspielen für ihre Auftritte in Opern von Mozart hochgelobt. Auf ihrem Debüt-Album mit dem Kammerochester Basel singt sie mit ihrem „glockenrein, hell leuchtenden Sopran“ ausgewählte Mozart-Arien und das berühmte Exsultate, Jubilate.

JOSHUA BELL FOR THE LOVE OF BRAHMS Brahms berühmtes Doppelkonzert mit Joshua Bell, Steven Isserlis und der Academy of St Martin in the Fields, reizvoll kombiniert mit Schumanns Klaviertrio op. 8 mit Bell, Isserlis und Jeremy Denk am Klavier. www.joshuabell.com

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NIKOLAUS HARNONCOURT THE LATE RECORDINGS Alle späten Aufnahmen des großen Dirigenten in einer limitierten Edition mit 61 CDs und 3 DVDs in hervorragender Klangqualität. Mit dem Concentus Musicus Wien, den Wiener Philharmonikern und dem Chamber Orchestra of Europe. Das gebundene Begleitbuch enthält einen neuen Essay über Harnoncourt, Interviews sowie alle Originaltexte der Veröffentlichungen. www.harnoncourt.info

MURRAY PERAHIA COMPLETE BACH Perahias Bach Referenz-Einspielungen, die mit zahlreichen internationalen Preisen wie dem ECHO Klassik, dem Gramophone Award und dem Grammy ausgezeichnet wurden. Limitierte 8 CD-Edition zum Sonderpreis! www.murrayperahia.de

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ECHO Klassik

ECHO SPEZIAL Eine Würdigung des großen Pianisten Alfred Brendel (ab Seite 28). Alle Preisträger im Porträt (ab Seite 26) | Anna Netrebko, die Sängerin des Jahres im Interview (Seite 43).

FOTO: BVMI / SINSSEY

MODERATOR DER DIESJÄHRIGEN ECHO KLASSIK-VERLEIHUNG IN BERLIN THOMAS GOTTSCHALK: „WIE JEDER KNABE AUS GUTEM HAUSE MUSSTE ICH KLAVIER LERNEN“

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Der neue Spaß am Ernsten VON A XEL BRÜGGEMANN

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Der ECHO KLASSIK ist eine Familienfeier der Branche. Auch dieses Mal werden sich wieder Künstler mit Vertretern der Plattenlabels und dem Publikum treffen, um einander zu s­ agen, wie toll sie sind. Aber ist die Musik inzwischen nicht viel s­ pannender als die Preisverleihung?

ZEICHNUNG: BENEDIKT KOBEL

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amit wir uns richtig verstehen: Der ECHO KLASSIK ist eine geniale Erfindung. Jedes Jahr treffen sich Künstler, Journalisten, Vertreter der Plattenlabels und das Publikum zu einer großen Sause, um zu zeigen, wie lebendig die Welt der klassischen Musik ist. Fakt ist aber zudem, dass sich auch die Klassik im ständigen Wandel befindet. Und das hat ganz unterschiedliche Gründe: In den Feuilletons kommt sie kaum noch vor, im großen Fernsehen so gut wie gar nicht – die Labels suchen seit Jahren nach neuen Vertriebskanälen, der Anteil der StreamingDienste und MP3-Downloads wird unaufhaltsam größer. Zudem ist das alte Marketingkonzept der Hochglanz-Klassik längst nicht mehr unangefochten. Wir haben es schon lange nicht mehr nur mit einigen wenigen Megastars zu tun, die gut aussehen und einigermaßen musizieren, sondern mit Künstlern, die in sozialen Netzwerken ihr Publikum finden, mit Virtuosen, die auch mit einem Repertoire jenseits von Bach, Beethoven und Brahms erfolgreich sind, mit kleinen Labels, die bewusst auf ein fachkundiges Kernpublikum spekulieren. Klar, die großen Zugpferde des Klassikbetriebes gibt es zum Glück noch immer. Aber auch sie haben sich grundlegend gewandelt: Die Anna Netrebko des Jahres 2016 hat nur wenig mit der Diva Anfang der 2000er-Jahre zu tun. Netrebko ist erwachsen geworden, erarbeitet sich ein neues Repertoire (gerade erst mit dem gefeierten Dresdner Lohengrin, nun in ihrer „Verismo“-Einspielung) und entwickelt ihre Stimme zu neuen Höhen. Ebenso wie Jonas Kaufmann, der nicht nur an Stimme gewonnen hat, sondern gerade deshalb zum ECHO KLASSIK-Bestseller geworden ist, weil er Klugheit mit Eingängigkeit verbindet. Auch ein Dirigent wie Antonio Pappano ist eben kein purer PR-Maestro, sondern jemand, der sowohl in Italien als auch in London neue Publikumsschichten durch eine neue Ernsthaftigkeit erobert. Mit anderen Worten: Viele Teile der Klassikbranche haben sich von der alten (und damals durchaus angebrachten) Oberflächigkeit verabschiedet. Sie sind wieder selbstbewusst geworden, sie erleben in ausverkauften Konzert- und Opernhäusern allabendlich, dass Erfolg nicht unbedingt an das Versprechen von Superlativen gekoppelt sein muss, sondern dass der neue Marktwert der klassischen Musik ihre Authentizität ist. Dass ihr eigentlicher Spaß in der Ernsthaftigkeit der Arbeit liegt. Dass man das Publikum durchaus fordern kann und dass es bereit ist, auch auf Abwege zu folgen, wenn es durch die Begeisterung der Künstler gelockt wird. Es ist unschwer zu beobachten, dass eine neue Freude an der Ernsthaftigkeit in die Klassik eingezogen ist, dass ein Großteil des Publikums weniger Interesse daran hat, sich erzählen zu lassen, was angeblich toll ist, als das Tolle selbst zu entdecken. Der Spaß an der Debatte, die Freude, das Gehörte zu kommentieren und zu disku-

tieren, ist wieder zur Triebfeder der Musik geworden. Opernhäuser und viele Orchester nutzen diesen Trend seit einiger Zeit: Ebenso wichtig wie die Unterhaltung und das Marketing ist ihnen der Diskurs mit dem Publikum geworden. Ihnen ist klar, dass nicht jeder Abend ein Geniestreich sein kann und dass die Zeiten vorbei sind, in denen man genau das penetrant behaupten musste. Sie haben erkannt, dass die Klassik in Wahrheit ein Abenteuer ist, dass dauernd etwas schief gehen kann, dass immer etwas provozieren darf und dass ständig Momente der Außerordentlichkeit passieren. Auch der ECHO KLASSIK könnte von diesem Trend profitieren. Davon, dass das Publikum längst mündig ist, dass es sich nicht mehr von der Oberfläche blenden lässt, sondern etwas anderes in der Musik sucht: das Intellektuelle, das Leidenschaftliche, das Erobernde, das Fanatische, den allzu menschlichen Aspekt des Musizierens – den Kampf um die eigene Interpretation, das Feilen an der Technik, den Vergleich mit anderen Kollegen. In all dem liegt die Gegenwart der Musik, egal, ob Anna Netrebko, Theodor Currentzis oder Philippe Jaroussky: Sie alle machen mit den Alben, für die sie dieses Jahr ausgezeichnet werden, längst vor, dass der Erfolg nicht mehr an der Oberfläche liegen muss, sondern zuweilen auch am tiefen Grunde des unendlichen klassischen Ozeans liegen kann. Die klassische Musik wird derzeit wieder so ernst genommen wie lange nicht mehr. Es wäre Quatsch zu glauben, dass man ein neues Publikum mit primitiven Superlativen locken könnte. Die Klassik selbst beweist das Gegenteil: Sie ist dort gesund, wo Diskussionen stattfinden, wo Begeisterung herrscht, wo die Spontaneität und der Mut auf etwas Neues regieren. Und es ist dem ECHO KLASSIK 2016 zu wünschen, dass diese moderne Form der Musikinterpretation und ihre Protagonisten gewürdigt werden, in einem feierlichen Rahmen, der es erlaubt, den Künstlern selbst eine Stimme zu geben, ein Forum, auf dem sie ihre Begeisterung zeigen können, auf einer Veranstaltung, die weniger Lobhudelei und mehr Mut durchaus vertragen könnte. Der ECHO KLASSIK ist eine seltene Gelegenheit, den Zustand der klassischen Musik vor einer breiten Öffentlichkeit zu spiegeln, er bietet die Chance, das, was passiert, zur Debatte zu stellen und dadurch sowohl das Publikum als auch das Feuilleton zu begeistern. Der Zustand der klassischen Musik lebt derzeit von der unsagbaren Virtuosität seiner Künstler, vom Mut, das Neue zu entdecken, davon, radikal andere Interpretationsansätze zu verfolgen oder das eigene Tun durch harte Arbeit zu perfektionieren. Es ist die Aufgabe des ECHO KLASSIK, diese neue Offenheit zu zeigen, zu feiern und zu beleben. Werden wir mutiger, bleiben wir kritisch. Begeistern wir durch Debatte. Das selbstgefällige Schulterklopfen war gestern – das Morgen ist das Abenteuer! 25


E C H O

K L A S S I K

Die Gewinner Von der Würdigung des Lebenswerks bis zum Preis für Nachwuchsförderung: Hier sind alle Preisträger des diesjährigen ECHO KLASSIK auf einen Blick. Würdigung des L­ ebenswerkes Alfred Brendel Decca (Deutsche Grammophon) zu finden auf Seite 28

Instrumentalist des Jahres | Geige Pinchas Zukerman Vaughan Williams & Elgar Decca (Deutsche Grammophon)

Nachwuchskünstler des Jahres | Geige Yury Revich 8 Seasons ARS Produktion

Sängerin des Jahres Anna Netrebko Verdi: Macbeth Deutsche Grammophon S. 40

Dirigent des Jahres Antonio Pappano Verdi: Aida Warner Classics S. 51

Nachwuchskünstler des Jahres | Gesang Andrè Schuen Schumann-Wolf-Martin: Lieder CAvi-music S. 36

Instrumentalist des Jahres | Klarinette Martin Fröst Roots Sony Classical S. 52 Instrumentalistin des Jahres | Cello Sol Gabetta Vasks: Presence Sony Classical S. 57 Instrumentalist des Jahres | Klavier Grigory Sokolov Schubert/Beethoven Deutsche Grammophon S. 53 Instrumentalist des Jahres | Flöte Stefan Temmingh Birds dhm (Sony) S. 48

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Ensemble / Orchester Berliner Philharmoniker Jean Sibelius: Symphonies 1 – 7 Berliner Philharmoniker Recordings Ensemble / Orchester des Jahres Capella de la Torre Water Music. Tales of Nymphs and Sirens dhm (Sony) S. 54 Ensemble / Orchester des Jahres German Brass Bach on Brass Berlin Classics (Edel) Nachwuchskünstlerin des Jahres | Saxofon Asya Fateyeva Saxophone Genuin classics S. 34 Track 4 auf der crescendo Abo-CD Nachwuchskünstler des Jahres | ­ Cello Edgar Moreau Giovincello Erato (Warner Classics) S. 36

Nachwuchskünstlerin des Jahres | Klavier Aurelia Shimkus B-A-C-H - Ich ruf’ zu dir ARS Produktion „Klassik ohne Grenzen“-Preis Andrea Bocelli Cinema Sugar (Deutsche Grammophon) S. 61 „Klassik ohne Grenzen“-Preis John Wilson Orchestra John Wilson Cole Porter in Hollywood Warner Classics „Klassik ohne Grenzen“-Preis Salut Salon Carnival Fantasy Warner Classics S. 60 Sinfonische Einspielung des Jahres | Musik bis inkl. 18. Jh. Jordi Savall, Le Concert des Nations Les Éléments Alia Vox (Harmonia Mundi) www.crescendo.de

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FOTOS: BVMI; DECCA / BENJAMIN EALOVEGA

Sänger des Jahres Philippe Jaroussky Green: Mélodies françaises sur des poèmes de Verlaine Erato (Warner Classics) S. 32


Sinfonische Einspielung des Jahres | Musik 19. Jh. Nikolaus Harnoncourt Concentus Musicus Wien Beethoven: Symphonies 4 & 5 Sony Classical S. 44 Sinfonische Einspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. Teodor Currentzis MusicAeterna Stravinsky: Le Sacre du Printemps Sony Classical S. 35 Konzerteinspielung des Jahres | Musik bis inkl. 18. Jh. Christophe Coin, Orchester le Phénix Wagenseil: Cello Concertos in C und A & Symphonia in C Coviello Classics (MBM) Konzerteinspielung des Jahres | Musik bis inkl. 18. Jh. François Leleux, Münchener Kammerorchester Hummel & Haydn: Prince Esterházy Concertos Sony Classical S. 35 Konzerteinspielung des Jahres | Musik bis inkl. 18. Jh. Andreas Staier, Freiburger Barockorchester Bach: Harpsichord Concertos Harmonia Mundi S. 52 Konzerteinspielung des Jahres | Musik 19. Jh. Il Pomo d’Oro, Riccardo Minasi, Maxim Emylyanychev Haydn: Concertos Warner Classics S. 60 Konzerteinspielung des Jahres | Musik 19. Jh. Janine Jansen, London Symphony Orchestra, Antonio Pappano Brahms & Bartók Decca (Deutsche. Grammophon) Konzerteinspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. Vilde Frang, Frankfurt Radio Symphony, James Gaffigan Britten/Korngold: Violinkonzerte Warner Classics Konzerteinspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. Anna Vinnitskaya, Kremerata Baltica Shostakovich: Klavierkonzerte Alpha Classics (Outhere Music) S. 44 Chorwerkeinspielung des Jahres Chor der Sixtinischen Kapelle, Massimo Palombella Cantate Domino Deutsche Grammophon S. 50 Operneinspielung des Jahres | Oper bis inkl. 17./18. Jh. Il Pomo d’Oro, Riccardo Minasi, Max Emanuel Cencic Leonardo Vinci: Catone in Utica Decca (Deutsche Grammophon) S. 50

Operneinspielung des Jahres | Oper 19. Jh. Flemish Radio Choir Brussels Philharmonic, Hervé Niquet Félicien David: Herculanum Editiones Singulares (Outhere Music) S.  36 Track 6 auf der crescendo Abo-CD Solistische Einspielung des Jahres | Oper 20./21. Jh. Orchestre Symphonique de Montréal, Kent Nagano Honegger & Ibert: L’aiglon Decca (Deutsche Grammophon) Solistische Einspielung des Jahres | Musik bis inkl. 17./18. Jh. | Klavier Nelson Freire Bach Decca (Deutsche Grammophon) Solistische Einspielung des Jahres | Musik 19. Jh. | Klavier Khatia Buniatishvili Kaleidoscope Sony Classical S. 37

Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. | Streicher Belcea Quartet Berg, Webern, Schönberg: Chamber Music Alpha Classics (Outhere Music) S. 54 Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. | gem. Ensemble Sergey & Lusine Khachatryan My Armenia Naive (Indigo) Editorische Leistung des Jahres Audiomax Niederländische Sonaten für Violoncello und Klavier, Vol. 7, Doris Hochscheid, Cello / Frans van Ruth, Klavier Audiomax (Dabringhaus und Grimm) S. 59 Welt-Ersteinspielung des Jahres Sebastien Daucé, Ensemble Correspondances Le Concert Royal de la Nuit Harmonia Mundi S. 37

Solistische Einspielung des Jahres | Musik 20./21. Jh. | Klavier Bertrand Chamayou Ravel: Complete Works for Solo Piano ERATO (Warner Classics)

„Klassik für Kinder“-Preis Peter und der Wolf in Hollywood erzählt von Campino Campino Deutsche Grammophon S. 49

Solistische Einspielung des Jahres | Gesang | ­Duette/Opernarien Olga Peretyatko Rossini! Sony Classical S. 48

Audiophile Mehrkanal­einspielung des Jahres Christoph Schoener, MDG Bach: Orgeltoccaten MDG S. 59

Solistische Einspielung des Jahres | Gesang | Arien/Rezitale Christiane Karg Scene! Berlin Classics (Edel)

Audiophile Mehrkanaleinspielung des Jahres (Sonderpreis: 3-D- Kopfhöreraufnahme) Musicaphon – Ingo Schmidt-Lucas Johann Georg Linike: Mortorium Musicaphon (Klassik Center Kassel)

Solistische Einspielung des Jahres | Gesang | Lied Holger Falk Erik Satie: Mélodies et Chansons MDG S. 59 Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik bis inkl. 17. / 18. Jh. | Bläser Bassoon Consort Frankfurt Bach: Goldberg Variationen MDG S. 59 Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik bis inkl. 17./18. Jh. | Streicher Hagen Quartett Mozart: Streichquartette KV 387 & 458 myrios classics S. 34 Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik bis inkl. 17./18. Jh. | gem. Ensemble Rolf Lislevand Scaramanzia Naive (Indigo) Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik 19. Jh. | Streicher Artemis Quartett Brahms: Streichquartette 1 & 3 Erato (Warner Classics) Kammermusikeinspielung des Jahres | Musik 19. Jh. | gem. Ensemble Berolina Ensemble Hugo Kaun: Kammermusik MDG S. 59

Musik-DVD-/Blu-ray-Produktion des Jahres | Oper Idéale Audience – Opéra national de Paris/Mezzo Diana Damrau Verdi: La Traviata Erato (Warner Classics) S. 34 Musik-DVD-/Blu-Ray-Produktion des Jahres | Konzert LGM Télévision, Alexandre Tharaud Bach: Goldberg Variations Erato (Warner Classics) Musik-DVD-/Blu-ray-Produktion des Jahres | Dokumentation Ralf Pleger Die Akte Tschaikowsky EuroArts (Warner Classics) Preis für N ­ achwuchsförderung Das Education-Programm des Klavier-Festivals Ruhr

Bestseller des Jahres Jonas Kaufmann Nessun Dorma. The Puccini Album Sony Classical S. 46

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„ICH MACHE MIR NICHT VIEL VOR. ICH HABE AUCH GAR NICHTS G ­ EGEN DEN TOD, WENN ER RECHTZEITIG KOMMT.“

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WÜRDIGUNG DES LEBENSWERKES

Eine Ära? Dass ich nicht lache! Der große Pianist ALFRED BRENDEL ist dieses Jahr 85 Jahre alt geworden. Nun wird er mit dem ECHO KLASSIK für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

FOTO: ISOLDE OHLBAUM

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arüber, dass mit seinem Abschied vom Konzertpodium eine Ära zu Ende gehen würde, konnte Alfred Brendel nur schmunzeln. Solche pathetischen Überhöhungen sorgen bei ihm höchstens für Satire, Hohn und Spott. Kein Wunder also, dass er das Szenario seines eigenen Rückzugs einst in einem seiner vielen Gedichte präzise und absurd ausmalte. Das Poem handelt von einem „119-jährigen Großverweser sämtlicher Sonaten, Balladen und Bagatellen“, der nach der zwölften Zugabe endgültig vom Podium abtritt. Just in diesem Moment kracht die goldene Bruckner-Orgel im Wiener Konzertverein zusammen und begräbt den Konzertflügel – die Statuen der „27 allergrößten Komponisten“ stürzen vom Sockel und „das linke Bein Schuberts“ fällt in den Schoß der Garderobiere vom Sacher. Mit anderen Worten: Der Abtritt eines Pianisten, auch eines Alfred Brendel, ist kein Beinbruch. Es wird auch weiterhin großartige Pianisten geben, die großartige Werke interpretieren. Und dennoch, ganz falsch ist der Satz vom Ende einer Ära dann auch wieder nicht. Alfred Brendel hat Musikgeschichte geschrieben, und zwar auf ganz unterschiedlichen Feldern: als Beethoveninterpret, natürlich, als jemand, der das Extrovertierte des Komponisten in so etwas wie Perfektion (dieses Wort würde er selbst wohl nie benutzen) verwandelt hat. „Equilibrium“ ist eines jener Worte, die Brendel gern benutzt: das Herstellen eines inneren Gleichgewichts. Und darin war er ein Meister. Er suchte nicht, wie viele andere Pianisten heute, das Unbalancierte, das Raue, das Gebrochene. Stattdessen ging es ihm stets um die Form. Brendel glaubt daran, dass Musik auch darin ihren Sinn haben könnte, das Archaische, das Natürliche, das Ungestüme und das Unausdrückbare in eine Form zu bringen und zu ordnen. Musik als Zähmung der eigenen Widerspenstigkeit vielleicht. So hat er es bei Beethoven gehalten, bei Schubert, bei Mozart und Liszt. Seine Interpretationen sind virtuos geordnete Extreme. Alfred Brendels Karriere ist eine Karriere jener Ära, als sich der Interpret noch als wahrhaftiger Hüter des Werkes und seiner Schöpfer verstand und sich gern selbst zurücknahm. Eine Ära, in der nicht mit der eigenen Biografie, mit Homestorys oder Klischees für die Musik geworben wurde, sondern als die Musik noch die einzige Werbung für die Musik war – das reine Spiel. Und vielleicht ist es das, was Brendels Interpretationen bis heute spannend macht: sein Verständnis von Musik als Spiel, als ernsthaftes, durchaus aber auch luzides Experiment, als Ort, an dem Ironie und Subversion ausprobiert werden können, aber stets unter dem Schutz des Großen und Ganzen, des Heiligen – des Klassischen. 29


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FOTO: DECCA, BEN EALOVEGA; DECCA; ISOLDE OHLBAUM; DECCA, BEN EALOVEGA

Natürlich unterrichtet Alfred Alfred Brendel ist ein KosmopoBrendel noch immer. Denn in Wahrlit. Er wurde 1931 in Wiesenberg in der „GROSSVERWESER heit ist ihm durchaus klar, dass er vielTschechoslowakei geboren, zog mit leicht doch der letzte Vertreter einer drei Jahren gemeinsam mit seinen DER ALLERGRÖSSTEN großen Ära sein könnte. Und der selbst Eltern nach Jugoslawien, wo die FamiKOM­PONISTEN“ ernannte „Großverweser der allergrößlie eine Pension unterhielt, und stuten Kom­ponisten“ findet – zu Recht –, dierte später in Graz – unter anderem dass es ihm durchaus zustehe, sein bei Paul Baumgartner und Edwin Fischer. Neben seinen zahlreichen legendären Einspielungen, die zu Wissen an die Protagonisten der neuen Ära weiterzugeben. Mit seinem 85. Geburtstag im Januar in einer 114-CD-Box bei DECCA dem Abtreten vom Konzertpodium ist er genau so sachlich umgeherausgekommen sind, war er einer der gefragtesten Liedbegleiter, gangen wie mit dem Wissen, dass auch seine Zeit nicht ewig ist: „Ich bin da immer Realist gewesen“, sagte er erst kürzlich dem Spiegel. „Ich unter anderem von Dietrich Fischer-Dieskau. Nach seinem Hörsturz im Jahre 2012 wurde es Brendel mache mir nicht viel vor. Ich habe auch gar nichts gegen den Tod, unmöglich, selbst zu musizieren, die Wahrnehmung der einzelnen wenn er rechtzeitig kommt.“ Aber der lässt sich hoffentlich Zeit. Noten hat gelitten, und Mittelmaß wollte er, der Perfektionist, nicht Und so greift Brendel weiterhin in die Gegenwart ein. Einer seiner erfolgreichsten Schüler ist Kit Armstrong – und abliefern. Dennoch war die Krankheit kein Grund für ihn aufzuhören. Seither erhebt er im Londoner Stadtteil Hampstead das Wort: an dessen Spiel zeigt sich vielleicht am besten, dass das Ende einer als Schriftsteller von bissigen Gedichten, als Vermittler von Musik, Ära immer auch der Anfang einer neuen ist: Armstrong hat die als Lehrer – er gibt Vorträge, bekrittelt den modernen Musikmarkt, Klugheit Brendels, ist ebenso philosophisch, ein genialer Kompowehrt sich gegen die Schnelllebigkeit und die Schlampigkeiten von nist – und als Pianist mit gleicher (ja, wir nennen es noch einmal so!) Schallplattenfirmen, Künstlern und besonders von Kritikern. Alfred Perfektion ausgestattet. Aber Armstrong ist vielleicht noch transBrendel gefällt sich in der Rolle des Kommentators, des moralisch zendenter, ungreifbarer als sein Lehrer. Während Brendel bis heute Wahrhaftigen, des Beobachters, des Grandseigneurs. Und manch- noch mit einem Bein im Leben steht, ist Armstrong bereits einen mal tut es ein bisschen weh, wenn er mit seinen Kommentaren Schritt weitergegangen – und steht nur noch im Kosmos der Musik. Seinen tatsächlichen Abschied vom Klavierspiel hat Brendel dann eben doch Position für fragwürdige Dinge ergreift. Etwa, wenn er (mit vollem Recht!) das musikalische Bildungssystem in übrigens im Stillen zelebriert, in seiner Wohnung in London, an seiEuropa angreift, um ausgerechnet das venezolanische „El Sistema“, nem eigenen Flügel – damals spielte er ganz für sich allein den langdas offensichtlich Teil einer politischen Diktatur ist, zum Vorbild zu samen Satz aus Beethovens „großer“ Sonate für Hammerklavier op. erheben. Positionierungen, die ein wenig am Lack des ansonsten so 106. Verstummt ist der Großmeister seither zum Glück nicht – er spielt nur keine Musik mehr. humanistisch denkenden Pianisten kratzen.


Matthias G. Kendlinger Chefdirigent

Foto: C. Ascher

K&K Philharmoniker K&K Opernchor · K&K Symphoniker

16/17 » Belgien Dänemark Deutschland Finnland Frankreich Italien Luxemburg Niederlande Norwegen Österreich Schweden Schweiz Ukraine

Leipziger Volkszeitung, 15. April 2016

Gäste

Martin Kerschbaum

Georg Kugi

Taras Lenko

Thomas J. Mandl

Friedrich Kleinhapl

Neuerscheinungen KENDLINGER · K&K PHILHARMONIKER

Ukrainische Ukrainische Weihnacht Weihnacht

Strauß Unter den

Linden

UKRAINISCHER NATIONALCHOR LVIV VASYL YATSYNJAK

KENDLINGER DIRIGIERT A UA SUTSRT I RA I A

A U S T R I A

Zeitdokument

Die schönsten Opernchöre III

A U S T R I A

Tiroler 2009–2015 Beethoven Tage 2009-2015 Live aus dem Passionsspielhaus Thiersee

DAS KONZERT VOM 19. MAI 2010 BEETHOVEN 7 DVOŘÁK 9

UKRAINISCHER NATIONALCHOR LVIV K&K PHILHARMONIKER

K&K Philharmoniker Matthias G. Kendlinger

Carmina Burana

Ukrainische Weihnacht

Strauß – Unter den Linden

Die schönsten Opernchöre III

Zeitdokument Tiroler Beethoven-Tage

CD+DVD [März 2016]

CD [Nov. 2016]

CD [Dez. 2016]

CD [März 2017]

CD [März 2017]

Ticket-Hotline: 0221/29 19 93 92 · www.dacapo.at

120098

117 Konzerte

Das machen die Damen und Herren aus Lemberg und Tirol gewiss wieder (nahezu) ohne Konkurrenz.


FOTO: WARNER CLASSICS

„ES GIBT EINFACH STÜCKE, DIE VERTONT MAN, UM ZU ZEIGEN, DASS MAN ES KANN“

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SÄNGER DES JAHRES

„Im Lied, da bist du nackt“ taucht den französischen Dichter Verlaine in stimmliche Opiumfarben.

PHILIPPE JAROUSSKY

P

aul Verlaine gehört in Frankreich zu den Helden der Dichtkunst. Und der Countertenor Philippe Jaroussky horcht seinen Poemen nun in Musik nach – auch, weil das Leben und das Werk Verlaines ihn bereits seit der Schulzeit begleiten. „Ich war vielleicht elf oder zwölf “, erinnerte sich der Sänger gegenüber Anna Novák in crescendo, „als unser Französischlehrer uns das Gedicht Prison vorstellte, in dem ein Gefängnisinsasse beschreibt, was er sieht und hört. Die Geräusche der Stadt, die Vögel vor dem Fenster. Ich fand das Gedicht ziemlich anziehend. Vielleicht ist der Lehrer mit schuld daran, dass ich bis heute versessen auf Verlaine bin!“ Es ist nicht nur das dichterische Werk, das den Sänger fasziniert, sondern auch dessen Vita: „Er hat versucht, den Dichter Arthur Rimbaud umzubringen, landete im Gefängnis und verbrachte seinen Lebensabend mit der Trinkerei.“ Ein Grund, warum Jaroussky dem Album zunächst den Titel „Absinth“ geben wollte. „Dann dachte ich, dass das nicht geht, schließlich hieß das Vorgänger-Album ‚Opium‘. Aber Absinth wird ja auch „grüne Fee“ genannt und tatsächlich gibt es ein wunderschönes Gedicht von Verlaine mit dem Titel ‚Green‘, eine Liebeserklärung an besagten Rimbaud. Ich habe drei Vertonungen von Green aufgenommen. Und da war mir klar, dass dieses Album ‚Green‘ heißen muss: Das ist kurz, es ist eine Farbe – und der Name ist auch noch international.“ Jaroussky hat sich nun darangemacht, unterschiedliche Kompositionen zu sammeln und in den Gedichten das herauszulauschen, was zwischen den Zeilen schwingt. Ähnlich ist er bereits in seinem vorigen Erfolgsalbum „Opium“ zu Werk gegangen. „Das Verlaine-Projekt ist ein bisschen wie eine Fortsetzung, aber doch sehr viel spezifischer, mehr konzeptionell“, erklärt der Sänger. „Ich denke schon seit vielen Jahren darüber nach, ein solches Projekt zu machen. Und jetzt, wo ich es konnte, sind es gleich zwei komplette Stunden Musik auf zwei CDs geworden. Verlaine ist für uns Franzosen ein echter Held. Tatsächlich fühle ich mich besonders französisch, wenn ich Zeilen von ihm singe. Diese Facette von mir möchte ich mit dem Publikum teilen.“ Aber was konkret ist das „Französische“? – Vielleicht die Melodielinie, das Träumerische, das Undefinierte, die Offenheit in der Vielfältigkeit der Farbe, die Jaroussky wie kein anderer seiner Kollegen anzurühren weiß. Und wahrscheinlich ist es auch diese Offenheit, die innere Lyrik in Verlains Gedichten, die so viele unterschiedliche Komponisten inspiriert hat, sie in Töne zu gießen. „Es gibt einfach Stücke, die vertont man, um zu zeigen, dass man es kann“, sagt Jaroussky, „genauso ist es mit manchen Werken von Verlaine: Da hatten Komponisten Faurés Vertonung im Kopf und haben sich gedacht: Das kann ich doch besser machen.“ Aber – und das macht dieses Album aus – Jaroussky interessieren nicht allein die großen Namen und die Angeber-Kompositionen,

er findet es viel spannender, auch den unbekannten Werken das Genie abzuhorchen. „Ich wollte nicht nur die bekannten Komponisten zu Wort kommen lassen“, erklärt er, „sondern auch die unbekannteren. Es gibt mehrere Kriterien, warum man ein Stück aufnehmen kann: erstens, weil es unbekannt ist, aber eine tolle Qualität hat. Oder zweitesns, weil es eine besonders kontrastierende Vergleichbarkeit gibt, wie beispielsweise bei C’est l’extase. Da gibt’s eine Vertonung von Fauré und eine von Saint-Saëns, die könnten unterschiedlicher gar nicht sein. Bei Fauré ist das Stück sehr langsam und atmosphärisch. Bei Saint-Saëns das Gegenteil. Da perlt es vor sich hin. Zwei komplett unterschiedliche Mentalitäten, zwei unterschiedliche Varianten von Ekstase.“ Und es ist diese Unterschiedlichkeit, die der Countertenor in dieser Aufnahme auch in seiner eigenen Interpretation widerspiegelt – für ihn gibt es nicht den einen Verlaine. Jaroussky zeigt, dass es keine Wahrheit in der Musik gibt, sondern immer nur unterschiedliche Wahrheiten, die ihren Sinn und ihre Logik in sich selbst offenbaren. Und diese inneren Kosmen der Interpretation werden vom Quatuor Ebène und JérÔme Ducros kongenial begleitet. „Man kann Stunden damit verbringen, die einzelnen Bearbeitungen zu vergleichen“, sagt Jaroussky, „gerade Fauré und SaintSaëns haben vollkommen unterschiedliche Ansätze: Oft geht’s bei Fauré in der Phrase hoch, in der gleichen geht’s bei Saint-Saëns mit der Melodie runter. Das Gute bei Verlaine ist: Man kann seine ganzen Recherchen von zu Hause machen. Es gibt eine Seite im Netz, da gibt man ‚Verlaine‘ ein und kann alle Vertonungen von allen Gedichten einsehen. Ein Meer von Musik!“ Und aus diesem Meer hat Jaroussky nun nicht die dicksten, sondern die interessantesten Fische herausgeangelt. Für ihn auch deshalb eine Herausforderung, weil er in den Liedern über die Gedichte Verlaines innerhalb weniger Minuten ganze Opern erzählen muss. Die Kunst des Liedes, das weiß Jaroussky, fordert einen vollkommen anderen Zugang als eine Barockoper: „Beim Lied bin ich viel nackter, wie ich da auf der Bühne stehe und ein Gedicht vortrage. In der Oper kann man ja immer noch schauspielern, wie verzweifelt man doch ist. Aber ich habe das Gefühl, wenn man beim Lied etwas zu sehr forciert oder ein Wort zu sehr betont, dann leidet die Poesie darunter. Ich bewundere die Art, wie Edith Piaf und Jacques Brel ihre Chansons singen. Sie kommen dieser Musik oft näher als irgendwelche Opernsänger. Beim Liedrepertoire musst du ein Risiko eingehen!“ Und dieses Risiko hat sich nun einmal mehr ausgezahlt – Philippe Jaroussky, einer der spannendsten Countertenöre unserer Zeit, erhält mal wieder einen ECHO KLASSIK. Aktuelle CD: Bach, Telemann: „Sacred Cantatas“, Philippe Jaroussky, Freiburger Barockorchester (Erato) 33


E C H O

NACHWUCHSKÜNSTLERIN DES JAHRES | SAXOFON

ASYA FATEYEVA verbindet russische

Seele, französische Schönheit und deutsche Schule.

FOTO: NEDA NAVAEE

Ihren größten Wunsch hat sich Asya Fateyeva bereits mit ihrer Debüt-CD erfüllt: „Ich wünsche mir, dass das Saxofon einen ganz selbstverständlichen Platz im Musikleben bekommt.“ Mit dem ECHO KLASSIK hat die junge Musikerin, die auf der Krim geboren wurde und in Hamburg lebt, bereits viel dazu beigetragen. In der bei Genuin Classics veröffentlichten Aufnahme begeistert Fateyeva mit Leichtigkeit und Spielfreude in Werken von Decruck, Ibert und Michat: Ihr sinnlicher Klang besteht aus russischer Seele und französischer Ausbildung. Dass Fateyeva das Saxofon erlernte, war eher ein Zufall. Eigentlich hatte sich ihr Vater ein Instrument zugelegt, aber die zehnjährige Tochter war so begeistert, dass sie sofort darauf zu spielen begann. „Ich war beim ersten Ton verliebt“, erinnert sie sich, „und hatte das Glück, gleich eine hervorragende Lehrerin zu finden.“ Bereits ein halbes Jahr später trat Fateyeva zum ersten Mal mit Orchester auf. Seither arbeitet sie daran, das Saxofon zur Selbstverständlichkeit in der Klassik zu erheben „Ich möchte das Niveau des Saxofonspiels in Deutschland heben“, sagt sie und schlägt dafür auch ungewohnte Wege ein, wenn sie Werke von Bach oder Schumann arrangiert. Kein Wunder, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits über eine „Sensation für die Musikwelt“ jubelt. Ziemlich sicher, dass Asya Fateyeva mit dem Nachwuchs ECHO KLASSIK nur den ersten Schritt gegangen ist, um ihr Instrument und sich selbst als Allgegenwärtigkeit in der Klassikwelt zu etablieren.

KAMMERMUSIKEINSPIELUNG DES JAHRES | MUSIK BIS INKL. 17./18. JH. | STREICHER

MOZART MIT VIER STRADIVARIS Das HAGEN QUARTETT interpretiert Mozarts Haydn-Quartette mit unglaublicher Frische. Nichts ist so wertvoll wie die Freiheit! Seit sich die Geschwister Lukas, Clemens und Veronika Hagen und der zweite Geiger Rainer Schmidt vor sechs Jahren entschlossen haben, zum kleinen, ambitionierten Label Myrios zu wechseln und mit dem genialen Tonmeister Stephan Cahen zusammenzuarbeiten (der auch Tabea Zimmermann oder Kirill Gerstein betreut), haben sie den Luxus, hauptsächlich jene Werke vorstellen zu dürfen, die sie gerade entdecken wollen. Cahen gibt den Musikern jene Freiheit, die im aktuellen Klassikbetrieb selten geworden ist – und das, obwohl genau diese Philosophie am Ende die ganz besonderen Aufnahmen hervorbringt. Die Möglichkeit der Freiheit hört man den unglaublich frischen Einspielungen von Mozarts Streichquartetten KV 387 und 458 nun auch an. In den sogenannten Haydn-Quartetten nimmt Mozart einen Rekurs auf seinen Förderer Joseph Haydn und behauptet sich gleichzeitig als genialer Neuerfinder. Die Aufnahme, die im Sendesaal in Bremen entstanden ist, ist die erste Einspielung des Hagen Quartetts, bei dem das komplette Set der Stradivari-Instrumente zum Einsatz kommt, das ihnen seit 2013 zur Ver­­fügung steht, das sogenannte „Paganini“-Quartett. FOTO: HARALD HOFFMANN

DIE SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT DES SAXOFONS

K L A S S I K

MUSIK-DVD-/BLU-RAY-PRODUKTION DES JAHRES | OPER

DIE ABGRÜNDIGEN ECKEN DER STIMME DIANA DAMRAU begeistert auf DVD als Violetta an der Opéra de Paris. „Es geht in der Oper auch darum, jene Seiten des menschlichen Daseins als Exzess zu inszenieren, die einem in der Wirklichkeit hoffentlich erspart bleiben.“ Sätze wie dieser sind typisch für Diana Damrau. Sie ist nicht nur eine Schönsingern, sie ist auch eine Rollenverkörperin – eine entgrenzte Sopranistin, die an jenen Orten der Stimme nach Wahrhaftigkeit sucht, die an­­ deren Sängern zu dunkel, zu abgründig, zu ver­ wegen sind. Eine ihrer Paraderollen ist Verdis La Traviata, seit sie 2013 ihr Rollendebüt an der Met gab. „Ich habe lange gewartet, mich der Partie zu stellen“, sagt sie heute. „Auch aus Ehrfurcht, weil ich schon als Zwölfjährige geradezu verliebt in Teresa Stratas und Plácido Domingo war.“ Inzwischen hat sich Damrau die Rolle der Kurtisane vollkommen zu Eigen gemacht. In Perfektion ist das auf Blu-Ray und DVD zu sehen, wenn sie live in der opulenten Pariser Inszenierung von BenoÎt Jacquot auflebt und stirbt, be­­gleitet von Francesco Demuro, Ludovic Tézier und dem Orchestre de l’Opéra national de Paris unter Francesco Ivan Ciampa. Hier ist Damrau in Perfektion zu erleben. Und man darf sich schon jetzt auf ihre nächsten

Recitals bei Warner Classics freuen, wenn sie wieder hinabsteigt, um in höchsten Sopran­ höhen die tiefsten menschlichen Seelen abzuschreiten.

FOTO: ERATO-SIMON FOWLER

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— Verlags-Sonderveröffentlichung/Anzeigen zum ECHO KLASSIK 2016

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SINFONISCHE EINSPIELUNG DES JAHRES | MUSIK 20./21. JH.

AUFGESTANDEN UND EKSTASE, BITTE! TEODOR CURRENTZIS und sein Ensemble MusicAeterna begeistern mit einem ekstatischen „Sacre“.

FOTO: ROBERT KITTEL

„Musik bewegt.“ Das war bislang lediglich ein geflügeltes Wort. Aber seit Teodor Currentzis am Dirigentenpult steht, wird dieser Spruch auch in der Musikszene wörtlich genommen. Sein Orchester, MusicAeterna, erhebt sich immer dann, wenn es ernst wird: Im Stehen geigt und spielt es sich eben leichter, wahrhaftiger – emotionaler. Und darum geht es dem Chef, die Musik zu spüren, sie aufzunehmen, ihre Energie abzugeben, in allem, was er tut! Es ist überfällig, dass der griechische Dirigent mit dem ECHO KLASSIK ausgezeichnet wird. Dieses Mal für eine Aufnahme, die der Bewegungsmusik so nahe ist wie kaum eine andere: Strawinskys Le Sacre du Printemps sorgte schon bei der Uraufführung für einen handfesten Skandal und gilt heute als Fanal des „Zeitalters der Extreme“. Aber gerade das scheint Currentzis wiederum anzuspornen, dieses Werk etwas sanfter, sinnlicher, dialogischer und auserzählter anzulegen als viele seiner Vorgänger. MusicAeterna bewegt sich zwischen aufgeheizter Stimmung und eiskalter Stringenz: Jede musikalische Explosion wirkt hier wie von einem erfahrenen Sprengmeister eingeleitet. Der Kampf der Elemente wird zu einem ausufernden Spaß, zu einer Ausgelassenheit, zur puren Ekstase. Currentzis ist schon lange kein Geheimtipp mehr, der abgeschieden im russischen Perm die Musikgeschichte neu erfindet. Sein Ansatz hat der Klassikszene längst neuen Schwung gegeben. Ihm gelingt es in jedem Auftritt und in jeder Aufnahme aufs Neue, die Spannung für sich und seine Künstler zu halten. Der letzte Scoop, den er für Sony Classical vorgelegt hat, ist Tschaikowskys Violinkonzert, das er gemeinsam mit Patricia Kopa­ tchinskaja in Szene setzte. Die Geigerin aus Moldau ist eine genialische Partnerin für den griechischen Tonstürmer, auch sie spielt keine Musik, sondern brennt für sie, auch sie interpretiert nicht nur, sondern will bewegen: ihren eigenen Geist und jenen ihres Publikums. Man darf sich bereits jetzt auf seinen Don Giovanni, den Abschluss von Mozarts Da-Ponte-Trilogie, in wenigen Wochen freuen.

Aktuelle CD: Mozart: „Don Giovanni“, Teodor Currentzis (Sony)

KONZERTEINSPIELUNG DES JAHRES | MUSIK BIS INKL. 18. JH.

LANGWEILT DEN FÜRSTEN NICHT FRANÇOIS LELEUX entdeckt die Musikbibliothek der Esterházys

und entfaltet unendliche Spielfreude. Chamber Orchestra of Europe ist. Er ist auch ein passionierter Musikhistoriker. Gemeinsam mit seinem Landsmann, dem Flötisten Emmanuel Pahud, und dem Münchener Kammerorchester präsentiert er zwei Konzerte von Haydn, die eigentlich für die Lira Organizzata geschrieben wurden, ein Oboenkonzert, von dem fälschlicherweise lange angenommen wurde, dass es ebenfalls aus der Hand Haydns stammen würde, sowie die Konzertvariationen op. 102 von Johann Nepomuk Hummel. François Leleux zeigt in dieser Aufnahme für Sony Classical nicht nur die schwebende Leichtigkeit seines Spiels, sondern arbeitet auch ein wesentliches Merkmal der höfischen Esterházy-Musik heraus: Sie musste verblüffen, unterhalten, durfte nie langweilig werden und verlangte Inter-

preten mit höchster technischer Raffinesse, denen es gelingen musste, die komponierten Effekte auch hörbar zu machen. All das tut Leleux geradezu spielerisch, und es ist eine ohrenöffnende Freude, ihm bei der Arbeit zuzuhören und sich von der Vielfalt und Offenheit der Musik dieser Zeit begeistern zu lassen.

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FOTO: GEORG THUM

Am Hof von Fürst Nikolaus I. Joseph Esterházy de Galantha spielte die Musik: Der Monarch wusste, dass ein Staat einen Soundtrack brauchte, und engagierte die wichtigsten und unterhaltsamsten Komponisten seiner Zeit, unter ihnen Joseph Haydn und Johann Nepomuk Hummel. Beide waren für die Esterházys als Kapellmeister tätig, bis der Mäzen sparen musste und die Musik ihren Rang verlor. Für den französischen Oboisten François Leleux ist die Musikbibliothek des Fürs­ ten von Esterházy nun zu einer spannenden Fundgrube geworden. Leleux ist nicht nur ein technisch perfekter Musiker, der bereits mit 18 Jahren Solo-Oboist der Pariser Oper war, drei Jahre später zum Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Lorin Maazel wechselte und nun Solo-Oboist des

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FOTO: JULIEN MIGNOT

FOTO: JULIEN MIGNOT

FOTO: GUIDO WERNER

OPERNEINSPIELUNG DES JAHRES | OPER 19. JH.

ES GIBT NICHTS GROSSKONTROLLIERT ARTIGERES UNGESTÜM HERVÉ NIQUET und die Brüsseler NACHWUCHSKÜNSTLER DES JAHRES | CELLO

NACHWUCHSKÜNSTLER DES JAHRES | GESANG

WANN IST DER MANN EIN MANN? Der Bariton ANDRÈ SCHUEN entdeckt in Liedern von Schumann, Wolf und Martin zeitlose Männerbilder. Die Stimme verrät viel über den Geist eines Menschen. Und der Geist von Bariton Andrè Schuen ist ziemlich aufgeweckt. Ge­meinsam mit seinem Klavierpartner Daniel Heide beweist er in seinem Debüt für das Label CAvi-music, dass Musik auch immer eine sinnliche Form des Erzählens ist. Das Thema, das die beiden jungen Männer ausgewählt haben, ist das Altern des Mannes. Egal, ob in den Liedern von Robert Schumann, den Jedermann-Vertonungen von Frank Martin oder in Hugo Wolfs Harfner-Liedern – überall geht es um Selbstreflexionen, Sehnsüchte und Vergänglichkeit und die Frage „Wann ist ein Mann ein Mann?“ Andrè Schuens erzählerischer Bariton verleiht all dem Tiefgang, Sinnlichkeit und Facettenreichtum. Er ist bestens geschult, was den Ausdruck der Musik als innere Sprache betrifft, immerhin war er der einzige Sänger, der in allen drei Da-Ponte-Opern unter Meisterdirigent Nikolaus Harnoncourt im Theater an der Wien auf der Bühne stand. Schuen war lange Cellist, besuchte Meisterkurse von Fischer-Dieskau und war Ensemblemitglied in Graz. Sein Bariton hat sich längst freigeschwommen: Beschwingt von inhaltlicher Botschaft und Lust am Ausdruck, steht diese Stimme aus Südtirol sicherlich vor weiteren ECHO KLASSIK Auszeichnungen.

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Philharmoniker entdecken eine Trouvaille der französischen Grand Opéra. Die Ästhetik des barocken Klangs ist seine Heimat, die Ausweitung seiner Klangzone führt ihn inzwischen auch in das weitgehend unbekannte Feld der französischen Romantik. Nun hat sich Hervé Niquet gemeinsam mit der Stiftung Palazzetto Bru Zane in der CD-Buch-Edition „Ediciones Singulares“ der Oper Herculanum des französischen Komponisten Félicien David (1810–1876) angenommen, die mit einem ECHO KLASSIK ausgezeichnet wird. Während des Vesuv-Ausbruches im Jahre 79 n. Chr. kämpft ein junges christliches Paar gegen Verfolgung und die Intrigen einer lüstern-dekadenten römischen Herrscherin und ihres Bruders. Die Pariser Uraufführung der Grand Opéra im Jahre 1859 war ein großer Erfolg. Hector Berlioz schrieb damals: „Ich glaube nicht, dass man an der Oper je etwas Großartigeres gemacht hat als die Inszenierung von Herculanum.“ Niquet versammelt für die Wiederentdeckung ein fulminantes Ensemble, das natürlich auf historischen Instrumenten spielt. Gemeinsam mit dem Flämischen Rundfunkchor und der Brüsseler Philharmonie sorgen Sänger wie Véronique Gens und Karine Deshayes für eine authentische und packende Wiederbelebung eines zu Unrecht vergessenen Werkes.

Aktuelle CD: „Requiems. Cherubini, Plantade“ Le Concert Spirituel, Hervé Niquet (Alpha) Track 6 auf der crescendo Abo-CD

EDGAR MOREAU beleuchtet in seinem zweiten Album die Wildheit des Barock.

Der Nachwuchskünstler hat es eilig: Unter dem Titel „Giovincello“ flirtet Edgar Moreau zwar mit seiner Jugendlichkeit, in Wahrheit aber hat seine Karriere längst Fahrt aufgenommen. Er war Jungstudent am Pariser Conservatoire, hat den Ehrenpreis beim Rostropowitsch Wettbewerb gewonnen, dann den Tschaikowsky-Wettbewerb. Er hat ein ohrenöffnendes CD-Debüt mit „Play“ hingelegt und sammelt nun den ECHO KLASSIK für sein zweites Album ein, das er gemeinsam mit dem Ensemble Il Pomo d’Oro aufgenommen hat – ein Repertoire mit waghalsigen Barockkompositionen. „Wir haben viel darüber nachgedacht, welche Stücke wir aussuchen sollten“, erzählt Moreau. „Zuerst stand das C-Dur-Konzert von Haydn fest, denn es war mir wichtig, ein großes Repertoire-Stück dabeizuhaben. Da­­neben wollten wir italienisches Barock-Repertoire stellen, also natürlich Vivaldi als Meister der italienischen Barockmusik und Boccherini, den Meister der virtuosen Cellomusik in dieser Zeit. Und dann wollten wir ein Stück spielen, das noch nie aufgenommen wurde und das noch nicht die Chance hatte, das Publikum für sich zu gewinnen.“ Dieses Werk stammt vom lange vergessenen Cellovirtuosen Carlo Graziani und besticht durch seine Virtuosität, die bei Moreau nie nach Musikzirkus klingt, sondern immer Inhalt und Ausdruck als Grundlage kennt. Keine Frage, dass dieser junge und ungestüme Musiker auf dem Weg nach ganz oben ist. www.crescendo.de

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SOLISTISCHE EINSPIELUNG DES JAHRES | MUSIK 19. JH. | KLAVIER

UNERHÖRT UNGEHÖRT KHATIA BUNIATISHVILI liest in „Kaleidoscope“ Werke von Ravel, Mussorgsky und Strawinsky vollkommen neu. FOTO: GAVIN EVANS

Wer besucht da in Mussorgskys Meisterwerk eigentlich die Ausstellung der Bilder des Komponistenfreundes Viktor Hartmann? Für viele Pianisten handelt es sich bei Bilder einer Ausstellung um die musikalische Beschreibung unterschiedlicher Kunstwerke. Das Besondere an der Einspielung für Sony Classical von Khatia Buniatishvili ist, dass sie sich nie mit der Illustration zufrieden gibt. Sie erzählt zweigleisig, zum einen den Inhalt der Bilder, zum anderen die Reflexionen und den emotionalen Zustand ihres Betrachters. „Dieser Zyklus ist für mich ein innerer Prozess“, sagt sie, „eine Allegorie auf das Leben. Die einzelnen Bilder stehen für die verschiedenen Erfahrungen, durch die es einen schleift: schöne, beglückende oder auch hässliche und erschreckende.“ Unzählbar die Aufnahmen, die von diesem Zyklus existieren. Umso erregender die neuen, bislang ungehörten psychologischen Untertöne,

die Buniatishvili diesem Werk einflößt. „Hinter den Farben versteckt sich manchmal ein tragi­ scher Hintergrund, eine düstere Geschichte“, sagt sie. Und das ist in allen Stücken ihrer mit

dem ECHO KLASSIK ausgezeichneten Aufnahme so. Unter dem Titel „Kaleidoscope“ vereint sie neben den Bildern einer Ausstellung auch La Valse von Maurice Ravel und drei Sätze aus dem Ballett Petruschka von Igor Strawinsky – jedes der Stücke existiert sowohl in einer Klavier- als auch in einer Orchesterversion, alle sind irgendwann einmal choreografiert worden. Für Buniatishvili bedeutet „Kaleidoscope“, jenen Blick einzunehmen, „den ein Mensch zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt auf Ausschnitte der Realität wirft“. Und genau das tut sie in ihren Tönen. Sie schafft es, das Altbekannte vollkommen neu anzulegen – weil sie es kann. Weil ihr offensichtlich keine technischen Grenzen im Wege stehen, weil sie selbst die größten virtuosen Momente spielerisch meis­ tert und sich voll und ganz auf ihre Idee und ihre Lesart konzentrieren kann. So wird das so oft Gehörte zum Unerhörten.

WELT-ERSTEINSPIELUNG DES JAHRES

WENN DIE SONNE DIE NACHT VERTREIBT Es ist absurd, wie wenig man über eines der bekanntesten historischen Ereignisse in der Geschichte Frankreichs wusste. Jeder kennt die Episode aus dem Leben Ludwigs XIV., wie er im Kostüm der Sonne in sein Königtum tanzte – an seiner Seite ein Orchester und auf der Bühne 24 Angehörige des hohen Adels. Was bislang niemand in Angriff genommen hat: die Rekonstruktion der Musik, nach der in dieser Nacht getanzt wurde. Den eröffnenden Gesang des Ballet Royal de la Nuit, das Lied Ich sinke herab, ihre Augen und ihre Ohren zu betören, war nur wenigen Experten bekannt. Und was passierte konkret in dieser Nacht, an deren Ende Ludwig als Sonne die Dunkelheit vertrieb? Über drei Jahre lang hat der Dirigent Sébastien Daucé sich mit den Noten beschäftigt, die noch existieren. Die Vokalmusik ist in einem Buch mit beziffertem Bass überliefert, von der Ouvertüre gibt es einen Geigenpart mit Basslinie, von den Tänzen existiert lediglich die Stimme der ersten Violine. Daucé hat all das, gemeinsam mit dem Musik­wissen­schaftler Thomas Leconte, liebevoll rekonstruiert und sich dabei alle Freiheit genommen: mondsilberne Flöten, dunkle Gamben und eine Oboe zum Tanz der Jäger. Klar wird, dass die höfische Musik zu Beginn der Regentschaft Ludwigs XIV. freier, überraschender und draufgängerischer war als später, da er persönlich das Klang-Diktat definierte und Lully die Strippen zog. Das Ensemble Correspondances interpretiert nun zum ersten Mal diese Rekonstruktion als „Concert Royal de la Nuit“ mit musikalischer Ausgelassenheit und mystischer Feierlaune. Atemberaubend die Stimme von Lucile Richardot, die Daucé erst auf die Idee gebracht hat, als sie ihn fragte, welches Werk er kenne, das für ihren gigantischen Tonumfang geeignet sei. Herausgekommen ist ein Stück erlebbarer Weltgeschichte, ein Abend am Hof des noch kindlichen Sonnenkönigs, der am 23. Februar 1653 selbst als Sonne aufgegangen ist.

FOTO: MOLINA VISIALS

SÉBASTIEN DAUCÉ und das Ensemble Correspondances rekonstruieren den musikalischen Beginn des französischen Sonnenkönigs.

Aktuelle CD: Charpentier: „Pastorale de Noel H.483“, Ensemble Correspondances, Sébastien Daucé (Harmonia Mundi)

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BEST OF KLASSIK 2016

WI R G RATUL IE R E N U N SER E N E C H O K L A S S I K - P R E I S T R Ä GER N

SÄN GER IN DES J AHR ES

KL A S S IK O H N E G R E N Z E N

ANNA NETREBKO Guiseppe Verdi: Macbeth

ANDREA BOCELLI Cinema

K L ASSIK FÜR KIN D ER

C HO R W E R K E IN S P IE L U N G D ES JA H R E S

O P E R N E IN S P IELU NG 1 7. / 1 8 . JA H RH U NDERT

SISTINE CHAPEL CHOIR Cantate Domino

I L P O M O D ‘ O R O, RICCARDO MINASI, F R A N C O FAG I O L I Leonardo Vinci: Catone in Utica

C A M P I N O, B U N D E S JUGENDORCHESTER, ALEXANDER SHELLEY Peter und der Wolf in Hollywood

IN S T R U M E N TA LI ST D E S JA H R E S Klavier G R I G O R Y S O K O L OV Schubert / Beethoven


BEST OF KLASSIK VON MORGEN W IR DR ÜC K E N D I E D A U M E N !

E L I N A G A R A N Cˇ A Revive

N E M A N J A R A D U L OV I C Bach

M U R R AY P E R A H I A Bach: Französische Suiten

DA N I I L T R I F O N OV Transcendental

F R A N C O FAG I O L I Rossini

DA N I E L BA R E N B O I M , L I SA BAT I A S H V I L I Tchaikovsky & Sibelius Violinkonzerte

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SÄNGERIN DES JAHRES

Anna allmächtig ist mehr als eine Sängerin – sie ist ein Phänomen. Nun wird sie als „Sängerin des Jahres“ ausgezeichnet und verwandelt sich einmal mehr: als Interpretin großartiger Verismo-Arien. ANNA NETREBKO

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FOTO: HARALD HOFFMANN, DIRK RUDOLPH

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nna Netrebko ist ein Popstar, ein Unikum, ein Stimmwunder – und: ein ungelöstes Rätsel. Auf der Bühne legt sie Abgründe frei, in der Presse strahlt sie als schillernde Oberfläche. Was für ein Mensch verbirgt sich hinter der Gucci- und Prada-Fassade? Was denkt die Sängerin über ihre Rollen? Über Mozart, Tschaikowsky und Puccini? Fragen über Fragen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung will wissen: „Woher nimmt sie diese Stimme?“ Die Kronenzeitung fragt: „Wie geht es ihrem Sohn?“ Und die Bunte ist erstaunt: „Warum hat Netrebko zugenommen?“ Meist schweigt Anna Netrebko zu all dem. Vielleicht, weil es ihr zu dumm ist, auf Fragen zu antworten, die sie sich selbst nie stellen würde. Vielleicht, weil sie weiß, dass jede Antwort neue Fragen aufwerfen würde. Vielleicht aber auch, weil sie keine Lust auf diesen Quatsch hat. Sie ist schließlich kein Orakel, sondern Sängerin. Wer die wahrhaftige Anna Netrebko kennenlernen will, muss sie hören. Nicht im Interview, sondern wenn sie auf der Bühne steht. Wenn sie als Lady Macbeth, als Iolanta oder als Leonora psychologische Innenwelten nach außen krempelt oder wenn sie bei den Salzburger Festspielen neben ihrem Mann Yusif Eyvazov die Manon Lescaut aus Puccinis Oper verkörpert. Wenn sie wie selbstverständlich abgründige Seelenkosmen eröffnet, die selbst der privaten Anna Netrebko wahrscheinlich weitgehend unbekannt sind. Und ja, auch jetzt, mit ihrer neuen Aufnahme, ist sie zwar überall präsent, auf YouTube, auf Facebook, in Videos – aber reden tut sie kaum über die großartigen VerismoArien, die sie gerade aufgenommen hat: Meister-Arien von Boito, Leoncavallo, Puccini oder Ponchielli. Warum auch? Ihre Stimme spricht (nein, besser: singt) längst für sich selbst. Auf keinen Klassikstar strahlt der Spot der öffentlichen Scheinwerfer bereits so lange und so dermaßen heiß wie auf sie. Gleichzeitig ist über kaum einen anderen Künstler weniger bekannt als über Anna Netrebko. Wer ist sie – und wenn ja, wie viele? „Weiß du“, sagt Anna Netrebko, als ich sie frage, wie sie all das auf die Reihe kriegt, „es geht darum, glücklich zu sein – der Rest ergibt sich.“ Das hört sich einfach an, platt vielleicht. Aber wahrscheinlich ist es genau diese Einstellung, die Anna Netrebko dorthin gebracht hat, wo sie heute steht. Derzeit erklimmt sie gerade einen neuen Zenit: So erfolgreich wie jetzt war ihre Stimme nie. Auch privat scheint sie ihr Glück gefunden zu haben. „Ja, ich bin unglaublich glücklich“, räumt sie ein. Als ich sie dann aber frage, ob das beim Singen hilft, antwortet sie: „Das kann es. Das muss es aber nicht. Ich bin Sängerin, da muss ich auch singen, wenn ich nicht glücklich bin. Das ist mein Beruf.“ Eine typische NetrebkoAntwort: unverquast, pragmatisch, klar. Noch Fragen? Ja, vielleicht noch eine. Der Fachwechsel, den sie gerade unternommen hat, hin zu den dramatischen Opernweibern wie der blutrünstigen Lady Macbeth oder zur Leonora aus Il Trovatore, die sie letztes Jahr in Salzburg gesungen hat, und zu Puccinis Manon aus diesem Jahr. Auch hier Netrebko bleibt ihrer herrlichen Naivität treu: „Das kommt einfach so“, sagt sie, „das sagt einem die Stimme – und der Spaß, den man an einer Rolle hat.“

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„ES GEHT DARUM, GLÜCKLICH ZU SEIN – DER REST ERGIBT SICH“

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FOTO: HARALD HOFFMANN, DIRK RUDOLPH

Heute ist klar, dass Anna Netrebko die Klassik vielleicht nicht neu erfunden hat, dass sie der Opernwelt aber wegweisende Impulse gab. Statt einer divenhaften Brünnhilde zeigte sie der Welt, dass Soprane auch gern Sachertorte essen, lässig sein können und Interesse an Mode haben. Und vor allen Dingen: dass diese Hobbys der Stimme nicht im Wege stehen. So wurde die totgesagte Klassik wieder zum Wirtschaftsmodell. Ideen wie die „Oper im Kino“ entstanden auch, weil die Leute selbst dann Karten kaufen, wenn die Netrebko auf einer Leinwand in Buxtehude zu sehen ist. Durch sie ist der Klassikbranche klar geworden, dass die hehre Kunst ihre Magie nicht verliert, wenn man sie in moderne Medien übersetzt. Vor zehn Jahren bestach die Sängerin besonders durch technische Brillanz, durch das Primat des richtigen Tons und durch eine gewisse Furchtlosigkeit. Zuweilen war sie unbesonnen, ihr fehlten der Fokus und der vokale Ausdruck, den sie durch ihr Schauspiel kaschierte. Stimm-Papst Jürgen Kesting war damals skeptisch, wie lange „Donna Anna“ das überleben würde. „Die Cindy Crawford der Oper“, nannte Kesting sie, „eine Sängerin aus dem Star-Labor der PR-Maschinerie.“ Netrebko hat das nie gestört. „Wie auch“, fragt sie heute, „ich habe das gar nicht gelesen.“ So perfekt die Marketing-Maschine um Anna Netrebko läuft, so herrlich unperfekt und chaotisch scheint die Diva zuweilen zu sein. Manchmal ist das Singen für sie weniger eine Frage der Stimme als der Stimmung. Da schwänzt sie schon mal eine Probe vor dem Silvesterkonzert und bringt Christian Thielemann auf die Palme, oder sie verbietet am Tag vor den Vier letzten Liedern in Berlin kurzerhand jede Form der Videoaufnahme. Sowohl das Operettenkonzert als auch der Strauss-Abend wurden zum Erfolg. Eine Diva darf das eben! 42

Anna Netrebko steht seit 13 Jahren unter Dauerbeobachtung. Jeder ihrer Schritte wird verfolgt, jede Liaison kommentiert, jedes Kleid hinterfragt, jedes Wackeln in den Stimmbändern unters Feuilleton-Mikroskop gelegt. Sicher, auch Anna Netrebko hat Fehler gemacht, vielleicht das ein oder andere Mal zu oft „Ja“ gesagt. Vielleicht aber auch nicht. Anna Netrebko ist die Pionierin eines neuen Weges in der Klassik – und Irrwege gehören zur Normalität. Richtig war es auf jeden Fall, dass sie sich irgendwann zurückgezogen hat. Dass sie nur noch punktuell ins Rampenlicht tritt: wenn sie mit Tiago und Yusif einen Fiaker in Salzburg besteigt, oder wenn sie gerade ausgelassen auf dem Balkon ihres New Yorker Penthouses steht und den Glücksmoment mit ihren FacebookFreunden teilt. Hin und wieder füttert sie die Presse, berichtet über den Autismus ihres Sohnes oder schwärmt von neuen Klamotten. Ansonsten hält Anna Netrebko die Türen zu ihrem Leben geschlossen. Interviews über die Oper gibt sie so gut wie keine. Und wenn, dann sagt sie nur wenig. Warum auch? Guten Künstlern reicht die Kunst, um zu sprechen. Anna Netrebko, der Jahrhundertsopran, zeigt sich regelmäßig auf der Bühne. Die anderen Annas überlässt sie den Projektionen ihrer Fans. Ob ich noch eine Frage habe, will Anna Netrebko wissen. Nein, vorerst nicht. Da freut sie sich, verabschiedet sich mit einem Bussi hier, einem Bussi da und mit den Worten: „Bis bald!“ – dann ist sie weg. Aktuelle CD: Anna Netrebko: „Verismo“ (Deutsche Grammophon)

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VON MARIA GOETH

crescendo: Frau Netrebko, ge­­rade ist Ihre CD „Verismo“ erschienen. Der Titel steht für eine Opernbewegung zwischen 1890 und 1920, die sich nach den groß dimensionierten, überladenen Opern der Romantik zurückbesinnt auf Natürlichkeit, Authentizität, das Milieu der „kleinen Leute“, glaubwürdige Emotionen und oft auch ungeschminkte Gewalt. Was fasziniert Sie daran? Anna Netrebko: Diese Musik hat 100 Jahre lang überlebt, weil ihre Emotionen immer noch so echt sind – man kann gar nicht anders, als von ihr ergriffen zu sein. Aus dieser Zeit stammen einige der schönsten und berühmtesten Sopranpartien, und es hat mir unendlichen Spaß gemacht, sie zu erkunden und meine eigenen Interpretationen davon zu kreieren.

Anna Netrebko im Interview

Leid kennen. Wie bei jedem anderen gab es auch in meinem Leben schwierige Zeiten, aber es geht eben weiter und man muss sich bewusst für das Positive entscheiden. Das Schöne ist, dass ich in dem Fall nur die Noten zuzuklappen brauche. Am 29. Dezember 2015 heirateten Sie in einer spektakulären Traumhochzeit in Wien den Tenor Yusif Eyvazov. Im August stand er erstmals mit Ihnen in Salzburg und Hamburg auf der Bühne und ist auch Ihr Partner auf der CD „Verismo“. Welche sind die Chancen der Zusammenarbeit mit einem Partner, der Ihnen auch privat ganz nah ist? Es war ein großes Glück, dass wir uns bei der Arbeit kennengelernt haben und uns so nahe ka­­men. Ich verehre ihn einfach so sehr – als Ehemann, aber auch als Bühnenkollegen.

Auf der CD finden sich einige nicht „ES WAR FÜR MICH Besteht nicht die Ge­­fahr, dass Eyvazov ganz so bekannte Arien, zum Beispiel EINFACH UNGLAUBLICH, musikalisch in Ihrem Schatten steht? aus Francesco Cileas Adriana LecouvMEINE ERSTE ELSA ZU SINGEN, Musik ist kein Wett­­bewerb. Wir sind reur oder Alfredo Catalanis La Wally unabhängige Sänger-Individuen und neben den großen Klassikern etwa aus UND ICH WÜRDE haben ganz un­­ter­­schiedliche Stärken. Puccinis Madama Butterfly, Tosca, WAHNSINNIG GERN Musik zu ma­­chen, heißt, die gegenseitiTurandot und vor allem seiner Manon gen Stärken hervorzuheben, um etwas Lescaut. Was war die größte HerausMEHR WAGNER SINGEN“ Fantastisches zu erschaffen. forderung? Jede Heldin hat ihre eigene Geschichte Studio versus Bühne: Erzählen Sie uns mit unterschiedlichen Bedingungen vom Entstehen der Ein­­spielung … und stimmlichen Anforderungen. Selbst Man muss im Studio dieselbe Energie unter den Puccini-Opern ist die Musik einbringen wie auf der Bühne. Die Aufnicht dieselbe. Jede Figur hat einen eigenen Charakter, der als solcher verkörpert werden muss. Das alles nahme soll den gleichen Level an Intensität und Emotion haben. Es fällt nicht immer leicht, ohne Kollegen, Kostüme und Lichtstimauf einem Album zu leisten, war keine kleine Heldentat. mungen zu agieren, aber man muss alles geben, um das beste ErgebIst die CD nicht in Wirklichkeit ein verstecktes Puccini-Album nis zu erzielen. oder eigentlich eine Manon-Auswahl? Immerhin enthält sie den Wir freuen uns, Sie in der kommenden Saison unter anderem als kompletten Schluss der Oper ... Tja, was soll ich sagen: Ich liebe Puccini. Aber wir sollten uns auch Aida, Adriana Lecouvreur und als Maddalena in Andrea Chénier an die Musik der anderen Komponisten dieser Zeit erinnern. Die ist hören zu dürfen – auf die beiden Letztgenannten bekommen wir auf der CD ja bereits einen anregenden Vorgeschmack. Dürfen einfach wunderbar! wir nach dem gefeierten Lohengrin in Dresden auch auf weiteres Sie haben in den letzten Monaten oft darüber gesprochen, wie Wagner- oder sonstiges deutsches Repertoire hoffen? Ihre Stimme in den vergangenen Jahren gereift ist und an Kraft Es war für mich einfach unglaublich, meine erste Elsa zu singen, und Tiefe gewonnen hat, dass es nun der richtige Moment für und ich würde wahnsinnig gern mehr Wagner singen. Die physidieses Repertoire ist. Ist das rein eine Altersfrage, oder wer oder sche und geistige Herausforderung dabei hat mich ganz demütig gemacht, aber umso glücklicher macht es, wenn man bis zum Ende was hat Sie bei diesem Reifeprozess unterstützt? Ich habe das Gefühl, dass meine Technik mit dem Älterwerden sta- durchhält! biler geworden ist, aber es gab immer wunderbare Dirigenten und Lehrer um mich herum, die mich begleitet und beraten haben. Die- Frau Netrebko, gerade haben Sie für Ihren triumphalen Auftritt ses Repertoire fühlt sich wie die natürliche Entwicklung an, die ich als Lady Macbeth in Verdis Vertonung des Shakespeare-Dramas den ECHO KLASSIK als Sängerin des Jahres 2016 gewonnen. Es dank dieser Menschen gemacht habe. ist Ihr elfter ECHO KLASSIK, herzlichen Glückwunsch! Warum Privat wirken Sie voll positiver Energie und sichtbarer Heiter- hätten Sie für „Verismo“ Ihren zwölften ECHO verdient? keit. Der Verismo kreist dauernd um Tod, Gewalt und Schmerz. Ich denke nie über Auszeichnungen nach. Wenn den Leuten „Verismo“ gefällt, bekomme ich vielleicht einen Preis dafür. Ich Belastet Sie das nicht? Gar nicht. Um heiter und positiv zu sein, muss man Trauer und konzentriere mich nur auf die Musik und darauf, gut zu leben. 43


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K L A S S I K

SINFONISCHE EINSPIELUNG DES JAHRES | MUSIK 19. JH.

ES BRAUCHT REIFE!

EIN NACHHALTIGES ERBE

ANNA VINNITSKAYA und die Kremerata Baltica zeigen

NIKOLAUS HARNONCOURTS letzte Einspielung

die Schönheit des doppelten Bodens bei Schostakowitsch.

schenkt uns ein revolutionäres Beethoven-Bild.

FOTO: GELA MEGRELIDZE

FOTO: MARCO BORGGREVE

KONZERTEINSPIELUNG DES JAHRES | MUSIK 20./21. JH.

„ AUCH NACH JAHRELANGER BESCHÄFTIGUNG MIT EINEM WERK GIBT ES IMMER WIEDER ETWAS NEUES ZU ENTDECKEN“ Es gibt Aufnahmen, die irgendwann einfach entstehen müssen. Allerdings ist für die Erfüllung besonders großer Wünsche zuweilen auch Zeit nötig: Zeit der Reife, Zeit des Erkennens, Zeit des Könnens. „Als ich das Zweite Klavierkonzert im Alter von elf Jahren zum ersten Mal gespielt habe“, erinnert sich Anna Vinnitskaya, „kam mir diese Musik sehr optimistisch vor. Erst später begriff ich, was sich alles hinter der Fassade von Schostakowitschs Musik verbirgt.“ Die Fassaden dieser Musik öffnet sie nun in der ersten Aufnahme bei ihrem neuen Plattenlabel Alpha Classics: die Doppelbödigkeit von Dimitri Schostakowitsch, seine Schönheit, aber auch seine zuweilen brutale Gewalttätigkeit – das Aufeinanderkrachen musikalischer Extreme, das nicht nur brillante schnelle Finger von Virtuosen wie Vinnitskaya benötigt, sondern auch kluge Köpfe, die in der Lage sind, die Komplexität zu ordnen. Es ist eine Fügung, dass Vinnitskaya in dieser Einspielung von den Großmeistern der Kremerata Baltica begleitet wird, einem der kreativsten Ensembles der Gegenwart, in dem die berühmten Bläser der Dresdner Staatskapelle ganz eigene Maßstäbe setzen. „Auch nach jahrelanger Beschäftigung mit einem Werk gibt es immer wieder etwas Neues zu entdecken“, sagt die Klavierspielerin, „einige Stücke bedürfen sogar einer gewissen persönlichen Reife, um sie vollends begreifen zu können.“ An ihrem Aha-Effekt beim Zweiten Klavierkonzert von Schostakowitsch lässt Anna Vinnitskaya das Publikum nun zum Glück teilhaben – und staunen. Die Musikerin, die bei Sergey Ossipenko in Rostov und bei Evgeni Koroliov in Hamburg studiert hat, enthüllt zwei Facetten der Musik von Schostakowitsch und stellt das Erste Klavierkonzert in c-Moll op. 35, eine gewagte Komposition in der alle Register der stilistischen und atmosphärischen Vielfalt gezogen werden, dem eher traditionellen, jugendlichen übermütigen Konzert in F-Dur gegenüber. Mit dieser Aufnahme hat sich Anna Vinnitskaya, die bereits 2007 den Queen Elisabeth Competition in Brüssel gewonnen hat und die nun den zweiten ECHO KLASSIK erhält, endgültig an die Spitze der Klaviermusik katapultiert.

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Vor zwei Jahren wurde er mit dem ECHO KLASSIK für sein Lebenswerk ausgezeichnet, etwas später erklärte er seinen Rücktritt vom Dirigentenpult, und am 5. März dieses Jahres starb Nikolaus Harnoncourt in St. Georgen im Attergau. Er war nicht nur eine Dirigentenlegende, sondern ein Musiker, der wie nur wenige andere die Musikgeschichte und unsere Rezeption der großen Meister nachhaltig verändert hat. Anfang der 1990er-Jahre hat Nikolaus Harnoncourt zum ersten Mal Beethovens Sinfonien eingespielt. Am Ende seiner Karriere ist er noch einmal zu Beethoven zurückgekehrt: nun erstmals mit seinem Concentus Musicus auf historischem Instrumentarium. Für seine Vierte und Fünfte Sinfonie bei Sony Classical wird er nun posthum mit dem ECHO KLASSIK ausgezeichnet. „In den letzten Jahren hat sich mein Beethoven-Bild noch einmal radikal verändert“, erklärte Harnoncourt seinen Entschluss. Ausschlaggebend war die Aufführung des Fidelio mit dem Concentus. „Damals ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, als ich zum ersten Mal wirklich wahrgenommen habe, wie genau Beethoven die Instrumente seiner Zeit kannte und wie genau er wusste, was sie können und was nicht.“ Herausgekommen ist ein Vermächtnis auch für folgende Generationen: nicht nur ein frischer, neuer, grundlegend überarbeiteter Beethoven, sondern ein Beethoven, dessen Kraft und Lebendigkeit, dessen Unmittelbarkeit niemanden kalt lässt. Die Musik war für Nikolaus Harnoncourt stets eine Form der Sprache, eine Form der Kommunikation, die mehr ausdrücken kann als Worte. Sein Beethoven erzählt auch die Geschichte, dass weder ein Musiker und schon gar nicht die Musik sich je auserzählen lassen. „Es gibt in der Kunst keinen Schlusspunkt, kein Ankommen“, sagte Harnoncourt, als er den ECHO KLASSIK für sein Lebenswerk erhielt. „Wenn man meint, irgendwo angekommen zu sein, stellt man schnell fest, dass es schon wieder eine neue Erkenntnis gibt.“ Von den vielen so unterschiedlichen Erkenntnissen des Nikolaus Harnoncourt wird die Musikwelt noch viele Jahrzehnte zehren. Sein rastloses, neugieriges, begeisterndes Leben ist am Ruhepunkt angekommen, aber seine Aufnahmen leben und werden auch weiterhin noch für allerhand Unruhe sorgen.

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Aktuelle CD: „Harnoncourt. The Complete Sony Recordings” (Sony)

— Verlags-Sonderveröffentlichung/Anzeigen w w w . c r e s c e n d o . d e — Ok zum tober – November ECHO KLASSIK 2016


Die Neuheiten

Rachmaninoff – neu gehört alexandre-tharaud.de

Musikalität, Tiefe und Virtuosität am Klavier sophie-pacini.de

Beethovens Cello-Kosmos gautier-capucon.de

Der blinde Orpheus verzaubert die Welt: Christina Pluhars Orfeo -Projekt aus Südamerika christina-pluhar.de

Süßer Schmerz und Sehnsucht nach Erlösung: Philippe Jaroussky erstmals mit Bach & Telemann philippe-jaroussky.de

Ein Meilenstein: die Gesamtaufnahme der Mozart-Klaviersonaten fazil-say.de

warnerclassics.de Meine Klassik – News, Gewinnspiele, Kurioses

MEINE KLASSIK


BESTSELLER DES JAHRES

Der Opern-Bringer ist nicht nur einer der besten Tenöre der Welt, sondern auch einer der beliebtesten – vielleicht, weil die Oper für ihn eine Selbstverständlichkeit ist.

JONAS KAUFMANN

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s ist weit verbreiteter Quatsch, dass klassische Musik nur wenig mit unserem Leben zu tun haben soll. Der Gegenbeweis ist schnell erbracht. Sein Name ist: Jonas Kaufmann. Der Daily Telegraph nannte ihn den „größten Tenor unserer Zeit“ – und das liegt nicht nur an seiner einmaligen Stimme, mit der er den großen Seelenlagen der Menschheit nachhorcht, sondern auch daran, dass Kaufmann es versteht, die Oper immer wieder mitten in unseren Alltag zu stellen. Er ist präsent, öffnet Grenzen, begegnet den Menschen und verkörpert Gefühle, die wir alle kennen. Kein Wunder also, dass er nun nicht nur für seine geniale Stimme, sondern auch als „Bestseller des Jahres“ mit dem ECHO KLASSIK ausgezeichnet wird. Ein Tenor wie Kaufmann weiß, dass die menschliche Stimme das Publikum seit Jahrhunderten begeistert und berührt, dass die Oper keine Kunst um der Kunst willen ist, sondern ein Abbild der menschlichen Seele, ihrer Hoffnungen, Widersprüche, Ängste und Verzweiflungen. Und diese Attitüde passt perfekt zu einem Komponisten wie Giacomo Puccini. Jede seiner Opern, von Madame Butterfly über Turandot und Tosca bis zu La Bohème dringt schnörkellos in das Innerste des menschlichen Daseins vor. Und genau dort ist eine Stimme wie die von Kaufmann zu Hause: Sie besticht durch technische Perfektion, darin, sich einzuhorchen in das Innenleben seiner Charaktere, unter die Haut zu gehen, nicht auf den puren Effekt zu setzen, sondern die Spannungen auszukosten, das Zerbrechliche und die Kraft unseres Leben gegeneinanderzustellen. Auch deshalb ist ihm mit „Nessun Dorma – The Puccini Album“ eine Aufnahme gelungen, die sich ganz nahe am Zuhörer bewegt, ohne dabei die Tugenden und die Technik der Oper zu vernachlässigen. Gerade der Titelsong ist für Kaufmann ein Beweis dafür, wie nahe die Oper uns Menschen kommen kann. Er selbst ist bis heute begeistert von der Interpretation der Drei Tenöre bei der Fußballweltmeisterschaft in Italien. „Keine Arie ist heute so beliebt wie Nessun dorma“, sagt Kaufmann. „Das legendäre erste Konzert der Drei Tenöre war wenige Tage vor meinem 21. Geburtstag, und ich habe 46

Luciano Pavarotti, Plácido Domingo und José Carreras sehr um diesen Hit beneidet. Ich selbst habe mich lange Zeit nicht an Nessun dorma herangetraut: Zu groß war mein Respekt vor der Magie und der unglaublichen Sogkraft dieser Arie. Und noch heute bekomme ich jedes Mal Gänsehaut, wenn ich sie höre und singe.“ Inzwischen hat auch Kaufmann jenen Schritt perfektioniert, für den einst die Drei Tenöre standen: Sie haben es verstanden, die Kunst der Oper zu den Menschen zu bringen, ohne die Kultur dabei zu verraten. Sie haben damals, ebenso wie zuvor Caruso, verstanden, dass die Nähe des Künstlers zum Publikum eine Notwendigkeit ist, wenn man die Oper zu den Zuhörern bringen will. Kaufmann hat keine Angst vor den schwierigsten Partien der Opernliteratur, weil es für ihn so gut wie keine technischen Grenzen gibt, und er hat keine Berührungsängste mit der sogenannten „leichten Musik“. Das hat er bereits in seinem Album „Du bist die Welt für mich“ unter Beweis gestellt, in der er den Gassenhauern der 20er- und 30er-Jahre eine neue Ernsthaftigkeit gibt. Auf seinem neuen Album wagt er nun den ganz großen Spagat zwischen Opernbühne und Musik, die mitten im Volk zu Hause ist. Es trägt den Titel „Dolce Vita“ und besingt das italienische Lebensgefühl. Die großen „Schlager“ in Grün, Weiß und Rot beinhalten die großen Hits des ersten Medien-Tenors Enrico Caruso, das Parla più, das als Soundtrack in Der Pate weltbekannt wurde und vermeintliche Schlager wie Volare, die durch Kaufmanns Stimme zur wahrhaften Kunst erhoben werden – zu einer Studie großer Emotionen. Jonas Kaufmann ist einer der wenigen Tenöre unserer Zeit, die sich nicht allein durch ihre einmalige Stimme, sondern auch durch ihre Auffassung von Musik in die Galerie der Legenden von Caruso über Wunderlich bis Pavarotti einreihen – allesamt wahre Künstler und echte Bestseller. Aktuelle CD: Jonas Kaufmann: „Dolce Vita“ (Sony)

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FOTO: JULIAN HARGREAVES

„ICH SELBST HABE MICH LANGE ZEIT NICHT AN NESSUN DORMA HERANGETRAUT: ZU GROSS WAR MEIN RESPEKT VOR DER MAGIE UND DER UNGLAUBLICHEN SOGKRAFT DIESER ARIE. “

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E C H O

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FOTO: SCHOLZ SHOOTS PEOPLE

SOLISTISCHE EINSPIELUNG DES JAHRES | GESANG (DUETTE/OPERNARIEN)

HEIMSPIEL IM ROSSINI-KOSMOS OLGA PERETYATKO wurde in Pesaro entdeckt, nun kehrt sie zu Rossini zurück – und begeistert mit seiner und ihrer Vielfalt. Zurück zu den Wurzeln – das könnte die Überschrift dieser ECHO Preis-Einspielung sein: Olga Peretyatko hat sich für ihre dritte Aufnahme bei Sony Classical Rossini vorgenommen. Und wie! Ein Koloraturen-Marathon, der nichts Artifizielles hat, sondern stets Ausdruck von Lebensfreude ist. Selten war eine Aufnahme kurzweiliger, witziger, sprühender und abwechslungsreicher. Peretyatko liefert Charakterstudien unglaublich lustiger, leidender oder sehnsüchtiger Operncharaktere ab. All das interpretiert die junge Russin mit Begeisterung, stimmlicher Klarheit und einer frappierenden Natürlichkeit. Die Basis für diese mitreißende Aufnahme hat der Dirigent der Ein-

spielung gelegt, der 88-jährige Grand Seigneur der italienischen Oper, der Meister der Rossini-Festspiele in Pesaro: Alberto Zedda. In Pesaro, dem Wirkungsort des Komponisten, hatte Zedda Peretyatko einst entdeckt, 2006 als Akademistin der Festspiele. Fortan hat er die Sopranistin alljährlich zurückgeholt und ihr die schillerndsten Rollen der RossiniLiteratur übertragen. Und die stellt Olga Peretyatko nun gemeinsam mit dem Orchester des Teatro Communale di Bologna vor. Da spaziert die gesamte Phalanx von Rossinis Operndamen an unseren Ohren vorbei: die aufgekratzte Contessa de Folleville, die humorvoll warme Matilde di Shabran, die hingebungsvoll liebende

Armida, eine königliche Semiramis mit stahlharten Koloraturen, eine kecke Fiorilla und eine farbenfroh witzelnde Rosina. Olga Peretyatko beweist in dieser Aufnahme nicht nur Rossinis spielerische Vielfalt, sondern auch die Offenheit ihrer Stimme, mit der sie sowohl das dramatische Pathos als auch den lustvollen Spaß verkörpern kann. Kaum haben wir je auf der Opernbühne eine so wandlungsfähige Sängerin gehört, die schier jeden Charakter mit Wahrhaftigkeit verkörpert. Olga Peretyatko feiert in jedem Winkel des emotional weit gefächerten Kosmos der Rossini-Literatur ein Heimspiel.

INSTRUMENTALIST DES JAHRES | FLÖTE

IHR HABT DOCH EINEN VOGEL! Der Flötist STEFAN TEMMINGH und die Sopranistin Dorothee Mields untersuchen die musikalische Ornithologie des 17. und 18. Jahrhunderts.

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Der Vogel wurde zum Symbol und zum musikalische Vorbild. Stefan Temmingh spricht von „schrägen Tonwiederholungen“ oder „ungewöhnlichen Intervallsprüngen“. In seinem Vogel-Concerto Il Gardellino vereint Vivaldi beide Profile: Einerseits spielt der Distelfink oder Stieglitz eine große Rolle in der christlichen Symbolik, andererseits brilliert die Musik mit virtuosen Trillern und rasanten Passagen. Symbolisiert der Kuckuck bei Thomas Augustine Arne und Louis-Claude Daquin die Untreue, so wird in Opern wie Ulysses von Reinhard Keiser oder Ismene von Pietro Torri die Nachtigall zur Trägerin welt­ entrückter Liebe und vollkommener Reinheit. Mields und Temmingh lassen erlebbar werden, wie das Vogelleben die Musik und die Vorstellungskraft der Menschen öffnete, und verschmelzen Stimme und Flöte aufs Trefflichste. Virtuose Naturaufnahmen, begleitet von The Gentleman’s Band und dem historisch informierten La Folia Barockorchester.

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FOTO: HARALD HOFFMANN

Das Barock war auch eine gigantische Werkstatt der Töne. Das Zeitalter der Puderperücken in Wahrheit ein experimentelles Labor der Klänge und der musikalischen Effekte. Vor nichts wurde haltgemacht, vor allen Dingen nicht vor der Natur als Inspirationsquelle. Und somit könnte man Antonio Vivaldi, Thomas Augustine Arne oder Louis-Claude Daquin als Vo­rreiter für Komponisten wie Olivier Messiaen, Vaughan Williams oder Gustav Mahler verstehen – denn auch sie haben sich in ihrer Musik mit dem Singen der Vögel und der semantischen Bedeutung des Vogels auseinandergesetzt. Der südafrikanische Blockflötist Stefan Temmingh, der in München studierte, hat sich der musikalischen Ornithologie hingegeben und ge­­ meinsam mit der Sopranistin Dorothee Mields die Erfindung des Vogelgesangs in der Alten Musik untersucht: 17 Vokal- und Instrumentalstücke aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die um die Rezeption des Vogels in der Musik kreisen.

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KLASSIK FÜR KINDER

Campino und die Musik

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FOTO: ERIK WEISS

jenseits aller ideologischen Grenzen. Walt Disney hat in seiner Bearbeitung den Wolf als Schablone des Bösen (besonders Hitlers) gezeichnet, und nach den Stars der Stummfilmära wurde es bei Schauspielern geradezu Mode, das Stück einzusprechen. Politiker wie Bill Clinton haben in Peter und der Wolf die Botschaft des Märchens genutzt, um an die Menschlichkeit zu appellieren

und die Gegensätze von Ost und West aufzulösen. Zuvor hatte Loriot das Werk bereits neu erzählt, und erst kürzlich bearbeitete Sting die besten musikalischen Teile. Ganz neue Wege ist der Sänger Campino von den Toten Hosen nun gegangen. Er hat Prokofjews Werk wieder dorthin gebracht, wo es am meisten geliebt wird: zu den Kindern und Jugendlichen. Nun wird er für seine Einspielung des Stücks mit dem Bundesjugendorchester unter Leitung von Alexander Shelley, dem Chefdirigenten der Nürnberger Symphoniker, mit dem ECHO KLASSIK in der Kategorie „Klassik für Kinder“ ausgezeichnet. Unter dem Titel „Peter und der Wolf in Hollywood“ geht es nicht allein um die großartige Musik, in der ganz nebenbei die Instrumente des Orchesters vorgestellt werden. Es war die Idee der Produzenten, ein multimediales Konzept für diesen Klassiker zu entwickeln. Die Einspielung basiert auf dem Original aus dem Jahr 1936 und stellt es mitten ins 21. Jahrhundert. Die Handlung wird aus dem ländlichen Russland ins Kalifornien von heute verlegt. Gleichzeitig wird das musikalische Märchen für Kinder zur interaktiven App verwandelt, in die auch die Werke anderer großer Komponisten wie Richard Wagner, Gustav Mahler oder Erik Satie eingeflochten werden. Kreiert wur­­­de das Projekt un­­ter der Regie von Doug Fitch und Edouard Getaz von der New Yorker Firma Gi­ants Are Small in Zusammenarbeit mit Deutsche Grammophon. In der eng­ lischspra­ chigen Fassung übernimmt Rockstar Alice Cooper die Rolle des Erzählers. „Mir hat die Teilnahme an ‚Peter und der Wolf in Hollywood‘ großen Spaß gemacht“, sagt Campino. „Es ist ein schönes Gefühl für mich, den Kindern von heute mit dieser tollen neuen Adaption einer Geschichte, die mich in jungen Jahren ebenfalls berührt hat, den Weg in die Klassik zu öffnen. Dass ich einmal einen ECHO KLASSIK erhalten würde, hätte sich meine Mutter nicht in ihren kühnsten Träumen ausgemalt. Ich widme ihn meinem alten Musiklehrer Herrn Hermann.“

Mit einer Multimedia-App und der musikalischen Unterstützung des Bundesjungendorchesters hat der Tote-Hosen-Star den Klassiker Peter und der Wolf neu erfunden.

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eter und der Wolf – Sergej Prokofjews Klassiker wurde schon von vielen Prominenten gelesen, meist mit einem humanistischen Ge­ danken und der Idee von Völkerverständigung. Kein Wunder, denn dieses Werk, das einst komponiert wurde, um die jungen russischen Pioniere zur Aufmerksamkeit zu erziehen, wurde schnell zum Welt­­ erfolg


E C H O

K L A S S I K

OPERNEINSPIELUNG DES JAHRES | OPER BIS INKL. 17./18. JH.

DER GANZ BAROCKE WAHNSINN MAX EMANUEL CENCIC gräbt mal wieder ein Barock-Meisterwerk aus, das uns die Ohren verdreht.

FOTO: ANNA HOFFMANN

Der Countertenor Max Emanuel Cencic ist eine Triebkraft der Musikgeschichte. Nun hat er mit der Welt-Ersteinspielung von Catone in Utica von Leonardo Vinci ein heimliches Meisterwerk des Barock ausgegraben. 1768 wurde diese Oper zum ersten Mal in Rom aufgeführt. Damals galt der Komponist Leonardo Vinci als Star seiner Zeit. Lange wurde er vergessen, aber Cencic zeigt nun, warum sich eine Wiederentdeckung dieses Komponisten lohnt. Im Zentrum seines Schaffens stehen zeitlose Themen wie Liebe, Pflicht und Ehre. Der italienische Komponist, um dessen frühen Tod sich abenteuerliche Mythen ranken (er soll wegen einer Liebesaffäre vergiftet worden sein), trat 1725 die Nachfolge Alessandro Scarlattis als Leiter der Königlichen Hofkapelle in Neapel an. Seine Opern haben ein eigenes Gepräge. Sie sind mächtiger angelegt und wie geschaffen für Singstimmen, die sich mit mondäner Eleganz und weich fließenden Koloraturen in Szene zu setzen wissen. Vincis Opern bestehen aus zahlreichen Arien, die im Wechsel mit Rezitativen das dramatische Geschehen verdichten. Catone in Utica besitzt allein 26 solcher Arien, die mit funkelnder Pracht und ergreifenden Melodien ausgestattet sind. Das Orchester Il Pomo d’Oro und der Dirigent Riccardo Minasi sezieren Vincis emotionale Musik, zeigen die dramatischen Kontraste und zeigen, wie das Pathos das Publikum von damals in seinen Bann gezogen haben muss. Cencic hat sich für sein Herzensprojekt ein Star-Ensemble zusammengesucht: Countertenor-Kollegen wie Franco Fagioli, Valer Sabadus, Vince Yi und Martin Mitterrutzner sorgen für eine spannende und lebendige Interpretation, die tief in den Geist des Barock vordringt und seine ganze Emotionalität offenlegt.

CHORWERKEINSPIELUNG DES JAHRES

SOUNDTRACK DER SIXTINISCHEN KAPELLE

FOTO: BURKHARD BARTSCH

Der PÄPSTLICHE CHOR hat Werke für Päpste im Heiligtum der Katholiken aufgenommen. Die Sixtinische Kapelle ist einer der heiligsten Orte der katholischen Kirche. Sie ist der Ort, an dem das Konklave abgehalten wird, außerdem beherbergt sie einige der berühmtesten Wandgemälde der Welt. In der Kapelle, die unter Papst Sixtus IV. gebaut wurde, sind Fresken von Botticelli, Perugino oder Michelangelo zu bestaunen. Um so verwunderlicher, dass dieser Ort bislang noch nie als Aufnahmeort für ein Studioalbum gedient hat. Aber das hat sich nun geändert. Mit „Cantate Domino“ ist hier jetzt das erste Album aufgenommen worden. Und was für eines! Die Einspielung lässt musikhistorische Trouvaillen hören, die in den letzten Jahrhunderten für verschiedene Päpste komponiert wurden, die eben an diesem Ort zum Papst gewählt wurden. Darunter Erstaufnahmen von Werken wie Palestrinas Sicut Cervus sowie frühe musikalisch-liturgische Ju­­welen von Lasso oder Allegri. Ein besonderer Track stellt die noch nie gehörte Version von Allegris Miserere vor, in diesem Fall gesungen im Stil des frühen 17.Jahrhunderts. Geleitet wird der päpstliche Chor der Sixtinischen Kapelle, der aus etwa 50 Mitgliedern

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besteht und seit 1473 aktiv ist, von Monsignore Massimo Palombella. Der Geistliche ist ein ausgewiesener Experte für katholische Musik und hat den Traditionschor in den letzten Jahren zu neuen Höhen geführt. Palombella selbst ist Komponist und trifft sich regelmäßig mit dem Papst, um die Liturgie und das musikalische Programm im Vatikan abzustimmen. Sein En­­­ semble zählt zu den traditionellsten Kirchenchören der Welt. „Cantate Domino“ folgt auf das ebenfalls sehr erfolgreiche Album „Habemus Papam“, das im November 2014, nach der Wahl Franziskus’, veröffentlicht wurde. „Cantate Domino“ ist sowohl ein spirituelles als auch ein musikhis­ torisches Erlebnis, das mit seiner besinnlichen Musik den heiligen Ort der Aufnahme erklingen lässt.

Aktuelle CD: „Palestrina“, Sistine Chapel Choir (Deutsche Grammophon)

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Ok tober – November 2016


DIRIGENT DES JAHRES

ist einer der modernsten und klügsten Dirigenten unserer Zeit. Ausgezeichnet wird er für seine Studioaufnahme von Aida.

FOTO: RICCARDO MUSACCHIO

ANTONIO PAPPANO

Wenn man Antonio Pappano in Rom be­­ sucht, etwa nach einer Probe mit seinem Orchester, der Accademia Nazionale di Santa Cecilia, erlebt man einen Mann, der ganz zu Hause ist: bei sich, in seinen Noten, bei seinem Orchester. Intelligent, eloquent und ein genialer Erzähler. Was er hier seit 2005 aufgebaut hat, öffnet jedem Zuhörer die Ohren: Akribisch hat er das Orchester in neue Dimensionen geführt, vollkommen aufgelöst in Musik, so, als wäre der Klang ein Element, das man durchschwimmen, durchwandern oder durchfliegen kann. Als wäre die Partitur eine eigene Welt. Pappano dirigiert haptisch, zupackend, berührend, er brennt, knetet, malt oder lüftet die großen Werke der Musikgeschichte neu – und damit gehört er zweifellos zu den ganz großen Dirigenten unserer Zeit. Auch deshalb, weil der Sohn eines italienischen Gesangslehrers die Musik als Form der Kommunikation versteht. „Wissen Sie“, sagt er, „natürlich ist es das Schönste, wenn sich der Klang während eines Konzertes selbst erklärt, aber es gibt eben viele Menschen, denen wir diesen ersten Kontakt zunächst ermöglichen müssen, denen wir die Türen öffnen müssen, die wir an die Hand nehmen müssen, bis sie gemeinsam mit uns fliegen können.“ Und genau das tut der italienische Tausendsassa überall, wo er tätig ist – er ist ein Türöffner. Sowohl in Rom als auch in seiner Geburtsstadt London, als Musikdirektor am Royal Opera House Covent Garden, ist Pappano ein Musikvermittler (man würde ihn so gern viel öfter auch in Deutschland erleben!). In den Programmen der BBC erklärt er den Gesang, er lässt sich beim

Proben von Kameras begleiten und lüftet regelmäßig den Vorhang seines Opernhauses auch im Kino, weil er weiß, dass es wichtig ist, das Medium der Musik ins Zeitalter neuer Medien zu expandieren. „Nicht nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen, nicht nur, um Sponsoren zu zeigen, dass die Klassik durchaus noch eine Rolle in der Gesellschaft spielt“, sagte er kürzlich der Welt, sondern auch deshalb, weil es wichtig ist, Menschen zu erreichen, die in anderen Medien zu Hause sind. Für Pappano sind seine Exkurse ins Fernsehen, ins Kino oder in die Plattenstudios Aufmerksamkeitsmöglichkeiten. „Der Zug, dass Klassikkünstler auch neue Medien bespielen müssen, ist längst losgefahren, wir müssen das Beste daraus ma­­ chen“, sagt er und weiß, dass es in diesem Zug besonders darauf ankommt, dass die Musik packend ist, dass sie berührt, dass sie perfekt ist. Er weiß, dass am Ende nur die Qualität begeistert.

Das Besondere an Pappano ist, dass er seine Nähe zum Publikum nie effekthascherisch anlegt, nie als Ego-Show, nicht als Eigenmarketing. Er stellt sich nie in den Vordergrund, sondern immer in den Schatten jener Künstler, um die es ihm in seiner Arbeit tatsächlich geht. Pappano protegiert Verdi, Puccini oder Massenet, Jonas Kaufmann, Anja Harteros oder Angela Gheorghiu. Kein Wunder also, dass die Einspielung seiner Aida, für die er nun mit dem ECHO KLASSIK ausgezeichnet wird, schon kurz nach Erscheinen als Referenzaufnahme gilt. Auch deshalb, weil das Label Warner Classics Pappano gibt, was er sucht: ein Feld, in dem Musik gleichsam in technischer Perfektion, aber eben auch ohne Verlust der Bedeutung des Moments stattfinden kann. Früher war es selbstverständlich, dass die größten Künstler ihrer Zeit sich regelmäßig ein Stelldichein in einem großen Aufnahmestudio gegeben haben. Mit der Krise des Platten- und CD-Marktes hat diese Tugend ein schnelles Ende gefunden. Nicht für Antonio Pappano. Wenn er ins Aufnahmestudio geht, so wie nun mit Jonas Kaufmann, Anja Harteros, Erwin Schrott und Ludovic Tézier, wenn er sein Orchestra dell’ Accademia Nazionale die Santa Cecilia samt Chor einbestellt, wird klar, dass es auch darum geht, den Zustand unserer aktuellen Klassikwelt abzubilden. Ein Panoptikum der Besten – und es ist ganz selbstverständlich, dass es von Antonio Pappano angeführt wird. Aktuelle CD: „Shakespeare Songs“, Ian Bostridge, Antonio Pappano (Warner)

Aufgelöst in Klang 51


E C H O

K L A S S I K

KONZERTEINSPIELUNG DES JAHRES | MUSIK BIS INKL. 18. JH.

DER LEICHTE ATEM DES J. S. BACH ANDREAS STAIER und das Freiburger Barockorchester Musizieren ist immer auch die Kunst, eine Aura zu schaffen. Und es gibt nur wenige Künstler, die imstande sind, diese Aura für so viele unterschiedliche Epochen und musikalische Welten herzustellen wie der Pianist Andreas Staier. Er hat bereits Haydn in neues Licht getaucht, sich gerade den späten Brahms vorgenommen und wird gemeinsam mit dem Freiburger Barockorchester für seine Interpretation der Cembalokonzerte von Bach für Harmonia Hundi mit dem ECHO KLASSIK ausgezeichnet. Um seine Klang-Kosmen zu errichten, tritt Staier intensive Reisen an, die ihn aus den Partituren in historische Welten, hinein in die Entstehungszeit der Musik und in die Entschlüsselung ihrer Sprache führen. Alles scheint zunächst Wissenschaft zu sein, die aber letztlich Grundlage ist, um einen wahrhaftig sinnlichen Ausdruck zu kreieren. Für sein Bach-Album spielt Staier die Rekonstruktion eines Hass-Cembalos von 1734, weil er findet: „Niemand ist weiter gegangen als H. A. Hass im Bestreben, dem Cembalo orgelartige Weite und Vielfalt zu geben.“ Diese Vielfalt wird für Staier nie zum Selbstzweck, sondern dient lediglich der Verwirklichung seines Klangideals. Bach wird nicht zum barocken Parforceritt, sondern beginnt, eine eigene Luft zu atmen. Dafür mitverantwortlich: die 14 Musiker des Freiburger Barockorches­ ters, die sich genialisch auf Staiers Perfektionismus einstellen. All das hört sich – mit den klugen Improvisationen und den zurückhaltenden Tempowechseln – an, als könnte es gar keine andere Bach-Interpretation geben. Aber worin liegt das Geheimnis dieser InterpretenKonstellation? Vielleicht in der akri­bischen Vorbereitung, der intensiven Auseinandersetzung mit histo­rischen Details und im fein geknüpften Netz des Wissens, das im Spiel für eine neue Art der Freiheit sorgt – sie wird hier zur einzigartigen Möglichkeit, Musik aus einer alten Welt als moderne Aussage ins Heute zu stellen.

Aktuelle CD: Franz Schubert: „Piano Trios op. 99 & 100“, Andreas Staier, Daniel Sepec, Roel Dieltiens (Harmonia Mundi)

FOTO: MOLINA VISIALS

errichten einen genialischen Barock-Kosmos.

INSTRUMENTALIST DES JAHRES | KLARINETTE

KLARINETTE ALS WELTENSCHLÜSSEL Für den schwedischen Musiker Martin Fröst ist die Klarinette so etwas wie ein Schlüssel, mit dem er die Tore zu ganz neuen, bislang unentdeckten Welten aufsperrt: Egal, ob meditative Musik oder Musik, die Menschen seit Jahrhunderten bewegt, Musik, die an endlose Naturlandschaften gebunden ist oder die schon lange zum klassischen Kanon der Konzertpodien gehört – Fröst stöbert mit seinem grenzüberschreitenden Ansatz die Venen und Adern der Musikgeschichte auf und legt sie für unsere Ohren frei. Egal, was er dabei anpackt, der Klang ist für ihn stets der Beginn einer Entdeckungsreise. Und der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Seine Konzerte gibt er am liebsten mit Tanzeinlagen, Lichteffekten, in Kostümen und mit Schauspieleinlagen – die Klarinette ist bei ihm immer auch der Mikrokosmos eines Gesamtkunstwerks. Auf seinem mit dem ECHO KLASSIK ausgezeichneten Album „Roots“ unternimmt er eine Zeitreise zu den Wurzeln der

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Musik. Und die liegen oft in der Mystik, so wie bei Hildegard von Bingens O virtus Sapientie. Dieses Stück bildet den Ausgangspunkt für eine Klangreise in unterschiedliche Regionen der Welt, von Skandinavien über die deutsche Romantik von Brahms und Schumann bis in Bartóks Rumänien, in das Spanien von Manuel de Falla. Aber Fröst denkt Musik nicht allein regional, sondern auch zeitlich: So kommt er von der Musik Telemanns bis in unser Jahrtausend, wenn er neue Werke bei Gegenwartskomponisten wie Hans Ek, Göran Fröst und Anders Hillborg in Auftrag gibt. „Meine Inspiration war stets die Entwicklung der Musik von ihren ersten Ursprüngen an“, sagt Fröst. „Ich beginne bei ihren frühesten Wurzeln – bei Stücken, die von Tanzmusik und Volksmusik inspiriert sind, von rituellen geistlichen Lobgesängen und von reiner Unterhaltungsmusik – und erforsche, wie wir der Musik auf dieser Basis neue Wege in die Zukunft öffnen können.“ www.crescendo.de

— Verlags-Sonderveröffentlichung/Anzeigen w w w . c r e s c e n d o . d e — Ok zum tober – November ECHO KLASSIK 2016

FOTO: MATS BAECKER

Der Schwede MARTIN FRÖST versteht sein Instrument als Wanderstab durch unbekannte Kosmen.


INSTRUMENTALIST DES JAHRES | KLAVIER

Beethoven als Möglichkeit Extrem langsam in der Hammerklaviersonate, extrem langsam bei Schubert – GRIGORY SOKOLOV lotet die Extreme aus.

FOTO: MARY SLEPKOVA

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eist bleibt das Extrem in der Musik ein hohler Effekt ohne Sinn, oder, wie Theodor W. Adorno es nannte, ein einziges „Als-ob“. Ganz anders ist das, wenn wirklich große Musiker sich an wirklich große Meisterwerke machen und feststellen, dass nur das Extrem ihrer Neudeutung gerecht wird. Das klappt freilich nur bei wenigen, und einer von ihnen ist Grigory Sokolov. Auf seiner mit dem ECHO KLASSIK ausgezeichneten Aufnahme legt er gleich zwei Extreme vor, die uns mit den Ohren schlackern lassen: So radikal schnell, wie er Schuberts Impromptu op. 90 hinhaut, so extrem dehnt er die Zeit, wenn er Beethovens Sonate für Hammerklavier op. 106 mit endlosem Atem interpretiert. Sokolov ist ein Unikum in der Klassikszene: keine Interviews („Ich habe schon zu viel gesagt– ich sage alles in der Musik“), er lässt das Saallicht abdimmen, kennt die Produktionsnummern aller Steinways, auf denen er je gespielt hat, auswendig – und, vor allen Dingen: Er kümmert sich nicht um Konventionen. Mit Orchestern spielt er schon lange nicht mehr zusammen, weil sie ihm einfach nicht gut genug sind. Die Richtschnur, nach der er Musik macht, sind die nackten Noten – und sein Genie. Klar, dass sich hier die Klavier-Katze in den Schwanz beißt. Logisch, dass viele Medien lieber über den Exzentriker schreiben als über seine Musik. Was aber bleibt, wenn man die Geschichten und das Drumherum einmal vergisst? Wenn man sich einfach nur um seine Musik kümmert? Das Ergebnis: Interpretationen, die uns verstören, ein Beethoven und ein Schubert, die Redebedarf erzeugen, ein Klavierspiel, an dem sich die Geister scheiden. Nehmen wir zunächst einmal den Beethoven, für den Sokolov sich so viel Zeit nimmt wie kaum ein anderer Pianist vor ihm. Ist das purer Effekt? Natürlich auch! Aber

Sokolov verliert an keiner Stelle die Bögen, nirgendwo baut die innere Spannung seiner Interpretation ab – und vor allen Dingen: Das Langsamspielen eröffnet vollkommen neue Inneneinsichten in die tiefere Struktur des Werkes. Den Mythos vom diabolischen Scherzo löst er auf. Stattdessen klingt es bei ihm fast bedrohlich melancholisch. Wie das Alphabet buchstabiert er die punktierten Viertelnoten des Anfangs, um dann mit einem Giga-Accelerando das eigene Konzept zu brechen. Die Pausen und Fermaten nutzt er, um Offenheit zum Nachhorchen zu geben. Das Fragmentarische Beethovens wird seziert, die Ritardandi ausgekostet, dann der radikale Tritt auf die Bremse – jeder Ton bekommt Bedeutung. Was für einige wie eine Beethoven-Karikatur klingt, ist für andere eine Offenbarung. Sicher ist, dass es Sokolov niemals um den Effekt allein geht, nicht um das pure „Als-ob“. Aber er behauptet seinen Beethoven auch nicht als „nur so und nicht anders“. Und vielleicht liegt er genau mit dieser Offenheit sehr nahe beim Komponisten, der selbst ein Exzentriker war, von dem überliefert ist, dass er sich gern Freiheiten innerhalb seiner eigenen Kompositionen

nahm, dass er Noten, Kadenzen und Tempo­ angaben nach Lust und Laune improvisierte – solange das Große und Ganze gewahrt blieb. Genau das ist bei Sokolov ebefalls der Fall. Ja, er lässt in dieser Aufnahme den Exzentriker heraushängen, aber das Radikale, das er da anschlägt, ist kein „Gegen den Strich“, sondern ein Abtauchen unter die Oberfläche der Komposition. Sokolov gelingt es auf seinen Tasten, sowohl Schubert als auch Beethoven unter die Haut zu greifen.

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FOTO: ANDREAS GREINER-NAPP

ENSEMBLE/ORCHESTER DES JAHRES

EINFACH MAL ABTAUCHEN Die CAPELLA DE LA TORRE begibt sich musikalisch ins Wasser und begeistert durch das Aktuelle im Alten. Das Aktuelle im Alten aufstöbern, die großen Bögen aus der Vergangenheit in die Gegenwart schlagen, menschliche Mythen durch alle Zeiten deklinieren – dafür steht die Capella de la Torre, die sich in den letzten zehn Jahren zu einem der führenden Renaissance-Ensembles im deutschsprachigen Raum entwickelt hat. Ihre musikalische Leiterin Katharina Bäuml hat es geschafft, mit Schalmeien, Dulzianen und Theorben immer wieder Bezüge zu unserer Gegenwart herzustellen: historisch informiert und aktuell bewandert, technisch brillant und mit emotionaler Freude am Spiel. Das Besondere: Bäuml und ihre Musiker suchen immer wieder Bezüge zur gegenwärtigen Musik und zu unserer Welt. Auf dem Album „Ciaconna“ dreht sich alles um die Grundlagen der musikalischen Freiheit und der

Interpretation: Alte Musik und Jazz verschmelzen durch ihre Ansprüche der Improvisation auf ganz natürliche Weise miteinander. Sofort wird klar, wie sich bestimmte Standards aus dem 15. Jahrhundert bis in den GegenwartsJazz gerettet haben. Harmonisch vereint sich die Capella de la Torre mit Jazzern wie dem Tubisten Michel Godard und dem italienischen Akkordeonisten Luciano Biondini. Mit dem ECHO KLASSIK wird die Capella nun für ihr Album „Water Music“ ausgezeichnet, in dem es für die deutsche harmonia mundi um den antiken Mythos der Nymphen geht und darum, wie die Renaissance und das Barock das Wasser in Klänge gegossen haben. Ein Panorama von Wassermusiken, die nur we­­nig mit Händels Meisterwerk zu tun haben. Stattdessen gibt es klangfarbige Tänze, kunstvolle

Vokalsätze, spektakuläre Improvisationen und meditative Einkehr von Komponisten wie Praetorius, Willaert, Allegri oder Vecchi. Die So­­ pranistin Cécile Kampenaers und der Altus Benno Schachtner verleihen dem Wasser die mystischen Stimmen. Der Bayerische Rundfunk lobte: „Die Münchnerin Katharina Bäuml ist eine der interessantesten Persönlichkeiten der Alte-­ Musik-Szene. Ihr Ensemble Capella zeigt, wie ungemein frisch und lebendig diese Stücke noch sein können.“ Eine Aufnahme zum Abtauchen.

Aktuelle CD: „Fire Music – Infernal Flames and Celestia“, Capella de la Torre, Katharina Bäuml (dhm)

KAMMERMUSIKEINSPIELUNG DES JAHRES | MUSIK 20./21. JH. | STREICHER

BELCEAS GESPÜR FÜR ARCHITEKTUR Das BELCEA QUARTET lüftet die Rätsel der Zweiten Wiener Schule.

FOTO: RONALD KNAPP

Eiskalt, sezierend und subversiv flirrend – die Musik der Zweiten Wiener Schule scheint wie für das Belcea Quartet komponiert zu sein. Werke von Webern, Berg und besonders Schönbergs Verklärte Nacht verlangen nach Präzision, virtuoser Technik, gleichsam nach Sinnlichkeit und Klugheit der Aussage. All das haben Axel Schacher (Violine), Krzysztof Chorzelski (Viola) und Antoine Lederlin (Cello), die sich um Corina Belcea versammelt haben, perfektioniert. Sie lüften das Rätselhafte, ohne letzte Geheimnisse zu verraten. Kein Wunder, dass das Belcea Quartet längst zur Spitze der international führenden Streichquartette zählt und mit seinen Residenzen, unter anderem im Wiener Konzerthaus, für Aufhorchen sorgt. Das Quartett, das sich besonders mit seinem kraftvollen Stil und dem ausgeprägten Gespür für musikalische Architektur einen Namen gemacht hat, spielte bereits 2012 sämtliche Streichquartette von Beethoven ein, die damals beim OuthereLabel ZigZag Terretoires erschienen sind. Im Oktober 2016 werden diese Aufnahmen bei Alpha Classic nun als Gesamtbox wiederveröffentlicht – und werden erneut für ein Ohrenöffnen sorgen.

Aktuelle CD: Brahms: „String Quartets & Piano Quintet“, Till Fellner, Belcea Quartet (Alpha) 54

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Ok tober – November 2016



DER KLASSIKSTAR EINE GENIALE ERFINDUNG DER UNTERHALTUNGSINDUSTRIE

VON CHRIS TOPH SCHLÜ REN

FOTO: SIEGFRIED LAUTERWASSER / DG

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ls kurz nach der Jahrhundertwende der Stummfilm aufkam und es darum ging, die Lichtspielhäuser zu füllen, erfanden die Amerikaner, die ja bis heute das Leadership in kommerziellen Angelegenheiten und deren professioneller Bewerbung innehaben, den Star. Ursprünglich sollte damit signalisiert werden, dass es sich um einen am Firmament der öffentlichen Wahrnehmung aufsteigenden, für alle sichtbaren neuen Stern handelt, und kaum ein Begriff hat sich medial so grenzenlos durchgesetzt wie der Star. Bald gab es nicht nur Filmstars, sondern auch Stars der Unterhaltungsmusik, des Sports, der medialen Unterhaltung im Rundfunk, später Fernsehen und heute Internet und der Politik, deren Werbemethode als Propaganda in die Geschichte einging. Anders als die per gesellschaftlicher Stellung privilegierten Celebrities aus Fürstenhäusern, Adels- und Finanzmafiageschlechtern mit ihrem angeborenen oder monetär erworbenen Nimbus, muss ein Star natürlich gewisse fachliche Qualifikationen aufweisen, um für die Vermarktung tauglich zu sein, und sei es auch nur das quadratische Ausschlachten von zwei Akkorden wie in der Punk-Bewegung der 80er-Jahre. Nun konnte es nicht ausbleiben, dass bald nach der Erfindung dieses so griffigen Begriffs auch die ersten Klassikstars kreiert wurden. Hierfür war das beste Transportmittel die Schellackplatte, und so ging der Ruhm eines Enrico Caruso bald um die ganze Welt und kletterte in den Bestsellerlisten, den Charts, nach oben. Die großen Musiker der älteren Generation, die noch vor der Zeit des Starkults herangewachsen waren, eigneten sich nur bedingt für die kommerzielle Darstellung, und viele von ihnen – wie etwa Arturo Toscanini, Fritz Kreisler oder Pablo Casals – haben das zwar irgendwie mitgemacht, waren aber im Grunde doch eher „Stars wider Willen“ und legten vor allem Wert darauf, als bedeutende Musiker geschätzt zu werden. Andere, wie Wilhelm Furtwängler, Artur Schnabel oder Adolf Busch, blickten mit gemessener Geringschätzung auf das sensationsheischende Medienspektakel. Also musste ein neuer Typ geboren werden, der in idealer Weise das zwiespältige Bild vom hehren Klassikmusiker und dem sich selbst zelebrierenden Medienstar verkörpern sollte. Diesen 56

Typus verkörperte wie kein anderer Herbert von Karajan, und mithilfe seiner maßlosen Eitelkeit gelang die Kommerzialisierung der klassischen Musik, die standardisierende Ausbeutung der zeitlosen Substanz der großen Meisterwerke in schlagender Weise. Karajan in Pose wurde zum Megastar der klassischen Musik. Natürlich haben dazu in den USA, jedoch mit einem weit geringeren egoistischen Narzissmus, auch Leopold Stokowski und Leonard Bernstein entscheidend beigetragen – bewegt von der Sehnsucht, die Wunder der klassischen Musik möglichst vielen Menschen nahezubringen. Die Nachfolgegeneration sonnte sich im etablierten Überbau des von Major Companies wie RCA, EMI, Deutsche Grammophon oder Decca gepflegten Starsystems, dessen Pfründe sie untereinander aufteilen durften: Namen wie Zubin Mehta, Claudio Abbado, Riccardo Muti, Itzhak Perlman, Daniel Barenboim, Martha Argerich oder die Drei Tenöre Pavarotti, Domingo und Carreras stehen symbolhaft für diese Zeit des Überflusses. Als das Feld abgeerntet schien, kam die Erfindung der „historischen Aufführungspraxis“ zu Hilfe. Mit dem Zusammenbruch der großen Plattenfirmen, die von branchenfremden größeren Haifischen verspeist wurden, als das Medium CD als Konsumgut für den kleinen Geldbeutel erschwinglich wurde, fielen diese Privilegien für die jüngeren Künstler weg, und die Macht konzentrierte sich mehr denn je bei den großen, global operierenden Agenturen. In Zusammenarbeit von Agenturen und den heutigen Majors (Universal, Warner und Sony) werden die Stars unserer Tage auserkoren. Sie sollen mehr denn je jung und schick sein und ein junges Publikum ansprechen. Ob sie auch wirklich überragende Qualitäten haben, ist Nebensache – doch auch schon früher sind vielfach die Besseren außerhalb des Starsystems geblieben und nur den Kennern geläufig. Der heutige Typus des Klassikstars, dieser genialen Erfindung der Unterhaltungsindustrie, ist wohl in effektivster Form in Lang Lang anzutreffen: Er kann sein Instrument virtuos bedienen, ohne allzu sehr in der Tiefe zu schürfen, hat eine interessante Geschichte und versteht es, mit Menschen, die von seinem Fach nichts verstehen, lebendig zu kommunizieren.

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INSTRUMENTALISTIN DES JAHRES | CELLO

Bringen wir Liebe in die Welt Die Cellistin SOL GABETTA schwelgt im Klangkosmos von Pēteris Vasks und versteht es, seine innere Stimme zum Klingen zu bringen. Vasks Musik scheint perfekt zur musikalischen Philosophie von Sol Gabetta zu passen: Beide glauben an die Gegenwärtigkeit des Klangs und beide wissen, wie wichtig es ist, auch in der Neuen Musik nicht auf die Sinnlichkeit und den emotionalen Aspekt des Klangs zu verzichten – beide glauben noch wahrhaftig daran, dass Musik die Zuhörer berühren, ja, ergreifen und vielleicht sogar ein bisschen verändern kann. Aktuelle CD: „Sol Gabetta – Live“ Berliner Philharmoniker, Rattle, Urbański (Sony)

FOTO: MARCO BORGGREVE

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as Besondere an Sol Gabetta ist, dass sie eine unglaubliche Leichtigkeit und musikalische Freude mit abgrundtiefer Sinnlichkeit und intellektuellem Wissen vereint. Kein Wunder, dass die Cellistin aus Argentinien nicht nur die alten Meister belebt, sondern auch gegenwärtige Komponisten zu klangschönen und zutiefst innerlichen Werken inspiriert. Nun wird Gabettas Aufnahme von Pēteris Vasks zweitem Cellokonzert Presence mit dem ECHO KLASSIK ausgezeichnet, das er ihr in die Finger komponiert hat und das sie gemeinsam mit der Amsterdam Sinfonietta für das Label Sony Classical aufgenommen hat. Seit ihrer frühen Kindheit schwärmt die Musikerin für den lettischen Komponisten, bereits mit 18 Jahren war sie begeistert von dessen Book for Solo Cello, das nun ebenfalls auf dieser Einspielung zu hören ist. „Ich denke, Pēteris Vasks will mit seiner Musik mehr Liebe in die Welt bringen“, beschreibt Sol Gabetta die Musik des Komponisten in der Badischen Zeitung. „Unsere Welt ist beherrscht von Aggression, Kriegen, Konflikten, Konfrontation, aber es gibt ir­­ gendwo doch auch die Liebe im Leben, und dieses positive Gefühl von Liebe ist es, was den Kern seiner Musik ausmacht. Seine Musik fängt sehr sanft, sehr leise an, im zweiten Satz klingt es mehr nach Revolution, nach Krieg, nach Kampf, dann kehrt es wieder zur Ruhe zurück. Diese Musik hat sehr viel mit dem Menschen zu tun.“ Es ist diese musikalische Menschlichkeit, der Klang des Humanismus und der Hoffnung, der Sol Gabetta besonders gut liegt: lyrische Tiefe, sehnsüchtiges Schwelgen, aber eben auch revolutionäre Irritationen – sie verfügt stets über eine technische Brillanz, die ihr erlaubt, das Cello tatsächlich mit dem Ambitus der menschlichen Stimme erklingen zu lassen. Vasks selbst sagt: „Das Cello fühlt sich für mich an wie meine innere Stimme.“ Und wie in so vielen Werken des Letten tobt diese Innerlichkeit auch in Presence. Eines der Hauptthemen des Komponisten ist die Situation seines Volkes während der sowjetischen Besatzung, die er als „Völkergefängnis Sowjetunion“ bezeichnet. Gabetta hat sich ihre eigenen Gedanken über Vasks innere Stimme gemacht und erklärt sie folgendermaßen: „Ich denke, für Pēteris ist das Stück die Geschichte­des Lebens eines Menschen, der aus der Erde kommt, der sich durch das Leben kämpfen muss und dann zur Erde zurückkehrt. Es ist wie ein Kreis des Lebens. Es fängt sehr leise an und endet sehr leise, und die ganze Revolution der Musik kommt irgendwo in der Mitte. Es erinnert mich ein bisschen an die letzten Kompositionen von Schostakowitsch.“

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DIE GANZ GROSSE BÜHNE WISSENSWERTES ZUM ECHO KLASSIK Wer ist dieses Jahr im Fernsehen zu sehen?

Von allen ECHO-Klassikpreisträgern treten nur wenige in der Live-Show des ZDF auf. Dieses Jahr dabei, unter anderem: Anna Netrebko, Philippe Jaroussky, Martin Fröst, German Brass, Andrea Bocelli, Khatia Buniatishvili und Jonas Kaufmann.

2.

Warum schon wieder Thomas Gottschalk?

Die Liste der ECHO-Moderatoren ist lang: Roger Willemsen und Senta Berger, Maria Furtwängler und Götz Alsman, Nina Eichinger und Rolando Villazón. Dieses Mal tritt wieder ein Urgestein an: Es ist Thomas Gottschalks dritte ECHO KLASSIK-Moderation.

3.

Der ECHO-Klassik im Fernsehen

In Berlin findet die 23. ECHO KLASSIK-Preisverleihung statt. Aber das ZDF ist erst seit 1996 dabei und überträgt die Highlights der Veranstaltung zeitversetzt am Sonntag Abend. Kameras im Orchester und eine Spider-Cam an der Decke des Konzerthauses sorgen nicht nur für akustische, sondern auch für optische Nähe.

4.

Wer ist der diesjährige ECHO-Weltmeister?

5.

Was ist besonders am Konzerthaus in Berlin?

Das gigantische Schinkel-Gebäude am Gendarmenmarkt ist vielfach Austragunsort des ECHO-Klassik gewesen. Einst Schauspielhaus der Stadt, wurde es nach dem Krieg rekonstruiert und dient seit 1994 als Konzerthaus. Alfred Kerr schriebt einst in einer Kritik über das Schauspielhaus: „Die jungen Mädchen sind hier am holdesten, zahlreichsten und dümmsten.“

6.

Was passiert hinter der Bühne?

Auch vor und nach dem Auftritt sind die Künstler eingespannt: Wenn sie im Konzerthaus abtreten, werden sie sofort ins Pressecenter geführt, wo sie den Medien Rede und Antwort stehen. crescendo ist mit einer eigenen Lounge vor Ort, in der Axel Brüggemann die Künstler exklusiv für crescendo.de interviewt. Und auch bei der After-Show-Party mischt sich crescendo unter die Künstler.

7.

Wer ist der Veranstalter?

Veranstaltet wird der ECHO KLASSIK von der Deutschen Phono-Akademie. In ihr sind zahlreiche Labels zusammengeschlossen und betreiben Lobbyarbeit für die Musik. Nach dem Erfolg des ECHO wurden auch die separaten Veranstaltungen ECHO JAZZ und ECHO KLASSIK gegründet.

Die Berliner Philharmoniker bekommen auch dieses Jahr einen ECHO KLASSIK, es ist der 13 für das Orchester – damit schließen sie nun auf Sir Simon Rattle und Cecilia Bartoli auf, die die Bestenliste anführen.

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Ok tober – November 2016

FOTO: MONIQUE WUESTENHAGEN/BVMI

1.


Da muss man einfach zuhören

FOTOS: BARBARA AUMÜLLER; MICHAEL ZAPF; WWW.CELLOSONATE.NL; TIM KLÖCKER; WONGE BERGMANN

Wieder gewinnt das Label MDG fünf ECHO KLASSIK Preise – und das mit Aufnahmen, die alles andere als normal sind. sechs erfolgreichen Folgen machen sie sich in ihrem neuen Album auf die Reise nach Paris – und entdecken Komponisten, die das musikalische Leben der Seine-Metropole geprägt haben: Für Alexandre Batta schwärmten sowohl Berlioz als auch Balzac, und Joseph Hollman verzauberte die Gesellschaft mit seinen Minia­ turen. Einen vollkommen anderen Tonfall findet Andrée Bonhomme, die bei Darius Milhaud studierte und den expressiven Ausdruck feiert. Hochscheid und van Ruth arbeiten akribisch an einem vergessenen Genre und zeigen, dass die Geschichte der Musik vieles vergisst – was sich auszugraben lohnt. Das bislang Ungehörte entdecken, das hat sich auch das BEROLINA ENSEMBLE (4) auf die Fahnen geschrieben und stellt Hugo Kaun vor. Der gebürtige Berliner feierte bereits zu Lebzeiten beachtliche Erfolge als Komponist, aber auch als angesehener Chorleiter – allerdings in Milwaukee, fern der Zentren europäischer Musikkultur um die Wende zum 20. Jahrhundert. Das Berolina Ensemble präsentiert sein Oktett, das Klavierquintett und das Erste Streichquintett. Eine musikhistorische Entdeckungsreise auf den Spuren der Traditionen deutscher romantischer Musik in den USA. Zuweilen steht bei MDG auch der Solist im Vordergrund, so wie bei HOLGER FALK (5), der den ECHO KLASSIK für Saties Mélodies et Chansons gewinnt. Gemeinsam mit STEFFEN SCHLEIERMACHER interpretiert Falk die Lieder des Franzosen: Von zartester Ernsthaftigkeit bis zur derbsten Komik reicht die Palette des legendären Eigenbrötlers, der Zeit seines Lebens in bitterster Armut existieren musste und sich seinen Unterhalt mit „Lohnklimperei“ verdiente. Der Humor, der viele seiner Klavierkompositionen prägt, findet auch in den Liedern seinen Niederschlag – dankbar aufgegriffen von Holger Falk, der seine vielseitigen schauspielerischen Talente hier voll ausleben darf.

Dorthin hören, wo das Unerhörte erklingt – so ungefähr könnte man das Selbstverständnis des Labels MDG zusammenfassen, das regelmäßig beim ECHO KLASSIK für ein Neuhören, ein Hinhören, ein Zuhören an jenen Orten sorgt, die vielleicht nicht auf der Mainstream-Musikautobahn, sondern eher in den spannenden Nebenstraßen des Klangs liegen. Und das durchaus auch bei Werken, die zu den Standards gehören, so wie Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier. Es ist eine Art Grammatik der Musik. Das BASSOON CONSORT FRANKFURT (1) fächert die Meisterwerke nun auf. Und wie! Henrik Rabien richtete das Werk für acht Fagotte und ein Kontrafagott ein. Das Ergebnis ist eine vollkommen neue Dimension: Kontrapunkt und Harmonie bedingen sich und verflechten den Kosmos des Klangs zu einem wahrhaftigen Weltbild. All das bildet die Aufnahme in einem dreidimensionalen Hörgenuss mit Super Audio in HD-Qualität ab: Natürlichste Klangfarben und fantastische Transparenz erlauben einen verblüffenden und tiefen Einblick in das Meisterwerk. Bach steht auch bei CHRISTOPH SCHOENER (2) im Vordergrund, der die Orgeltoccaten in einer audiophilen Mehrklangeinspielung präsentiert. Dazu nutzt der Organist an der Hamburger Michaeliskirche alle vier Orgeln des Hauses. Allein in der d-MollToccata kommen drei Instrumente auf einmal zum Einsatz! Das überwältigende Klangerlebnis ist dank MDGs 2+2+2-Wiedergabeverfahren zum ersten Mal auch zu Hause zu erfahren: Auf der Super Audio CD erklingt jedes Instrument an seinem originalen Platz, und der prachtvolle barocke Raum der hanseatischen Hauptkirche kommt in vollendeter Natürlichkeit zur Geltung. Der Facettenreichtum des Labels wird auch durch DORIS HOCHSCHEID und FRANS VAN RUTH (3) unter Beweis gestellt, deren Einspielung niederländischer Sonaten für Cello und Klavier mit der editorischen Leistung des Jahres ausgezeichnet wird. Nach

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1. KAMMERMUSIKEINSPIELUNG DES JAHRES | MUSIK BIS INKL. 17./18. JH. | BLÄSER 2. AUDIOPHILE MEHRKANALEINSPIELUNG DES JAHRES 3. EDITORISCHE LEISTUNG DES JAHRES 4. KAMMERMUSIKEINSPIELUNG DES JAHRES | MUSIK 19. JH. | GEM. ENSEMBLE 5. SOLISTISCHE EINSPIELUNG DES JAHRES | GESANG (LIED)

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KONZERTEINSPIELUNG DES JAHRES | MUSIK 19. JH.

FOTO: JULIEN MIGNOT

TANZ MIR DEN HAYDN

Frischer Blick auf den Komponisten: Konzerte mit RICCARDO MINASI und IL POMO D’ORO. Das italienische Ensemble Il Pomo d’Oro ist bekannt für seinen schlanken, frischen und glasklaren Sound – gleichsam virtuos und dramatisch. Die Leidenschaft seines Leiters Riccardo Minasi begeisterte selbst den englischen Guardian: „Il Pomo d’Oro ist ein wunderbares Ensemble und Minasi ein außerordentlicher Musiker. Wenn er tanzt, während er dirigiert, überträgt er seine eigene Freude am Musikmachen auf das Publikum und steckt seine Zuhörer und sein Ensemble mit Virtuosität und Leidenschaft an.“ Kein Wunder, dass Stars wie Philippe Jaroussky auf Il Pomo d’Oro und Minasi setzen – mit der Einspielung von Händels Oper Parte­ nope haben sie gemeinsam für ein Aufhorchen gesorgt. Nun hat sich das Ensemble Joseph Haydn noch einmal allein vorgenommen. Herausgekommen ist ein vollkommenes Neuhören. Ein scheinbar be­­kannter Klassiker wirkt so lebendig wie lange nicht mehr. Der Vater der Wiener Klassik war einer der führenden Kapellmeis­ ter seiner Zeit, leitete jahrzehntelang eine fürstliche Hofkapelle, in der er über Virtuosen verfügte, denen er Anspruchsvolles in die Finger

schreiben konnte – und genau diesen Anspruch setzt Il Pomo d’Oro nun in Spielfreude um. Haydn ist nicht nur als Sinfoniker in die Musikgeschichte eingegangen, sondern auch als Konzertkomponist zwischen Barock und Klassik. Und genau diesen Haydn entdecken Riccardo Minasi und sein Orchester auf ihrer Einspielung neu. In seinem G-Dur-Violinkonzert und im selten zu hörenden Doppelkonzert für Violine und Cembalo (flankiert vom Cembalisten Maxim Emelyanychev) lässt das Ensemble vor allen Dingen Haydns Abwechslungsreichtum hören: das Spiel mit den musikalischen Ideen, den Kontrasten, der dauernden Verblüffung des Zuhörers. Das Programm mit Instrumentalkonzerten wird durch Haydns Hornkonzert D-Dur ergänzt, gespielt von Johannes Hinterholzer. Seine sinfonischen Qualitäten zeigt Il Pomo d’Oro mit Haydns Sinfonie Nr. 83, die wegen einer charakteristischen Lautmalerei den Beinamen La Poule ­(Die Henne) trägt und schon zu Lebzeiten des Komponisten als Meisterwerk galt.

KLASSIK OHNE GRENZEN

KEIN MUSIKALISCHER STREICHELZOO Dieses Damen-Quartett dreht die Musikgeschichte durch ihr Gehirn: Die vier Hamburgerinnen von Salut Salon nageln Klassiker auf so grandiose Art mit populären Stücken zusammen, dass es nie platt wirkt, sondern sich immer neue Assoziationssynapsen öffnen. Nun haben sie sich Camille Saint-Saëns Karneval der Tiere vorgenommen – und lassen alles andere als einen musikalischen Streichelzoo hören. Jedes Stück ihrer bearbeiteten Carnival Fantasy wird zu einer kleinen oder großen animalischen Geschichte. Wir erleben den berühmten „Schwan“ als großes Solo für singende Säge. Mit einer neuen Version des Liedes Hör auf mich der hypnotisierenden Schlange Kaa aus Disneys Dschungelbuch erhält die Redewendung von der „klassischen

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FOTO: THORSTEN WINGENFELDER

Die vier Damen vom SALUT SALON stellen Saint-Saëns auf den Kopf. Verführung“ eine ganz neue Komponente. Fische, selbst Fossilien und eine Leuchtqualle (ihr ist ein bezauberndes Liebeslied gewidmet!) finden Platz im Programm. Inspirieren­­de Grundlagen sind auch Werke wie Billy Mays Green Hornet, Astor Piazzollas Escualo (ein Hai, der auch auf John Williams großen weißen Bruder aus dem berühmten Film trifft) und viele mehr. All das muss man natürlich eigentlich live sehen. Aber das Studioalbum lässt den Witz, den musikhistorischen Spielraum und die Lust an der Verbindung des Unvereinbaren greifbar werden. Das gesamte Album frönt der Lust an der Verwandlung – und ist somit ein Karneval, in dem für kurze Zeit die Welt kopfsteht und nichts bleibt, wie wir es kennen und wie es zuvor einmal war. www.crescendo.de

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KLASSIK OHNE GRENZEN

Kino für die Seele lässt mit seiner Stimme Spielfilme vor unseren Ohren ablaufen.

FOTO: UNIVERSAL

ANDREA BOCELLI

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irklich bemerkenswert an Andrea Bocelli ist der Weg seines Lebens, der fast schon ein Kinofilm ist. Der Tenor ist einer, der nicht lange redet, sondern die Dinge am liebsten ausprobiert, mit Leidenschaft und furchtlos – einfach so. Ein blinder Sänger, das war Ende der 90er-Jahre eine Sensation. Und viele glaubten an einen kurzen Ruhm der Kuschelstimme. Aber Bocelli wollte mehr, nahm ernsthaft Opern auf und hat seit einigen Jahren sein Metier am Rande der Klassik angesiedelt, dort, wo sein sanftes Timbre am besten zur Geltung kommt. Nun erhält er den ECHO KLASSIK in der Kategorie „Klassik ohne Grenzen“ für sein Album „Cinema“. Auch das mag erstaunen. Tatsächlich war Bocelli vor seiner Erblindung ein leidenschaftlicher Kinofan. Und auch heute sitzt er (ungern in großen Kinos, weil er Massenansammlungen lieber meidet) oft mit seinen drei Kindern und seiner Frau zu Hause und schaut Filme. Die Familie hält den Fernseher an, spult einzelne Szenen zurück und debattiert den Inhalt. „,Cinema‘ ist eine sehr persönliche Auswahl von Filmmelodien, die mir persönlich sehr viel bedeuten“, erklärt der Tenor. „Die Schönheit der Songs liegt darin, dass sie meist freier komponiert sind als normale Popsongs. Das Schema ist nicht: Strophe, Refrain, Strophe, Refrain – sondern vielschichtiger und kreativer. Es lässt mehr Assoziationen und Gefühle zu.“ Und um diese Zwischenräume geht es Bocelli in seinem Album.

Zwei Jahre ist es her, seitdem Bocelli mit seinem letzten Studioalbum „Passione“ Erfolge feierte. Auf „Cinema“ hat er sich nun mit bekannten Popkünstlerinnen zusammengetan und performt etwa mit Ariana Grande E più ti penso aus dem Film Es war einmal in Amerika. Außerdem erweckt Bocelli mit seiner Stimme legendäre Filme wie Gladiator, Der Pate oder Frühstück bei Tiffany zu neuem Leben und singt bekannte Songs aus den Musicals West Side Story und Evita. Was passiert, ist verblüffend: Vor den Augen des Zuhörers entwickeln sich Bilder, ja Filme. Auch deshalb, weil große Filmkomponisten wie Gladiator-Erfinder Hans Zimmer es schaffen, Sounds zu kreieren, die wir nach einmaligem Sehen mit spektakulären Szenen und großen Gefühlen verbinden. Und es war auch Zimmer, der eigens für Bocelli seine Hits neu arrangierte. So singt Boccelli den Gladiator-Song in seiner Muttersprache und hat darüber hinaus ein Video zu Nelle tue mani aufgenommen. In den Duetten mit Nicole Scherzinger und Ariana Grande kommt seine unverwechselbare Tenorstimme besonders zur Geltung. Man hört, dass Bocelli in dieser Musik irgendwie angekommen ist. Aktuelle CD: Verdi: „Aida“, Andrea Bocelli, Kristin Lewis, Zubin Mehta (DECCA)

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B E T TA

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„Der rote Teppich ist ein Teil unseres Berufes. Aber die künstlerische Seite ist eben doch wichtiger. Ich liebe das Reisen, aber es ist auch schön, wieder nach Hause zu kommen und allein am Klavier zu sitzen und zu üben.“

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DI IL R LI N E R P H

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Anne SophieMutter: „Die Berliner Philharmoniker haben einen ureigenen Klang. Das Orchester ist wie eine Skulptur, ungefähr wie der Kölner Dom, an dem über viele hundert Jahre gebaut wurde. So ist das auch mit dem Klang der Philharmoniker – keine Stunde, die ein Dirigent mit dem Orchester verbringt, vergeht spurlos vorüber. Alles schreibt sich in das Gedächtnis des Orchesters ein.“

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Backstage ECHO! Bereits in den letzten Jahren hat Axel Brüggemann die Preisträger des ECHO-KLASSIK für crescendo zum Smalltalk getroffen und mit ihnen über ihre Aufnahmen, ihre Rollen und ihr Kunstverständnis geredet. Erleben Sie die großen Klassik-Künstler hautnah. Die Interviews sind sofort nach dem ECHO KLASSIK auf unserer Homepage zu sehen. Sie verpassen kein Video, wenn Sie unsere Facebook-Seite liken. So intim haben Sie die Welt der klassischen Musik selten erlebt. www.facebook.com/crescendomagazin HA

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Wir hätten da noch eine Frage... Wie schon in den letzten Jahren trifft „crescendo“ auch dieses Jahr wieder alle Preisträger des ECHO KLASSIK. Die Interviews sind auf unserer Homepage www.crescendo.de zu sehen.

„Wenn ich singe, kommen zuweilen Erinnerungen an meine Kindheit hoch, oder an meine Jahre am Stadttheater. Es ist so, dass viele Stücke eine Erinnerung in der eigenen Biografie aufnehmen und sich mit dem eigenen Leben verbinden.“

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„In der Musik geht es immer um Seele und Liebe – aber es gibt auch viel Brutalität und Konfrontation. Das war für die Komponisten so, und das sind wir den Komponisten als Interpreten auch heute noch schuldig.“

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„Puccini hatte eine LebemannMentalität. Der war für alles aufgeschlossen, wolle alles ausprobieren. Und das hört man auch in seiner Musik. Deshalb geht sie uns so nahe! Puccini ist ein Komponist, der uns allen sofort aus der Seele spricht.“

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„Woher ich meine Inspiration nehme? Ich muss mich nicht mit einem Operncharakter identifizieren – ich bin Schauspielerin. Meist habe ich als Mensch nichts mit den Charakteren zu tun, die ich singe. Aber die Musik verrät mir, wer sie in Wahrheit sind.“

„Alles, was irgenwann Mal beim Publikum ankommt, ist auch irgendwann wieder vorbei. Das Stehenbleiben ist unmöglich in der Musik. Wenn etwas etabliert ist, hat es keine Aussage mehr. Musik ist der dauernde Wandel. Alles, was wir tun, muss immer wie beim ersten Mal klingen.“

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Jetzt neu – Deluxe-Edition mit Bonus-DVD

BACH · TELEMANN PHILIPPE JAROUSSKY Freiburger Barockorchester

Sänger des Jahres

philippe-jaroussky.de · warnerclassics.de

Meine Klassik


P E R S O N A L I E N

insbesondere mit Aufführungen und CDEinspielungen der Werke von Jean Sibelius einen Namen gemacht. In Saarbrücken löst Inkinen den Briten Karel Mark Chichon ab, der sechs Jahre die Chefdirigentenposition des Orchesters innehatte.

TH O MAS B AUER

P IE TA R I I NKI NEN Pietari Inkinen wird ab 2017/18 neuer Chefdirigent der Deutschen Radio Philharmonie Saabrücken. Der 36 Jahre alte Finne blickt bereits auf eine facettenreiche Dirigentenkarriere zurück: Er ist seit 2015 Chefdirigent der Ludwigsburger Schlossfestspiele und der Prager Symphoniker, seit diesem Jahr Ehrendirigent des New Zealand Symphony Orchestra, dessen Chefdirigent er zwischen 2008 und 2016 war, und seit 2009 Gastdirigent des Japan Philharmonic Orchestra, dessen Leitung er ebenfalls in der Spielzeit 2016/17 übernehmen wird. Inkinen hat sich

Er ist’s! Schon länger wurde über Thomas Bauer als möglicher Nachfolger von Peter Baumgardt als Intendant der Europäischen Wochen spekuliert. Nun hat der Trägerverein den Bariton offiziell ins Amt berufen. Er möchte beim großen DreiländerFestival in Zukunft auf noch prominentere Orchester und Solisten setzen und dafür lieber die Anzahl an Spielorten und Aufführungen verringern. Als Dreh- und Angelpunkt könnte der Bau eines zentralen Konzerthauses in Passau fungieren. Bauer, der auch Gründer und Leiter des 2008 ins Leben gerufenen Festivals Kulturwald Bayerischer Wald ist, hatte dort schon den architektonisch extravaganten Bau eines Konzertsaals mitrealisiert.

SASHA WALT Z Ärger um Sasha Waltz! Im September war bekannt geworden, dass die aus Karlsruhe stammende Choreografin, Tänzerin und Opernregisseurin ab 2019/20 zusammen

mit Johannes Öhmann die Leitung des Berliner Staatsballetts übernehmen soll. Die Tänzer des Balletts hegten seitdem Zweifel, ob Waltz, die insbesondere für ihre progressiven Produktionen des modernen Tanztheaters berühmt ist, für das klassische Ballett ausreichend geeignet sei. Sie reichten eine Online-Petition gegen die beiden designierten Co-Intendanten ein. Waltz’ Designie-

rung sei wie die „Ernennung eines Tennistrainers zu einem Fußballtrainer oder eines Kunstmuseumsdirektors zu einem Chefdirigenten“. Während Waltz nun den Dialog mit dem Ballett sucht, zeigt sich dieses wenig gesprächsbereit: Ein geplantes Treffen wurde abgesagt. Der Fortgang bleibt völlig ungewiss.

JOHA N BO THA

len, runden Stimme im Alter von nur 51 Jahren seinem Krebsleiden erlegen. Auf einer Farm im südafrikanischen Rustenburg aufgewachsen, begeisterte sich Botha bereits als Fünfjähriger für klassische Musik. Mit zehn Jahren nahm er seinen ersten Gesangsunterricht. 1989 feierte Botha in Roodepooert sein Debüt als Max in Der Freischütz, bevor er sich nach Europa aufmachte, um im Jahr da­rauf im Chor der Bayreuther Festspiele mitzuwirken. Der Durchbruch gelang ihm 1993 als Pinkerton in Madama Butterfly an der Pariser Opéra Bastille. Von nun an sollte er gern gesehener Gast an allen großen Häusern der Welt sein, so etwa an der Metropolitan Opera, dem Londoner Covent Garden, dem Gran Teatro del Liceu Barcelona, der Los Angeles und der San Francisco Opera, der Sydney Opera, der Bayerischen Staatsoper „Du musst die Musik lieben, dann liebt sie und den Salzburger Festspielen. Zu seidich“, war einstmals der Rat seines Leh- ner zweiten künstlerischen wie privaten rers an Johan Botha – er hat ihn immer Heimat wurde spätestens ab 1996 Wien: beherzigt. Nun ist der Tenor mit der vol- Allein an der Wiener Staatsoper bestritt 64

er seitdem 230 Abende. Trotz seiner Le­gasthenie, die ihm das Textlernen nur in engem Zusammenhang mit der Musik erlaubte, lernte er eine Vielfalt von Partien sowohl des deutschen als auch des italienischen Fachs, seien es die großen Rollen in Fidelio, Tannhäuser oder dem Ring des Nibelungen und insbesondere in Parsifal, Tosca und Otello. 2004 wurde Botha zum österreichischen Kammersänger ernannt, 2016 zum Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper. Für Toleranz und Offenheit kämpfte Botha als Botschafter der Blue Shield Foundation, die sich den Schutz bedrohter Kulturgüter zum Ziel gemacht hat. Ende 2015 wurde bei Botha Leberkrebs diagnostiziert. Nach einer mehrmonatigen Gesangspause hielt er im Juni 2016 die Krankheit für besiegt und kehrte in München triumphal als Kalaf in Turandot und in Budapest als Siegmund im Ring des Nibelungen auf die Bühne zurück. Doch der Krebs kam wieder, und Botha verstarb am 8. September in seiner Wahlheimat Wien.

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Fotos: W. Beege; Andre Rival; Pietari Inkinen

G E S T O R B E N


HÖREN & SEHEN •

Die besten CDs, DVDs & Vinylplatten des Monats von Oper über Jazz bis Tanz Attila Csampais Auswahl (Seite 66) Friedrich Gulda gibt’s wieder auf Vinyl (Seite 74)

Oper

I Capuleti e i Montecchi

Belcanto-Juwel „Lange, lange, lange Melodien“, schwärmte der alte Verdi über die Opern von Vincenzo Bellini. Richard Wagner wünschte sich, „dass den deutschen Komponisten doch endlich einmal solche Melodien und eine solche Art, den Gesang zu behandeln, einfallen möchten“. Bellinis Credo war, sein Publikum „durch den Gesang zum Weinen, Schaudern, ja zum Sterben“ zu bringen. Seine Romeo-und-Julia-Variante, I Capuleti e i Montecchi von 1830, löst all dies ein und ist zugleich ein Belcanto-Juwel mit Überraschungen. Bellinis Romeo wird nicht von einem Tenor gesungen, sondern von einer Frau „en travestie“. So mutiert Mezzosopran Joyce DiDonato zum Jüngling in Stiefeln, nicht betont männlich, dennoch fordernd, aber auch lyrisch. Aus ihrem Inneren heraus scheinen die langen Melodien zu strömen, ohne dass sie je an Spannkraft verlieren. An ihrer Seite die blutjunge Olga Kulchynska als Giulietta, deren Intensität zeigt, wie sehr sie für die Bühne brennt. Gegenpol zum Liebespaar der Chor, der die verfeindeten Clans darstellt, deren Fehde Christoph Loy in das Italien Mussolinis versetzt. Seufzen, Schmachten wie in Hollywood. TPR

Vincenzo Bellini: „I Capuleti e i Montecchi“, Joyce DiDonato, Olga Kulchynska, Philharmonia Zürich, ­Fabio Luisi (Accentus)

Foto: Monika Rittershaus

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H Ö R E N & S E H E N

Die Empfehlungen von Attila Csampai

INTELLIGENTE CHARAKTERE ... kennzeichnen die Interpreten in Attila Csampais Oktober-Auswahl. Und es sind alles Alben mit langem Haltbarkeitsdatum!

BACH: THE WELL-TEMPERED CLAVIER I & II Dina Ugorskaja, Klavier (CAvi-Music)

Track 5 auf der crescendo Abo-CD: Präludium & Fuge Nr. 22 b-Moll BWV 867 aus: Das Wohltemperierte Klavier Band I

Bachs Wohltemperiertes Klavier zählt bis heute zu den größten Herausforderungen für jeden ernsthaften Pianisten. Trotz einiger herausragender Referenzen gibt es da kein festes Rezept. Jeder muss in diesem „Alten Testament“ seinen eigenen Weg finden, um dann zu erkennen, dass hier die strengsten Regeln zu größter Freiheit führen können. Die in Leningrad geborene Pianistin Dina Ugorskaja, die heute in München lebt, hat sich ein Jahr lang intensiv mit dieser „Enzyklopädie des Bachschen Universums“ beschäftigt, bevor sie ins Studio ging, um dann gleich beide Bände, also alle 96 Präludien und Fugen, zu einer großartigen architektonischen und spirituellen Einheit zu formen. Die Tochter eines berühmten Pianisten ist eine sensible Künstlerin, die größte Klarheit und Präzision mit einer ganz besonderen Art von spiritueller Intuition verbindet und so jedem einzelnen Stück einen fast magischen Charakter verleiht. Sie bewegt sich dabei in einer sehr geheimnisvollen Welt zwischen der sich deutlich äußernden Wirklichkeit und einer entrückten Sphäre metaphysischer Freiheit und kommt so bei vielen Stücken zu völlig neuen, oft überraschenden, aber stets in sich stimmigen Lösungen: Es sind ganz zärtliche und dann wieder auch energische Belebungsprozesse, die sie da in Gang setzt und die so die verborgenen Seelenschätze hinter aller konstruktiven Logik freilegen. Dabei fühlt man sich nicht unbedingt als Adressat, sondern als stiller Zuhörer dieser intimen Dialoge zwischen Bach, Gott und dem Universum, denn Dina Ugorskaja bleibt in einer noblen Distanz, die die innere Fragilität ihres Diskurses schützt. Ein beeindruckender Appell an die Freiheit des Geistes. 66

BEETHOVEN: COMPLETE SYMPHONIES VOL. II Copenhagen Phil, Lan Shui (Orchid Classics)

Wer heute innovativen Beethoven hören will, muss nicht unbedingt nach Wien, Berlin oder London reisen: In Kopenhagen setzt ein junger chinesischer Dirigent neue, verblüffende Akzente. Lan Shui, der in Shanghai, Peking und Boston seine Ausbildung erhielt, erntete schon vor Jahren große Resonanz, als er das eher mittelprächtige Singapore Symphony Orchestra zu einem Weltklasse-Ensemble formte. 2007 übernahm er das kaum bekannte Copenhagen Phil und verpasste auch diesem „Regionalorchester“ einen enormen Qualitätsschub. Vor allem sein intensiver Einsatz für die Sinfonien Beethovens führte zu erstaunlichen Resultaten: Schon das erste Doppelalbum mit den Sinfonien I bis IV, das im letzten Jahr herauskam, verströmte eine rasante Leichtigkeit und einen elektrisierenden Drive, der alles dröhnende Pathos und allen Titanismus endgültig hinter sich ließ. Jetzt also die Fortsetzung mit den Sinfonien V bis VIII, und wieder staunt man über Lan Shuis Fähigkeit, mit hoch motivierten Musikern und historischen Blasinstrumenten Beethovens (umstrittene) Originaltempi so locker und stringent in sogartig fließende Lebensenergie umzusetzen, dass man sich fragt, warum Generationen von Dirigenten davor diesen völlig natürlichen, locker-prägnanten Bewegungsimpuls nicht zustande brachten. Lan Shuis Beethoven ist ein eleganter Rebell und kein verbissener Weltverbesserer, ein Virtuose der feinen Klinge, und nicht der Feldherr donnernder Kanonen. Dieser Leichtigkeit des Seins, dieser schlanken Prägnanz aber haftet nichts Oberflächliches an, im Gegenteil: Man spürt jetzt besonders die spirituelle Kraft, die intellektuelle Logik, die innere Bewegungsfreiheit dieser stets zielgerichteten, wahrlich utopischen Zukunftsmusik. www.crescendo.de

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ckelt. Jetzt hat sich ein junger Amerikaner dieser völlig verkannten Meisterwerke angenommen und sie mit den holländischen Swedish Radio Symphony Orchestra, Radio-Philharmonikern aus der spröden russischen Tradition Daniel Harding (Harmonia Mundi) befreit: James Gaffigan interessiert sich vor allem für das enorme Track 10 auf der crescendo Abo-CD: emotionale Potenzial dieser teilweise dunkel verhangenen (Nr. 6) Marche au supplice aus der Symphonie fantastique op. 14. oder verzweifelt heiteren (Nr. 7) Manifeste, und so entfesselt er Eine ungewöhnliche Kombination von französi- vor allem deren charismatische Kräfte, also den raffinierten schen Werken wählte Daniel Harding für sein neues Album mit den Klangzauber und den unerschöpflichen melodischen Reichtum Stockholmer Rundfunk-Symphonikern: Auf eine barocke Opern­ Prokofjews, der auch in diesen späten Arbeiten Momente der suite von Rameau folgt Berlioz’ surreale Symphonie fantastique. Bei- Schönheit, des Innehaltens und einer fernen Idylle bereithält. des sind revolutionäre Arbeiten, die in den jeweiligen Genres völlig neue Klangwelten erschlossen haben. So entdeckt der 41-jährige GERSHWIN: AN AMERICAN IN PARIS, Brite auch in Rameaus stilisierter Theaterwelt manche Wurzeln von ­CONCERTO IN F Lincoln Mayorga, Harmonie Ensemble New York, Berlioz’ kühner Fantasmagorie: So klingt die Suite aus Hippolyte et Steven Richman (Harmonia Mundi) Aricie auch bei den Schweden erstaunlich authentisch, scharf punkTrack 8 auf der crescendo Abo-CD: tiert und konturenreich, und diese knackige Transparenz prägt Allegro agitato aus dem Klavierkonzert F-Dur dann auch seine eher bedächtige, aber drastisch herausgeformte Interpretation der Programm-Sinfonie Berlioz’, die hier wie echtes Steven Richman ist Gershwins kompetentester Kopfkino, also wie extrem suggestive Filmmusik daherkommt und Interpret. Schon vor Jahren bekam er sensationelle Kritiken, als er so mit allem Nachdruck deren revolutionäre Klangfarbenregie mit seinem New Yorker Harmonie Ensemble die verwegene, he­rausstreicht. Dass es trotz erdrückender Konkurrenz Stellen gibt, scharfkantig-trockene Originalfassung der Rhapsody in Blue in die man so noch nicht gehört hat, liegt auch an der perfekten, Ferde Grofés Jazz-Version von 1924 wiederaufleben ließ. Jetzt, ex­trem plastischen und trennscharfen Klangbühne des renommier- sechs Jahre später, hat er mit seinem 68-köpfigen Orchester vier ten Berliner Teldex Studios. weitere Instrumentalstücke des begnadeten Songwriters G. G. im völlig unsentimentalen Broadway-Sound der 1920er-Jahre wiederbelebt, und wieder glaubt man schon nach wenigen Takten des MAHLER: SYMPHONY NO. 7 Düsseldorfer Symphoniker, Adam Fischer 1925 uraufgeführten Concerto in F, ein anderes Werk zu hören als (CAvi-Music) das, das man von üblichen, weichgespülten Großorchestern Kein anderes Werk Mahlers enthält so viel kannte. Es hört sich geradezu spooky an, wie es dem 66-jährigen Nächtliches und Unheimliches, und dennoch New Yorker in Kooperation mit dem ähnlich ausgebufften Linempfand Mahler seine Siebte als „ein Werk coln Mayorga am Klavier gelingt, authentische Klangbilder zu vorwiegend heiteren Charakters“. Sein doppel- rekonstruieren, die augenblicklich unter die Haut gehen und die bödiges Spiel mit den Bausteinen und Ingredienzien des „Roman- ganz spezielle Atmosphäre New Yorks in jenen „Roaring Twenties“ tischen“ gab den meisten Dirigenten Rätsel auf, und erst in den einfangen. Den stärksten Eindruck aber hinterlässt die kaum letzten Jahren gab es erste Ansätze, die tiefe, teilweise ätzende Iro- bekannte sinfonische Version der Three Preludes, die Gershwin nie dieser komplexen Sinfonie freizulegen. Einen ähnlichen Weg für Klavier schrieb, die hier von fantastischen Musikern zu einer der Entmystifizierung schlägt jetzt auch Adam Fischer ein, der unglaublich suggestiven Liebeserklärung an ihre Stadt verdichtet mit den Düsseldorfer Symphonikern einen neuen Mahler-Zyklus wird. plant und just mit der lange verschmähten Siebten einsteigt. Der ältere Bruder des Mahler-erfahrenen Iván Fischer galt bislang als CAMERON CARPENTER – Spezialist für Wiener Klassik und als Wagner-Experte, sein ALL YOU NEED IS BACH Cameron Carpenter (Sony) Haydn-Zyklus war ein Meilenstein. So verfolgt er auch bei Mahler eine strukturerhellende Linie, die nachhaltig durch das hyperMit einem biederen Kirchenorganisten hat transparente Klangbild unterstützt wird. Im Booklet stellt er Cameron Carpenter nichts zu tun: Er gibt sich sogar eine Verbindung her zwischen Haydn und Mahler und verwie ein Popstar im schrillen Outfit, und er sucht dann auch, das sinistre Opus als hellsichtiges, vielschichtierkundet auch als Organist neue Klangwelten ges Meisterwerk erstrahlen zu lassen. Es klingt jetzt wirklich wie auf seiner eigens für ihn gebauten International Touring Organ. ein Stück monumentaler „Weltironie“ eines von allem Welt- Diese erste volldigitale Reiseorgel enthält Samples von allen groschmerz geheilten Mahler, und Fischers spielerisch-heiterer ßen Pfeifenorgeln der Welt und gewährt dem 35-jährigen Exzen­ Zugriff nimmt auch dem lärmenden Jubelfinale viel von dessen triker völlige Mobilität. So kann er an jedem Ort der Welt alle nur Penetranz. denkbaren Orgelsounds synthetisch reproduzieren. Ob der auf völlig trennscharfe Polyfonie fixierte Virtuose Carpenter ein Scharlatan ist, wie etablierte Organisten klagen, oder ein RevoluPROKOFJEW: SYMPHONIES NO. 6 & 7 Netherlands Radio Philharmonic, James Gaffigan tionär, wie seine weltweite Fangemeinde schwört, das kann man (Challenge) nach nur wenigen Takten seiner neuen CD leicht entscheiden: Von Sergej Prokofjew, einem der letzten gro- Denn so bizarr kontrapunktisch verzahnt, so lustvoll beschwingt, ßen Sinfoniker, kennt man außerhalb Russ- so theatralisch grell hat man den Contrapunctus 9 aus Bachs spälands nur die verspielte Erste und die mächtige ter Kunst der Fuge wohl noch nie gehört: Hier ist ein echter KlangFünfte. Die fünf anderen aber sind praktisch Visionär am Werk, der über eine ganze Batterie hochwertiger unbekannt. Dabei hat er gerade in den letzten beiden, nach dem Lautsprecher völlig neuartige kosmische Orgelsounds kreiert und Zweiten Weltkrieg unter schwierigen Umständen entstandenen dabei Bachs Werke in verwegene surreale Klangmixturen taucht, Sinfonien VI und VII seinen eigenen Weg einer „modernen“ Tona- sodass sie eine neue heitere Aura verströmen, dabei raffiniert Sinnlität zu erschütternden Bekenntnissen einer Gratwanderung zwi- lichkeit mit Spiritualität kombinieren: Hier beginnen die Planeten schen äußerer Anpassung und innerem Widerstand weiterentwi- und Sterne zu tanzen und folgen trotzdem einer strengen Logik. ■ BERLIOZ: SYMPHONIE FANTASTIQUE RAMEAU: SUITE DE HIPPOLYTE ET ARICIE

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H Ö R E N & S E H E N

Solo Jessye Norman

Goldkehle

Arabella Steinbacher

Rund, warm, wie flüssige Zartbitterschokolade – die Stimme von Jessye Norman ist so unverkennbar wie einzigartig. Bei den Salzburger Festspielen war sie über Jahrzehnte hinweg gern gesehener Gast. Am 6. August 1991 strahlte sie dort in einem umjubelten Liederabend. Einiges aus ihrem Lieblingsrepertoire war im Gepäck: verschiedene Lieder von Richard Strauss, Wagners Wesendonck-Lieder, aber auch die Brettl-Lieder von Arnold Schönberg und die Six chantes op. 65 von Tschaikowsky. Seit einem Vierteljahrhundert geben die Salzburger Festspiele Häppchen für Häppchen ihre seit 1925 gesammelten Klangschätze heraus, nun auch besagten Liederabend in seinem unverfälschten Live-Mitschnitt. Die Diva überzeugt durch gekonnte Schlichtheit mit durchdachter Textausdeutung. Besonders beeindruckt außerdem das Zusammenspiel mit Klavierbegleiter James Levine, der schlichtweg in jeder Sekunde genau das Richtige tut, von dramatisch-emotional über virtuos-brillant bis frechraffiniert. MG

Reine Musik Von den berühmten Geigerinnen ihrer Generation dürfte die Münchner Geigerin Arabella Steinbacher wohl jene sein, um die medial am wenigsten Aufheben gemacht wird. So wundert es, dass ausgerechnet Bild, nicht bekannt für leise Töne, fand: „Diese Frau ist reine Musik.“ Ein großes Lob für die scheue Deutsch-Japanerin, die ihre neue CD mit virtuosem Repertoire vorstellt. Zwei feurige Carmen-Fantasien darunter: eine stammt von Pablo de Sarasate. Eine andere von Franz Waxman, die dieser zu Jean Negulescos Hollywoodfilm Humoresque (1946) produzierte, in dem es übrigens auch um einen Geigenvirtuosen geht. Außerdem das teuflisch schwierige Tzigane von Maurice Ravel. Von großer Tonschönheit sind Steinbachers Interpretationen, und auch den technischen Schwierigkeiten ist sie gewachsen. Doch ihre Deutung bleibt artig und blass – so als übertrage sich ihre Scheu auf ihr Spiel. Besser zu ihrem Temperament passt die in Deutschland selten gespielte Tondichtung The Lark Ascending des Briten Ralph Vaughan Williams. TPR

Arabella Steinbacher: „Fantasies, Rhapsodies & Daydreams“, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Lawrence Foster (Pentatone)

„Strauss, Tschaikowsky – Lieder, Wagner – Wesendonck Lieder, Schönberg Brettl Lieder“, Jessye Norman, James Levine (Orfeo)

Fazil Say

Foto: Peter Rigaud

Singender Mozart

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Von „Un-Klavier“-Musik spricht Fazil Say, wenn er an Mozarts Klaviersonaten denkt, weil er dabei stets Mozarts Opern mit ihren Charakteren, Dramen und Humor im Ohr habe. „Bei Mozarts Klavierwerken darf man nicht so sehr ans Klavierspielen denken – auch wenn das vielleicht paradox klingt.“ Wesentlich sei es, „innerlich mitzusingen“. Alle 18 Klaviersonaten bringt er heraus – schwierig, sein Mozart-Spiel auf einen Nenner zu bringen. Fest steht: Die „griechisch schwebende Grazie“ Mozarts, die Robert Schumann einer Mozart-Sinfonie bescheinigte, ist Says Ding nicht – trotz einiger leiser, inniger Momente in manchem langsamen Satz. Der Haupteindruck ist ein anderer: Atemlos hetzt er durch die Werke, geht wuchtig über Zäsuren hinweg, donnert zuweilen martialisch. Das Allegro aus KV 570 ist dafür nur ein Beispiel. Mozarts c-Moll-Sonate von 1784 klingt so, als sei sie nach Beethovens 15 Jahre späterer Pathétique entstanden. Eigenwillige Triller und Zuspitzungen gehören zu Says Repertoire. Diese gestochen scharf. Ja, Says Technik ist fulminant, seine Fantasie die eines Virtuosen. Aber auch nicht viel mehr. TRP

Mozart: „Complete Piano Sonatas“, Fazil Say (Warner)

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H Ö R E N & S E H E N

IMPRESSUM VERLAG

Vinyl

Port Media GmbH, Rindermarkt 6, 80331 München Telefon: +49-(0)89-741509-0, Fax: -11 info@crescendo.de, www.crescendo.de Port Media ist Mitglied im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger und im AKS Arbeitskreis Kultursponsoring

Peter Rösel

Weltklasse-Pianist aus Dresden Eigentlich hätte Peter Rösel eine Weltkarriere verdient: Der 1945 in Dresden geborene Pianist, der in Moskau studierte und schon früh zu den größten Hoffnungen der DDR zählte, hat trotz einer ansehnlichen Diskografie und zahlreicher Auslandsreisen das Etikett eines „DDRKünstlers“ nie ganz abstreifen können. Er ist seiner Heimatstadt Dresden bis heute treu geblieben, lehrt da an der Musikhochschule und ist künstlerisch immer noch aktiv. Die jetzt von Edel im Rahmen seiner historischen Eterna-Reissue-Edition wiederveröffentlichte LP mit drei populären Namenssonaten Beethovens (Mondschein, Pathétique, Appassionata) entstand bereits 1980 und ist eine der schlüssigsten Interpretationen der Trias, die ich je gehört habe: Der damals 35-jährige Rösel entpuppt sich da als großartiger, energischer, aber stets rigoros formbewusster Beethoven-Architekt, der alle drei Sonaten mit einer inneren Logik und Stringenz auszustatten versteht, die in jedem Detail, in jedem Augenblick „richtig“ und zwingend erscheinen und immer die Mitte treffen zwischen Kontext und Ausdruck, zwischen musikalischem Fluss und prägnanter Artikulation. Das jetzt vorgenommene behutsame Remastering der alten Analogbänder enthüllt auch die exzellente Klangqualität der alten DDR-Aufnahmen. AC

„Beethoven-Sonaten“, Peter ­Rösel, Klavier (Berlin Classics)

HERAUSGEBER Winfried Hanuschik | hanuschik@crescendo.de

VERLAGSLEITUNG Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de

CHEFREDAKTEUR Robert Kittel (RK, verantwortlich)

ART DIRECTOR Stefan Steitz

REDAKTION Maria Goeth (MG)

SCHLUSSREDAKTION Maike Zürcher

KOLUMNISTEN John Axelrod, Axel Brüggemann, Attila Csampai (AC), Daniel Hope, Christoph Schlüren (CS), Stefan Sell (SELL)

MITARBEITER DIESER AUSGABE Ralf Dombrowski (RD), Kathrin Gemein, Julia Hartel (JH), Árni Heimir Ingólfsson, Sina Kleinedler (SK), Katherina Knees (KK), Benedikt Kobel, Corina Kolbe (CK), Desiree Mayer (DM), Stefanie Paul, Teresa Pieschacón Raphael (TPR), Angelika Rahm (AR), Ruth Renée Reif, Dorothea Walchshäusl (DW)

PROJEKTLEITUNG PLUS REGIONAL Liselotte Richter-Lux | richter-lux@crescendo.de

VERLAGSREPRÄSENTANTEN Tonträger: Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de Kulturbetriebe: L. Richter-Lux | richter-lux@crescendo.de Hifi & Marke: Heinz Mannsdorff | mannsdorff@crescendo.de Verlage: Hanspeter Reiter | reiter@crescendo.de

AUFTRAGSMANAGEMENT Michaela Bendomir | bendomir@portmedia.de

GÜLTIGE ANZEIGENPREISLISTE Nr. 20 vom 09.09.2016

Solo Emalie Savoy

Allein sein Einsamkeit als Schlüsselmotiv einer Debüt-CD? Emalie Savoy hat sich für dieses Thema entschieden, die Einsamkeit gewählt, um ihr Porträt zu zeichnen. Die junge New Yorkerin gewann im letzten Jahr den ersten Preis des ARD-Musikwettbewerbs, diese Aufnahme ist Teil der wichtigen Auszeichnung. Als von Webers Agathe, Dvořáks Rusalka und Tschaikowskis Jolanthe kehrt sie innere Dramen nach außen und erzählt die Geschichten der Frauen mit einer lyrischen Schönheit und in zarten Nuancen, die den Hörer schnell in ihren Bann ziehen. Figuren in Geschichten scheinen oft zugänglicher, näher zu sein, wenn diese allein sind. Allein auf der Bühne stehen und reflektieren, ihren Gefühlen hemmungslos Ausdruck verleihen. In einer Ehrlichkeit, die schon durch eine andere anwesende Person verfälscht wäre. Dieser Eindruck von Intimität entsteht schnell, wenn die junge Sopranistin im gut abgestimmten und einfühlsamen Zusammenspiel mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt und dem Pianisten Jonathan Ware von der Einsamkeit singt und dabei zeigt: ein großes Debüt funktioniert auch mit einem scheinbar „leisen“ Thema. SK

„A Portrait – Works by Ravel, Tchaikovsky, Dvořák, Weber, Barber“, Emalie Savoy, Brandenburg State Orchestra Frankfurt, Matthias Foremny, Jonathan Ware (Genuin)

DRUCK Westermann Druck, Georg-Westermann-Allee 66, 38104 Braunschweig

VERTRIEB Axel Springer Vertriebsservice GmbH, Süderstr. 77, 20097 Hamburg www.as-vertriebsservice.de

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H Ö R E N & S E H E N

Oper

Orchester

Andrea Chénier

Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia

Gefühlsrausch

Schumann all’italiana

„Unsingbar“, schimpfte 1896 Alfonso Garulli, führender Tenor an der Mailänder Scala, während der Proben zur Uraufführung des Andrea Chénier von Umberto Gior­dano. Und gab seine (Titel-)Rolle zurück. Auch Jonas Kaufmann warnt: „Die Musik ist dermaßen mit Gefühlen aufgeladen, man muss aufpassen, sich nicht darin zu verlieren, nicht zu viel zu tun, nicht zu viel zu geben, denn all diese Melodien sind so eine große Einladung, sich die Seele aus dem Leib zu singen. Jede Notenlinie ist so perfekt, dass es eine Freude, ein großes Vergnügen ist, sie zu singen, aber man muss natürlich überleben.“ Als Andrea Chénier überlebt er nicht. Im wahren Leben aber wird der derzeitige „König der Tenöre“ (Welt) auch in London, in Convent Garden, gefeiert, wo die Liveproduktion entstand. An seiner Seite ein flexibel dirigierender Antonio Pappano, der alle Stilarten beherrscht, von der höfisch-vornehmen Gavotte im ersten Akt bis hin zur Marseillaise im vierten Akt. Überzeugend ebenso Eva-Maria Westbroek als Maddalena und Željko Lučić als Gérard. Superstar Kaufmann machte sich in dieser naturalistisch inszenierten Produktion optisch wie sängerisch so gut als emphatisch-heroischer Revolutionspoet, dass die britischen Medien warnten: „Leave your brain at the door.“ TPR

Mit Chefdirigent Antonio Pappano bringt das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia in diesem Jahr bereits die zweite CD mit Werken des deutschen Romantikers Robert Schumann auf den Markt. Der Charismatiker Pappano besticht auch hier durch eine klangschöne, emotional geprägte Interpretation, bei der opernhafte Dramatik mitschwingt. Schließlich ist der in England geborene Sohn italienischer Einwanderer auch Musikdirektor des Londoner Opernhauses Covent Garden. Die Einspielung von Schumanns Sinfonien Nr. 2 und 4 lässt die innere Zerrissenheit des Komponisten deutlich zutage treten. So kontrastiert etwa in der Zweiten Sinfonie das aufgewühlte Scherzo mit einem herzzerreißenden Adagio espressivo. Ebenso packend gelingt den Römern etwa der Beginn der Vierten Sinfonie, der nach einer breit angelegten, langsamen Einleitung ins übermütig Lebhafte kippt. Dieser Schumann hat italienisches Temperament! CK

Schumann: „Symphonies 2 & 4“, Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Antonio Pappano (ICA Classics)

Umberto Giordano: „Andrea Chénier“, Jonas Kaufmann, Eva-Maria Westbroek, Željko Lučić, Royal Opera Chorus, Orchestra of the Royal Opera House, Antonio Pappano (Warner)

Solo Lucas Debargue

Foto: Felix Broede

Tastenfreuden

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Seit seinem Überraschungserfolg beim TschaikowskyWettbewerb 2015 wird der Pianist Lucas Debargue als Senkrechtstarter gefeiert. Nach der Liveaufnahme eines Pariser Recitals ist bei Sony Classical nun das erste Studioalbum des Franzosen erschienen. Mit großem Gespür für Form, Rhythmus und Klangfarben interpretiert er hier Bachs Toccata c-Moll. Brillant und perlend erklingt danach das einleitende Presto in Beethovens Klaviersonate Nr. 7.

Eindringlich gelingt ihm der melancholische langsame Satz, bevor er ebenso überzeugend das anmutige Menuetto und das übermütige Rondo angeht. Zum Schluss spielt Debargue mit viel Neigung zum Perkussiven die Klaviersonate f-Moll des von Rachmaninow hochgeschätzten Nikolai Medtner. Dem lange in Vergessenheit geratenen Russen könnte der Pianist durch seine leidenschaftliche Aufnahme zu neuer Popularität verhelfen. CK

Lucas Debargue: „Bach, Beethoven, Medtner“ (Sony Classical)

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Ok tober – November 2016


H Ö R E N & S E H E N

Solo Alisa Weilerstein

Manisch

Foto: Decca/Harald Hoffmann

Energisch bis hin zum vollendeten Wahnsinn, elegisch bis zur völligen Verzweiflung. Diese Dimensionen der beiden Cellokonzerte Dmitri Schostakowitschs lotet die Cellistin Alisa Weilerstein in Gänze aus. Durch ihren Mut zum Schostakowitsch-Exzess von harten Fanfarenklängen bis hin zu weinerlichem Klagen geht sie an alle Grenzen und darüber hinaus. Obwohl die beiden Werke nicht mehr als sieben Jahre trennen, könnten sie im Ausdruck nicht viel unterschiedlicher sein. Das erste Konzert bestimmt ein eindringliches Motiv – eine Abwandlung der berühmten D-Es-C-H Signatur – und ein immerzu nach vorne drängender Charakter. Das zweite ist hörbar moderner, sarkastisch, stellenweise fast vulgär. Einsamkeit, Desillusion, Wut. Diese Gefühle, dürfen sich dem Zuhörer nicht aufdringen, nicht im romantischen Sinne direkt und unverfälscht präsentiert werden. Das lehrte Rostropowitsch, der Widmungsträger beider Konzerte, Weilerstein persönlich. Und sie besitzt eindeutig die Fähigkeit, diese Klangwelten auf subtile Weise und mit einer kaum vergleichbaren Energie zu öffnen – zusätzlich befeuert vom präzisen Spiel des Symphonieorchesters des BR unter Pablo Heras-Casado. Diese Aufnahme lässt keine Wünsche offen und den Zuhörer bewegt zurück. SK

Shostakovich: „Cello Concertos 1+2“, Alisa Weilerstein, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Pablo Heras-Casado (Decca)

Münchner Philharmoniker

Romantisch ­schwelgen

Millenium Orchestra

Solisti Aquilani

Zeitreise nach Wien

Abenteuerlust

Das Album lädt akustisch auf eine Zeitreise ins Jahr 1783 ein. Unter seiner persönlichen Leitung gab Mozart am 23. März eine sogenannte „Akademie“ im Wiener Burgtheater. Neben der Haffner-Sinfonie, die bei diesem Anlass uraufgeführt wurde, standen u. a. auch die Ouvertüren zu den Opern Don Giovanni und Die Zauberflöte, die Posthorn-Serenade und das Klavierkonzert Nr. 13 in C-Dur KV 415 auf dem Programm. Vokalwerke wie die Arie Se il padre perdei”aus der Oper Idomeneo, re di Creta ergänzten das lange und bunte Programm, mit dem Mozart das Wiener Publikum für sich gewinnen wollte. Mit vorliegender Aufnahme gelingt das – ebenso wie damals – auch im Jahr 2016 mit müheloser Leichtigkeit. Das Millenium Orchestra weckt unter der Leitung von Leonardo García Alarcón gemeinsam mit dem Cembalisten Sebastian Wienand und der Sopranistin Jodie Devos Mozarts Geist formvollendet zum Leben. Darüber hinaus ist das Album durch die detailreiche Gestaltung auch haptisch ein Vergnügen. KK

Die Solisti Aquilani unter Flavio Emilio­ ­Scogna sind ein Streichorchester, das mit äußerster Sorgfalt unter hohem technischen Können zu Werke geht. Bartóks Divertimento gelingt mit seltener Transparenz auch in den Extremen, und Nino Rotas herrlich gebrochen romantisierendes Concerto per archi wird mit Raffinesse und Betonung der Extravaganzen dargeboten. Höhepunkt der auch klanglich exzellenten Produktion aus L’Aquila ist das Concerto detto il Belprato von 1947, ein Violinkonzert von Italiens großem unbekannten Genie des 20. Jahrhunderts Giorgio Federico Ghedini: Barocker und vorbarocker Gestus, zwölftönige Thematik in freitonal changierender Faktur, ein Werk von so wilder wie entrückter Abenteuerfreude und technisch eine extreme Herausforderung, die der Solist Daniele Orlando und das brillante Ensemble schneidig meistern. Die bislang beste Aufnahme dieses Konzerts, auch wenn ich mich frage, von wem die showmäßig angehängten Schlusstakte sind. CS

Orchester

Wie bereits die Berliner Philharmoniker oder das London Symphony Orchestra veröffentlichen jetzt auch die Münchner Philharmoniker CDs unter eigener Flagge. Zum Start des Labels MPHIL haben sie Gustav Mahlers Zweite Sinfonie und die Vierte von Anton Bruckner als Live-Konzertmitschnitte herausgebracht. Chefdirigent Valery Gergiev präsentiert Bruckners Romantische in einer individuellen Lesart. Der weit ausschwingende Klang hat bei ihm fast etwas Schwelgerisches. Tänzerisch leicht bewegen sich Streicher und Holzbläser durch den Eingangssatz. Scharfe Kontraste werden vermieden, Steigerungen wirken nie forciert. Atmosphärisch dicht gestaltet Gergiev das Andante quasi Allegretto, bevor das Orchester das ausgelassene Scherzo in Angriff nimmt. Selbst das monumentale Finale mit seinen wuchtigen Crescendi kommt fein ausbalanciert und nicht zu massiv daher. Ein ästhetisch äußerst ansprechender Hörgenuss. CK

Bruckner: „Symphony No. 4 „Romantic“, Münchner Philharmoniker, Valery Gergiev (MPHIL)

Wolfgang Amadeus Mozart: „The Vienna Concert, 23 March 1783“, Millenium Orchestra, Jodie Devos, Sebastian Wienand, Leonardo García Alarcón (Ricercar) Track 1 auf der crescendo AboCD: Andante grazioso aus der Posthorn-Serenade D-Dur, KV 320

„Bartók, Ghedini, Rota, Hindemith. Music for String Orchestra“, I Solisti Aquilani, Flavio Emilio Scogna (Brilliant Classics)

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H Ö R E N & S E H E N

Solo Lars Vogt

Brillante Einfälle Man kann sich beim Hören gut vorstellen, wie Schubert in trauter Runde am Klavier improvisierte: mal heiter, mal dramatisch, mal melancholisch. Die Impromptus – Einfälle und die Moments musicaux – Momentaufnahmen sind aber nur scheinbar leichte, improvisatorische Werke. Bei Schubert erklingt auch hier die emotionale Tiefe, die man beispielsweise aus den Liedern der Winterreise kennt. Lars Vogt sieht Schubert in diesen Kompositionen deshalb „am Kern der Dinge“. Sein reifes und höchst differenziertes Spiel lassen ein tiefes Verständnis für Schuberts Musik erleben. Vogt hebt keine der Stimmungen zu sehr hervor, sondern lässt sie im Ganzen wirken. Mit dem Blick eines Weisen scheint er in seinen Interpretationen zu sagen: Alles hat seine Daseinsberechtigung. Dabei entgeht ihm keine noch so zarte Schattierung: Vogts Schubert-Album ist eine Bereicherung – nicht nur für Klaviermusik­ enthusiasten! DM

Foto: Felix Broede

Lars Vogt: „Schubert“, Impromptus, Moments Musicaux, Six German Dances (Ondine)

Orchester Gothenburg Symphony Orchestra

Eherner ­ Romantiker Mit den Sinfonien Nr. 7 und 9 findet der fünfteilige Göteborger Atterberg-Zyklus unter Neeme Järvi seinen krönenden Abschluss. Der Schwede Kurt Atterberg (1887–1974) blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Zeiten schrillen Modernismus ein „eherner Romantiker“. Die 1941 bis 42 entstandene, schwärmerisch-dramatische 7. Sinfonie, wider den Zeitgeist provokant Romantica betitelt, ist ein prachtvoll farbenreich modulierendes Beispiel für traditionsgebundene Meisterschaft in Vollendung, und mit üppig-schwungvoller Darbietung ist Neeme Järvi hier ganz in seinem Element. In der 9. Sinfonie, seinem 1955 bis 56 komponierten letzten großen Werk, vollzieht Atterberg eine betroffen machende Wende: Dieser mit Alt- und Tenor-Solo sowie Chor besetzte kantatenartige Einzelsatz beschreibt eine pessimistische Vision, was sich auch in der Verwendung der Zwölftonreihe niederschlägt, allerdings in klarer Tonalität. Die Aufführung ist von elementar wuchtiger Kraft. CS

Atterberg: „Orchestral Works Volume 5“, Gothenburg Symphony Chorus and Orchestra, Neeme Järvi (Chandos) 72

Bulgarian National Radio Symphony Orchestra

Bulgarische ­Klangfülle Toccata Classics überrascht uns mit der ersten Folge der sinfonischen Werke des 1947 geborenen führenden bulgarischen Dirigenten und Komponisten Emil Tabakov. Den Reigen eröffnen die 2007 bis 2009 entstandene Achte seiner neun Sinfonien und die Bulgarischen Tänze von 2011. Diese Tänze, mit ihren typisch ungleich zusammengesetzten Metren, basieren nicht auf Volksmelodien, sind von lakonischer Direktheit und hoch virtuos rauem Duktus und führen das Bartóksche Erbe geistreich innovatorisch fort. Die brillante Orchestration ist von durchschlagender Präzision, wie auch in der Sinfonie, die allerdings in ihrer Erforschung dissonanter klanglicher Abgründe einen ganz anderen Ton anschlägt. Dem gigantisch angelegten, bedrohlichen Largo-Kopfsatz folgt ein weiteres Largo, bevor das finale furiose Presto gnadenlos alles hinwegfegt, um schließlich in einem Cellosolo zu verebben. Knappe, markante Motive verleihen dem faszinierend changierenden Klangmagma klare Struktur. Die Aufführungen sind in jeder Hinsicht auf höchstem Niveau. cs

Royal Scottish National Orchestra

Sinfonische Sammelleidenschaft Das Royal Scottish National Orchestra ist bestens bekannt für die hoch gelobten Einspielungen sinfonischer Werke skandinavischer Komponisten. Auch Zyklen der Sinfonien von Gustav Mahler und Anton Bruckner hat das schottische Orchester mittlerweile aufgenommen, die Aufnahme aller sinfonischen Werke von Albert Roussels wurden mit dem Diapason d’Or de l’année ausgezeichnet. Nun erscheint ein weiteres Album mit einem Sammelsurium sinfonischer Musik aus der Feder eines französischen Komponisten. Vincent d’Indy war Schüler von César Franck und bewegte sich im Dunstkreis der großen Komponisten um die Wende ins 20. Jahrhundert. Impressionismus lehnte er ab, Wagner verehrte er glühend. All dies spiegelt sich in seiner Musik, die das Royal Scottish National Orches­tra unter der Leitung von Jean-Luc ­Tingaud für Naxos mit großer klanglicher Intensität aufgenommen hat. KK

D’Indy: „Symphony No. 2“, ­Royal Scottish National Orches­ tra, Jean-Luc Tingaud (Naxos) Track 7 auf der crescendo AboCD: Modéré – très animé aus der Sinfonie Nr. 2 B-Dur, op. 57

Emil Tabakov: „Complete ­Symphonies, Volume 1“, Bulgarian National Radio Symphony ­Orchestra, Emil Tabakov (Toccata Classics)

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Ok tober – November 2016


H Ö R E N & S E H E N

Orchester 1B1

Frisch gehört!

1B1: „Haydn: Cello Concerto in C Major, Mozart: Sinfonia concertante“, Clemens Hagen, Jan Bjøranger, Lars Anders Tomter (Simax)

Film Foto: Harald Hoffmann

Es liegt eine besondere Kunst darin, unzählig oft eingespielten Kultstücken neue Facetten zu entlocken. Auf dem jüngsten Album des 1B1-Orchesters gelingt dies meisterhaft. Mit Haydns Cello-Konzert in C-Dur und Mozarts Sinfonia Concertante finden sich darauf zwei Werke, die mit ihrer vollendeten Ausgewogenheit und klassischen Ästhetik betörend schön in den Bann ziehen. Während das Streichensemble 1B1 bei der Einspielung mit einem ebenso filigranen wie homogen ausgewogenen Gesamtklang fasziniert und die kunstvolle Struktur der Werke farbig zum Leuchten bringt, tragen die drei gleichermaßen ausdrucksstark musizierenden Solisten bei zu einem zutiefst persönlichen Ausdruck. Mit natürlich fließendem Grundton und berührender Innigkeit interpretieren Clemens Hagen, Jan Bjøranger und Lars Anders Tomter die jeweiligen Soloparts, blitzsauber, wendig und mit Verve entfalten sich die Evergreens der Klassik aufregend neu. DW

Mission Mozart

Zwei Giganten mit Mission Im Frühjahr 2014 trafen sich zwei Klassikstars zu einer CD-Produktion, die nicht nur ein gewaltiger Altersunterschied trennte: Lang Lang, 31-jähriger Tastentiger mit Glamour-Faktor, und Nikolaus Harnoncourt, 84, streitbarer Pionier der historischen Aufführungspraxis. Eine gewagte Kombination? Von wegen! Das beweist nicht nur das Resultat, die gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern eingespielten Mozart Klavierkonzerte Nr. 17 und 24 in G-Dur und c-Moll, sondern auch der Blick hinter die Kulissen mit diesem kostbaren Filmdokument. Es begleitet die vier Aufnahmetage im Wiener Musikverein, von der Auswahl des Konzertflügels und den Proben mit und ohne Orchester, die Gespräche und die Aufnahmesessions, bis zum Abhören im Tonstudio. Und es zeigt uns zwei Musiker mit einem gemeinsamen Konzept, vereint durch Neugierde, Enthusiasmus, künstlerische Offenheit, enorme Spielfreude und einen unendlichen Respekt vor Mozart. AR

„Mission Mozart. A Documentary About Making Music“, Lang Lang, Wiener Philharmoniker, Nikolaus Harnoncourt (Sony)

GROSSE PIANISTEN AUF

GRAMOPHONE

ARTIST OF THE YEAR 2016

DANIIL TRIFONOV SPIELT LISZT – TRANSCENDENTAL

MURRAY PERAHIA SPIELT BACH – THE FRENCH SUITES

Sämtliche Konzertetüden inkl. »La campanella« »Mr. Trifonov ist der unbestrittene Star der neuen Pianistengeneration« New York Times

Französische Suiten Nr. 1– 6 »Einer der bereicherndsten Bach-Interpreten unserer Zeit« New York Times

WWW.DANIIL-TRIFONOV.DE

WWW.MURRAY-PERAHIA.DE

DIE NEUEN ALBEN: ALS CD – DOWNLOAD – STREAM


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Guldas „freies“ ­Musik-Universum Edel veröffentlicht drei legendäre Wiener Konzerte von 1978 in einer 6-LP-Box.

Foto: Frank Fiedler

VO N AT T I L A C S A M PA I

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m Gedächtnis der Nachwelt hat sich der im Jahr 2000 verstorbene österreichische Pianist Friedrich Gulda als einer der bedeutendsten Interpreten der Musik Bachs, Mozarts und Beethovens festgeschrieben. Aber was ist mit dem ewigen Rebellen Gulda, dem Verächter allen Schubladendenkens und großen Freigeist, der sein Leben lang Grenzen sprengte und völlige musikalische Freiheit und Toleranz predigte? Dessen Botschaften scheinen etwas verblasst zu sein. Im Rahmen seiner Reissue-Serie mit legendären LP-Produktionen Guldas für das Schwarzwälder Label MPS hat Edel jetzt (nach den Diabelli-Variationen und dem Wohltemperierten Klavier) den Mitschnitt einer Serie von drei Wiener Konzerten Guldas vom Oktober 1978 wiederveröffentlicht. Darin präsentiert er zusammen mit der Drummerin Ursula Anders in drei aufeinander abgestimmten Programmen sein musikalisches Weltbild rezitierend, singend und auf diversen Tasten- und Blasinstrumenten im vollbesetzten Wiener Musikvereinssaal. Am ersten Abend gab er sich extrovertiert-virtuos, spielte Bach und einige Jazz-Kompositionen abwechselnd auf einem elektrisch verstärkten Clavichord und auf dem großen Bösendorfer. Im

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zweiten Konzert wurde es dann lyrisch-introvertiert. Er entfaltete in den Moll-Fantasien Mozarts, in eigenen Balladen und in einigen Préludes von Debussy meditative Innigkeit und feinsten Farbsinn, um dann am dritten Abend frei improvisierend und in einem wahnwitzigen schöpferischen Egotrip zu neuen Ufern aufzubrechen, in einem „Darüber hinaus“ einen 80-minütigen Ausblick zu geben auf ein von jeder Konvention befreites musikalisches Fantasieren. Literarische Wegmarken zu diesem „Besuch vom alten G.“ gaben ihm zwölf ausgewählte Textstellen aus Goethes West-östlichem Divan, die Gulda dann auch mit bedeutungsvollem Pathos selbst vortrug, was die subversive Kraft seiner musikalischen Ideen doch etwas abschwächte. Dennoch glückte ihm hier ein ästhetisches Manifest von enormer Suggestivität, eine wilde Achterbahnfahrt und ein kreativer Ausbruch, der einen heute noch fesselt und bestimmt auch noch immer polarisiert. Zudem verströmt das perfekte Remastering der alten Bänder hautnahe Präsenz: Man sitzt in der ersten Reihe. Gulda: „Message from G.“, 3 Concerts by ­Friedrich Gulda, Ursula ­Anders (MPS) www.crescendo.de

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H Ö R E N & S E H E N

Solo

Georg Philipp Telemann

Tianwa Yang

Alte Musik – neuer Esprit

Virtuose ­ pätromantik S

Alte Musik

Das in Paris ansässige sechsköpfige Ensemble Masques, das auf Initiative des kanadischen Cembalisten Olivier Fortin entstanden ist, hat sich ganz der stilgerechten Interpretation von Barockmusik verschrieben. Auf dem aktuellen Album, das bei Alpha Classics erscheint, widmen sich die Musiker ausschließlich Kompositionen von Georg Philipp Telemann, dessen Todestag sich im nächsten Jahr bereits zum 250. Mal jährt. Die sechs Musiker lassen die Kluft der Jahrhunderte jedoch beherzt links liegen und erwecken in drei Ouvertüre-Suiten und dem Concerto Polonois in G-Dur aus Telemanns reichem Œuvre mit viel Spielfreude die übersprudelnde kreative Schöpferkraft des Komponisten im Hier und Jetzt zum Leben. Durch die historisch intelligent durchdachte musikalische Umsetzung der vier Werke mit filigranen Phrasierungen und einer differenzierten Klangsprache wird die Aufnahme zu einem gelungenen barocken Ohrenschmaus. KK Foto: Friedrun Reinhold

Schon länger zählt Tianwa Yang zu den vielversprechendsten jungen Geigerinnen der Gegenwart. Ihr jüngstes Album bestätigt diesen Ruf fulminant und ist weit mehr als ein Geheimtipp. Mit der Symphonie espagnole von Édouard Lalo und dem Violinkonzert Nr. 1 von Joan Manén vereint sie darauf zwei Werke, die sich in ihrer Brillanz und fetzenden Rhythmik schier überbieten. Aus der Kombination der beiden Schmuckstücke entsteht auf dem Album ein überzeugendes Konzept, reich an musikalischem Hintersinn und hoch emotionaler Sinnlichkeit. Verspielt, tänzelnd und mit Esprit kommen die beiden spätromantischen Werke daher, werden von Yang virtuos und mit glühend warmem Farbton zum Leben erweckt und im Zusammenspiel mit dem Barcelona Symphony Orchestra und dem National Orchestra of Catalonia (Leitung Darrell Ang) schmissig und elegant inszeniert. Kein Geheimtipp also, vielmehr ein großer Wurf. DW

„Édouard Lalo: Symphonie espagnole, Joan Manén: Concierto espagñol“, Tianwa Yang, Barcelona Symphony Orchestra, Darrell Ang (Naxos) Track 9 auf der crescendo Abo-CD: Scherzando. Allegro molto aus der Symphonie espagnole, op. 21 von Lalo

Georg Philipp Telemann: „Le Théâtre Musical de Telemann“, Ensemble Masques, Olivier Fortin (Alpha) Track 3 auf der crescendo Abo-CD: Son Attaque de Moulins à vent aus der Ouverture-Suite G-Dur

W. A. Mozart

Des Königs Zauberflöte Enoch zu Guttenberg „Zu Guttenbergs ‚Zauberflöteʻ setzt neue Standards“ Süddeutsche Zeitung

Der Film

Oper erstmalig in Jetzt in ausgewählten Kinos

www.des-koenigs-zauberfloete.de

und HFR

deskoenigszauberfloete.film


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Buch William Claxton

Eine große Reise Im Jahr 1960 verbrachten Fotograf William Claxton und Musikexperte Joachim E. Behrendt sieben Wochen in den Vereinigten Staaten und begaben sich an die authentisch­s­ ten Stätten des Jazz. Sie besuchten nicht nur die wichtigsten Konzertsäle in Memphis, New Orleans, New York oder Hollywood, sondern recherchierten auch abseits der berühmten Hallen, sie spazierten in Seitenstraßen, U-Bahnhöfen und an ganz besondere Orte, um die Spuren ihrer Leidenschaft zu dokumentieren. Das wirklich schöne an diesem Zeitdokument aber ist die Tatsache, dass man – je mehr man durch die Seiten blättert und in den Texten schmökert – auch die beiden jungen Männer immer besser kennenlernt, es ist sozusagen ein Spiegelbild der Zeit der 60er-Jahre, ein Aufeinandertreffen zwischem einem Deutschen und einem Amerikaner, die sich zuvor nur vom Telefon her kannten und später dicke Freunde wurden. Was sie verband, war die Leidenschaft für die Musik und die alte Schule des Journalismus, mit Linse und Block in die Tiefen vorzudringen und alles selbst zu erleben. Das Ergebnis sind 600 Seiten Jazz für das Auge. RK

Joachim Behrendt, William Claxton: „Jazz Life“ (Taschen Verlag)

Jazz Aziza

Die Arbeit im Studio hat etwas Zweischneidiges. Einerseits lässt sich vieles korrigieren, angleichen, perfektionieren, sodass am Ende oft ein akustisch ausgefeiltes Produkt steht. Demgegenüber bleiben Spontaneität, Mut oder auch Entdeckergeist zugunsten der Ästhetik gerne auf der Strecke. Schon deshalb ist Aziza etwas Besonderes. Denn dieses Quartett spielt mit einer Lust zum Risiko an der maximalen Intensitätsmarke entlang, wie man es ohne Publikum als Katalysator der Emotionen selten erlebt. Darüber hinaus handelt es sich um eine Supergroup der Szene mit dem Bassisten Dave Holland als Zentrum, dem Drummer Eric Harland als polyrhythmischem Gegenüber, dem Gitarristen Lionel Loueke als afrikanesk groovendem Akzentgeber und dem Saxofonisten Chris Potter als Meister exquisiter, exaltierter Tonsalven. Das Aziza Quartet dokumentiert mit dieser Mixtur improvisierenden Gestaltungsspaß, der aufregender kaum noch klingen könnte. RD

Dave Holland, Chris Potter, Lionel Loueke, Eric Harland: „Aziza“ (Dare2)

Foto: Roland Godefroy

Aufregend!

Nina Simone

Überfliegerin Eunice Kathleen Waymon war überdurchschnittlich begabt. Das Mädel liebte Klavier, übte Stunden am Tag, wurde zum Studium an der New Yorker Juilliard School zugelassen. Doch das Land war noch nicht bereit für eine schwarze klassische Konzertpianistin, der Zugang zum Curtis Institute in Philadelphia wurde ihr verweigert. Und so wurde aus ihr Nina Simone, die zunächst in Bars, dann auf großen Bühnen spielte, durch Zufall das Singen anfing, zu einer wichtigen Stimme der Bürgerrechtsbewegung avancierte, im Alter gefeiert wurde, aber auch mit Depressionen kämpfte. „What Happened, Miss Simone?“, eine Produktion des Serienkanals Netflix, folgt fast zwei Stunden lang – feinfühlend als Montage von Musik und Interviews gebaut – dem Leben der Künstlerin, zeichnet zugleich ein Bild eines Amerika in Bewegung und wurde 2016 für Oscar und Grammy nominiert. Als DVD, Blu-Ray und CD kann man die Doku nun auch ohne Abo sehen. Bitter, bewegend, faszinierend. RD

„What Happened, Miss Simone? Her Story, Her Voice“. A Film by Liz Garbus (Universal)

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H Ö R E N & S E H E N

DIE CHRISTOPH-SCHLÜREN-KOLUMNE

Unerhörtes & neu Entdecktes

DAS AUFNAHME-TALENT Über das Vermächtnis des Richard Itter

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ichard Itter (1928–2014) ist ein legendärer Name in 2002) sind unter Leitung von Meredith Davies das Lied des Echnader britischen Tonträgerszene. Er begann Ende der ton mit Janet Price und das Magnum Opus The Water and the Fire 1950er-Jahre in einem an seine Wohnung angebauten von 1961 zu hören – eine faszinierende Begegnung mit einem Studio, Aufnahmen mit unbekannter und unter- Meister der freitonalen Gesangspflege; von Lennox Berkeley gibt es schätzter britischer Musik zu machen, und gründete mit dem Stabat Mater und dem späten Magnificat zentrale Werke, das Label Lyrita, dessen künstlerische Geschicke er ein halbes Jahr- teils unter Leitung des Komponisten; und endlich Peter Racine Frihundert lang steuerte. Durch eine Vereinbarung mit Decca wurde es ckers überwältigende Vision of Judgement, gekoppelt mit der späihm möglich, mit erstklassiger Tontechnik und -technikern die bes- ten 5. Sinfonie mit Orgelsolo unter Colin Davis – Fricker galt in den 1950er-Jahren als großer Hoffnungsten englischen Orchester und führenträger der freitonalen englischen den Dirigenten wie Adrian Boult, NorEIN SPEKTRUM DER BRITISCHEN MUSIK, Musik und ist unbedingt zur Kenntman Del Mar oder Vernon Handley nis zu nehmen. aufzunehmen. Seinem Engagement DAS SELBST ENGAGIERTESTE KENNER Während noch keine Kammerwar es zu verdanken, dass KomponisNIE ERWARTET HABEN DÜRFTEN musik in der Itter Collection erschieten wie John Foulds, Edmund Rubbra, nen ist, nimmt selbstverständlich das Ernest John Moeran, Arnold Bax, Alan Orchester zentralen Raum ein: Hier Rawsthorne, Gerald Finzi, George Lloyd, Daniel Jones, Havergal Brian, John Ireland, Arthur Bliss oder kann man die pointillistischen Dodekafonisten Humphrey Searle Alun Hoddinott mit ihren Orchesterwerken endlich gebührend und Iain Hamilton studieren, den kunstreichen Eklektiker William wahrgenommen wurden. 2006 wurde Lyrita Teil des Wyastone Wordsworth und endlich den innigen Schwanengesang, die wunEstate, der auch das Label Nimbus übernahm, und der gesamte his- dervoll konzentrierte 2. Sinfonie des als Lehrer von Bliss, Cooke torische Katalog wurde wiederveröffentlicht. Nach Itters Tod hat oder Bernard Stevens bekannten Cyril Rootham (1875–1938) man sich nun seines privaten Archivs angenommen, für welches er bewundern. Hinreißend die Alben mit fesselnden Sinfonien des ab Anfang der 1950er-Jahre Liveübertragungen der BBC in bester Hindemith-Schülers Arnold Cooke (Nr. 4 & 5) und des immer mehr Qualität mitschnitt, und veröffentlicht von den beim Sender längst sich Sibelius annähernden, fast improvisatorisch wild aufblühenden gelöschten Aufnahmen von ca. 1.500 Werken eine Auswahl in der Arthur Butterworth (Nr. 1, 2 & 4). Hinzu kommen drei sehr reizvolle gemischte Alben: Violin„Itter Broadcast Collection“. Damit tut sich ein Schattenspektrum der britischen Musik auf, das selbst engagierteste Kenner, Sammler konzerte von Arthur Benjamin, Ernest John Moeran (mit Alfredo Campoli) und Arnold Bax (mit André Gertler); das Boyd Neel und Liebhaber nie erwartet haben dürften. Die bisher knapp 20 Alben umspannen ein weites Spektrum. Orchestra mit Streicherwerken von Arthur Benjamin, Bernard SteSo ist die Oper mit einer 1956er-Studioaufnahme von Vaughan vens, Andrzej Panufnik und Arnold Bax, worunter Stevens’ herrliWilliams’ Vierakter Sir John in Love, dem narrativ unterhaltsamen che Sinfonietta als eines der schönsten Werke der 1940er-Jahre The Lodger von Phyllis Tate (1911–1987) und vor allem der wirklich besonders herausragt; und schließlich eine 4-CD-Hommage an den umwerfenden Burleske Jolly Roger von Walter Leigh vertreten – legendären russischen Dirigenten Nikolai Malko (mit Alexander Letzterer, ein Hindemith-Schüler, war 1936 von den Deutschen Gauk Begründer der russischen Dirigentenschule) mit Haydns 83. mit einer Mendelssohn-Ersatzmusik zu Shakespeares Sommer- und Bruckners 7. Sinfonie, viel Russischem und einer gigantischen nachtstraum beauftragt worden und fiel 1942 im Kriegseinsatz. Kodály-Rarität: dem 70-minütigen Singspiel Die Spinnstube in Sein humoristischer Jolly Roger bereitet zeitloses Vergnügen. einer autoritativen Darbietung. Die Aufbereitung der gesamten EdiNatürlich ist in England auch die oratorische Musik gewichtig mit tion ist vorbildlich, sowohl hinsichtlich der umfassend informierenvon der Partie: Granville Bantock epischer Omar Khay’yám unter den, meist von Paul Conway verfassten Booklettexte als auch der Norman Del Mar; Arthur Bliss selbst dirigierend mit seinen hoch durchgehend erstaunlichen Klangqualität. Hier wird Musikgedramatischen Beatitudes von 1961; von Anthony Milner (1925– schichte lebendig. ■ 77


A K U S T I K

Die Probanden des Forschungsprojekts für Menschen mit Bewegungseinschränkungen

Die Mozart-Arznei Wer sich zu Frau Prof. Dr. Renée Lampe in die Katakomben des Münchner Klinikums rechts der Isar wagt, findet sich unvermittelt in einem spektakulären Kuriositätenkabinett: Die Requisitenkammer für einen neuen Star-Wars-Film? Ein Ersatzteillager für modebewusste Androiden? Überall liegen Handschuhe mit Drähten und Kabeln, die wie avantgardistische Roboterhände wirken. Daneben farbig leuchtende, transformierte E-Pianos, eine mit Sensoren gespickte Jacke und eine Art futuristischer Körperscanner. Seit einigen Jahren hat sich Prof. Lampe, die ursprünglich Orthopädin ist und nun die Markus Würth Stiftungsprofessur innehat, einem verdienstvollen Ziel verschrieben: Sie möchte auf vielfältige Weise die motorischen Fähigkeiten von Menschen mit Bewegungseinschränkungen verbessern, insbesondere von Kindern mit sogenannter „infantiler Cerebralparese“ (ICP). Menschen mit ICP erlitten vor, bei oder kurz nach der Geburt Hirnschädigungen, etwa durch eine Infektion der Mutter während der Schwangerschaft, durch Sauerstoffmangel oder durch Frühgeburt, und leiden infolgedessen an mehr oder weniger stark ausgeprägten Bewegungsstörungen: etwa Muskelverkrampfungen, unkontrollierten Bewegungen von Hän78

den und Füßen oder Koordinationsschwierigkeiten. Mit zwei bis drei Betroffenen pro 1.000 Geburten ist ICP gar nicht so selten. Prof. Lampe, die selbst begeisterte Klavierspielerin ist, hatte die Idee, in einem inklusiven Projekt mittels Tasteninstrumenten die Feinmotorik von Menschen mit und ohne ICP zu schulen – und das idealerweise mit einem großen Werk der klassischen Musik. Aber wie sollte das funktionieren? Die Lösung schien simpel: Die Probanden sollten zusätzlich zur offensichtlichen akustischen Komponente sowohl optisch als auch sensorisch in ihrem Lernprozess unterstützt werden. Die Umsetzung verlangte einiges an Kreativität und technischer Tüftelei. Als Ausgangspunkt dienten sogenannte „Leuchttastenpianos“ der Marke Casio: Bei ihnen blinken jeweils die Tasten eines vorher gespeicherten Musikstücks auf, sodass der Schüler sie auch ohne Notentext erlernen kann. Da diese Instrumente leider nicht mehr in vollem Klavierumfang mit 88 Tasten produziert werden, entwickelten Lampe und ihr Team Leuchtleisten, die zerlegbar und transportabel sind und sich unkompliziert auf jedes gängige Klavier aufstecken lassen. Außerdem können diese Leisten mit unterschiedlichsten Stücken bespielt werden, rufen also www.crescendo.de

Ok tober – November 2016

Fotos: TU München; Maria Goeth

Trotz spastischer Lähmung, Wahrnehmungsstörungen oder Lernschwierigkeiten ein echtes Klavierkonzert spielen? Klingt absurd. In München tüftelte ein engagiertes Forscherteam eine originelle Technik aus, um Menschen mit und ohne Einschränkung gemeinsam an die Tasten zu bringen und sie dabei auch noch ein bisschen gesünder zu machen – mit verblüffendem Erfolg!


In wenigen Wochen erarbeiteten sich so nicht nur ein eingeschränktes Werkportfolio auf. 25 Kinder und Erwachsene mit und ohne BehinZusätzlich wurden Handschuhe entwickelt, die in derungen den vollständigen ersten Satz des Konjedem einzelnen Finger mit einem Vibrationsmozerts, legten peu à peu die Trainigshandschuhe ab tor ausgestattet sind – ähnlich den Motoren, die und luden zu einem ergreifenden Konzert in die sich üblicherweise in Handys finden. Gekoppelt Stiftung ICP München ein. Aber es kommt noch wurden sie mit einem „Lehrerhandschuh“. Spielte besser: Nicht nur hatten die Probanden eine der Lehrer nun das Musikstück vor, vibrierte es Menge Spaß beim Projekt, Prof. Lampe und ihr am entsprechenden Finger des Probanden. So Team konnten auch in verschiedenartigen Testwusste der Tasten-Neuling, welchen Finger er zu reihen nachweisen, dass sich ihre Handbewegbenutzen hatte. Außerdem war die Aktivierung Prof. Dr. Renée Lampe in lichkeit merklich verbessert hatte: Die Bewegundes entsprechenden Gliedes besonders für die ihrem Klanglabor gen wurden flüssiger, synchroner, gleichmäßiger. Kinder und Erwachsenen mit ICP, die oftmals Schwierigkeiten haben, Finger überhaupt getrennt vonei­nander zu Zudem offenbarte die Magnetresonanztomografie, dass sich der „erspüren“, sehr von Bedeutung. Die Grundlage des Handschuh- motorische Cortex, also die für Bewegungen zuständigen HirnarePrototypen bildeten transformierte, simple Golfhandschuhe, die ein ale, neu organisiert hatten. Nun bemüht sich das Team darum, dieses Schuljahr Klavierunterricht für Interessierte als festes Angebot besonders weiches Leder haben. Als letzte Hilfe kam schließlich ein kleiner Bildschirm dazu, der einer Körperbehindertenschule zu integrieren. Finanziert wurde Noten auf Notenlinien in Buchstabenform transkribiert. So wurde vor das Projekt von der Friede-Springer-Stiftung. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter von Prof. Lampe werden von der Buhl-Strohmaier allem den Menschen ohne Notenkenntnis das Lesen erleichert. Prof. Lampe lag die musikalische Qualität am Herzen, ein echtes Stiftung und der Stiftung Würth finanziert. Und sonst? Prof. Lampe schwirren schon eine Vielzahl weiteWerk hielt sie für motivierender als Kinderlieder und einfache Spielstücke. So machte sich Dirigent und Kirchenmusiker Guido Gorna rer Projekt im Kopf herum, etwa eine Jacke für Blinde, die den daran, Mozarts berühmtes erstes Klavierkonzert d-Moll für diesen Abstand zu Wänden und anderen Hindernissen durch AbstandsZweck zu arrangieren – und zwar unter akribischer Beachtung der sensoren in Kombination mit Vibrationsmotoren „fühlbar“ macht. Fähigkeiten jedes einzelnen Mitwirkenden: Von komplexeren Stim- Außerdem kann sich Lampe vorstellen, mit ihrem Klaviersystem men für gesunde Spieler bis hin zu Stimmen mit immer demselben zu Sommer-Workshops für Kinder anzubieten ... zum Beispiel in Bulgarien. Maria Goeth spielenden Einzelton für Probanden mit schweren Lähmungen.

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R Ä T S E L

GEWINNSPIEL Was verbirgt sich hinter diesem Text? So etwas haben Sie noch nicht gesehen. Da würde es Sie glatt von Ihren Sitzen hauen. Und die anderen, die würden wir vor uns her treiben. Da könnten sie nur so über die Saiten fliegen – die kleinen, zarten Fingerchen. Zwölf von uns! Das wäre ein Ding. Das wäre ein Spaß. Da könnte uns selbst ein ganzes Orchester nicht mehr in Schach halten. Schon rein physikalisch würde das nicht gehen. Aber ohne uns läuft hier nichts. Können Sie jeden fragen. Jeder Musiker wird Ihnen gern bestätigen, dass ein Orchester jederzeit auf den Dirigenten verzichten kann. Jahrhundertelang sind Orchester ohne Dirigenten ausgekommen, der Dirigent ist ja auch musikentwicklungsgeschichtlich eine Erfindung allerjüngsten Datums, also 19. Jahrhundert. Aber kann man auch auf uns verzichten? Sorry, ich glaube nicht. Andererseits ... Es ist kein Instrument, das einen zum Star macht. Wir landen nicht auf dem Titel eines Hochglanzmagazins. Es „ist das scheußlichste, plumpeste, uneleganteste Instrument, das je erfunden wurde. Ein Waldschrat von Instrument“. Es trägt eher das Prädikat Verlierer. Nein, geboren wird man zu diesem Instrument wirklich nicht. Es ist eher eine

Laune der Natur. Ein Zufall, ein Umweg, eine einzige Enttäuschung. Wir sind gezeichnet von den Schlägen, die das Leben ausgeteilt hat. Schauen Sie nur mal in unsere Gesichter. Ein typisches Schicksal ist zum Beispiel meines: dominanter Vater, Beamter, unmusisch; schwache Mutter, Flöte, musisch versponnen; ich als Kind liebe die Mutter abgöttisch; die Mutter liebt den Vater; der Vater liebt meine kleinere Schwester; mich liebte niemand – subjektiv jetzt. Aus Hass auf den Vater beschließe ich, nicht Beamter, sondern Künstler zu werden; aus Rache an der Mutter aber am größten, unhandlichsten, unsolistischsten Instrument. Aber es gibt noch Hoffnung. Denn da ist diese Frau. Eine Sopranistin. Und ich bin verliebt. Wenn sie da ist, spiele ich besonders schön. Nur blöd, dass ich sie nicht kriege. „Ich brauche immer eine Frau, die ich nicht kriege. Aber so wenig, wie ich sie kriege, brauche ich auch wieder keine.“ Heute Abend steht ein Giulini-Gastkonzert auf dem Programm. Da will ich mein Leben ändern und spektakulär „Sarah“ schreien. ■

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ERLEBEN Die wichtigsten Termine und Veranstaltungen im Oktober und November im Überblick (ab Seite 82). Adventsingen in der Salzburger Felsenreitschule (Seite 88). | Der Kulturherbst in Linz (Seite 90)

25. Oktober 2016 bis 27. Februar 2017, München

FRIEDRICH WILHELM MURNAU. EINE HOMMAGE „Er war einer der besten Männer, die Deutschland nach Hollywood entsandt hat“, sagte Charlie Chaplin, als er vom Tod Friedrich Wilhelm Mur­ naus erfuhr. 42-jährig war der 1888 unter dem Namen Plumpe in Bielefeld geborene Filmregisseur nach einem Autounfall in Santa Barbara gestorben. 21 Filme hatte er gedreht und mit Meisterwerken wie Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens, Faust und Der letzte Mann Filmgeschichte geschrieben. Die Premiere seines letzten, auf den Polynesischen Inseln gedrehten Films Tabu, der mit seinen Landschaftsaufnahmen eine neue Etappe in seinem Schaffen hätte einleiten können, erlebte er nicht mehr. „Wenn einmal Jahrzehnte vergangen sein werden, wird man wissen, dass hier ein Pionier mitten aus dem Schaffen abtrat, dem der Film die eigentliche Basis verdankt, sowohl in künstlerischer wie in technischer Beziehung“, erklärte Fritz Lang auf einer Gedenkfeier an Mur­ naus Grab. Kuratiert von Karin Althaus, bringt das Münchner Lenbachhaus vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem Phänomen Expressionismus dem Meister expressionistischer Filmkunst, der Kunstgeschichte studiert und als Regieassistent bei Max Reinhardt begonnen hat, eine Hommage dar. Filmemacher wie Alexander Kluge, Ulrike Ottinger, Narges Kalhor oder Luc Lagier tragen Filmessays bei. Und das Filmmuseum München zeigt eine umfangreiche Retrospektive.

Foto: Deutsche Kinemathek Berlin

München, Lenbachhaus, 25.10.16 bis 27.2.17, www.lenbachhaus.de

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E R L E B E N

Oktober / November 2016

DIE WICHTIGSTEN VERANSTALTUNGEN AUF EINEN BLICK Ihr persönlicher Navigator für Premieren, Konzerte und Festivals 27. Oktober bis 6. November, Kassel

14.10. WIESBADEN GROSSES HAUS Die Zauberflöte / W. A. Mozart 15.10. BADEN (A) STADTTHEATER Der Graf von Luxemburg / F. Léhar 15.10. CHEMNITZ THEATER Das scharlachrote Siegel / N. Knighton, F. Wildhorn 15.10. DARMSTADT GROSSES HAUS Evita / A. Lloyd Webber 15.10. ERFURT GROSSES HAUS West Side Story / L. Bernstein 15.10. FLENSBURG STADTTHEATER Anna Karenina / K. Torwesten 15.10. GRAZ (A) OPERNHAUS Chess Das Musical / B. Andersson, T. Rice, B. Ulvaeus 15.10. KARLSRUHE GROSSES HAUS Der Liebestrank / G. Donizetti 15.10. MAINZ OPER La Bohème / G. Puccini 15.10. WIEN (A) VOLKSOPER Hoffmanns Erzählungen / J. Offenbach 16.10. FRANKFURT OPERNHAUS Martha oder der Markt zu Richmond / F. von Flotow 16.10. LUZERN (CH) THEATER Rigoletto / G. Verdi 21.10. DESSAU GROSSES HAUS Schneewittchen und die sieben Zwerge / Tomasz Kajdanski 22.10. BASEL (CH) GROSSE BÜHNE La forza del destino / G. Verdi 22.10. BREMEN THEATER AM GOETHEPLATZ Der Babier von Sevilla / G. Rossini 22.10. KÖLN STAATENHAUS Weiße Rose / U. Zimmermann 22.10. LEIPZIG OPERNHAUS Turandot / G. Puccini 23.10. BERLIN STAATSOPER IM SCHILLERTHEATER Elektra / R. Strauss 23.10. MÜNCHEN STAATSOPER La Favorite / G. Donizetti 26.10. LUZERN (CH) THEATER Hänsel und Gretel / E. Humperdinck 27.10. CHEMNITZ OPERNHAUS Ente, Tod und Tulpe / M. Radosin, P. Nitschke

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Foto: Egidio Santos

PREMIEREN

KASSELER ­ MUSIKTAGE

Pohjonen Kimmo

Zum Staunen laden die Kasseler Musiktage ein. Sie präsentieren Ausnahmekünstler wie den finnischen Akkordeonisten Kimmo Pohjonen, der mit seinem Instrument außergewöhnliche Klangwelten erobert. Mit dem Proton String Quartet spielt Pohjonen seine Suite Uniko, die er, inspiriert von der Idee des Traums, mit seinem Musikerkollegen Samuli Kosminen komponierte. Pohjonen fand lange Zeit keinen inneren Zugang zu seinem Instrument. Erst als er sich entschloss, es auseinanderzubauen und technisch zu verändern, öffnete sich ihm eine Klangwelt, in der er sein künstlerisches Potenzial entfalten konnte. Der Film Soundbreaker von Kimmo Koskelo vermittelt Impressionen von der Befreiung des Musikers aus den Zwängen der Tradition, und im Gespräch mit dem Künstlerischen Leiter der Musiktage Olaf A. Schmitt erzählt Pohjonen aus seinem Musikerleben. Ein Workshop mit Pohjonen eröffnet Besuchern zudem die Möglichkeit, selbst zum Akkordeon zu greifen. Kassel, verschiedene Spielorte, 27.10. bis 6.11., www.kasseler-musiktage.de

28.10. AUGSBURG SCHWABENHALLE Tosca / G. Puccini 29.10. DARMSTADT KLEINES HAUS Così fan tutte / W. A. Mozart 29.10. DORTMUND OPERNHAUS Faust II – Erlösung! / X.P. Wang 29.10. HANNOVER OPERNHAUS Die verkaufte Braut / B. Smetana 29.10. MANNHEIM OPERNHAUS Aida / G. Verdi 30.10. BONN OPERNHAUS Lucia di Lammermoor / G. Donizetti 30.10. KÖLN STAATENHAUS Falstaff / G. Verdi 30.10. SALZBURG (A) FELSENREITSCHULE Hänsel und Gretel / E. Humperdinck 30.10. STUTTGART OPERNHAUS Faust / C. Gounod 04.11. BRAUNSCHWEIG GROSSES HAUS Sweeney Todd / S. Sondheim 05.11. DESSAU GROSSES HAUS Hänsel und Gretel / E. Humperdinck 05.11. DRESDEN SEMPEROPER Don Quixote / L. Minkus, M. de Falla 05.11. GRAZ (A) OPERNHAUS Roméo et Juliette / C.Gounod 05.11. MÜNSTER GROSSES HAUS Falstaff / G. Verdi 05.11. WEIMAR GROSSES HAUS Die Meistersinger von Nürnberg / R. Wagner 06.11. BERLIN KOMISCHE OPER Peter Pan / R. Ayres 06.11. ZÜRICH (CH) OPERNHAUS Entführung aus dem Serail / W. A. Mozart 11.11. DUISBURG THEATER Die lustigen Weiber von Windsor / O. Nicolai 11.11. WIEN (A) THEATER AN DER WIEN Macbeth / G. Verdi 12.11. LINZ MUSIKTHEATER Salome / R. Strauss 12.11. INNSBRUCK (A) GROSSES HAUS Die Hochzeit des Figaro / W. A. Mozart 13.11. BERLIN DEUTSCHE OPER Die Hugenotten / G. Meyerbeer 13.11. WIEN (A) VOLKSOPER Cendrillon / T. Malandain

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Ok tober – November 2016


19. bis 23. Oktober

RAIDING LISZT FESTIVAL RAIDING Das Festival im burgenländischen Geburtsort Liszts stelle sich am Beginn der zweiten Dekade seines Bestehens den Zukunftsaspekten von ­Liszts Musik, betonen die beiden Pianisten und Künstlerischen Leiter des Festivals, Johannes und Eduard Kutrowatz. Liszt habe der Moderne in der Musik den Weg bereitet und das „Heimweh in die Zukunft“ verkörpert. Als Reisender durch Europa lote er Grenzen aus, löse tradierte Formen auf und suche nach neuen. Besonderer Gast ist der Frauenchor Nowosibirsk. Unter der Leitung von Evgenia Alieva widmet er sich mit dem lyrischen Tenor Herbert Lippert den Werken Liszts sowie den großen russischen Komponisten Tschaikowsky, Rachmaninow, Mussorgski und Rimski-Korsakow. Raiding, Konzertsaal Raiding, www.lisztfestival.at

17. Oktober bis 1. Dezember 2016 Frankfurt am Main www.ecb-culturaldays.eu Info-Hotline: 069-1344 5555

Drei Spitzenorchester bei den EurOpa-KulturtagEn der EZB

Bis 31. Dezember

17.10. 2016

© Ben Knabe

Als „mozartisch“ bezeichnet Christian Struppeck die von Stephen Schwartz geschaffene ­Musik zu seinem Musical Schikaneder. Sie nehme das Flair des 18. Jahrhunderts auf. „Wir haben fast die gleiche Orchesterbesetzung wie bei der Uraufführung der Zauberflöte“, betont Struppeck, der der auch die Idee zu dem Stoff hatte. Inhalt der romantischen Komödie, die in Wien Weltpremiere feierte, ist die Liebesgeschichte von Eleonore und Emanuel Schikaneder, aus der die berühmte Mozart-Oper hervorging. Verkörpert wird der Schöpfer des rätselhaften Textbuches von Mark Seibert. Als Eleonore steht Milica ­Jovanovic auf der Bühne. Wien, Raimundtheater, www.musicalvienna.at

Eröffnungskonzert mit dem hr-Sinfonieorchester Leitung: Marek Janowski Alte Oper, Frankfurt

26. November

Liebhaber des Belcanto erwartet an der Oper Leipzig das Meisterwerk der Gattung. Lucia di Lammermoor ist die erfolgreichste Oper Gaetano Donizettis und zeichnet sich durch un­ übertroffene Virtuosität und Artistik aus. In ­effektvollen Liebesarien und Duetten gelingt Donizetti eine musikalisch überwältigende Darstellung von Gefühlen. Das tragische Schicksal Lucias, die zwischen den Jahrhunderte währenden Familienfehden schottischer Clans zerrieben wird, gipfelt in der Wahnsinnsarie Ardon gli incensi, bei der die Sopranistin kontrapunktisch von der Soloflöte begleitet wird. Katharina Thalbach setzt das tragische Geschehen mit Anthony Bramall am Pult in Szene. In der Titelpartie ist Anna Virovlansky zu hören. Leipzig, Opernhaus, www.oper-leipzig.de

18.11. 2016

© Jörg Sarbach

LEIPZIG „LUCIA DI LAMMERMOOR“

Charity-Konzert Paulskirche: Musiker der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen spielen Auszüge aus der 6. Stadtteil-Oper «Sehnsucht nach Isfahan», ein Projekt aus deren ›Zukunftslabor‹

23. Oktober

KRONBERG IM TAUNUS 6. INTERNATIONALES KLAVIERFEST EPPSTEIN Das Klavier seien ihre Träume, ihre Gedanken, betont die ukrainische Pianistin Anna Victoria Tyshayeva. Es eröffne ihr die Möglichkeit, durch die Musik mitzuteilen, was sie über die Welt, die Menschen und den Sinn des Lebens denke. Getragen von dem Wunsch, die Musik auch für das Publikum zum bedeutsamen Erlebnis werden zu lassen, initiierte sie das Klavierfest Eppstein. Zusammen mit der Slowakischen Sinfonietta unter Herman Engels präsentiert sie das ­K lavierkonzert a-Moll, ein Jugendwerk des skandinavischen Komponisten Edward Grieg, sowie Antonín Dvořáks Tschechische Suite. Kronberg im Taunus, Stadthalle, www.annatyshayeva.webnode.sk

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20.11. 2016

© Gert Mothe

Fotos: Schloss Elmau; Lisa und Christa Schmitt; Rene Starkl; Bundeswettbewerb Gesang Berlin; Rafaela Pröll; Thilo Beu; Renaissance Musikfestival; Anders Nilsen; Bastian Archad; Gold André

WIEN „SCHIKANEDER“

Historisches Konzert mit dem Leipziger Gewandhausorchester Leitung: Herbert Blomstedt Alte Oper, Frankfurt

83 IN ZusammeNarbeIt mIt Deutsche buNDesbaNk


E R L E B E N

23.10. Linz (A), Brucknerhaus

17. bis 20. November, Hamburg

CAPELLA DE LA TORRE 29., 30.10. Hannover, Großer Sendesaal des NDR 03.11. Berlin, Schloss Bellevue 04.11. Göttingen, Sternwarte 05.11. Berlin, Villa Elisabeth 06.11. Dresden, St. Annenkirche 12.11. Berlin, Philharmonie 25.11. Essen, Schloss Borbeck

GREATEST HITS. FESTIVAL FÜR ­ZEITGENÖSSISCHE MUSIK

CAMERON CARPENTER 05.11. Würzburg, Hochschule für Musik 15., 16.10. Wien (A), Musikverein 17.10.St. Pölten (A), Festspielhaus

MAX EMANUEL CENCIC 15.–19.10. Berlin, Staatsoper Unter den Linden 09., 11.11. Lausanne (CH), Oper 22.11. Berlin, Konzerthaus

BERTRAND CHAMAYOU 30.10. Lörach, Burghof 10.11. Rosenheim, Kultur+Kongress Zentrum

TEODOR CURRENTZIS 06., 11., 20.11. Zürich(CH), Oper

DIANA DAMRAU 13., 20.11. München, ­Nationaltheater

Foto: Autumn de Wilde

LUCAS DEBARGUE

Calder Quartet

Auszeiten für das Publikum sind gestattet. Fünf Stunden Musik stellen eine Herausforderung dar, nicht nur für die Interpreten des Calder Quartet. Der amerikanische Komponist Morton Feldman schrieb sein zweites Streichquartett gerade in der Absicht, die Begrenzungen der Musik aufzuheben. In der Dauer eines Musikstücks, die auf die Erinnerungsfähigkeit der Zuhörer zugeschnitten sei, sah Feldman eine wesentliche Begrenzung, die die Neue Musik von ihren historischen Vorläufern übernommen habe. Inspiriert vom Muster anatolischer

Knüpfteppiche, entwickelte er Strategien, um die Zuhörer durch die innere Struktur des kompositorischen Materials zu desorientieren. In seinem Streichquartett setzt er die musikalischen Mus­ter so ein, dass kein Musterkomplex in der Wiederholung identisch wiederkehrt. Neben Feldman steht mit John Cage der zweite große Pionier der Neuen Musik im Mittelpunkt der vierten Ausgabe des Fes­ tivals. Hamburg, Auf Kampnagel, 17. bis 20. 11., www.greatest-hits-hamburg.de

30., 31.10. Karlsruhe, Badische Staatskapelle 03.11. Dortmund, Kontzerhaus 06.11. München, Prinzregententheater

DIE 12 CELLISTEN DER BERLINER PHILHARMONIKER 12.11. München, Herkulessaal

JOYCE DIDONATO 24.11. Wien (A), Konzerthaus

MAXIM EMELYANYCHEV 24.10. München, Herkulessaal 30.10. Baden-Baden, Festspielhaus 24.11. Wien (A), Konzerthaus

HOLGER FALK 27.10. Kassel, Wense-Tagung 19.11. Wiesbaden, Lutherkirche

ISABELLE FAUST 24.10. Wien (A), Musikverein 27.10. Dortmund, Konzerthaus

13.11. WIESBADEN GROSSES HAUS Das Rheingold / R. Wagner 18.11. LÜBECK GROSSES HAUS Tosca / G. Puccini 19.11. AUGSBURG KONZERTSAAL DER UNIVERSITÄT Idomeneo / W. A. Mozart 19.11. BADEN (A) STADTTHEATER Peter Pan / G. Kranner, P. Singer 19.11. ERFURT GROSSES HAUS Così fan tutte / W. A. Mozart 19.11. GRAZ (A) OPERNHAUS Peer Gynt / E. Grieg 19.11. ZÜRICH (CH) OPERNHAUS Zauberer von Oz / P. Valtinoni 20.11. DARMSTADT KLEINES HAUS Peter Pan / J. M. Barrie

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20.11. FRANKFURT OPERNHAUS Eugen Onegin / P. I. Tschaikowski 25.11. BASEL (CH) GROSSE BÜHNE Ariane et Barbe-Bleue / P. Dukas

25.11. Frankfurt, Holzhausenschlösschen

MARTHA ARGERICH 19., 20.10. Luzern (CH), Konzertsaal

KÜNSTLER

BERLINER PHILHARMONIKER

ARTEMIS QUARTETT

YEFIM BRONFMAN

14.10. Laupheim, Kulturhaus Schloss Großlaupheim 20., 21.10. Wien (AT), Konzerthaus 23.11. München, ­Prinzregententheater 24.11. Berlin, Philharmonie

14., 15.10. Berlin, Philharmonie 26., 27., 28.10. Berlin, Philharmonie 09., 10.11. Berlin, Philharmonie

KHATIA BUNIATISHVILI 15.10. Lugano (CH), LAC 18.10. Innsbruck (A), Congress Saal 19., 20.10. Salzburg (A), Großes Festspielhaus

JUAN DIEGO FLÓREZ 13., 17., 20., 23.11. Berlin, Deutsche Oper

VILDE FRANG 13.11. München, Philharmonie

FREIBURGER BAROCKORCHESTER 04.11. Freiburg, Konzerthaus 06.11. München, Prinzregententheater 08.11. Hamburg, Laeiszhalle 10.11. Frankfurt, Alte Oper 23.11. Stuttgart, Liederhalle 24.11. Freiburg, Konzerthaus 26.11. Essen, Philharmonie 27.11. Berlin, Philharmonie

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Ok tober – November 2016


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2. Oktober bis 11. November

HEIDELBERG – MANNHEIM – LUDWIGSHAFEN ENJOY JAZZ. 18. INTERNATIONALES FESTIVAL FÜR JAZZ UND ANDERES Mit einem Tribute-Konzert ehrt Archie Shepp zum Ausklang des Festivals Enjoy Jazz den gro­ ßen Saxofonisten John Coltrane. 90 Jahre wäre die 1967 im Alter von nur 40 Jahren verstorbene Vaterfigur der Avantgarde und des spirituellen Jazz geworden. Shepp, der 2017 ­seinen 80. Geburtstag begeht, trat mit seiner Musik in Coltranes Fußstapfen. An seiner Seite ist der Bassist Reggie Workman zu erleben, der in den 60er-Jahren mit Coltrane auf dem Podium stand, als dieser seinen Klangkosmos mit Musik aus aller Welt bereicherte. Und mit dem Pianisten Jason Moran, dem Drummer Nasheet Waits und dem Trompeter Amir El Saffar sind drei herausragende Vertreter des zeitgenössischen Jazz mit von der Partie. Heidelberg, Mannheim, Ludwigshafen, verschiedene Orte, www.enjoyjazz.de

DIALOGE GRENZE

„Namhafte Musiker laden zu musikalischen Reisen von Wittenberg hinaus in die Welt“, kündigt der Künstlerische Leiter Thomas Höhne das in der Vorwoche des Reformationstages stattfindende Musikfestival an. Eröffnet wird der Reigen der Konzerte, der an den Originalschauplätzen der Reformation stattfindet, von dem Ensemble Oni Wytars und der Sängerin Gabriella Aiello. Sie tragen Liebeslieder vor, die sich in der italienischen Renaissance großer Beliebtheit erfreuten. Trova Viva und die Sängerin Luciana Mancini stellen Lamenti großer italienischer Figuren vor. Und im Abschlusskonzert widmet sich der Tenor Marco Beasley mit seinem Ensemble der Mäzenin Isabella d’Este, die den Künstlern ihrer Zeit verbunden war. Wittenberg, verschiedene Spielorte, www.wittenberger-renaissancemusik.de

13. und 14. Oktober

FRANKFURT AM MAIN HR-SINFONIEORCHESTER Musik müsse den Hörenden durch ihre sinnlichen Reize zunächst verführen und dann zu tieferer Auseinandersetzung anregen, meint ­Michael Jarrell. Unablässiges Überarbeiten und Variieren kennzeichnen den Schaffensprozess des mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Schweizer Komponisten. Im unterirdischen Wurzelstock einer Pflanze fand er das Bild für sein Vorgehen, eine Grundstruktur zu entwickeln, aus der sodann unterschiedliche Satz- und Ausdruckscharaktere erwachsen. Für den neuen Artist in Residence des hr-Sinfonieorchesters, den Oboisten François Leleux, schrieb er das ­Solokonzert Aquateinte. Es kommt zusammen mit Mozarts berühmtem Oboenkonzert KV 324 zur Uraufführung. Beschlossen wird der von Andrés Orozco-Estrada geleitete Abend mit Richard Strauss’ Alpensinfonie. Frankfurt am Main, Alte Oper, www.alteoper.de

19. November

MÜNCHEN MÜNCHNER ORATORIENCHOR Nichts komme dem Klang und der musikalischen Dynamik eines Chores gleich, betont der amerikanische Komponist Dan Forrest. Für sein Werk In Paradisum setzt er Passagen aus Psalmen und Evangelien in Musik. Dabei bedient er sich einer Tonsprache, die an Filmmusik erin-

30.11.–04.12.2016 MOZART WOLFGANG RIHM FERRUCCIO BUSONI

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SOL GABETTA 30.11. Grünwald, A. Everding Saal

CHRISTIAN GERHAHER 11.11. Baden-Baden, Festspielhaus 15.11. Wien(A), Konzerthaus 19.11. Dortmund, Konzerthaus 23.11. Köln, Philharmonie 25.11. Schaffhausen (CH), Stadttheater

GERMAN BRASS 16.10. Emlichheim, Kirche 21.10. Merzig, Stadthalle 22.10. Radolfzell, St. Meinradskirche 16.11. Auerbach, St.-Laurentiuskirche 28.11. Hamburg, Hauptkirche St. Michaelis

HAGEN QUARTETT 17.10. München, Prinzregententheater 18.10. Luxemburg (LU), Philharmonie 22.10. Schweinfurt, Theater 23.10. Baden-Baden, Festspielhaus 25.10. Wien (A), Konzerthaus

THOMAS HENGELBROCK 4.10. Peenemünde, Kraftwerk 15.10. Lübeck, Musik und Kongresshalle 16.10. Hamburg, Laeiszhalle

IL POMO D’ORO, MAXIM EMELYANYCHEV, RICCARDO MINASI 24.10. München, Herkulessaal

Konzerte Wissenschaft Museen

Fotos: Schloss Elmau; Lisa und Christa Schmitt; Rene Starkl; Bundeswettbewerb Gesang Berlin; Rafaela Pröll; Thilo Beu; Renaissance Musikfestival; Anders Nilsen; Bastian Archad; Gold André

WITTENBERG 11. WITTENBERGER RENAISSANCE MUSIKFESTIVAL

Tickets: +43-662-87 31 54

22. bis 31. Oktober

30.10. Baden-Baden, Festspielhaus 24.11. Wien (A), Konzerthaus

KRISTJAN JÄRVI 16., 18.10. Leipzig, Gewandhaus 19.10. Dresden, Festspielhaus Hellerau, 20.10. Halle, Steintor-Varieté

JANOSKA ENSEMBLE 22.10. Linz (A), Landestheater 24.10. Wien (A), Haus der Industrie 25.10. Eisenstadt (A), Schloss Esterházy 24.11. St. Pölten (A), Festspielhaus

JANINE JANSEN 03.11. Genf (CH), Victoria Hall 10.11. Luxemburg (LU), Philharmonie

PHILIPPE JAROUSSKY 04.11. Freiburg, Konzerthaus 06.11. München, Prinzregententheater 08.11. Hamburg, Laeiszhalle 10.11. Frankfurt, Alte Oper 27.11. Villars-sur-Glâne (CH), Église paroissiale

CHRISTIANE KARG 15.10. Köln, Philharmonie 17.10. Hamburg, Laeiszhalle 26., 27., 28.10. Berlin, Philharmonie

LANG LANG 22.10. Duisburg, Philharmonie 25.10. Bad Kissingen, Regentenbau

FRANÇOIS LELEUX 14.10. Frankfurt, Alte Oper

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E R L E B E N

14. Oktober bis 22. November, Alzenau

Foto: privat

41. FRÄNKISCHE MUSIKTAGE ALZENAU

Burg Alzenau

IGOR LEVIT 15.10. Lübeck, Musik- und Kongresshalle 16.10. Hamburg, Laeiszhalle 21., 23.10. Hannover, Großer NDR-Sendesaal 28.10. Braunschweig, Stadthalle 31.10. Bremen, Die Glocke

SABINE MEYER 14.10. Berlin, Konzerthaus 22.11. Heidelberg, Stadthalle

RICCARDO MINASI 15.10. Hamburg, Staatsoper 24.10. München, Herkulessaal 30.10. Baden-Baden, Festspielhaus 24.11. Wien (A), Konzerthaus

NILS MÖNKEMEYER 14.10. Berlin, Konzerthaus 16.10. Bern (CH), Kulturkasino 21.10. Hof, Freiheitshalle 24.10. Düsseldorf, Tonhalle 30.10. Bonn, Universität 03.11. Heidelberg, Orchestersaal

EDGAR MOREAU 18., 19.10. München, Herkulessaal 30.10. Baden-Baden, Festspielhaus

REGULA MÜHLEMANN 20.10. Verbier (CH), L’heure bleue La-Chaux-de-Fonds 21.10. Genf (CH), Victoria Hall 22.10. Zürich (CH), Tonhalle 23.10. Bern (CH), Kultur Casino 27.10. Gelfingen (CH), Schloss Heidegg

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MÜNCHENER KAMMERORCHESTER 15.10. München, Harry Klein BMW Clubkonzert 17., 18.10. Aschaffenburg, Stadthalle 22.10. München, Pinakothek der Moderne 17.11. München, Prinzregententheater 20.11. Celle, Schlosstheater 27.11. Illertissen, Festsaal Kolleg 29.11. Köln, Philharmonie

SIMONE KERMES 04.11. Bern (CH), Theater

ALICE SARA OTT 30.10. München, Prinzregententheater

SOPHIE PACINI 21.10., Regensburg, Audimax 27., 28., 29.10. Brandenburg, Brandenburger Theater 30.10. Potsdam, Nikolaisaal

MURRAY PERAHIA 25.11. Luzern (CH), KKL

OLGA PERETYATKO 6., 11., 20., 26.11. Zürich (CH), Opernhaus 24.11. Berlin, Deutsche Oper

QUATUOR EBÈNE 05.11. Bonndorf, Kulturzentrum 06.11. Bulle (CH), Chapelle NotreDame de Compassion

YURY REVICH 14., 15.10. Bad Ragaz (CH), Grand Resort

Wer heute schon die Stars von morgen kennenlernen möchte, der kommt bei den Musiktagen reichlich auf seine Kosten. ­Gemäß ihres Slogans „Festival der Jungen“ präsentieren sie die internationale Elite junger Musiker. Über 50 Instrumentalisten aus 19 Ländern werden erwartet. Im Rittersaal der Burg gas­ tieren Ziyu He und Dmitry Masleev. Der erst 17-jährige chinesische Geiger ­Ziyu He konnte 2014 den Eurovision Young Musicians Wettbewerb für sich entscheiden, ist Gewinner des internationalen Menuhin Competition London und des 12. Internationalen Mozartwettbewerbs Salzburg 2016. Für sein Programm wählt er Werke von Mozart, Brahms, Saint-Saëns sowie das Stück Hora Bessarabia, das Roxanna Panufnik für die Menuhin Competition komponierte. Dmitry Masleev aus Sibirien ist Gewinner des 15. Internationalen Tschaikowski-Wettbewerbs 2015, bei dem er nicht nur die Jury, sondern auch Publikum und Medien mit seiner „virtuosen Brillanz“ begeisterte. Als Solis­tin der Jungen Philharmonie Frankfurt RheinMain ist die französische Trompeterin Lucienne Renaudin Vary zu erleben. Ein Zusammenwirken vieler junger Musiker ermöglicht das Orches­terprojekt Music Campus Baroque Orchestra. Auf Originalklanginstrumenten und unterstützt von einem erlesenen Solistenquartett, bringt es unter Gerhard Jenemann Beethovens Missa Solemnis zur Aufführung. Den Chorpart übernimmt eine neu ins Leben gerufene Akademie für Vokalensemble gemeinsam mit dem Süddeutschen Kammerchor. Alzenau, verschiedene Spielorte, 14.10. bis 22.11., www.fraenkische-musiktage.de

nert. Der Münchner Oratorienchor bringt das Werk, das mit Fortissimo-Akkorden beginnt und am Ende in der Stille verklingt, mit der Salzburger Philharmonie sowie Gesangssolisten zur deutschen Erstaufführung. Zuvor widmet er sich Mozarts unvollendet gebliebenem Requiem. „Mit unterschiedlichen musikalischen Mitteln greifen beide Kompositionen vielfach überlieferte Texte auf, die sowohl die menschliche Furcht vor dem Ende als auch die Sehnsucht dokumentieren, einen hoffnungsvollen Blick in das ‚Nachher‘ werfen zu können“, hebt André Gold, der Künstlerische Leiter des Münchner Oratorienchors, die Beziehung der beiden Werke hervor. München, Herkulessaal, www.muenchneroratorienchor.de

28. November

BERLIN FINALKONZERT DES 45. BUNDESWETTBEWERBS GESANG BERLIN FÜR OPER/OPERETTE/KONZERT Stimmlich, musikalisch und darstellerisch überdurchschnittliche Begabungen aufzufinden, ist das Ziel des 1966 gegründeten und seit 1979 jährlich ausgeschriebenen Bundeswettbewerbs Gesang. Die Anforderungen sind hoch. Das Repertoire, das die Teilnehmer einstudieren müssen, umfasst sechs Arien oder Soloszenen aus Oper und Operette, drei Oratorien-, Kantaten- oder Konzertarien, vier Kunstlieder sowie ein zeitgenössisches Pflichtstück. Im Wettbewerb müssen alle Gesangsstücke in Originalsprache auswendig vorgetragen werden. Die Finalrunden sind öffentlich und finden bei freiem Eintritt im Konzertsaal der Universität der Künste Berlin statt. Das Finalkonzert mit der Staatskapelle Berlin, in dessen Rahmen die Preisträger bekannt gegeben werden, moderiert der sympathische und für die Kommunikation von Musik engagierte Geiger Daniel Hope. Berlin, Staatsoper im Schiller Theater, www.bwgesang.de

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19. bis 23. Oktober

SALZBURG JAZZ & THE CITY

Fotos: Schloss Elmau; Lisa und Christa Schmitt; Rene Starkl; Bundeswettbewerb Gesang Berlin; Rafaela Pröll; Thilo Beu; Renaissance Musikfestival; Anders Nilsen; Bastian Archad; Gold André

Fünf Tage lang verwandelt sich Salzburg in eine Hochburg des Jazz. Über 60 Konzerte an 30 Schauplätzen, darunter berühmte Bauten wie das Mozarteum, der Carabinieri-Saal und barocke Kirchen, bescheren atmosphärische Klang­erlebnisse. Aber auch an ungewöhnlichen Orten erwarten den Besucher Jazzklänge. Die Kavernen 1595 – die Jahreszahl nimmt Bezug auf die Entstehung –, gelegen im Innern des Mönchsbergs, sind ein prächtiges Steingewölbe, das früher als Bier- und Weinlager genutzt wurde und heute zur perfekten ­Kulisse für außergewöhnliche musikalische Momente wird. Zur Eröffnung kommt aus Frankreich das Orchestre National de Jazz, in dem sich ­regelmäßig die besten Jazzmusiker zusammenfinden. Die Pianistin Julia Hülsmann und die norwegische Sängerin Torun Eriksen (Foto) gastieren mit Vertonungen von E. E. Cummings, Shakespeare und Rumi im Marmorsaal von Schloss Mirabell. Und ebenfalls wieder Gast in ­S alzburg ist der amerikanische Gitarrist Bill Frisell, der mit der Sängerin Petra Haden seinen liebsten Filmmusiken Tribut zollt. Eine Einmaligkeit an Jazz & The City, dessen Künstlerische Leitung erstmals in den Händen von Tina Heine liegt, ist, dass der Eintritt bei allen Konzerten frei ist. Salzburg, verschiedene Spielorte, www.salzburgjazz.com

9. bis 13. November

BADEN-BADEN HERBSTFESTSPIELE Klangvolle Namen stehen auf dem Programm der Herbstfestspiele in Baden-Baden. Cecilia Bartoli verkörpert in einer szenischen Produktion der Salzburger Festspiele die Titelpartie in Bellinis Norma. Grigory Sokolov gibt einen ­K lavierabend. Anne-Sophie Mutter (Foto) gas­ tiert mit dem London Philharmonic Orchestra. Und auch die weniger spektakuläre Gattung des Liedes ist prominent besetzt. Der Bariton Christian Gerhaher singt mit seinem Studienkollegen Gerold Huber am Klavier Schuberts Winterreise. Seine Interpretation dieses Zyklus, die ihm Weltruhm verschaffte, gilt heute bereits als Klassiker, wobei Gerhaher sich dem Begriff „Interpretation“ verweigert. Ihm geht es stets darum, den Notentext des Komponisten zu erfüllen und ihn dem Publikum zu vermitteln. In dieser Demut liegt ­vermutlich der Grundstein für die Faszination von Gerhahers Lieder­ abenden. Baden-Baden, Festspielhaus, www.festspielhaus.de

06.11. Hamburg, Palais Esplanade

VALER SABADUS 05.11. Köln, Philharmonie 12.11. Hannover, Stadtkirche

FAZIL SAY 15.10. Muri (CH), Kloster 18.10. Graz (A), Congress 28.10. Offenbach, Stadthalle 29.10. Heilbronn, Festhalle 30.10. Dortmund, Konzerthaus 09.11. Fribourg (CH), Salle Equilibre 10., 11.11. Bern (CH), Kulturcasino

SALUT SALON 27.10. Bonn, Oper 03.11. Bielefeld, Rudolf-Oetker-Halle 06.11. Hannover, Theater am Aegi 10.11. Yverdon-les-Bains (CH), Théâtre Benno Besson 13., 14.11. Basel (CH), Theater Fauteuil

GRIGORY SOKOLOV 27.10. Nürnberg, Meistersingerhalle 31.10. Frankfurt, Alte Oper 09.11. Baden-Baden, Festspielhaus 11.11. Schweinfurt, Theater 19.11. Luzern (CH) KKL

MARTIN STADTFELD 21.10. Egestorf, Kirche St. Marien 25.10. Heilbronn, Konzert- und Kongresszentrum Harmonie 18.11. Waiblingen, Bürgerzentrum 20.11. Fürth, Stadttheater

27.11. Ribeck, Schloss Ribeck

ANDREAS STAIER 17.10. Genf (CH), Conservatoire de Musique

ARABELLA STEINBACHER 19.11. Nürnberg, Meistersingerhalle 24.11. Frankfurt, Alte Oper

STEFAN TEMMINGH 30.10. München, Himmelfahrtskirche 21.11. München, Milla

ALEXANDRE THARAUD 08., 09.11. Konzerthaus, Dortmund

DINA UGORSKAJA 07.11. Kassel, Ständesaal

ANNA VINNITSKAYA 28.10. Olpe, Kreishaus 12., 18.11. Köln, Philharmonie 24.11. Berlin Philharmonie

MITSUKO UCHIDA 25.11. Dortmund, Konzerthaus

JAN VOGLER 13.10. Salzburg (A), Mozarteum 24., 25.11. Frankfurt, Alte Oper

LARS VOGT 17.10. Berlin, Hochschule für Musik 10.11. Neubrandenburg, Konzertkirche

ARCADI VOLODOS 20.11. Berlin, Konzerthaus 26.11. Zürich(CH), Tonhalle

24. bis 30. Oktober und 16. bis 20. November SCHLOSS ELMAU BUCHMESSE UND JAZZTIVAL

Im Oktober steht auf Schloss Elmau die Literatur im Mittelpunkt. Direkt im Anschluss an die Frankfurter Buchmesse stellen die Literaturkritiker Felicitas von Lovenberg, Ijoma Mangold und Denis Scheck wichtige literarische Herbstnovitäten vor und führen Gespräche wie mit den Booker-Preisträgern Anne Enright und Howard Jacobson. Die irische Schriftstellerin Enright blickt in ihrem neuen Roman Rosaleens Fest in die Abgründe einer Familiengeschichte, während der britische Schriftsteller Jacobson in seinem neuen Roman Shylock fragt, was einen Juden zum Juden macht. Im November kommen im Rahmen des Jazztival wieder die Musiker nach Schloss Elmau. „Piano Summit“ lautet das Motto. Erwartet werden die jungen Pianisten Thomas Enhco, Adam Makowicz, A Bu, Jan Lundgren sowie Paul Lay, „la belle promesse du piano jazz“, wie die französische Presse jubelte. Schloss Elmau, www.schloss-elmau.de

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E R L E B E N

Das traditionelle Adventsingen im Großen Festspielhaus in Salzburg mit mehr als 150 Mitwirkenden

„GIB UNS FRIEDEN“ 70 Jahre Salzburger Adventsingen – eine Hommage an die Geburtsstunde einer außergewöhnlichen Tradition. VON JULIA HARTEL

D

er Advent ist für viele Menschen eine Zeit der Besinnung – auf sich selbst und den anderen, vielleicht auf religiöse Themen oder Traditionen. Auch beim Salzburger Adventsingen steht die Besinnlichkeit im Zentrum. Und wenn in der neuen Ausgabe wie gewohnt auf die friedvolle Botschaft des Adventsgeschehens und auf die lieb gewordene regionale Volkskultur geblickt wird, so besitzt die (Rück-)Besinnung diesmal sogar noch eine zusätzliche Dimension: die Erinnerung an die eigenen Wurzeln. Denn die Veranstaltungsreihe, die dieses Jahr an 15 Terminen vom 25. November bis 11. Dezember besucht werden kann, feiert ihr 70-jähriges Jubiläum. Ihre Entstehung hat sie dem Musikanten, Sänger und Heimatpfleger Tobi Reiser (1907–1974) aus St. Johann im Pongau zu verdanken. Er lud an einem frostigen Adventabend des Jahres 1946 erstmals Freunde und Bekannte zu einem gemeinsamen vorweihnachtlichen Singen und Musizieren ein, um in diesem intimen Rah-

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men gefallener oder vermisster Freunde und Verwandter zu gedenken. Sehnsucht nach Frieden und die Hoffnung auf eine bessere Welt prägten schon diese erste Feier, die von da an jedes Jahr wiederholt wurde. Schnell wuchs die Schar der Zuhörer. Nach diversen Umzügen in immer größere Veranstaltungsräume hielt das Adventsingen schließlich 1960 Einzug in das Große Festspielhaus in Salzburg, wo es noch heute stattfindet. Tobi Reiser wurde als Leiter nach seinem Ableben von seinem Sohn Tobias Reiser dem Jüngeren abgelöst; nach dessen Tod wiederum übernahmen 1999 Johann Köhl und Stefan Sperr die Gesamtleitung. Veranstalter ist heute das Salzburger Heimatwerk e. G. Inzwischen kommen jährlich rund 36.000 Besucher aus aller Welt nach Salzburg, um dem Adventsingen beizuwohnen, das sich über die Jahrzehnte zum größten und bedeutendsten Festival seiner Art entwickelt hat. Viele Teilnehmer sind Stammgäste, aber die einwww.crescendo.de

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Foto: Salzburger Adventsingen

Die Rahmenhandlung, die jedes Jahr neu von Johann Köhl um zigartige, feierliche Stimmung der Veranstaltung zieht auch immer das Adventsgeschehen herum entworfen wird, bewegt sich im Falle wieder neue Besucher an. Eine der Besonderheiten bildet die Zusammensetzung der der diesjährigen Ausgabe, wie gesagt, in der Entstehungsphase des Ausführenden: Schauspieler, ein zum größten Teil aus Absolventen Salzburger Adventsingens. Die Kostüme hat Hellmut Hölzl, der Universität Mozarteum bestehendes Orchester, der Salzburger Gewandmeister der Salzburger Festspiele, möglichst originalgetreu Volksliedchor und verschiedene kleinere Musikensembles wirken kreiert, um die Zuschauer in die Atmosphäre des Jahres 1946 mit teils einzeln, teils gemeinsam auf der Bühne zusammen; insgesamt hineinzunehmen. Eine vornehm gekleidete Dame und ein Mann in typisch salzburgischer Kleidung stehen an sind rund 150 Personen beteiligt. einem Dezemberabend des Jahres 1946 in den Ein sehr wichtiges Element sind hierbei SALZBURGER ADVENTSINGEN Arkadenbögen der Salzburger Altstadt und die Hirtenkinder, die ebenfalls als Akteure und Großes Festspielhaus Salzburg tauschen Lebenserinnerungen und Sorgen aus. Musiker auftreten. Für sie gab es aus Anlass des 25. November bis 11. Dezember Rundum sind die Spuren des Krieges noch Jubiläumsjahres bereits Anfang September ein Informationen & Kartenservice: deutlich zu erkennen. Es herrscht eine dramaganz besonderes Ereignis: ein Generationenwww.salzburgeradventsingen.at tische Lebensmittelknappheit, über 56.000 treffen der „Hiatabuam und Hiatamadln“ auf Menschen, sogenannte „Displaced Persons“, der Loferer Alm. 50 ehemalige Hirtenkinder trafen hier mit den 19 aktuellen jungen Mitwirkenden zusammen. sind in Notunterkünften untergebracht. Trotzdem feiert man manAuf diese Weise wurde ein intensiver Austausch zwischen Jung und cherorts launige „Heimkehrer-Bälle“. Doch den beiden GesprächsAlt ermöglicht, der Johann Köhl erklärtermaßen ein großes Anlie- partnern ist mehr nach andächtiger Stille zumute, sie möchten nicht gen ist. Ebenfalls seit dieser Zeit wird übrigens auch intensiv geprobt heimgekehrter Freunde und eigener Söhne gedenken. Erinnerun– wobei die erste Gesamtprobe wie üblich sogar schon vor den Som- gen an alte Adventbräuche, Lieder und Krippenspiele aus ihrer Kindheit werden in ihnen wach – sie entwickeln daraus die Idee merferien stattfand. Die Musik stammt dieses Jahr von Klemens Vereno, außerdem zum ersten Adventsingen. Beim Jubiläumsadventsingen 2016 wervon Annette Thoma, Christian Blattl, Kerstin Schmid-Pleschonig den die Erlebnisse, auf die sie zurückschauen und durch die sie sich und Tobi Reiser; sie wird mit überlieferten Volksliedern und Weisen inspiriert fühlen, wieder zum Leben erweckt. Dass auch im neuen Stück die zentrale Botschaft immer noch sowie dem szenischen Spiel zu einem harmonischen Ganzen zusammengefügt (Textbuch: Johann Köhl, Dirigent: Herbert Böck). und immer wieder die gleiche ist wie bereits seit 70 Jahren, spiegelt Vere­no (geboren 1957 in Salzburg) hat seit 1989 bereits mehrmals sich deutlich erkennbar im Motto der neuen Produktion. Es lautet: für das Adventsingen komponiert. Regie führt seit 2012 Caroline „Gib uns Frieden“. Ein Herzenswunsch vieler Menschen – in unseren Tagen vielleicht mehr denn je. Richards. n 89


E R L E B E N

Das Musiktheater Linz am Volksgarten

KULTURHERBST IN DER ­DONAUSTADT LINZ Ob in der Altstadt oder in den Kulturbauten entlang des Donauufers, Linz i­nspiriert seine Besucher mit kultureller Strahlkraft. V O N R U T H R E N É E R E I F

L

inz überrascht seit Jahren als höchst lebendige und ten Hölzern gefertigten Skulpturen des englischen Künstlers David facettenreiche Kulturmetropole. Die Stadt hat mit dem Nash, für Solovioline, Streichorchester und Schlagzeug schrieb. Ebenfalls im Brucknerhaus, das im Herbst mit seinen SonnSlogan „Linz verändert“ die ständige Wandlung zur Identität erklärt und zeigt sich Besuchern mit wunder- tagsmatineen, dem Fortissimo-Festival und dem Festival Vocale in schöner Natur und einem einzigartigen Kulturange- seine neue Saison startet, gastiert der Tenor Julian Prégardien. Mit bot. Zu den Kulturperlen, die sich an der Donaulände aufreihen, dem Bruckner Orchester Linz unter dessen Chefdirigent Dennis gehört das Brucknerhaus. Das hochkarätige Konzerthaus mit seiner Russell Davies bringt er A Padmore Cycle zur Aufführung. „Hunger nach einer Heimat, die keine mehr ist“, nennt herausragenden Akustik verdankt seine PROGRAMMAUSWAHL der Komponist Thomas Larcher die Idee des Bekanntheit dem jährlich stattfindenden InterDie kleine Meerjungfrau (Premiere), Zyklus, der auf Kurzgeschichten und Fragmennationalen Brucknerfest. Musiktheater, 15.10. | Österreiten von Hans Aschenwald und Alois Hotschnig Im Nachklang des Festes, das in diesem chisch-Koreanische Philharmonie, basiert. Jahr Südkorea gewidmet ist, gastiert die ÖsterBrucknerhaus, 29.10. | Lange Nacht Mit dem Musiktheater am Volksgarten reichisch-Koreanische Philharmonie im Bruckder Bühnen, 5.11. | Photo + Adventure Messe, Design Center, 12., 13.11. verfügt Linz seit 2013 über das modernste nerhaus. Der Klangkörper unter Chungki Min, | Salome (Premiere), Musiktheater, Opernhaus Europas. Unter dem Motto „Neue der mit seinen Mitgliedern und seinen Konzer12.11. | Die unendliche Geschichte Welt“ sind Tradition und Aufbruch im Proten kulturelle Brücken schlägt, setzt sich aus (Premiere), Landestheater Kammergramm vereint. Gezeigt werden Klassiker wie den besten koreanischen und österreichischen spiele, 13.11. | Internationales ­Kinderfilmfestival, 18. bis 27.11. | Verdis Falstaff oder Strauss’ Salome. Als Oscar Studierenden in Mitteleuropa zusammen. Auf Weihnachts- und Adventmärkte, ab Wilde 1891 in seinem Einakter Salomé die biblidem Konzertprogramm stehen Werke von 19.11. | The Full Monty – Ganz oder sche Erzählung mit der knisternden Spannung Franz Schubert und Byung-Dong Paik, einem gar nicht (Premiere), Musiktheater, erotischen Begehrens auflud, musste es zwangsSchüler Isang Yuns, sowie die Komposition 19.11. | Hänsel und Gretel, Musik­ theater, 26.11. läufig zum Skandal kommen. Grund genug für Oskar (Towards a Brighter Hue II), die Johannes Richard Strauss, sich dieses umstrittene SchauInformation www.linztourismus.at Maria Staud, beeindruckt von den aus verkohl-

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Foto: linztourismus/zoe; linztourismus/Johann Steininger

Im Hintergrund das Ars Electronica Center

spiel als Vorlage einer seiner Oper zu erwählen. Er tauchte den hoch virtuosen Text Wildes in eine schillernd-opulente Klangsphäre, die bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat. Darüber hinaus gibt es das Tanztheaterstück Die kleine Meerjungfrau zu sehen. Das nach Motiven von Hans Christian Andersen von Alexander Zemlinsky und Franz Schreker komponierte Stück über die Tochter des Meerkönigs, die sich in einen Prinzen verliebt und sich auf der Suche nach ihm in die Welt der Menschen begibt, wird von Mei Hong Lin choreografiert. Für Freunde des Musicals steht die Adaption der britischen Filmkomödie The Full Monty – Ganz oder gar nicht von David Yazbek auf dem Programm. Sie erzählt von den alten Kumpels, die nach der Schließung des Stahlwerks und der sich ausbreitenden Depression die rettende Idee haben zu strippen und nun verbissen elegantes Entkleiden und erotische Tanzbewegungen proben. Ganz Linz macht Theater, wenn die „Lange Nacht der Bühnen“ angesagt ist. Sie findet knapp nach dem Start der Theatersaison statt, was den Theatern ermöglicht, ihre jeweils neuen Produktionen zu zeigen. Beteiligt sind neben dem Landestheater mit den Kammerspielen an der Promenade alle Bühnen der Stadt. Als zentrale Drehscheibe fungieren die historischen Redoutensäle, die sich in einem ehemaligen Ballhaus ebenfalls an der Promenade befinden. Kunstliebhaber kommen im Lentos Kunstmuseum auf ihre Kosten. Das lang gestreckte Gebäude mit seiner Glasfassade und der offenen Konstruktion, die den Blick freigibt auf den Pöstlingberg mit der Wallfahrtsbasilika, prägt das Donauufer der Innenstadt. Nachts erstrahlt es in vielen Farben. Tagsüber spiegeln sich die Silhouette der Berge und der Fluss in den Gläsern. Mit seiner beeindruckenden Sammlung von Werken des 20. und 21. Jahrhunderts, darunter Arbeiten von Gustav Klimt, Egon Schiele, Oskar Kokoschka und Emil Nolde, ist das Lentos eines der bedeutendsten Museen moderner und zeitgenössischer Kunst in Österreich. Ein neues Wahrzeichen erhielt Linz mit dem Ars Electronica Center, der künstlerischen Dimension des digitalen Zeitalters, das sich über die Räume eines

markanten Neubaus am Urfahraner Brückenkopf erstreckt. Besucher erleben hier eine interaktive Entdeckungsreise durch Kunst, Technik und Gesellschaft. Im Deep Space bietet das Center, was es sonst nirgendwo auf der Welt gibt: 16 mal 9 Meter Wand- und noch einmal 16 mal 9 Meter Bodenprojektion, Lasertracking und 3-D-Animationen. Die Projektionen der Bildwelten erfolgen auf überwältigende Weise in 8K-Auflösung. Besucher können interaktive Flüge durch das gesamte bekannte Universum erleben, auf dem Mond landen, auf den Saturnringen spazieren und die allseits bekannten Sternenbilder aus völlig neuartigen Perspektiven betrachten. Einen Querschnitt durch die Natur-, Kunst- und Kulturgeschichte Ober­ österreichs zeigt das Schlossmuseum hoch über der Stadt. Besondere Berücksichtigung finden in der Adventszeit die Kinder. Das Landestheater bringt Michael Endes Unendliche Geschichte auf die Bühne. Das Internationale Kinderfilmfestival zeigt Filme aus aller Welt. Und zur Weihnachtszeit, wenn der Christkindlmarkt auf dem Hauptplatz und der Weihnachtsmarkt im Volksgarten ihre Tore öffnen, setzt das Musiktheater Tschaikowskys Ballett Der Nussknacker und Humperdincks Oper Hänsel und Gretel aufs Programm. Feierlich leitet das Brucknerhaus mit dem Festival „Advent Weihnacht“ die Adventszeit ein. Sie gipfelt in der „Großen BrucknerhausWeihnachtsgala“, die, moderiert von den charmanten Publikumslieblingen Daniel und Harald Serafin, ein Staraufgebot an Künstlern aus Klassik, Jazz und Weltmusik präsentiert. n TIPP: KULTUR-ERLEBNIS-WOCHENENDE AB 60,50 EURO p. P. 2 Tage / 1 Nacht im 3- oder 4-Sterne Hotel inkl. Frühstücksbuffet inkl. 1-Tages-Linz-Card (freier Eintritt in alle Linzer Museen | freie Fahrt mit Bus und Straßenbahn | 10 Euro Donau-Kultur-Gutschein auf ­Ihre Konzert- oder Theaterkarte | Ermäßigung auf viele weitere t­ ouristische Angebote) Information & Buchung: Linz Tourismus, Tel. +43(0)732-70 70 20 09, tourist.info@linz.at www.linztourismus.at

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Abb.: Portmedia Verlag; Strezhnev Pavel / fotolia.com

(Deutsche Grammophon)


GESELLSCHAFT Schwerpunkt: Island Zwischen Gletschern und Geysiren: Islands spannende Musikkultur (Seite 94) Der Komponist Jón Leifs ist wohl der bekannteste isländische Tonkünstler (Seite 98) Lichtkunst und Wasserzauber: Der Künstler Ólafur Elíasson (Seite 100)

KLASSIK IN ZAHLEN

versus

(334.400 Einwohner)

103.000 km² 3,2

Einwohner je km²

1.500 45

(328.314 Einwohner)

259 km²

Fläche

Bevölkerungsdichte

1.287

Anzahl der Schafe pro 1.000 Einwohner

jährliche Anzahl von Erdbeben

3 ca.

Bielefeld

Anzahl Sinfonieorchester

Einwohner je km²

5 0–1 3

300

Anzahl der Chöre

45

29

Anzahl der Museen

13

Über

Foto: ebraxas/Fotolia.com

Island

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G E S E L L S C H A F T

Huh! ernab gelegen ist die Insel mit nur 330.000 Einwohnern, aber voller Gletscher und Lava, Vulkanen mit unaussprechlichen Namen und einer Fußballmannschaft, die bei der Europameisterschaft die Herzen eroberte. Doch Island hat sich inzwischen auch einen Ruf als Land der Musik erobert. Nicht nur im Bereich Popmusik, wenngleich die elfenhafte Björk und das interviewscheue Quartett, jetzt Trio, bekannt als Sigur Rós noch immer die international bekanntesten Musiker aus Island sind. Island wird heutzutage auch für seine lebendige Klassikszene geschätzt, zu der ein erstklassiges Sinfonieorchester, Dutzende interessanter Komponisten und ein fantastisches neues Konzerthaus, die 2011 eröffnete Harpa, gehören. Doch das war nicht immer so. Island war über Jahrhunderte eines der ärmsten Länder Europas, eine spärlich besiedelte dänische Kolonie. Es gab keine Städte und keine Höfe – keine Umgebung, die für die Entwicklung einer Tradition klassischer Musik förderlich wäre. Im Mittelalter und in der Renaissance gab es einige gregorianische Kirchenchoräle und nach der Reformation um 1550 lutherische Choräle. Die mehrstimmige Choralmusik blieb jedoch auf die zwei Lateinschulen des Landes beschränkt. Es gab nur wenige Ins­trumente, abgesehen von der regionalen „langspil“, einer traditionellen Zither aus Treibholz mit zwei bis drei Saiten, die für das 18. Jahrhundert typisch war. Im 19. Jahrhundert war die Situation besonders trostlos. Als einer der führenden Vertreter der Aufklärung in Island im Jahr 1833 starb, wurde die in seinem Besitz befindliche Orgel nach Kopenhagen zurück verschifft, da es niemanden in Island gab, der auch nur ansatzweise wusste, wie solch ein Instrument gespielt wird. Das war der absolute Tiefpunkt des Musiklebens in Island. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstarkte die Bewegung für die Unabhängigkeit von Dänemark, und die Kultivierung der Künste wurde zur Quelle nationa94

len Stolzes. Ein Land, das sich seinen Platz in der Welt sichern will, braucht mehr als nur Literatur – von dieser hatten die Isländer seit jeher reichlich. Es braucht auch Theater, Bildende Kunst und die Musik. Dennoch entwickelte sich alles nur sehr langsam. Im Jahr 1876, als Wagners Ring des Nibelungen in Bayreuth Premiere feierte, spielte in Island erstmals ein Instrumentalensemble, ein Brassquartett. Auf die erste Aufführung eines richtigen Sinfonieorchesters mussten die Isländer allerdings bis 1926 warten, als 50 Mitglieder des Hamburger Sinfonieorchesters während ihres Sommerurlaubs nach Island fuhren und dort an 15 Tagen 14 Konzerte in Reykjavík und Umgebung gaben. Der Dirigent dieser Konzerttournee der Hamburger war ein junger isländischer Eigenbrötler. Jón Leifs (1899–1968) war der erste moderne Komponist der Nation, der seine Inspiration in der kahlen Landschaft und den rau klingenden Volksliedern der einfachen Leute fand. Tvísöngur, die isländischen Zwiegesänge, immer von den Männern gesungen, waren ein langsamer Gesang in parallelen Quinten. Die Rímur werden dagegen schneller gesungen und für die Verse der alten Heldensagen eingesetzt. Eine andere wichtige Inspirationsquelle für Jón Leifs war die prägnante Literatur der alten isländischen Edda und Sagas. Leifs war eine temperamentvolle Persönlichkeit und zeitlebens in Island hoch umstritten, sowohl für seine dissonante Musik als auch für seinen energischen Einsatz für die Rechte der Autoren, als Präsident der STEF, dem isländischen Pendant der GEMA (siehe auch Seite 98). Die Entwicklung der Musikszene in Island reflektiert jedoch auch die Lage der Insel im Atlantik, zwischen den USA und Europa gelegen. Während Komponisten wie Atli Heimir Sveinsson, ein Student von Günter Raphael Anfang der 60er Jahre am Kölner Konservatorium, Einige der aktuellen Komponisten Islands (von oben): Haukur Tómasson, Anna S. Þorvaldsdóttir und Áskell Másson www.crescendo.de

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Fotos: Fotolia; Promote Iceland;

Spätestens seit der Fußball-EM im Juni hat sich ganz Europa in die kleine Insel Island verliebt. Doch wie steht es um die Musik? Um einen Überblick zur kulturellen Situation des 330.000-Einwohner-Staates zu bekommen, baten wir Árni Heimir Ingólfsson vom Iceland Symphony Orchestra, für uns das Land einmal historisch und klangtechnisch einzuordnen.


„ISLAND WIRD HEUTZUTAGE AUCH FÜR SEINE LEBENDIGE KLASSIKSZENE GESCHÄTZT, ZU DER EIN ERSTKLASSIGES SINFONIEORCHESTER, INTERESSANTE KOMPONISTEN UND EIN FANTASTISCHES NEUES KONZERTHAUS, GEHÖREN

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G E S E L L S C H A F T

Das Iceland Symphony Orchestra im neuen Konzerthaus „Harpa“.

1.600 Sitzen trägt den Namen Eldborg (Feuerburg), benannt nach einem Vulkankrater und Referenz an das dunkelrote Holzinterieur, welches im starken Kontrast steht zum Grau der Außenwände, ganz wie das Innere und Äußere eines Vulkans. Die Berliner Philharmoniker, Jonas Kaufmann und zahlreiche Orchester und Sänger aus Deutschland und anderen Ländern Europas und Übersee wurden bisher in der Harpa begeistert gefeiert. Der Luxus eines neuen Konzerthauses, dessen Bau fast an der internationalen Finanzkrise gescheitert wäre, war zugleich der Neubeginn für das Isländische Sinfonieorchester, einem 1950 gegründeten Ensemble aus 85 Musikern. Der Umzug in die Harpa erhöhte die Besucherzahlen, aber auch das internationale Profil. Im September wurde Yan Pascal Tortelier aus Frankreich zum Chefdirigenten ernannt; Osmo Vänskä aus Finnland ist Hauptgastdirigent. Das Orchester gibt jährlich 60 Konzerte, mit internationalen Tourneen wie dem erfolgreichen Auftritt bei den Proms 2014, und Einspielungen für Labels wie Ondine, BIS und Chandos. Konzertangebote mit Christian Tetzlaff, Janine Jansen und eine Beethoven-Klavierreihe mit dem englischen Pianisten Paul Lewis sind im Gespräch. Das Schöne: Islands Tourismus erlebt ungeahnte Höhenflüge, mit einem jährlichen Zuwachs von rund 35 Prozent. Aber die Welt schaut mittlerweile auch auf Island als Land der klassischen Musik. Viele isländische Sänger und Musiker sind insbesondere an den Opern- und Konzerthäusern in Deutschland unter Vertrag. In den kommenden Monaten gibt es zahlreiche Gelegenheiten, isländische Musiker und Kompositionen zu erleben. So in der dann neu eröffneten Elbphilharmonie im Februar 2017. Mit Into Iceland bringt Esa-Pekka Salonen neue isländische Musik nach Hamburg, unter DIE ENTWICKLUNG DER MUSIKSZENE IN ISLAND anderem ein Klavierkonzert von Haukur REFLEKTIERT JEDOCH AUCH DIE LAGE DER INSEL IM ATLANTIK, Tómasson, gespielt von Islands charismatischstem Starpianisten Víkingur Ólafsson. ZWISCHEN DEN USA UND EUROPA GELEGEN Im April 2017 lädt das Los Angeles Philharmonic zum Reykjavík Festival in der Walt Disney Hall ein, mit Musik von Jón Leifs Ein wichtiger Impuls für die lebendige Musikszene war der über Sigur Rós bis Anna Þorvaldsdóttir, die als Kravis NachwuchsBau der Konzerthalle im Zentrum von Reykjavík. Bis 2011, vor komponistin bei den New York Philharmonic und einem CD-Debüt deren Eröffnung wurden Sinfoniekonzerte in einem Kinosaal in der bei Deutsche Grammophon von sich reden macht. Angesichts dieser dynamischen Entwicklung wird deutlich, Nähe der Universität aufgeführt. Das neue Konzerthaus mit der eindrucksvollen Glasfassade des dänisch-isländischen Künstlers Ólafur dass Island, aus dem musikalischen Nichts kommend, sich heute Elíasson und der Akustik der in New York beheimateten Akustik- dem internationalen Vergleich stellen kann. Für den Nachwuchs sorfirma Arup sind ein riesiger Fortschritt. Harpa beheimatet das Sin- gen die zahlreichen guten Musikschulen des Landes, das große Inte­ fonieorchester Islands und die Oper Islands; aber auch andere Gen- resse der jungen Generation an der Musik und der Austausch mit res, unter anderem Iceland Airwaves, das große, jährlich im Okto- den besten Musikhochschulen und Bildungseinrichtungen im Ausber stattfindende Pop- und Rockfestival. Der große Konzertsaal mit land. Island und seine Musik sind heute mehr als Feuer und Eis. n 96

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Foto: Baldur Kristjansson

das Echo des Darmstädter Modernismus nach Island brachten, studierte Þorkell Sigurbjörnsson in Minnesota und komponierte mehr im eklektischen, freien Stil. Neue Musik in Island ist nach wie vor eine Mischung aus Ost und West. Isländische Komponisten gehen zur Ausbildung nach Kalifornien und New York, nach Bologna und Berlin. Einige der Generation von Áskell Másson (geb. 1953), international bekannt für seine Schlagzeugkompositionen, und Haukur Tómasson (geb. 1960) haben ein internationales Publikum erreicht. Es ist aber die jüngere Generation, die ein so großes Publikum wie nie zuvor erreicht. Dies liegt zum Teil daran, dass Grenzen erodieren. In den Werken der jungen isländischen Komponisten sind ein eklektischer Stil und die Mischung von Genres auffällig. Zu nennen wären Þuríður Jónsdóttir (geb. 1967), die elek­tronische Musik mit traditionellen Instrumenten mischt, oder Anna Þorvaldsdóttir (geb. 1977), die eine Reihe von atmosphärischen Orchester- und Kammermusikstücken komponierte. Sie findet ihre Inspiration in der Natur, jedoch anders als Leifs. In ihrer Musik gibt es ein langsames und sich allmähliches Entfalten; ungebrochene Landschaft, wie ein Gletscher, der sich allmählich vorwärtsbewegt. Hugi Guðmundsson (geb. 1977) hat die Interaktion von alter und neuer Musik entdeckt, durch das imaginäre Arrangement von Liedern aus den Manuskripten des 17. und 18. Jahrhunderts und die Neufassung von Fragmenten von Händels Wassermusik in seinem Werk Handelusive. Nicht zu vergessen Daníel Bjarnason, u. a. mit seinem Werk Collider benannt nach LHC, dem größten Teilchenbeschleuniger im CERN in der Schweiz.


Nicht nur Björk!

Foto: Samaris

Die Bloggerin Kathrin Gemein über die neue Vielfalt der isländischen Avantgarde.

Wer Island sagt, muss auch Björk Woge an Interesse entgegen, da sagen. So lautet zumindest die allseine Filmmusik für Denis Vilgemeine Draufsicht auf die Popleneuves Thriller Sicario für den kultur des nordischen InselstaaOscar nominiert wurde. Neben tes. Dass dies einer brodelnden Filmmusik bringt JóhannsMusikszene, die sich ohne Proson auch Soloalben heraus – bleme mit dem Output weitaus wie im September sein Debüt größerer Nationen messen kann, bei der Deutschen Grammonicht gerecht wird, ist eigentlich phon namens „Orphée“, das sich selbst erklärend. Und doch ist lose auf die Orpheus-MythoBjörk ein gutes Beispiel für die logie stützt. Jóhannsson spielte musikalische Herangehensweise in der Vergangenheit in Postin ihrem Heimatland: So ist die Rock- und Elektro-Formationen Musikerin in Punk und Pop zu und vermengt seit seinem SoloHause, verbindet in ihrer Musik album „Englabörn“ von 2012 Folk und elektronische Musik, Neue Musik und Minimal, elekDas isländische Trip-Hop-Trio „Samaris“ Jazz, Indie und Klassik. Und alles tronische, Ambient- und Droneklingt wie aus einem Guss und dennoch auf eine eigentümliche Musik. Auf „Orphée“ hat Jóhannsson diese Herangehensweise Art verschroben. perfektioniert und zieht den Zuhörer mit seiner Komposition zwiIn Island werden Genregrenzen grundsätzlich fließender schen Streicher- und elektronischen Flächen, Klavier- und Orgelwahrgenommen als beispielsweise in Deutschland. Während hier klängen in einen Sog. nach wie vor zwischen U- und E-Kultur unterschieden wird und Doch das sind nur zwei Beispiele für den spielerischen und einzelne Musikszenen eher unter sich bleiben, fand in Island schon unbefangenen Umgang mit verschiedenen Musikrichtungen und immer eine Vermischung statt. In einem Land mit rund 330.000 Szenen. Stephan Stephensen, bekannt geworden als GründungsEinwohnern, von denen knapp die Hälfte in der Hauptstadt Rey- mitglied der Elektro-Pioniere GusGus, verbindet mit seinem Prokjavík lebt, sind die Berührungspunkte unter Musikern stärker – jekt President Bongo leichtfüßig Techno mit, nun ja, Bongos, und damit auch die Synergieeffekte. Das Resultat: Einzelne Szenen Krautrock mit Ambient. Das überaus junge Trio Samaris bringt konkurrieren nicht, sondern kooperieren und bereichern sich. Trip-Hop, pluckernde Elektronica und Pop zu einer vertrackten In den Line-ups internationaler Pop- und Rockfestivals Melange zusammen – unterstützt von Klarinette und eindringtauchte in diesem Jahr ein Name besonders häufig auf: Kiasmos, lichem, teilweise isländischem Gesang. Und Sindri Már Sigfúsein Duo, das sich aus Ólafur Arnalds and Janus Rasmussen son, besser bekannt als Sin Fang, bewegt sich auf seinem vierzusammensetzt und mit seinen experimentellen Minimal-Techno- ten Album „Spaceland“ – passend zum Titel – mehr oder min, Flächen begeistert (siehe auch Seite 102). Interessant ist ein Blick der schwerelos zwischen Pop, R-’n -B-Strukturen und Elektronik. auf die musikalische Biografie der beiden Bandmitglieder. Arnalds Dennoch hat seine analoge Singersongwriter- und Indie-Sozialispielte in seiner Jugend in Punk- und Hardcore-Bands, wandte sation, die sich besonders auf seinen Vorgängeralben und mit seisich dann der Klassik zu und veröffentlicht Alben, in denen sich ner Band Seabear bemerkbar machte, seine Spuren hinterlassen. Neue Musik, Indie-Strukturen und elektronische Flächen die Dass auf diesen Alben bekannte Musiker wie Jónsi (Sigur Rós), Hand reichen. Dieses Tänzeln auf Genregrenzen klingt nicht nur Sóley oder auch Jófríður Ákadóttir (Pascal Pinon) dabei sind, äußerst spannend, sondern senkt auch die Hemmschwelle seitens sollte aufgrund der Kollaborationsfreudigkeit der Isländer eigentder Zuhörer – in verschiedene Richtungen. Indie-Fans bekommen lich kaum überraschen. plötzlich ein Gefühl für das, was sich gemeinhin Contemporary Somit: In Island ist nicht alles Björk, was glänzt. Wer neunennt, und Klassikhörer werden an elektronische Musik herange- gierig und bereit ist, Hörgewohnheiten ein wenig zu fordern, wird führt. Sein Kiasmos-Counterpart Janus Rasmussen hingegen pro- mit einigen Horizonterweiterungen belohnt. Das sei hiermit verduziert mit seiner Band Bloodgroup verschrobene Elektronika, sprochen. n die sich nicht unbedingt um Songstrukturen schert. All diese EinMehr Informationen zum Thema gibt’s flüsse atmen wiederum aus der Musik von Kiasmos. auf Kathrin Gemeins Blog: www.play-nordic.com & Dem Komponisten Jóhann Jóhannsson schlug zuletzt eine unter www.icelandmusic.is 97


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Originalgenie Island hatte einen der größten Komponisten der jüngeren Musikgeschichte: Jón Leifs (1899–1968), dem es zu Lebzeiten aber nicht einmal vergönnt war, in seiner eigenen Heimat jene Würdigung zu finden, die seinem Schaffen jetzt nach und nach weltweit zuteil wird. VON CHRISTOPH SCHLÜREN

Foto: Wikimedia

„LEIFS’ TONSPRACHE IST GLASKLAR, SCHLAGEND EINFACH, DIREKT UND SCHROFF, WIE IN STEIN GEHAUEN“

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Foto: Willem van de Poll – Nationaal Archief

ón Leifs war einer der radikal modernsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, und doch ist seine Musik für jeden Hörer unmittelbar zugänglich und begeistert das konsternierte Publikum, wo auch immer sie erklingt. Seine Modernität ist zeitlos und steht souverän über den verwickelten Komplexitäten der internationalen „Avantgarde“ im Gefolge des abstrakten Serialismus und der effektheischenden Fluxus-Bewegung. Jón Leifs’ Tonsprache ist glasklar, schlagend einfach, direkt und schroff, wie in Stein gehauen. Eigentlich kann man sich keine nordischere Musik vorstellen. Seinen Reifestil erreichte er Ende der 50er-Jahre nach einer schweren Krise, die mit seiner Isolation und dem Scheitern seiner zweiten Ehe zusammenhing. In diesen späten Werken beruht seine Musik auf statuarisch schreitend sich auftürmenden, meist strahlend konsonanten Klängen (überwiegend reine Dreiklänge in Grundstellung und leere Quinten), die melodisch weitgehend der Ganztonleiter folgen, also jener Skala, die in schwindelerregender Geschwindigkeit die Grenzen harmonischer Fasslichkeit überschreitet. Dieses Phänomen ist – im Gegensatz zur auf halbtöniger Verdichtung basierenden Chromatik mit ihrer leidenschaftlichen Neigung zu psychologisch katastrophischer Zuspitzung, wie sie auch die Zwölftontechnik kennzeichnet – als Enharmonik bekannt. Die einzelnen Klänge neigen hier dazu, als isolierte Erscheinungen einander gegenüberzustehen – in der mächtigen Orchestration von Jón Leifs wie Felsformationen anmutend. Herausragende Werke dieser Art sind die 1961 entstandenen Naturbeschwörungen Geysir und Hekla – Erstere aus dunklem Brodeln zu gleißender Fulminanz aufsteigend und wieder verebbend, Letztere mit ungeheurer Gewalt einen Ausbruch von Islands größtem Vulkan nachzeichend. Das großartigste Werk dieser späten Phase freilich dürfte Jón Leifs’ drittes Streichquartett El Greco sein, eine Komposition von unerhörter Originalität und klanglicher, struktureller und ausdrucksmäßiger Vielfalt und glücklicherweise in einer großartigen Einspielung sämtlicher drei Quartette durch das Yggdrasil Quartet bei BIS Records verfügbar. Dieses schwedische Label hat mit einer großen Serie von Veröffentlichungen den Grundstein für Jón Leifs’ internationalen Durchbruch gelegt. Doch bis zu diesen überwältigenden Spätwerken war es ein weiter Weg. Geboren als Jón Thorleifsson in der nordwestlichen Provinz, wuchs Jón Leifs in Reykjavík auf und wurde dort am Klavier ausgebildet. Als 17-Jähriger ging er ans Leipziger Konservatorium, wo er bei Robert Teichmüller Klavier studierte. Später berichtete er über den Kulturschock und auch darüber, wie er sein erstes Orchesterkonzert erlebte: Franz Liszts Faust-Sinfonie, die ihn fassungslos zurückließ. Sein Kompositionslehrer war der gemäßigt konservative Paul Graener, und bei Hermann Scherchen erhielt er Dirigierunterricht. Dann suchte er in Berlin Ferruccio Busoni auf, der ihm riet, Mozart zu studieren und seine nationalen Wurzeln zu erforschen. Zu diesem Zeitpunkt war Jón Leifs bereits auf der Spur, die archaischen Gesänge und gezackten Tanzrhythmen altisländischer Musik mit den Errungenschaften der polyfonen abendländischen Musik zu verbinden. Werke wie die IslandOuvertüre (lange sein meistgespieltes Werk) oder das Orgelkon-

zert sind kennzeichnend für die frühe Schaffensphase, die in ihrer harschen Radikalität in Deutschland auf viel Befremden stieß. Jón Leifs gehörte nie zu einer Gruppierung, genoss also nicht die Verteidigung Gleichgesinnter in einer Zeit, als Fortschritt und Reaktion in heftigster Weise aufeinanderprallten. 1921 hatte er die jüdische Pianistin Annie Riethof geheiratet und wurde Vater zweier Töchter. Als die Familie in Rehbrücke bei Berlin lebte, machte er sich einen Namen als Dirigent. Er leitete das Leipziger Gewandhausorchester und die Hamburger Philharmoniker, die er auf eine selbst finanzierte Tournee nach Norwegen, auf die Färöer-Inseln und in seine isländische Heimat führte, wo man erstmals ein Orchester zu hören bekam, mit Bach, Mozart, Beethoven, Wagner, Svendsen und seiner eigenen Island-Ouvertüre. 1935 wurde Jón Leifs musikalischer Leiter des Isländischen Rundfunks, während seine Familie in Deutschland blieb, wohin auch er 1939 zurückkehrte. Es war eine schreckliche Zeit für die Familie, die in der ständigen Befürchtung lebte, von der Gestapo deportiert zu werden. 1944 wurde ihnen die Ausreise nach Schweden bewilligt. Die Ehe wurde geschieden, und Jón Leifs ging 1945 zurück nach Island, wo man ihn, der ohne Konzessionen versucht hatte, das Leben seiner Familie zu schützen, lange der Kollaboration mit den Nazis verdächtigte. Mit seiner 1959 geschlossenen dritten Ehe fand er die innere Ruhe, sich voll und ganz seinem Schaffen zu widmen. Immer schon ein unbeirrbarer Einzelgänger, ließ er sich von keiner Kritik und keinen Verlockungen von seinem Weg abbringen. Die Isländer verdanken ihm auch die Gründung ihres Komponistenverbands und ihrer Vereinigung zum Schutz des Urheberrechts. Erst heute beginnt man, in ihm einen der unabhängigsten und eigentümlichsten Komponisten einer Epoche zu erkennen, die wie jede Zeit ihre Stars hatte, deren Glanz nach ihrem Tode allmählich abnimmt, wodurch jene hervortreten können, die sich nicht durch gute Beziehungen und politisches Geschick im Licht der breiten Öffentlichkeit sonnen konnten. Jón Leifs’ Musik folgt weder klassischen Tonsatzregeln noch modischen Verfahrensweisen. Sie ist auch kaum kontrapunktisch in ihrer Vielstimmigkeit, sondern bevorzugt archaische Parallelführung der Stimmen. Er liebte die grausame Welt der nordischen Mythologie. Werke wie Geysir, Hekla, die gigantische Saga-Sinfonie mit ihren gewaltigen Holzcontainern im großen Schlagzeugarsenal, das monumentale Ballett-Drama Baldr, die unvollendete Oratorien-Trilogie Edda, die Streichquartette oder auch Miniaturen wie das kleine isländische A-cappella-Requiem für seine vor der schwedischen Küste beim Schwimmen ertrunkene Tochter Lív machen seinen Namen zeitlos. Der erste Musiker, der sich vorbehaltlos für sein Schaffen einsetzte, ist der amerikanische Dirigent Paul Zukofsky. Entscheidend trug der Fim Tears of Stone zu Jón Leifs’ spätem Ruhm bei, der sein Leben während der Nazi-Zeit beschreibt. n Hilmar Oddsson: „Tears of Stone“, Island, Schweden, Deutschland 1995 (DVD mit deutschen Untertiteln) „The Three String Quartets“, The Yggdrasil Quartet, Jón Leifs (BIS) Zu bestellen unter: itm@mic.is, Artikelnr. 990605A

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Neuer Blick

Der Künstler Ólafur Elíasson schaffte es von der kleinen Insel in die internationale Kunstelite und hinterlässt seiner Heimat nicht nur ein spektakuläres Konzerthaus, sondern auch ein Image für klare Linien.

Kein Fakt, aber durchaus eine Feststellung: Ólafur Elíasson revolutioniert mit seinen leuchtenden Installationen gerade die heutige Kunstwelt. Denn im Kern geht es bei seiner Kunst um „Wahrnehmung der Wahrnehmung“ – also nicht nur: Wie wirkt es auf mich? Sondern auch: Warum wirkt es so auf mich? Das Kunstwerk wird sozusagen entmythologisiert, indem es zugleich seine Machart offenbart, die Technik, die dahintersteckt. Damit erweist es sich zugleich als Teil der Wirklichkeit des Lebens, und der Betrachter wird zum lebendigen Teil des Ganzen. So geht es dem Betrachter auch, wenn man vor dem im Jahr 2011 eröffneten Konzerthaus Harpa in Islands Hauptstadt Reykjavík steht. Die Farbeffekte ändern sich zwar mit dem Betrachten des Konzerthauses, die Durchsichtigkeit offenbart aber den Blick hinter die Fassade, eine Mischung aus Wirklichkeit und Illusion. Elíasson machte schon Museen zum steinigen Flussbett (die Steine wurden dabei aus Island herbeigeschafft) oder holte eine 100

Islands bekanntester Künstler Ólafur ElÍasson, der sich vor allem mit Lichtinstallationen einen Namen machte www.crescendo.de

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Fotos: Heike Gottert; Promote Iceland; Fotolia.

Links: das Konzerthaus Harpa, oben: die skurrile Hallgrimskirche innen und außen

aus unzähligen Lampen akkumulierte Sonne in den geschlossenen Raum, in welchem die auf dem Boden liegenden Besucher ihre Schattenspiele an die Decke projizieren können. Er arbeitet dabei elementar, also mit Licht, Wasser, Dampf, Skulpturen oder Baumstämmen, die zum Beispiel aus Russland angeschwemmt an der isländischen Küste eingesammelt wurden. Auffallend an seiner Arbeit ist auch das Element der Bewegung, sei es das fließende, fallende oder dampfende Wasser, der Schwung der dynamischen Gestaltung, das Mitwirken der Betrachter. Ganz besonders liebt Elíasson die Arbeit mit Spiegeln, die daraus resultierenden optischen Täuschungen und Verzerrungen und die sich natürlich daraus ergebende aktive Einbeziehung jedes Besuchers. Dabei ist seine Kunst von einer Durchlässigkeit geprägt, die eben keine definierte Bedeutung vermitteln möchte, sondern einer seiner Kernbotschaften entspricht: dass Wahrnehmung nicht objektiv, sondern relativ ist. Es ist bezeichnend, dass Elíasson, der 1967

als Sohn isländischer Eltern in Kopenhagen geboren wurde, in seiner Jugend sowohl die bildende als auch die tänzerische bewegte Kunst intensiv pflegte. Elíasson sitzt heute übrigens nicht mehr auf der Insel, sondern lebt in Berlin, seine Werkstatt in Prenzlau beschäftigt 90 Mitarbeiter, deren kreatives Potenzial sich in Projekten bündelt, die unablässig unseren Wahrnehmungshorizont entgrenzen. Jan Schmidt-Garre, der mit Elíasson den Dokumentarfilm „Notion Motion“ drehte, hatte bei der ersten Begegnung vor allem eine spontane Empfindung: „Du stehst hier einem Genie gegenüber.“ Reykjavík plant derzeit noch weitere Landmark Buildings und setzt auch sonst auf architektonische Pointen mit klaren Linien, die auch historisch durch die Besetzung der Insel durch die Dänen (bis zur Unabhängigkeit Islands 1918 gehörte die Insel zu Norwegen und Dänemark) bedingt war. Einen Besuch lohnt vor allem auch die skurrile Hallgrimskirche, die von Weitem aussieht wie ein NASA Space Shuttle vor dem Start und deren Architektur bereits im Jahr 1929 geplant wurde. Wer sich für Konzerte im Harpa interessiert, bekommt einen kompletten Überblick am besten auf deren Website www.harpa.is. CS/RK n 101


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POSTKLASSISCH Getragen von der Liebe zu seinen Landsleuten ist der junge Künstler Ólafur Arnalds auf die Suche gegangen nach isländischen Musikern, deren Leben und Kunst etwas erzählt von Island und dem Leben dort. Das Ergebnis ist eine intime und sehr persönliche Klangwanderung über die Insel. VO N D O ROT H E A WA LC H S H ÄU S L

ie Winter sind eisig und die Sommer kurz, die Natur ist gewaltig und fast immer braust der Wind. Es gibt denkbar menschenfreundlichere Gegenden als Island. Und doch ist gerade jene Insel knapp südlich des nördlichen Polarkreises der Nährboden für eine außergewöhnlich kreative Musikszene, welche die Welt der Klassik regelmäßig überrascht und bereichert. Dort, wo sich in den Wintermonaten weniger als eine Stunde am Tag die Sonne zeigt und die erstarrten schwarzen Lavafelder von der mächtigen Kraft der Vulkane erzählen, findet sich eine auffallend hohe Dichte an jungen Künstlern, die scheinbar mühelos die stilistischen Grenzen überwinden und ebenso komplexe wie einnehmende neue Werke schaffen. Einer jener isländischen Freigeister ist der Produzent und Komponist Ólafur Arnalds, ein schlaksiger junger Mann Ende 20 mit Drei-Tage-Bart, wachen hellblauen Augen und leiser Stimme. An einem Tag Anfang Juli sitzt Arnalds im beigen Wollpullover mit Wolf-Stickerei, einer schwarzen Hose und rotkarierten Socken auf einer sanften Hügelerhebung nahe dem Meer in Selvogur. Lässt man den Blick schweifen, fällt einem die Strandarkirkja auf, eine kleine weiße Holzkirche, über ihrem Giebel kreisen die Möwen, wenige Meter weiter brandet die Gischt. Mit angenehmen 20 Grad ist es für isländische Verhältnisse ungewöhnlich warm; noch prägen die langen weißen Nächte das Leben auf der Insel, bald schon wird es wieder dunkler werden und kalt. An diesem Tag steht die dritte Etappe der „Island Songs“ auf dem Programm: einer musikalischen Hommage an Island und seine Bewohner, denen Ólafur Arnalds den ganzen Sommer gewidmet hat – sieben Wochen von Mitte Juni bis Ende Juli, in denen er mit sieben verschiedenen Musikern und Ensembles an sieben verschie102

denen Orten der Insel sieben neue Kompositionen von sich aufgenommen hat. Mit an Bord: der renommierte isländische Filmemacher Baldvin Z, ein enger Freund Arnalds, der das Projekt mit seiner Kamera begleitet hat. Die 45-minütige Fahrt zum Aufnahmeort des dritten Songs begann am frühen Nachmittag in Reykjavík. Noch kurz zogen die Häuserfassaden der isländischen Hauptstadt an den Fenstern vorbei, dann breitete sich karg und steinern die Weite der isländischen Landschaft vor den Augen aus, bald war kein Auto mehr zu sehen, kein Mensch, kein Haus, nur mehr Lavafelsen, Berge und das Meer. „Sehen Sie das?“, fragte Ólafur Arnalds und zeigte durch die Windschutzscheibe auf die mannshohen Schneestangen rechts und links der Straße. „Im Winter sind die überlebensnotwendig.“ Wer auf der größten Vulkaninsel der Erde aufwächst, erfährt die Naturgewalten in ihrer ganzen archaischen Wucht. Das prägt und umso wichtiger werden die zwischenmenschlichen und künstlerischen Dinge. In den Grund-Sound der raunenden Winde und der gurgelnden Schwefelquellen mischt sich auf Island nicht selten auch der Gesang der Inselbewohner. „Fast jeder singt hier, sehr viele spielen ein Instrument … die Musik prägt unser Leben sehr“, sagt Arnalds. Dort, wo viele Kilometer liegen zwischen den einzelnen kleinen Siedlungen, wo es monatelang kaum hell wird und selten einmal wirklich warm, schenkt die Musik mehr als ästhetischen Wohlklang. Sie stiftet Gemeinschaft, wärmt die Herzen, spendet Trost und sorgt für gute Laune. „Die Musik bringt die Menschen zusammen, sie sind über sie miteinander verbunden“, sagt Arnalds und verschränkt seine Hände. Der Musiker ist in dieser Welt voll Musik groß geworden. „Meine Mutter ist einer dieser singenden Menschen“, erzählt er und lacht, und die Musik habe schon immer als www.crescendo.de

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Foto: Mercury Classics / Marino Thorlacius

Künstler Ólafur Arnalds tourte für sein Album über die gesamte Insel und traf seine Protagonisten, mit denen er einzelne – zum Teil sehr harmonische – Songs kreierte

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Ólafur Arnalds mit seinem Partner Janus Rassmussen, mit dem er unter dem Namen „Kiasmos“ auftritt

selbstverständlicher Teil zu seinem Alltag gehört. Schon früh haben in der Iðnó Concert Hall in Reykjavík seinen Abschluss findet. Ólaer und seine Geschwister gemeinsam musiziert, er lernte Gitarre, fur Arnalds selbst spielt bei den Songs entweder Keyboard oder Schlagzeug und Klavier, später spielte er in Rockbands, dann fing Synthesizer und gleichwohl die einzelnen Stücke sehr unterschieder mit dem Komponieren an. 2007 schließlich erschien sein ers- lich daherkommen, eint sie alle ein melancholischer Grundton, der tes Soloalbum „Eulogy for Evolution“, und betrachtet man Arnalds sich, meist mit Streicherbesetzung, meditativ und soghaft entfaltet. musikalische Entwicklung bis zum heutigen Tag, so ist sie geprägt In Selvodur trifft Arnalds an diesem Tag Anfang Juli auf den von der stetigen Suche nach neuen Klängen und Ausdrucksmög- South Iceland Chamber Choir, mit dem er hier sein Stück Raddir lichkeiten. „Es macht mir Spaß, verschiedene Dinge auszuprobieren aufnimmt. In der Kirche am Meer laufen mittlerweile die Proben. und Neues zu erkunden“, sagt er selbst über seine Arbeit, die immer An den Wänden prangen goldene Sterne auf hellblauem Hinterfür Überraschungen gut ist. So kombiniert er Streichersätze mit grund, von der Decke baumelt ein antiquiert wirkender Kronleuchelektronischen Klängen, mixt Elemente aus Pop- und Rockmusik ter, im Altarraum wacht eine Marienfigur. Während Baldvin Z mit mit klassischen Themen und schafft dabei ein eindringliches, ein- der Kamera durch den Mittelgang fährt, sitzt Arnalds versunken am nehmendes und warmtönendes Gesamtbild. Bei alldem ist Arnalds Synthesizer. Bald darauf stimmen die Sänger in den Kirchenbänkein Freund von engen Genregrenzen und scheut die Einordnung ken sanft die Melodie an, dann setzen die Streicher ein und Arnalds in stilistische Schubladen ebenso wie die Festlegung auf Gattungsbegriffe. „Postklassisch“ – diesen Begriff akzepDIE STÜCKE EINT EIN MELANCHOLISCHER tiert er am ehesten, wenn die Rede von seinem Stil ist. Für die „Island-Songs“ hat Ólafur Arnalds versucht, GRUNDTON, DER SICH, MEIST MIT STREICHERdie unterschiedlichen Menschen und Orte auf seinen BESETZUNG, MEDITATIV UND SOGHAFT ENTFALTET sieben Stationen jeweils sensibel in Musik einzufangen. Getragen von der Liebe zu seinen Landsleuten, ist Ólafur Arnalds zum Geschichtensammler geworden und auf die Suche gegangen nach isländischen Musikern, deren Leben und Musik scheint gleich einem endlosen Strom dahinzufließen und Kunst etwas erzählt von Island und dem Leben dort. Das Ergebnis immer dichter und inniger zu werden, bevor sie schließlich in der ist eine intime und sehr persönliche Klangwanderung über die Insel Stille verklingt. geworden. „Meine Musik ist dabei immer nur das Medium, der Weg Im Oktober erscheint nun das entstandene Album, das die sieder Begegnung“, sagt Arnalds. ben Kompositionen Arnalds in sich vereint und zu einem berühZu seinem Projekt hat Arnalds ganz unterschiedliche Musiker renden und farbintensiven Stimmungsgemälde geworden ist. Gleich eingeladen. Da ist Ólafur Arnalds Cousine, die Organistin Dagný einem Puzzle mit sieben Teilen offenbart es das musikalische Bild Arnalds. Zusammen mit ihrer Familie lebt sie in der isländischen eines Landes, dessen Bewohner ebenso vielfältig sind wie Arnalds Einöde, und bricht im Winter der Schnee herein, sitzt sie manchmal Stücke und dessen schroffe und unwirtliche Natur gleichzeitig der für einige Tage fest. Für seine „Island-Songs“ hat Arnalds sie in Fla- Quell für besonders tiefe Inspiration und Empfindsamkeit zu sein teyri getroffen, einem Ort mit tragischer Geschichte. Im Jahr 1995 scheint. Neben dem Audioalbum ist zudem eine Filmdokumentation gab es hier ein Lawinenunglück mit etlichen Toten, seither hängt geplant, die den Entstehungsprozess der einzelnen Aufnahmen zeigt „eine Aura der Traurigkeit“ über diesem Fleck der Insel und Arnalds und, ergänzt durch Interviews mit den verschiedenen beteiligten Stück spiegelt die Stimmung in retardierenden Mustern, herbstli- Künstlern und Landschaftsaufnahmen der Insel, ein dichtes menschchen Klangfarben und traurig kreisenden Melodiepattern wider. liches wie musikalisches Porträt dieses besonderen Landes entwirft. Dann ist da der Dichter Einar Georg Einarsson, dessen Werk „Wir Isländer umarmen uns nach langen Tagen“, sagt Arnalds mit mystischer Poesie das Raunen der Insel einfängt und den am Ende des Aufnahmetages im kleinen Selvogur. Dann lächelt er Arnalds für die erste Station seiner Reise in Hvammstangi getrofzufrieden und drückt jeden Einzelnen der Musiker fen hat. Da ist außerdem der Hornspieler Þorkell Jóelsson, den fest. Die Winter mögen eisig sein und die Sommer Arnalds in seiner eigenen Heimatstadt Mosfellsdalur besucht. Oder kurz. Für die Wärme sorgt in Island die Musik. n Nanna Bryndís Hilmarsdóttir, die Sängerin der Band Of Monsters Ólafur Arnalds „Island Songs" (Mercury Classics) and Men, die mit Ólafur Arnalds in der winzigen Gemeinde Garður einen intimen und gefühlvollen Song aufnimmt, bevor das Projekt 104

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S E R I E

WOHER KOMMT EIGENTLICH ... Islands Musik? VON STEFAN SELL

unbeeinflusst, ja geradezu in ihrer reinen Form halWer weiß schon, was eine Falsterpibe oder gar ein ten konnte. Nicht zuletzt dank dem Komponisten Langspil ist? Des Isländischen nicht mächtig könnte Jón Leifs, der als Begründer der klassischen Musik man glauben, der Ring von Wagner wäre so etwas wie Islands gilt. In den 30er Jahren verewigte er die Zwieein Langspil. In Wahrheit ist das Langspil die isländigesänge auf Wachswalzen, denn die Tradition drohte zu sche Variante einer Bordunzither, hat eine Melodiesaite versanden. Seine Faszination für diese einzigartige Vokalund bis zu fünf doppelchörige Bordunsaiten. Die Falsterpibe ist der Nachbau eines Fundes, den man bei Erdaushebun- kunst ließ Leifs in sein Orgelkonzert op. 7 einfließen, wo sie auf gen einer Werftanlage entdeckt hat. Das flötenartige Instrument brachiale Dissonanzen trifft. Die Nachklänge des Tvísöngurs aus der Wikingerzeit, von dem man glaubt, es war einst Teil eines tönen noch in die Musik von Islands großen Stars wie Björk GuðDudelsacks, ist ein Holzblasintrument aus Horn oder Knochen. mundsdóttir und Sigur Rós. Beide – die charismatische Sängerin Obwohl beides traditionelle Instrumente sind, der Ursprung der wie die Avantgardegruppe – entziehen sich dem geltenden Sparisländischen Musik liegt im Gesang und das, obwohl böse Zungen tendenken. Björk betört mit sirenenartigem Gesang, bewegt sich sphärisch frei zwischen elektronischer Musik und Klassik. Sigur behaupteten, Island singe nicht: „Islandia non cantat.“ Konrad Maurer, Rechtshistoriker mit einer großen Liebe zu Rós können selbstverständlich Isländisch, singen aber oft in einer Island, ging sogar noch weiter. Er reiste Mitte des 19. Jahrhun- selbst kreierten Fantasiesprache, deren Pendant sich in ihrer musiderts für einen langen Sommer auf die Insel, um hier im Norden kalischen Umsetzung wieder findet. Die frühest datierte isländische Schallplattenaufnahme Sagenhaftes zu sammeln. So sehr er sich für die Kultur der Isländer erwärmen konnte, bezüglich ihrer Musik blieb er kühl, er hielt mit klassischer Musik stammt vom Opernsänger Pétur Á. Jónsson aus den 20er Jahren. Sie befindet sich im vielleicht kleinssie für „vollkommen unmusikalisch“. Im 19. Jahrhundert gab es auch in Island ein Faible für die ten Musik-Museum der Welt. Es liegt im malerisch verträumten Romantik. Einer ihrer Anhänger war der Schriftsteller Magnús Fischerdorf Bíldudalur gegenüber dem eng mit der Islandsaga Stephensen. Er stellte den Isländern bezüglich ihres Gesang ein verbundenen Fjord Geirþjófsfjörður. Hier, wo nicht einmal 200 weiteres unschönes Zeugnis aus, meinte, „es gäbe wohl gute Stim- Menschen leben, machte sich der Sänger Jon Kristian Olafsson im Jahre 2.000 zum Museumsmen, aber man verstünde nicht, direktor und gab seiner umfassie zu gebrauchen“. Er beklagte, senden Schallplattensammlung die Monotonie ihrer Melodien ES HEISST, DER TVÍSÖNGUR WÄRE ­ den poetischen Namen „Melowären im Höchstfall dazu geeigEINE DER ERSTEN ÜBERLIEFERUNGEN VON dien der Erinnerung“ (Melodiur net, „böse Geister zu vertreiMunninganna). ben“. Von Stephensens eigenen NICHT KOMPONIERTER, WOHL ABER Ganz intensiv hat sich Gesangsfähigkeiten ist nichts ­IMPROVISIERTER MEHRSTIMMIGKEIT der Musikhistoriker Árni Heiüberliefert. mir Ingólfsson der isländiIn Island wurde zunächst das schen Musik vergangener Zeiten Wort gepflegt, das Wort wurde zur Vokalmusik. Die Vokalmusik hat in Island eine lange Tradi- gewidmet. Selbst Komponist und Autor einer exzellenten Jóntion und stellt eine Besonderheit in Europa dar: der isländische Leifs-Biografie hat Ingólfsson zusammen mit seinem Carmina Zwiegesang, Tvísöngur genannt. Es heißt, der Tvísöngur wäre eine Chamber Choir die bisher noch unentdeckte, aber wundervolle der ersten Überlieferungen von nicht komponierter, wohl aber Chormusik Islands lebendig werden lassen. Basierend auf der improvisierter Mehrstimmigkeit. Über dem chorischen Gesang in „Hymnodia Sacra“ von Gudmundur Högnason, einer aus Jahre parallelen Quinten, mit sich kreuzender wie umkehrender Stimm- 1742 stammenden Liedsammlung, haben sie gemeinsam hochführung schwebt eine Solostimme. Anders als das Organum hat gelobte und ambitionierte Einspielungen der Musik dieser Zeit der Zwiegesang ein wesentlich raffinierteres Gefüge, ist vielfälti- gemacht. Der dänische Musikforscher Angul Hammerich ließ zum ger verflochten. Vermutet wird, dass der Zwiegesang schon existierte, bevor mit den Christen das Organum auf die Insel kam. Aufbruch ins 20. Jahrhundert verkünden: „Das wunderbare Land Eine weitere Besonderheit ist, dass sich diese Musikform so ganz ist auch in musikalischer Hinsicht wert, studiert zu werden.“ n 105


G E S E L L S C H A F T

Der Axel-Brüggemann-Kommentar

„LERNEN SIE DEUTSCH!“ Erst Köln, dann Schwarzenberg – und irgendwann nervt es nur noch. Warum die dumm-deutschnationalen-Zwischenrufer längst auch in bürgerlichen Konzerthäusern pöbeln.

Zugegeben, es ist ziemlich einfach, einen Idioten einen Idioten zu nennen. Und Idioten waren die beiden Zuschauer, die – zunächst in der Philharmonie in Köln, einige Monate später bei der Schubertiade im österreichischen Schwarzenberg – aus dem Zuschauersaal die Künstler Mehan Esfahani und Ian Bostridge angepöbelt haben, indem sie grölten, dass sie deutsch sprechen, beziehungsweise Deutsch lernen sollten. Idioten, weil sie zum einen gegen die Konventionen eines Konzertes verstießen – in das man normalerweise geht, um zuzuhören und nicht, um gehört zu werden – und, klar, weil Sätze wie „Sprechen Sie deutsch!“ oder „Lernen Sie Deutsch!“ gerade in dieser Zeit allerhand Beklemmungen auslösen. Deutschnationale ZwischenBrüller sind in einem Konzertbetrieb, in dem das Internationale gang und gäbe ist, ungefähr so fehl am Platz wie Tofu-Burger oder rote Nelken auf einer Nazi-Demo. Aber unsere Wut und Entrüstung über derartige Zwischenfälle, unsere öffentliche Brandmarkung der Störer als Idioten ist nur ein Teil der Geschichte. Der FAZ-Redakteur Patrick Bahners (er war in Schwarzenberg zugegen) hat in seinem sehr lesenswerten Bericht des Abends eine wesentliche Frage aufgeworfen. Ihn hat nicht nur der Störer irritiert, er war auch von seinem eigenen 106

Verhalten erschrocken. Ein ganzes Auditorium verfiel nach dem Zwischenruf in Schockstarre, danach gab es Buhs für den Zwischenrufer, schließlich Applaus für Bostridge. Aber niemand der Anwesenden erhob seine Stimme, niemand rief „Entschuldigung!“, niemand „Gehen Sie doch, wenn es Ihnen nicht gefällt!“, niemand antwortete: „Ich würde das Konzert gern ungestört hören!“ Es war der Sänger selbst, der den Zwischenrufer nach dem Konzert stellte und ihn bat, sich auf der Bühne zu erklären – was dieser natürlich weder wollte noch konnte. Und, ja, Patrick Bahners wirft eine durchaus legitime Frage auf: Warum, verdammt, schweigt die Masse – auch im vermeintlich so aufgeklärten Umfeld der Klassik? Eine andere wesentliche Frage ist, wie es überhaupt kommt, dass sich derartige Zwischenfälle häufen. Dass Konzerthallen für Künstler keine Schutzräume mehr darstellen, sondern dass sie sich zu vorchristlichen Arenen verwandeln, in denen der Mob sich die Freiheit nimmt, die Kultur durch nationale Pöbeleien zu unterwandern. Und mehr noch: dass der Einzelne inzwischen wieder Mut findet, in der öffentlichen Masse Dinge zu tun, die noch vor drei oder vier Jahren unvorstellbar gewesen wären – da sie sich einfach nicht gehörten.

Betrachtet man die beiden Konzerte in Köln und Schwarzenberg unter diesem Aspekt, hilft es vielleicht, zu verstehen, dass Strömungen wie Pegida oder eine Partei wie die AfD längst nicht mehr in den Extremen unserer Gesellschaft zu Hause sind, sondern selbstverständlich in die so genannte bürgerliche Mitte (für die klassische Musik und Theater stets wesentliche Identifikationspunkte waren) gerückt sind: „Sprechen Sie deutsch!“, „Lernen Sie Deutsch!“, ja, warum nicht gleich: „Deutsches Liedgut den Deutschen!“ Das sind keine Slogans mehr, die vom rechten Rand in unsere Mitte donnern, sondern sie zünden heute – ganz selbstverständlich – bereits mitten in unserer Kulturlandschaft, also an jenem Ort, den wir eigentlich für besonders „kultiviert“ halten. Es sind die Biedermeier, die wieder Lust am Brandstiften haben. Und dabei sabotieren sie ausgerechnet die Grenzen des Biederen. Letztlich ist der Ruf „Lernen Sie Deutsch!“ in einem Konzert nichts anderes als der Schießbefehl-Schwachsinn einer Beatrix von Storch auf Facebook: ein ideologischer Amoklauf, der von einer schweigenden Masse verdutzt ausgehalten wird und gleichsam heimlich viele Anhänger findet – und der für den größtmöglichen medialen Rummel sorgt, den Worte auslösen können www.crescendo.de

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(diese Kolumne ist dummerweise ein weite- sich intensiver mit der deutschen Sprache sich nicht vertreten fühlen. Und die in der und dem deutschen Lied beschäftigen als er. aktuellen Stimmung die Möglichkeit spüren, rer Beweis dafür). Ja, es würde mich nicht wundern, Ist es der Frust, dass ein internationaler mit geringem Aufwand ein gigantisches wenn diese Leute am Ende noch behaup­ Künstler, so wie in Köln, ein Musikstück auf mediales Echo loszutreten. Die Formel teten, dass Angela Merkel und ihre Flücht- Englisch erklärt? Mit Sicherheit nicht, denn dafür ist einfach: Man suche einen unverlingspolitik Schuld an ihrem Verhalten Englisch ist inzwischen nun wirklich eine fänglichen Ort (Konzerthaus), schreie eine seien. Die Wahrheit ist allerdings, dass man Allerweltssprache, und selbst wenn man sie provokante Parole (irgendetwas mit Nation) für ­die eigene Ungehörigkeit nur einen ver- nicht versteht, wird man doch wohl einige und lasse geschehen, was geschieht. Es dauantwortlich machen kann: den Ungehöri- Minuten „lost in translation“ aushalten. Ist ert nicht lange, bis dieser Vokal-Terrorises die grundsätzliche Frage nach künstleri- mus Blüten treibt – mehr als 15 Minuten gen selbst! Die Hemmschwellen der Bürgerlich- scher Interpretation? Mit Verlaub, aber wer Ruhm sind garantiert. Patrick Bahners hat Recht: Es liegt an keit sind längst gefallen. Dass in Deutsch- Mario Del Monaco die „Wälsungenrufe“ aus land und in Österreich wieder ein Klima Wagners Walküre hat singen hören, wer uns, ob wir das zulassen. Und vielleicht herrscht, in dem man „so etwas doch wohl Maria Callas als Isolde gehört hat, wird sich müssen wir, die Verblüfften, den Gegenpromal sagen darf “ (nicht nur am Kellerstamm- kaum über Bostridges Schumann echauffie- test erst wieder üben, müssen erkennen, tisch, sondern auch aus dem Dunklen eines ren können. Und überhaupt: Ist es nicht dass jene Orte, an denen wir einfach nur bei Konzerthauses heraus), ist erstaunlich. So gerade ein Verdienst, dass gerade die deut- uns sein wollen, abtauchen wollen, in denen hehr und gutmenschlich wir die Kultur sche Romantik zum internationalen Reper- es uns um die Musik geht, am Ende eben noch immer gern sehen, so klar wird, dass toire gehört, das ganz selbstverständlich von doch schützenswerte, öffentliche Räume auch hier inzwischen die Abgestumpftheit Sängern aus der ganzen Welt gesungen wird sind, die auf Menschen angewiesen sind, die eingezogen ist, die in sozialen Netzwerken und längst aus der deutschnationalen Ecke aufstehen und ebenfalls ihre Stimmen erheAlltag ist. Und mehr noch: Es sind keine gerückt ist? Nein, es ist heute kein Skandal ben. Und, ja, wir müssen vielleicht erst wieTrolle, die uns hier mit ihrem anonymen mehr, dass Anna Netrebko den Text der Elsa der lernen, dass Dinge, die vor wenigen Jahren noch heilig waren – Gebrülle auf den Senkel etwa unsere Kulturgehen, keine Tastenwichser einrichtungen – heute ganz die sich die Nacht mit ES DAUERT NICHT LANGE, BIS DIESER selbstverständlich von Idieinem Dosenbier, allerVOKAL-TERRORISMUS BLÜTEN TREIBT – MEHR ALS oten und Populisten enthand angestautem Frust weiht und entwürdigt werund ollen Feinrippunter15 MINUTEN RUHM SIND GARANTIERT den können. Dass das hosen vor dem Computer Zuhören, auf das wir uns um die Ohren hauen, sonim Konzert geeinigt haben, dern greifbare, echte Menschen in Anzug und Krawatte. In Schwar- im Lohengrin gern als Hilfe auf dem Tele- nur unser Ansatz ist, während es immer zenberg war es ein etwa 70-jähriger Herr, prompter im Orchestergraben hat – wen mehr Menschen gibt, denen es selbst in der Patrick Bahners bereits an der Garde- juckt das bei ihrer großartigen Interpreta- einer Aufführung darum geht, dass man robe aufgefallen war, wo er sich lautstark tion? Und gerade bei Wagner, der einst den ihnen zuhört (vielleicht weil sie genau das in über die Interpretation von Matthias „welschen Tand“ gegen das Deutschtum ihrem Alltag vermissen). Nehmen wir die Zwischenrufe in Goerne echauffierte. Einer, der offensicht- ­ausspielte (nicht nur als Deutschnationa­ler, lich glaubt, dass die Welt etwas verpasst, sondern auch als Demokrat auf den Barri- Köln und Schwarzenberg zu wichtig? Vielleicht wäre es besser, sie zu verkaden für Schwarz, Rot, Gold!), ist es doch wenn sie seine Meinung nicht hört. Ich frage mich, was Menschen treibt, angenehm, europäisch und modern, wenn schweigen, die Debatte darüber gar nicht sich derart asozial gegenüber dem Künstler nicht mehr jeder Konsonant gespuckt wird. erst zuzulassen, dem Feuer der Empörung Aber um all das, so vermute ich, scheint den Sauerstoff der Öffentlichkeit zu nehund dem restlichen Publikum zu verhalten. Und mir fällt nur eines ein: abgründiger es hier gar nicht zu gehen. Der Zwischenru- men. Das aber wäre fahrlässig und ein VerFrust! Und dieser Frust muss so groß sein, fer im Konzerthaus kalkuliert bewusst den rat des Publikums an den Künstlern, die es dass er hilft, natürliche Hemmschwellen zu öffentlichen Eklat. Und den haben die Idio- doch verehrt. Wohl gemerkt, über Ian überwinden. Wer im Konzerthaus schreit, ten in Köln und Schwarzenberg auch Bostridges Aussprache und Liedinterpretaist zunächst einmal mutig. Er kann nicht bekommen: Zeitungsberichte, öffentliche tion kann, darf und sollte man sich natürerwarten, dass das Publikum schweigt und Aufmerksamkeit, geballte Kritik der Kultur- lich trotzdem streiten. Es wäre aber ein Fehler, schlechtes Benehmen als Streitkulihn gewähren lässt (das hat selbst Patrick szene und und und ... Ist es am Ende genau das, worum es tur zu legitimieren. Bahners erstaunt). Er muss damit rechnen, P.S.: Ach so, und trotz dieser vielen dass er selbst zum Objekt der Gegenwut eigentlich geht? Sowohl in den sozialen wird. Was also bedrückt die Zwischenrufer Netzwerken als auch in unserer aktuellen Worte. Es waren lediglich zwei Idioten, die politischen Debatte – und natürlich eben sich in den letzten Monaten in unseren Konso sehr, dass sie ihren Zwischenruf wagen? Ist es wirklich die Aussprache eines Ian auch in den Konzerthäusern unseres Lan- zerthäusern danebenbenommen haben. Bostridge? Kaum vorstellbar. Schließlich des? Es gibt da draußen inzwischen viele Beruhigend, dass die unendlich große Mehrgibt es nur wenige internationale Sänger, die Menschen, die sich ungehört fühlen. Die heit noch immer kommt, um zuzuhören. ■ 107


NEW YORK

Der Pianist widmete sein neues Album seiner Wahlheimat und intepretierte echte Klassiker der City auf seine Weise. Uns verriet er seine ganz persönlichen Lieblingsplätze am Big Apple.

VON ROBERT KITTEL

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L E B E N S A R T

Pianist Lang Lang in New York: Rhapsody in Blue und Empire State of Mind neu interpretiert

Fotos: NYCGO.com; SonyClassical

Lang Lang und New York, das scheint eine echte Liebesbeziehung zu sein: Kurz nach Veröffentlichung seines neuen Albums „New York Rhapsody“ kürte ihn Bürgermeister Bill de Blasio mit einer Zeremonie zum ersten „Kultur-Botschafter New Yorks“. Lang Lang soll die Stadt vor allem in seiner Heimat China anpreisen, denn die chinesischen Touristen sind für New York eine schöne Einnahmequelle: 2,67 Millionen kamen allein im vergangenen Jahr zu Besuch an den Big Apple, da rollt nicht der Rubel, sondern der Dollar. Der Tag, an dem die Stadt Lang Lang auszeichnete, wurde auch kurzerhand zum offiziellen „Lang Lang Day“ ernannt, New York ist da sehr flexibel, aber am Ende sind wir hier eben in der City of Dreams, der Stadt, die niemals schläft, und da passt der exzentrische Pianist wunderbar ins Bild. Lang Langs Liebe zu New York entwickelte sich schon in seiner Zeit als Teenager: Als er bei seinem Lehrer Gary Graffman in Pittsburgh studierte, fuhr er an Wochenenden oft nach New York, um selbst für Musiker zu spielen. „Gary hat mich dann vielen Leuten vorgestellt, auch Dirigenten wie Isaac Stern“, sagt der Pianist. Im Jahr 2008 kaufte sich Lang Lang ein eigenes Apartment in New

ten, das sei eine CD“ – und es gab wohl keine Beschwerden mehr über sein Spiel. Aber diese verrückte Stadt, die sei ein kultureller Melting Pot, sagt Lang Lang. Es gäbe keinen Ort, an dem sich so viele unterschiedliche Kulturen vermengen würden, dazu diese unglaubliche Energie, das gebe ihm immer wieder Inspiration für neue Dinge. Natürlich auch für das neue Album, das tatsächlich eine einzige Hommage an New York ist. Die Lieder sind alle bekannt, aus der West Side Story und natürlich die Rhapsody in Blue wie auch der Pop-Charts-Hit von Alicia Keys Empire State of Mind, den er neu interpretierte und zusammen mit Andra Day einspielte. Doch was sind Lang Langs eigene Lieblingsorte in New York? Welche Viertel mag er besonders und wo würde man ihn treffen, wenn er gerade nicht seine Nachbarn mit seinem teuren Spiel nervt? 1. Chinesische Restaurants in Flushing, Stadtteil Queens

Klar, der Pianist aus Shenyang ist ein großer Fan von gutem chinesischen Essen. Seiner Meinung nach befinden sich die besten Chinesen aber nicht im berühmten Chinatown von Manhattan, sondern auf der anderen Seite des East River im Stadtteil Queens. Direkt am Flushing Mea„ES GIBT KEINEN ORT, AN DEM SICH SO VIELE dows Corona Park, auf Höhe der Main Street VERSCHIEDENE KULTUREN VERMENGEN. DAS GIBT EINEM und Roosevelt Avenue, befinden sich etwa 40 asiatische Lokale, alle gut und sehr authenIMMER WIEDER INSPIRATION FÜR NEUE DINGE“ tisch (die besten sind Jade und White Bear). Das Skurrile an dieser Gegend ist: InzwiYork und verlegte seinen Wohnsitz um die Ecke der Carnegie Hall. schen leben und arbeiten in „Falashing“, wie es von den Asiaten „Am Anfang hatte ich Probleme mit einem Nachbarn, er ausgesprochen wird, mehr Chinesen als in Chinatown selbst (etwa beschwerte sich beim Pförtner, wenn ich geübt habe. Das mache 40.000). Mit der U-Bahn ist diese Gegend in circa einer halben ihn verrückt“, erzählt Lang Lang. Später habe er abends dann Stunde von Manhattan aus erreichbar, ein Besuch lohnt sich in leichte Sachen wie Debussy oder Bach gespielt. „Die Leute dach- jedem Fall. 109


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2. Die Steinway-Manufaktur in Queens

4. Das Lincoln Center

Wahrscheinlich gibt es kein Foto von Lang Lang mit einem Gut, das ist jetzt keine große Überraschung, denn erstens wohnt Flügel, auf dem nicht das Logo von Steinway & Sons prangt. Der Lang Lang direkt um die Ecke des Musikareals und zweitens ist es Pianist ist gefühlt seit 100 Jahren an die Marke gebunden, ein die Heimat der klassischen Musik New Yorks. Natürlich lohnt sich eigener Stimmmeister des Traditionshauses reist mit ihm zu seinen vor allem ein Besuch einer Oper in der Met oder eines Konzerts in Konzerten, um seinen Flügel auf der David Geffen Hall, aber ­ ihn abzustimmen. Die New auch die Führungen durch den Yorker Manufaktur ist das Komplex tagsüber sind sehr Mutterhaus der von Heinrich inte­ressant. Insider besuchen vor Engelhard Steinweg im Jahr 1853 allem die Konzerte der Juilliard gegründeten Firma. Lang Lang School, die sich ebenfalls im sagt, er erinnert sich noch heute Lincoln Center befindet und an an das überwältigende Gefühl, der unzählige Klassikstars von dort erstmals ein wirklich von morgen studieren. Führungen Hand gefertigtes Klavier zu (ca. 25 Dollar) kann man spielen. Das Haus befindet sich in telefonisch buchen unter Telefon Astoria, Stadtteil Queens, und 001 212 769 7028. man kann tagsüber eine Besichtigung der Fertigung machen. Von Die Manhattan Bridge von oben mit Blick auf DUMBO. außen ist es zwar nicht sonderlich spektakulär, innen werden die Flügel aber noch immer von Hand 5. New York Botanical Garden zusammengebaut. Informationen: www.steinway-piano.com. Für Lang Lang ein absoluter Ort der Entspannung: Denn der Bota3. DUMBO, Brooklyn Der Name sieht komisch aus, steht aber für „Down under the Manhattan Bridge Overpass“ und ist eines der bekanntesten Filmmotive aus Once Upon a Time in America. Vor allem Fotografen lieben diesen Platz, denn man hat einen perfekten Blick auf die Fassade von Manhattan Bridge und Empire State Building. Es gibt sogar einen eigenen Blog: www.dumbonyc.com. Der Platz ist leicht zu finden: Ecke Washington Street, Ecke Water Street in Brooklyn.

nische Garten New Yorks befindet sich ganz im Norden in der Bronx (nebenan ist auch der Zoo). Man vergisst hier kurz den Wahnsinn der City und spaziert durch Alleen von seltenen Pflanzen. Auch die Fahrt von Manhattan zum botanischen Garten ist eine Weltreise durch verschiedene Kulturen. Uptown, Central Park, Harlem, Yankee Stadium, Washington Heights mitten rein in die Bronx. Abenteurer nehmen den Zug „Metro-North“ von Grand Central bis Station Botanical Garden. Infos zum botanischen Garten unter www.nybg.org.

Wohnen in New York

Drei neue schöne Hotels, die man (vielleicht) noch nicht so auf dem Schirm hatte.

The William Vale Hotel

Wie der Name schon sagt, befindet sich das Haus an der neuen Attraktion „Highline“ im Meatpacking District. Aus einer ehemaligen Hochbahn wurde ein grüner Park errichtet. ­Etwas nördlich liegt das Highline Hotel. Früher befand sich hier ein Studentenwohnheim für angehende Priester. Heute fühlt man sich in den Gemäuern wie in New England. Kleine, schöne Sofas, Relikte aus alten College-Zeiten und schöne, ruhige Zimmer zu anständigen Preisen.

Das neue Boutique-Hotel liegt zwar nicht Schon kurz nach der Eröffnung im Juli 2016 war ganz mittendrin im Geschehen, gehört dafür das neue Haus ein Star. Das liegt vor allem am aber zu den wenigen wirklich günstigen und wunderbaren Blick auf die Skyline von Manhattrotzdem schönen Herbergen der Stadt. Es tan. The William Vale Hotel liegt nämlich auf Hotel Casselbergh gibt 108 schlicht designte Zimmer und ebender anderen Seite des East River in Williamsfalls unglaubliche Aussichten auf Manhattan. burgh/Brooklyn. Zu Lang Langs favorisierten Der Stadtteil nennt sich Long Island City und chinesischen Lokalen ist es von hier aus nicht nach Uptown, zum Central Park oder zur mehr weit. Die Zimmer sind modern, dazu Metropolitan Opera sind es mit der Bahn nur gibt’s einen großen Pool – ebenfalls mit Blick. 15 Minuten. Nur nicht ganz günstig.

Doppelzimmer ab ca. 250 Euro 10th Avenue / 20. Street Manhattan, New York www.highlinehotel.com

Doppelzimmer ab ca. 370 Euro 111North / 12. Street De Halve Maan Brooklyn, New York www.thewilliamvale.com

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Doppelzimmer ab ca. 200 Euro 38–28 27th St Long Island City, New York www.borohotel.com www.crescendo.de

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Fotos: NYCGO.com; PR

Boro Hotel

The Highline Hotel


L E B E N S A R T

HOTELTIPP

Tresanton, Cornwall / England

Foto: Hotel Tresanton

Das Hotel an der Küste präsentiert im November ein eigenes Festival der klassischen Musik.

Das Hotel Tresanton in St. Mawes, Festival-Pianist und das Schwesterhotel Massey auf dem Land in Endsleigh

Das luxuriöse Hotel Tresanton im englischen Cornwall – an der Südspitze und direkt am Wasser gelegen – lockt vom 4. bis 6. November mehrfach ausgezeichnete Musiker an. Der israelische Pianist Noam Greenberg hat als Intendant des hauseigenen Festivals „Music at Tresanton“ unter anderem den berühmten britischen Tenor Mark Padmore, Geiger Pekka Kuusisto aus Finnland und den niederländischen Cellisten Pieter Wispelwey gewinnen können. Tagsüber genießt man das Luxushotel und die rauhe Küste des Örtchens St. Mawes, abends gibt’s ausgiebige Konzerte. Die diesjährige Ausgabe der Event-Reihe ist übrigens ganz dem Komponisten Franz Schubert gewidmet, es wird also nicht allzu laut. Doch das Hotel gehört

Termine

FÜR GLOBETROTTER

auch abseits der klassischen Musik zu den Top-Adressen und verfügt sogar über ein eigenes Segelboot. Nur eine einstündige Fahrt von der Küste Cornwalls entfernt, in den verschlungenen, saftig-grünen Hügeln Devons, liegt übrigens auch noch Tresantons Schwesterhotel Massey in Endsleigh – ein wunderbares Landhaushotel, umgeben von märchenhaften Wäldern und Gärten. Und der Winter auf der Insel ist nicht ganz so schlecht, wie man immer vermutet: Die Temperaturen sind eher mild, Schnee gibt es so gut wie nie. ■ Alle Informationen zum Festival of Music und den beiden Hotels gibt’s unter www.tresanton.com und www.hotelendsleigh.com sowie www.musicattresanton.com

Wanderreisen für Kulturinteressierte

Der Sommer ist vorbei – die Festspielsaison nicht! Oxford 14.–29.10. Schumann, Schumann, Schumann – beim diesjährigen

Oxford Lieder Festival dreht sich alles um den großen Romantiker. In rund 50 Konzerten und Dutzenden Veranstaltungen des Rahmenprogramms stehen nicht nur alle seine Lieder auf dem Programm, sondern werden auch sein Leben, seine Freunde und Zeitgenossen unter die Lupe genommen. Einiges an Sänger- und Pianistenprominenz ist dazu geladen, so Christian Gerhaher, Juliane Banse, Bo Skovhus, Felicity Lott und Julius Drake. Infos unter www.oxfordlieder.co.uk.

Riga

Natur und Kultur aktiv erleben

30.9. – 22.10. Zu einem erlesenen Kammermusikfestival lädt Lettlandas Hauptstadt Riga: Es werden neben etlichen lettischen Künstlern unter anderem die ECHO KLASSIK Preisträger des französischen Streichquartetts Quatour Ébène, der russische Oboist Alexei Ogrintchuk oder der ukrainische Bratscher Maxim Rysanov zu hören sein. Als Höhepunkt wird das Bratschenkonzert von Festivalgründer Pēteris Vasks uraufgeführt. Infos unter www.kamermuzika.lv.

• Herrliche Naturlandschaften und kulturelle Highlights in Europa • In kleinen Gruppen • Mit deutschsprachiger WikingerStudienreiseleitung

Tokio 19.09. – 26.11. Die legendäre Suntory Hall in Tokio feiert 30. Ge-

burtstag! Dazu hat sie sich eine illustre Festgesellschaft geladen: etwa die Wiener Phiharmoniker mit Zubin Mehta, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Mariss Jansons, die Sächsische Staatskapelle mit Christian Thielemann oder die Bamberger Symphoniker mit Herbert Blomstedt. Ein Festival der europäischen Klassikprominenz in Asien! Infos unter www.suntory.com.

Jetzt informieren

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Infos und Kataloge erhalten Sie unter www.wikinger.de oder 02331 – 9046 Wikinger Reisen GmbH Kölner Str. 20, 58135 Hagen

WIKINGER REISEN UND WWF DEUTSCHLAND SIND PARTNER FÜR NACHHALTIGERES REISEN


L E B E N S A R T

Extravaganz für die Seele! Unser Dirigent und Kolumnist fand in Island zwar nicht den perfekten Wein, aber das, was einen perfekten Wein ausmacht. Um dessen Verwirklichung zu finden, reiste er nach Rumänien weiter.

JOHN AXELRODS WEINKOLUMNE

Foto: Stefano Bottesi

FEUER, EIS UND BLUT

Wenn es nach Schopenhauer geht, ist Musik Björk oder den interessanten jungen Kompo- zigartig und extravagant wiederauferstehen die Nahrung der Seele. Sie hilft und heilt, nisten Daníel Bjarnason hört, kann man lassen. Als genauso extravagant würde ich wenn man’s am nötigsten braucht. Es geht da­rüber nachdenken, wie geschmeidig das einen von Rumäniens besten Rotweinen nichts über eine gute Prise Beethovens 5. Sin- eigene Blut in Island durch die Adern rinnt. bezeichnen, den Davino Flamboyant. Der fonie, um die Stimmung „con brio“ anzuhei- So gut und so frisch, dass wohl Graf Dracula 2012er-Jahrgang, der ausschließlich in zen, oder Ravels Bolero, um feurige Leiden- selbst gerne nach Island reisen würde, um begünstigten Jahren unter idealen Bedingunschaft zu entfachen. Ich behaupte mal, dass sich ein Pröbchen seiner speziellen Art von gen gewachsen ist, tut Wunder für den Blutkreislauf. Als Cuvée aus vorwiegend CaberWein ähnlich gut dazu taugt, ein Abendessen Wein zu zapfen. behaglich zu beginnen oder einen Abend gut Blut und Wein ist wie Feuer und Eis eine net Sauvignon, Merlot und Fetească neagră, abzuschließen, während der Bolero sein mächtige Kombination. Als ich neulich das hat dieser Wein feurige 14,6 Prozent Alkohol und schmeckt nach WildÜbriges tut. beeren, Schokolade, intenDas Thema dieser Ausgabe ist RUMÄNIENS KOMPONISTEN WIE ENESCU siven Fruchtaromen und – Island, das besonders für seine ­HABEN WUNDERBARE MUSIK GESCHAFFEN, wenn ich das so sagen darf tektonischen PlattenverschieDIE DAS BLUT IN WALLUNG VERSETZT UND DIE – Blut. Ja, Blut. Da berührt bungen und seinen permanender Hauch einer erdigen ten Kampf zwischen Eis und SEELE AUFLODERN LÄSST Eisennote den Gaumen, vulkanischem Feuer bekannt ist. der sich wunderbar mit Island ist perfekt für die Gesundheit und eine Verjüngungskur (nach Klavierfinale des George Enescu Wettbe- seinen anderen edlen Zügen vereint. einem Nachmittag in der „Blauen Lagune“ werbs in Bukarest dirigiert habe, traf ich auf Man weiß ja, dass die Isländer weltweit unter fühlte ich mich so gut wie nie), aber nicht ein ähnlich göttliches Duo. Ich spreche nicht den Menschen mit der höchsten Lebensergerade bekannt für seine Weine. Für Schnaps von „Draculas Blut“, einem gar nicht so wartung sind. Außerdem wissen wir, dass ja. Aber bei Temperaturen bis unter -10° C tut schlechten Merlot aus Rumänien. Genauso Vampire unsterblich sind – mit Ausnahme ein starker Schnaps auch Not. Tatsächlich wie die „Blaue Lagune“ spielt er mit der einiger weniger, die ihr Ende durch die Spitze gibt es aber einen isländischen Wein von Erwartungshaltung der Touristen. Rumänien eines Holzpflocks fanden. Vielleicht kräftigt Ómar Gunnarsson, der sich Kvöldsól – „Mit- hat eine lange Tradition der Weinherstellung, ja der Genuss eines Davino 2012 Flamboyant ternachtssonne“ – nennt und der komplett die 6.000 Jahre zurück reicht! Seit 2009 ist die Seele und verlängert das Leben – natüraus organisch angebauten Rauschbeeren, Rumänien der sechstgrößte Weinproduzent lich während man die Rumänische Rhapsodie Heidelbeeren und Rhabarber hergestellt wird. Europas und der zehntgrößte der Welt. von Enescu hört und Bela Lugosis DraculaDer wärmt nicht nur das Blut, sondern bein- Rumänien hat sieben unabhängige Weinregi- Version von 1931 anschaut (übrigens sieht Celibidache mit zurückgekämmten Haaren haltet auch Stoffe mit starker Anti-Aging- onen. Island hat keine einizige. und antioxidativer Wirkung. Was den Rumäniens Komponisten wie Enescu haben diesem Dracula erscheckend ähnlich). Oder Geschmack angeht – das liegt in der Kehle wunderbare Musik geschaffen, die das Blut in man nimmt einen Flamboyant mit nach Wallung versetzt und die Seele auflodern Island und bringt damit das Eis zum Schmeldes Trinkenden. Während man also in der Badewanne liegt lässt. Und rumänische Dirigenten wie Sergiu zen. Feuer und Eis haben noch nie so gut ein wenig „Mitternachtssonne“ schlürft und Celibidache haben ihre Nationalmusik ein- zusammen geschmeckt. n John Axelrod ist Musical Director des Real Orquesta Sinfónica de Sevilla und erster Gastdirigent des Orchestra Sinfonica di Milano „Giuseppe Verdi“. Nebenbei schreibt er Bücher („Wie großartige Musik entsteht ... oder auch nicht. Ansichten eines Dirigenten“) und sorgt sich um das Wohl des crescendo-Lesergaumens. 112

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#ECHOKLASSIK2016

SONNTAG | 9. OKTOBER 2016 AB 15:30 UHR KONZERTHAUS BERLIN | GENDARMENMARKT MODERATION: THOMAS GOTTSCHALK TV-AUSSTRAHLUNG: 9.10.2016 | 22:00 UHR | ZDF ALLE INFORMATIONEN: WWW.ECHOKLASSIK.DE

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H O P E

T R I F F T

Die Daniel-Hope-Kolumne

PRIVILEGIERT

Daniel Hope: Jasper, wie ist das für dich, in einer völlig anderen Welt ein solch großes Projekt zu verantworten? Jasper Hope: Ganz ehrlich, es ist genau das, was ich mir erträumt habe. Es sind jetzt knapp zwei Jahre, die ich in Dubai bin, und ich für mich kann nur sagen: Dubai ist ein phänomenaler Ort, an dem unglaublich viel passiert ist in den vergangenen Jahren. Hier wurde eine Stadt der Superlative kreiert – mit Hotels, Finanzzentren und einem Flughafen, der ein internationales Drehkreuz ist. Nur die „softere“ Seite, also die Kultur, die war noch nicht ganz so berücksichtigt worden, erst in den vergangenen fünf Jahren etwa, da kamen auch Maler, bildende Künstler, Designer und Kreative aus der ganzen Welt hinzu. Und jetzt eben auch die Musik. Du bist mein Bruder, deshalb darf ich noch mal nachhaken: Wie ist es für dich ganz persönlich ...? Du weißt, ich war vorher nie hier, hatte also wenig Ahnung, was mich da erwartet. Und anfangs empfand ich sehr großen Druck, ob ich die hohen Erwartungen des Emirats erfüllen kann. Andererseits haben sie mir hier große Freiheiten gegeben und ich habe jede Minute genossen, die ich hier mitarbeiten durfte. Ihr seid angeblich rechtzeitig und mit 114

und ich denke, ich brauche auch kein detailliertes. Man muss eher darauf achten, wo wir hier sind – an einem kulturell sehr vielfältigen Ort in der arabischen Welt. Und das wird auch das Programm repräsentieren. Die Qualität Daniels Bruder Jasper Hope und sein Opernhaus kann gerne von Experten diskutiert werden, aber am dem budgetierten Geld fertig geworden, Ende brauche ich ein Programm, das dem eine in diesen Zeiten nicht übliche Sache ... Publikum hier gefällt. Das ist am Ende das Ja, allerdings fällt das nicht in meinen Ver- Wichtigste. Die Leute sollen glücklich nach antwortungsbereich. Aber die Bürokratie ist Hause gehen. hier sehr einfach, was solche Projekte angeht. Wie viele Aufführungen hast du geplant? Entscheidungen werden sehr schnell getrof- Ich habe so das Gefühl, dass – wenn ich fen und deshalb werden die Dinge schneller weniger als 200 habe –, dann wäre das zu wenig für die Größe dieses Hauses. Also 250 fertig als vielleicht in anderen Ländern. Das Bauwerk heißt Dubai Opera, aber es sollten es am Ende schon werden. sollen nicht nur Opern darin stattfinden, Welche Herausforderung besteht für dich darin, Veranstaltungen bei zum Teil über oder? Ja, aber das ist ja nicht ungewöhnlich. Wenn 50 Grad zu planen? du dir das Sydney Opera House ansiehst, da Hehe. Also bei 50 Grad zu leben, ist allein finden ja auch nicht nur Opern statt. Es gibt schon eine große Herausforderung. Und keinen Grund, warum in einem Opernhaus glaube nicht, dass die Stadt im Sommer, nur Opern stattfinden sollen. Der Punkt ist: wenn man diese Höchsttemperaturen hat, Für Dubai ist es schlussendlich ein musika- leer ist. Es kommen tatsächlich auch da viele lisches Kulturzentrum, und ein Opernhaus Gäste, weil die Fluglinien und Hotels dann repräsentiert das am besten, so wie in Bel- sehr gute Angebote machen, außerdem sind dann Schulferien, das nutzen viele. Die fast oder Sydney ja auch. Als Eröffnung kam Plácido Domingo, Challenge wird also darin bestehen, auch zu aber es soll auch Rock und Pop stattfin- diesen Zeiten die Künstler in die Hitze zu den. Was ist dein Briefing für das Pro- locken. n gramm? Mehr Infos zur Dubai Opera unter Ich habe eigentlich kein genaues Briefing, www.dubaiopera.com.

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Ok tober – November 2016

Fotos: Jasper Hope; Dubai Opera

Unser Lieblingsgeiger und Kolumnist traf seinen Bruder Jasper Hope, der soeben als Direktor das neue Opernhaus von Dubai eröffnen durfte.


live in concert 2016 F i l m m u s i k 29.09.2016 – Hamburg – Laeiszhalle 12.11.2016 – Frankfurt – Alte Oper 25.11.2016 – Hannover – Kuppelsaal 26.11.2016 – München – Gasteig 02.12.2016 – Nürnberg – Meistersingerhalle 04.12.2016 – Berlin – Tempodrom 05.12.2016 – Stuttgart – Palladium 11.12.2016 – Augsburg – Kongress am Park TickeTs unTer:

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DIE ECHO KLASSIK-PREISTR ÄGER 2016 MIT DEN GRÖSSTEN STARS DER KLASSIK:

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