Schweizer Geschichte: Fact oder Fake News?

Page 1

Schweizer Geschichte: Fact oder Fake News?

Eine Ausstellung von Ursula Kampmann



Schweizer Geschichte: Fact oder Fake News? Eine Ausstellung von Ursula Kampmann


© 2022 Herausgegeben von: Sunflower Foundation / MoneyMuseum Hadlaubstrasse 106 8006 Zürich www.moneymuseum.com Text: Ursula Kampmann Redaktion: Daniel Baumbach, Ursula Kampmann Gestaltung und Umsetzung: Claudia Neuenschwander


Inhalt Vorwort...................................................................... 5

Station 1 Das Erbe der Antike.................................................. 6

Station 2 Die Erfindung des Befreiungsmythos’................... 19

Station 3 Erzfeind der Schweizer Freiheit: Die Habsburger....................................................... 33

Station 4 Glaubensfragen....................................................... 45

Station 5 Kann Geschichte neutral sein?............................... 73

Station 6 Zwingli: Der nette Reformator von nebenan?.......................................................... 89 Nachwort............................................................... 105


Titelbild: Der Tellenbrunnen in Schaffhausen. Foto: H. Zell, CC BY-SA 3.0

4


Wie war das noch mit Wilhelm Tell? Gab es ihn wirklich? Oder ist diese schöne Geschichte vom Vater, der seinem Kind einen Apfel vom Kopfe schiesst, eine Sage, die es auch in anderen Ländern gibt? Warum brauchte es überhaupt einen Wilhelm Tell? Solchen Fragen wollen wir mit unserer Ausstellung 2022 im MoneyMuseum nachgehen. Wir schauen den Autoren der entstehenden Schweiz über die Schulter und lernen Männer kennen, die mit ihren Chroniken unser Bild von der Schweizer Geschichte bestimmten. Dabei fragen wir uns, was sie mit ihrer Arbeit beabsichtigten. Welches Weltbild steht dahinter? Welche Beweggründe hatten sie, die Geschichte der Schweiz so und nicht anders zu gestalten. Mit anderen Worten: Ist die Geschichte der Schweiz, wie wir sie heute erzählen, Fact oder Fake News? Wir möchten mit dieser Ausstellung Ihre Sensibilität schärfen, wozu Geschichte genutzt wurde und genutzt wird. Wie aktuell dieses Thema ist, zeigt nicht zuletzt die mit geschichtlichen «Fakten» unterfütterte Rhe­ torik, mit der sowohl Russland und als auch die Ukraine ihre Position in diesem schrecklichen Krieg rechtfer­ tigen. Begleiten Sie uns also auf unserer Reise durch die Jahrhunderte: Das MoneyMuseum präsentiert Ihnen einige der prachtvollsten Chroniken, die Schweizer Historiker verfasst und Schweizer Drucker gedruckt haben. Ursula Kampmann

5



In dieser Station präsentieren wir ihnen zwei Bücher von besonders wichtigen antiken Autoren, die mit ihren Werken unsere Vorstellungen von Geschichtsschreibung geprägt haben. Von Plutarch lernen wir, wie man mit kleinen, bezeichnenden Anekdoten einen historischen Sachverhalt illustriert. Das Werk des Tacitus erinnert uns daran, dass kein Geschichtsschreiber «neutral» ist, sondern seine Werte und Normen übernimmt, sobald er sich daran macht, Fakten zu interpretieren, um sie zu einer Geschichte zu formen.

7

Station 2 Station 3 Station 4

Auch in der Schweiz wurde die Geschichtsschreibung von den Mönchen und Nonnen in ihren Klöstern gepflegt, wo sich in den mittelalterlichen Bibliotheken antike und neuere Handschriften historischen Inhalts erhalten haben. Die Renaissance brachte diese verborgenen Schätze ans Licht der säkularen Welt und in vielen Ländern der Welt machten sich Chronisten daran, die Geschichte ihrer Stadt oder ihrer Herrscherdynastie nach antikem Vorbild zu gestalten.

Station 5

Das Handwerkszeug der Schweizer Historiker stammt aus der Antike. Schliesslich kommt sogar das deutsche Wort Chronik aus dem Griechischen: chrónos steht für Zeit, und die chroniká biblía ist zunächst nichts anderes als ein «Zeitbuch», oder wie wir heute sagen würden, ein Geschichtsbuch.

Station 6

Das Erbe der Antike

Station 1

Station 1


1.1

Plutarch: die Kunst der Anekdote Plutarch,

ΠΑΡΑΛΛΗΛΑ ΕΝ ΒΙΟΙΣ ΕΛΛΗΝΩΝΤΕ ΚΑΙ ΡΩΜΑΙΩΝ (= Griechische und römische Parallelbiographien) Verlegt bei Andreas Cratander und Johann Bebel in Basel, 1533.

8


Station 1

1.1  Plutarch: die Kunst der Anekdote

Chaironeia liegt im Norden Griechenlands. Seine bekannteste Sehenswürdigkeit ist ein Grabmal, das Philipp II. von Makedonien nach der entscheidenden Schlacht gegen Athen im Jahr 338 errichten liess. Foto: KW.

tigkeit der beiden Völker zu demonstrieren. Wir kennen Plutarch heute als Historiker. Dabei ging es ihm eher um den Charakter seiner Protagonisten. Und den fing er am liebsten in kleinen Anekdoten ein. Er selbst schreibt darüber, dass «ein un­be­deutender Vorfall, ein Ausspruch oder ein Scherz mehr über den Charakter eines Menschen» aussage «als die blutigsten Schlachten ...». Von Plutarch – und seinem Nach­ ahmer Sueton – lernten die Historiker, abstrakte Sachver­ halte durch kleine Geschichten zu illustrieren, wobei es für sie keine Rolle spielte, ob diese Geschichten wahr oder gut erfunden waren.

Plutarch (45 – 125 n. Chr.) kam aus dem nordgriechischen Chaironeia, das mehr als eine Schlacht gesehen hatte. Beson­ ders bedeutsam dürften dem kleinen Plutarch die Erzählun­ gen vom römischen Sieg über den griechischen König Mithra­ dates von Pontos geschienen haben. In dieser Schlacht be­wiesen die Römer, dass sie den Griechen militärisch überlegen waren. Für die stolzen Griechen bedeutete das eine Demütigung, gegen die sich Plutarch mit seinen Parallelbiographien wandte. Darin stellte er Gestal­ ten der griechischen und der römischen Geschichte einander gegenüber, um so die Ebenbür­

9


Simon Grynaeus (1493 – 1541)

griechischen (und heb­ räischen) Sprache stolz waren, genossen die unter­ haltsamen Erzählungen. Deshalb erwarteten die Basler Drucker Andreas Cra­tander und Johannes Bebel ein gutes Geschäft, als sie 1533 Plutarch zum ersten Mal aus­serhalb Italiens in der Original­ sprache druckten. Insge­ samt gesehen ist dieses Werk die dritte griechische Ausgabe der Parallelbio­ graphien. Die Edition besorgte Simon Grynaeus (1493 – 1541), Humanist und reformierter Theologe, der zu den wichtigsten Edito­ ren antiker Autoren ge­ hörte und selbst aktiv nach verlorenen Manuskripten fahndete. Er hatte auch die lateinische Ausgabe des Plutarch betreut, die be­reits 1531 erschien. Grynaeus widmete die griechische Ausgabe Jo­ hannes Oporin, Lehrer für Latein und Griechisch an der Lateinschule von Basel.

Plutarch war Grieche und schrieb natürlich grie­ chisch. Nun gab es im Mittelalter kaum einen Leser, der diese Sprache beherrschte. Doch viele lateinische Autoren zitier­ ten Plutarch; so blieb sein Name der gelehrten Welt vertraut. Als Plutarchs Parallelbiographien erst­ mals um 1400 in die latei­ nische Sprache übersetzt wurden, rissen sich die Gelehrten darum. Nicht nur die Humanisten, son­ dern auch die reformierten Theologen, die auf ihre profunden Kenntnisse der

10


In seiner Widmung fordert Grynaeus die Leser auf, sich nicht nur am elegan­ ten Stil und den spannen­ den Anekdoten zu erfreu­ Widmung an Johannes Oporin

11

en, sondern den eigenen Charakter an den ver­ wandten Charakteren des Plutarchs zu schulen.

Station 1

1.1  Plutarch: die Kunst der Anekdote


1.1  Plutarch: die Kunst der Anekdote

Ferdinand Hodler, Wilhelm Tell. Kunstmuseum Solothurn. Foto: KW

Was hat nun Plutarch mit der Schweizer Geschichte zu tun? Wir wollten damit zeigen, woher die Idee kommt, historische Sach­ verhalte zur Anekdote zu kondensieren. Zu schrei­ ben, dass die Habsburger

tyrannische Herren waren, ist eben weniger eindrück­ lich als zu schildern, wie ein Habsburger Vogt einen Bauern zwingt, das Leben des eigenen Kindes zu gefährden.

12


Tacitus: Sine Ira et Studio C. Cornelius Tacitus, Opera qvae exstant, a Ivsto Lipsio postremvm recensita eivsqve avctis emendatisqve commen­tariis illvstrata. Verlegt in Antwerpen bei Balthasar II. Moretus in der Officina Plantiniana, 1648.

13

Station 1

1.1


Tacitus erlebte einen politischen Umbruch: Im Jahr 96 wurde sein erster Gönner, der Kaiser Domiti­ an, ermordet. Ihn ersetzte erst Nerva, dann Traian. Tacitus teilte damit das Problem vieler Senatoren, die unter Domitian aufge­ stiegen waren, nun aber die neuen Kaiser Nerva und Traian überzeugen mussten, dass sie dem ermordeten Domitian nur widerstrebend Gefolgs­ chaft geleistet hatten, und die neuen Herrscher loyal und treu unterstützen würden. Wenn Tacitus also in seinen Annalen schreibt, er wolle «sine ira et studio» (in etwa ohne Zorn und Engagement) vorgehen, dann entspricht das kei­ nesfalls unserer Auffas­ sung von Objektivität. Tacitus lebte unter einem Alleinherrscher. Sein Ge­ deihen hing davon ab, ob das, was er schrieb, dem Kaiser genehm war oder nicht.

Statue des Tacitus, 19. Jh. Foto: Pe-Jo; wikimedia

Publius Cornelius Tacitus (ca. 58 – 120) stammte aus einer reichen Familie. Die Ehe mit einer Römerin der Oberschicht ebnete ihm den Weg in den Senat. Sein Schwiegervater, der Kon­ sul Gnaeus Iulius Agricola, unterstützte ihn, so dass es Tacitus gelang, bis zum Amt des Suffektkonsuls aufzusteigen. Drei Kaiser förderten diesen Aufstieg: Domitian, Nerva und Traian.

14


Station 1

1.2  Tacitus: Sine Ira et Studio

schreckliche Krankheit, die den ursprünglich guten Menschen nach seiner Erhebung zum Kaiser zu einem unbere­ chenbaren Gewaltherr­ scher machte. Auch das Frauenbild von Tacitus scheint heute fragwürdig. Für ihn war jede Frau, die nach Macht strebte, eine Porträt des ermordeten Kaisers Domitian. Foto: KW Intrigantin. Tacitus verfälschte keine Fakten, aber er Tacitus löste das Problem, interpretierte sie auf seine indem er Traian als den Weise, und das so gekonnt, besten aller Kaiser feierte, dass sein Geschichtsbild während er Domitian zu noch bis weit in die zweite einem Tyrannen stilisierte. Hälfte des 20. Jahrhun­ derts die Wissenschaft Seine Wertschätzung der anderen Kaiser hing davon dominierte. Erst in jüngs­ ter Zeit werden seine ab, in wie weit der Betref­ fende dem Senat Achtung Interpretationen in Frage gestellt. Viele neue Biogra­ zollte. Wer wie Claudius vom Militär ernannt wurde, phien illustrieren, dass die schlechten Kaiser nicht musste unfähig sein. Für ganz so brutal, die guten einen vom Senat gewähl­ ten Kaiser wie Caligula Kaiser nicht ganz so voll­ erfand Tacitus eine kommen waren.

15


Inhaltsverzeichnis

Die 1648 gedruckte Ausgabe des Tacitus enthält seine wichtigsten Werke.

Die Annalen, die Geschich­ te des römischen Kaiser­ reichs von Augustus bis Nero Die Historien, die Ge­ schichte des römischen Kaiserreichs von Galba bis Domitian, die nur teilweise erhalten sind Die Germania, in der er die als unverdorben beschrie­ benen Germanen den korrupten Römern vorhält

16

Die Biographie seines Schwiegervaters und Gön­ ners Iulius Agricola Den Dialog über die Grün­ de des von ihm postulierten Verfalls der Redekunst


Station 1

1.2  Tacitus: Sine Ira et Studio

Justus Lipsius, der Heraus­ geber, widmete die von ihm betreute Ausgabe Kaiser Maximilian II. Wie am Werk Plutarchs sollte sich der Leser mit den verschiedenen Charakte­ ren auseinandersetzen, um den eigenen Charakter zu schulen.

Widmung an Kaiser Maximilian II

17


1.2  Tacitus: Sine Ira et Studio

Welch hohe Bedeutung die Kenntnis der Geschichte der ersten zwölf Herrscher Roms in der europäischen Oberschicht spielte, illust­ riert die Architektur und die Inneneinrichtung unserer Schlösser. Abbil­ dungen der zwölf Caesaren gehören zum selbstver­ ständlichen Repertoire.

Justus Lipsius (1547 – 1606)

Justus Lipsius war ein flämischer Philologe und Philosoph, dessen Gedan­ ken unsere Vorstellungen von einer bürgerlichen Mitbestimmung im Staats­ wesen geprägt haben. Seine Zeitgenossen kann­ ten ihn eher als Herausge­ ber von zahlreichen Wer­ ken antiker Autoren, darunter die erste kritische Ausgabe des Tacitus, ferner Werke von Livius, Caesar, Seneca und Plinius, um nur einige zu nennen.

Email-Abbildungen der zwölf Caesaren. Weimar, Neues Schloss. Foto: KW.

18


1420 erteilte der Rat von Bern seinem ehemaligen Schreiber Konrad Justinger (1370–1438) den Auftrag, eine Berner Geschichte zusammenzustellen. Justinger verfasste eine Chronik, die bis zu seiner Gegenwart reichte, und wurde damit zur Grundlage für viele weitere Chronisten, darunter auch Benedikt Tschachtlan, dessen Chronik von 1470 wir an dieser Station in einem Faksimile sehen. Es handelt sich um die erste Bilderchronik der Schweiz. Unter diesem Begriff fasst man heute eine Reihe von handgeschriebenen Texten mit aufwändigen Illustrationen zusammen. Die berühmteste Bilderchronik ist die des Diebold Schilling, die um 1480 entstand. Wie viele Jahrhunderte lang sie als grundlegendes Werk der Schweizer Geschichte genutzt wurde, zeigt uns das zweite Buch dieser Station. 19

Station 2 Station 3 Station 4 Station 5

Unsere zweite Station führt uns nach Bern. Bern war im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert eine europäische Grossmacht. Die Berner Oberschicht verfügte über die finanziellen und militärischen Ressourcen, um auf Kosten der umliegenden Adligen das eigene Gebiet enorm zu vergrössern. Ihren Kanonen und hervorragend ausgestatteten Söldnern hatten die angegriffenen Landesherren, die zeitgleich eine Periode der Schwäche durchlebten, nichts entgegenzusetzen. Um diese Expansion auf Kosten der Habsburger, Kyburger und vieler anderer zu bemänteln, strickte man in Bern von Staats wegen am Mythos einer Befreiung vom adligen Joch.

Station 6

Die Erfindung des Befreiungsmythos’

Station 1

Station 2


2.1

Benedikt Tschachtlan: Die erste Bilderchronik Benedikt Tschachtlan und Heinrich Dittlinger, Chronik Manuskript, 1470. Faksimile

20


Bern befand sich in einer Phase der Expansion, als Benedikt Tschachtlan um 1420 geboren wurde. Seine Familie gehörte zur Oberschicht, und so machte er ebenfalls Karriere. Bereits im Alter von etwa 30 Jahren war Tschachtlan Mitglied im Grossen Rat und übernahm städtische Ämter. So zog er 1469 als Fah­ nenträger in den Waldshuter­ krieg, den die acht Orte der Eidgenossenschaft gegen den lokalen Adel unter Führung des Habsburger Herzogs Siegmund von Österreich-Tirol führten. Bern sicherte sich bei Kriegsende eine beeindruckende Kriegsent­ schädigung sowie einträgliche Territorien.

Auch damals legten die Kriegs­ parteien Wert darauf, zu behaup­ ten, sie seien nicht ausschliess­ lich wegen des materiellen Gewinns in den Krieg gezogen. Aber was sollten die Berner Ratsherren als Kriegsgrund angeben, wenn es zur Sprache kam? Benedikt Tschachtlan, der seit 1469 immer wieder als Ber­ ner Gesandter die eidgenössi­ sche Tagsatzung besuchte, mag gemerkt haben, wie nützlich es doch wäre, einheitlich zu argu­ mentieren. Nur wie setzt man eine einheitliche Deutung des Geschehenen durch? Indem man sie schriftlich fixiert. Und das tat Benedikt Tschachtlan.

Das Wachstum des Berner Stadtstaats Phasen der Erwerbungen bis 1339 bis 1400 bis 1474 bis 1536 bis 1798

Zwischen 1400 und 1474 wuchs das Berner Territorium fast um das Doppelte. Karte: Marco Zanoli, Foto: cc-by 4.0.

21

Station 2

2.1  Benedikt Tschachtlan: Die erste Bilderchronik


die Texte zusammenstell­ ten, die Schreiber bezahlten und überwachten, sowie den von ihnen finanzierten Illuminatoren genau vorga­ ben, was wo wie dargestellt werden sollte. Denn das war das Ge­ niale an der TschachtlanChronik: Sie hatte Bilder, und das in einer Zeit, in der Bilder lediglich in Kirchen und hochherrschaftlichen Häusern anzutreffen waren. Mit ihren bunten Illustrati­ onen lud sie dazu ein, im überschaubaren Kreis die Chronik immer und immer wieder zu studieren. Dabei vergegenwärtigte sich die Berner Oberschicht ge­ meinsam den Ablauf der Ereignisse und stimmte so ihr Geschichtsbild aufein­ ander ab. Die Inhalte selbst waren grösstenteils be­ kannt. Die TschachtlanChronik enthält eine Ab­ schrift der alten Chronik von Justinger sowie eine im Berner Sinne redigierte Fassung der Chronik des Alten Zürichkriegs von Johannes Fründ. Lediglich die Darstellung der Zeit­ geschichte war neu.

Die erfolgreiche Bärenjagd des Herzog Berthold V. von Zähringen, der Bern seinen Namen verdankt.

Tschachtlan war, wie auf der ersten Seite zu lesen, nicht allein: Der fromme Benedikt Tschachtlan, Fahnenträger und Rat zu Bern, liess die Chronik im Jahr 1470 schreiben und malen. Heinrich Dittlinger war der Schreiber des Buchs. Natürlich bedeutete das nicht, dass die beiden Adligen diese Arbeit selbst ausführten. Wir gehen heute davon aus, dass sie

22


Die Expansion Berns er­ folgte vor allem auf Kosten der Kyburger und der Habsburger. Um sie zu rechtfertigen, berief man sich gerne auf vorausge­ hende kriegerische Aktio­ nen der Adligen. Hier sehen wir Ritter des Grafen von Kyburg, die zwei Ber­ ner Bürger töten.

Wappen der Gesellschaft zu Distelzwang. Foto: RicciSpeziari, cc-by 3.0.

Tschachtlan war Mitglied der elitären Gesellschaft «zu Narren und zu Distel­ zwang». Dort traf sich die einheimische Oberschicht zum informellen Aus­ tausch. Hier wurde der Text seiner Chronik rege diskutiert. Dafür musste sie natürlich in deutscher Sprache geschrieben sein. Das gelehrte Latein war unter den Bürgern nicht verbreitet.

Ritter im Dienst des Grafen von Kyburg greifen Berner Bürger an.

23

Station 2

2.1  Benedikt Tschachtlan: Die erste Bilderchronik


Die Berner Oberschicht war stolz auf ihre militäri­ sche Schlagkraft. Von den 230 Abbildungen der Tschachtlan-Chronik stellen 200 Abbildungen kriegerische Handlungen dar.

Schlacht von Morgarten.

Um die «Erzfeindschaft» mit den Habsburgern zu zeigen, wurde ein Überfall auf die Marschkolonne eines Habsburger Heeres zur glorreichen Feld­ schlacht, die wir heute als die Schlacht von Morgar­ ten von 1315 kennen.

Schlachtszene.

24


2.1  Benedikt Tschachtlan: Die erste Bilderchronik

Auch auf dieser Darstel­ lung wird eine Berner Kanone im Kampf einge­ setzt. Ihre Kugel hat die Stadtmauer von Bremgar­ ten stark beschädigt. Aus­ serdem kämpfen die Ber­ ner mit den damals hoch modernen Arkebusen.

Bern verfügte über mo­ dernste Waffentechnik. Dazu gehörten um 1470 die ersten Kanonen. Sie waren noch nicht auf Lafetten mit Laufrädern montiert, sondern wurden von frisch gezimmerten Holzgerüsten aus abge­ schossen.

Die Berner zwingen im Jahr 1443 das Habsburgtreue Bremgarten zur Kapitulation.

25

Station 2

Beschiessung einer Stadt mit einer Kanone.


2.2

Diebold Schilling: Bei Grandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut Diebold Schilling, Beschreibung der Burgundischen Kriege. Verlegt in Bern bei Franz Samuel Fetscherin, 1743.

26


Der Frieden, der nach dem Waldshuter Krieg geschlos­ sen wurde, verpflichtete Herzog Sigmund von Ös­ terreich-Tirol, eine Kriegs­ kostenentschädigung in Höhe von 10 000 Gulden an die Eidgenossen zu zahlen. Die lieh er sich vom damals reichsten Fürsten Europas, von Karl dem Kühnen, Herzog von Burgund. Als Pfand forderte Karl das Sundgau und das Elsass. So wurde einer der ehrgeizigs­ ten Männer seiner Epoche zum Nachbarn der Eidge­ nossen. Karl der Kühne machte sich wegen seiner ambitio­ nierten Pläne viele Feinde, darunter auch den franzö­ sischen König Ludwig XI., dem die Geschichte den Beinamen «l’araignée», die Spinne, gegeben hat. Lud­ wig XI. versammelte eine grosse Koalition gegen Karl den Kühnen, der sich auch die Eidgenossenschaft anschloss. Damit besass sie einen Vorwand, gegen Karl den Kühnen vorzugehen und auf sein Gebiet vorzu­ dringen. Sie mobilisierte ihre damals in Europa

einmalige Kriegsmaschine­ rie und schlug die Schlach­ ten, die heute der bekannte Reim zusammenfasst: Karl der Kühne verlor bei Grandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nan­ cy das Blut. Die Eidgenos­ sen erle­digten den Mann, der angetreten war, sich ein eigenes Königreich zu schaffen, in den beiden Jahren 1476 / 7.

Luzerner Chronik: Herzog Sigmund von Österreich verpfändet 1469 das Sundgau und das Elsass an Herzog Karl den Kühnen von Burgund.

27

Station 2

2.2  Diebold Schilling: Bei Grandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut


ner. Für ihn bestand kein Zweifel daran, dass nur der «Wüterich» und «Blutvergiesser» Karl der Kühne die Schuld an seinem Schicksal trug. Die Schilling-Chronik besteht aus drei Teilen: Der erste über­ nimmt – mit leichten Überarbei­ tungen – die Chronik von Kon­ rad Justinger. Der zweite enthält die Fortsetzung der JustingerChronik von Benedikt Tschacht­ lan. Der dritte Teil war neu. Er summierte die Zeitgeschichte der Jahre zwischen 1468 und 1480. Schillings Werk ist uns in mehreren, leicht voneinander abweichenden Varianten erhal­ ten: In der Berner Burgerbiblio­ thek liegt die vom Berner Rat autorisierte Fassung der grossen Burgunderchronik. Diebold Schilling fertigte eine Abschrift seiner Chronik an, die seine Witwe dem Zürcher Rat verkauf­ te, so dass sie heute in der Zent­ ralbibliothek aufbewahrt wird. Es entstand auf private Initiative des ehemaligen Berner Schult­ heissen Rudolf von Erlach noch eine weitere Ausgabe, die so genannte Spiezer Chronik, die unvollendet blieb und heute ebenfalls in der Burgerbibliothek liegt.

Ausgabe von 1743: Die Schlacht von Nancy am 5. Januar 1477

Bereits bevor die endgültigen Schlachten geschlagen waren, beauftragte der Berner Rat am 31. Januar 1474 den Schreiber Diebold Schilling, eine neue Chronik zusammenzustellen, um darin die Taten der Berner ins rechte Licht zu rücken. Der Rat zensierte Schillings Entwurf. Die Chronik enthält also die offizielle und zeitgenössische Version der Berner Sicht auf die Burgunderkriege, was nicht das gleiche ist wie die histori­ sche Wahrheit. Diebold Schilling rechtfertigte die Politik der Ber­

28


Die Hinrichtung der Besatzung von Granson in der Darstellung der Chronik von Johannes Stumpf

Diebold Schilling schildert in seiner Chronik die grosse Frömmigkeit der Berner, die vor der Schlacht von Grandson Gott um den Sieg anflehen, der – so die Berner Interpretation – nicht anders kann, als ihrer gerechten Sache den Sieg zu verleihen.

Wie die Erzählung des Diebold Schilling umge­ staltet wurde, illustriert das Geschehen vor der Schlacht von Grandson: Das war damals nicht Teil der Eidgenossenschaft, sondern burgundischer Besitz. Die Berner erober­ ten es 1475. Als 1476 ein bur­gundisches Heer Grandson zurückgewann, erzwang die befreite Be­ völkerung die Hinrichtung ihrer Besatzer durch Er­ tränken und Hängen.

Berner Chronik: Die Eid­genossen beten vor der Schlacht von Grandson

29

Station 2

2.2  Diebold Schilling: Bei Grandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut


Ausgabe von 1743: Die Schlacht von Grandson

Vor Grandson standen ca. 20 000 burgundische Söldner rund 18 000 eidge­ nössischen Elite­soldaten gegenüber. Der Ausgang der Schlacht kam nicht überraschend. Doch bis weit ins 20. Jahrhundert übernahm man Diebold Schillings Schilderung, die in der hier gezeigten Aus­ gabe von 1743 in folgen­ dem Gedicht zusammen­ gefasst wird:

Der an Geld und Ländern reiche Karl, der Burgunder Fürst Immer, immer nach mehr Ländern unersättlich hat gedürst, Dem vereinten Schweizer Land, das er sonst schon hart gedrückt zweimal 50 000 Mann hat er auf den Hals geschickt. Grandsons Besatzung übergab, aber wurde bald aufgehängt, Trotz der fürstlichen Zusage, und ein Teil im See ertränkt, Doch der kleine Schweizer Haufen bald rachegrimmig niederhakt, Tausende von der Burgunder Schar und grosses Gut als Beute einpackt.

30


2.2  Diebold Schilling: Bei Grandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut

Station 2

Welche hohe Bedeutung noch heute dem Sieg über die Burgunder beigemes­ sen wird, zeigt die Tatsache deutlich, dass Teile der Burgunderbeute heute noch stolz in Museen und Zeughäusern präsentiert werden. Wappenrock des burgundischen Herolds aus der Burgunderbeute im Zeughaus von Solothurn. Foto: KW.

31


2.2  Diebold Schilling: Bei Grandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut

Den frommen Schwei­ zern steht Karl der Kühne als Inkarnation des Ty­ rannen gegenüber, den seine Untertanen derart fürchten, dass sie sich kaum getrauen, ihm die Botschaft von den Nie­ derlagen bei Grandson und Murten zu überbrin­ gen. Das Gedicht kom­ mentiert:

Der ganze Held ist hin, wir finden ihn nicht mehr. Der Mensch vermochte ganz den Helden abzusetzen wie ist der helle Glanz von seinem Angesicht so düster, so verwelkt. Er flieht das Tageslicht und flöhe gern sich selbst; dieweil er ohne Grauen sein ödes, leeres Herz, sein Nichts, nicht kann beschauen.

Ausgabe von 1743: Karl der Kühne empfängt die Botschaft von Grandson und Murten.

32


Zudem bekleideten die Habsburger mittlerweile in dritter Generation das Amt eines Königs resp. Kaisers des Heili­gen Römischen Reichs. Damit bot dieser traditionelle Rückhalt der kleineren Reichsstände gegenüber den machtvollen Landesherren keine juristische Unterstützung mehr. Dies hatte zur Folge, dass sich die eidgenössischen Orte lang­sam aus der Reichspolitik zurückzogen. Hatte sich die eidgenössische Polemik bis Ende des 15. Jahrhunderts auf zahlreiche Adelsgeschlechter verteilt, konzentrierte sie sich nun auf die Habsburger. Massgeblich daran beteiligt war die Chronik des Petermann Etterlin. Es handelt sich um die erste Chronik der gesamten Eidgenossenschaft, die 1507 gedruckt wurde. Wir widmen ihr die dritte Station. 33

Station 2 Station 3 Station 4 Station 5

Als eigentlicher Gewinner der Burgunderkriege ging Maximilian I. von Habsburg hervor. Er heiratete wenige Monate nach dem Tod Karls des Kühnen seine Erbtochter Maria von Burgund. Sie brachte ihm als Mitgift den grössten Teil des Burgunderreichs. Dazu gehörten u. a. auch die Freigrafschaft Burgund, die direkt an eidgenössisches Gebiet grenzte, nicht zu vergessen, den Anspruch auf einige norditalienische Gebiete. Denkt man nun noch daran, dass sich auch das Vorarlberg und Teile der heutigen Kantone Graubünden und En­ gadin unter Habsburger Kontrolle befanden, wird klar, dass sich die Eidgenossen in einer Umklammerung befanden.

Station 6

Erzfeind der Schweizer Freiheit: Die Habsburger

Station 1

Station 3


3.1

Petermann Etterlin: Eine Chronik für die gesamte Eidgenossenschaft Petermann Etterlin: Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft Ir har kom[m]en und sust seltzam strittenn und geschichten. Verlegt bei Michael Furter in Basel, 1507.

34


Petermann Etterlin war der Sohn des Luzerner Stadt­ schreibers. Sein Vater gehörte nicht zur Ober­ schicht, und auch sein Sohn sollte nie in die poli­ tische Elite aufsteigen. Er blieb ein subalterner Schreiber, nahm an ver­ schiedenen Kriegszügen teil und soll sogar eine Weinschenke betrieben haben. Sein Geld verdiente er anderweitig. Etterlin war ein Geschöpf des in Luzern residierenden französi­

schen Botschafters, der im Namen seines Königs um eidgenössische Reisläufer warb. Für ihn beschaffte er Informationen und be­einflusste die öffentliche Meinung. Wie wenig Skru­ pel Petermann Etterlin dabei hatte, sehen wir daran, dass er 1507 einem Boten Maximilians I., der sich auf dem Weg nach Italien befand, abfing, um ihm seine Schreiben mit Gewalt abzunehmen und sie dem französischen Botschafter zu übergeben.

35

Die Eidgenossenschaft umklammert von Habs­burger Gebiet: Die geographischpolitische Situa­ tion 1499 vor dem Schwabenkrieg bzw. wie er in Deutschland heisst, dem Schweizerkrieg. Karte: Marco Za­ noli, cc-by 4.0.

Station 3

3.1  Petermann Etterlin: Eine Chronik für die gesamte Eidgenossenschaft


Ludwig XII. trifft 1508 die Vertreter der Heiligen Liga im Hoflager Maximilians I. Foto: KW.

Petermann Etterlin schil­ derte die Geschichte der Eidgenossenschaft als eine fortschreitende Befreiung aus der Unterdrückung der tyrannischen Habs­ burger. Dafür griff er auf lokale und fremde Erzähl­ motive zurück, die seit dem 15. Jahrhundert in der Schweiz kursierten. Zu diesen Sagen gehört der Rütlischwur, den ein Künst­ ler gekonnt ins Bild setzte.

Auf diesem Hintergrund müssen wir die Chronik von Petermann Etterlin verstehen. Er versuchte, die gebildete Elite der Eidgenos­ senschaft mit seiner Chronik davon zu überzeugen, dass es besser sei, auf Seiten des franzö­ sischen Königs in den Krieg zu ziehen, als auf Seiten der Habs­ burger, die durch ihre geographi­ sche Nachbarschaft gleichzeitig bedrohlich wirkten. Noch war der Schwabenkrieg von 1499 in frischer Erinnerung, bei dem die Eidgenossen bei Dornach das kaiserliche Heer besiegt hatten. Petermann Etterlins Chronik gewann ihre grosse Bedeutung durch die Tatsache, dass sie – an­ ders als das Weisse Buch von Sarnen, das unter anderem den Wilhelm-Tell-Mythos erstmals erzählt – in gedruckter Form vorliegt. 1507 wurde Etterlins Chronik bei Michael Furter in Basel publiziert.

Rütli-Schwur

36


Die gleiche Bedeutung hat die Geschichte des Vogts zu Unterwalden, den ein Bauer in der Badewanne erschlagen haben soll, weil er seine Frau vergewaltigte. Diesen Topos können wir bis in die Antike zurück­ verfolgen: Brutus stürzte den letzten König von Rom wegen der Vergewaltigung von Lucretia.

Wilhelm Tell schiesst seinem Sohn einen Apfel vom Kopf

Aus dem Weissen Buch von Sarnen stammt die Geschichte des wackeren Wilhelm Tell, der seinem Kind auf Befehl des grau­ samen Vogts der Habsbur­ ger einen Apfel vom Kopf schiesst. Der Vogt zu Unterwalden wird im Bad ermordet

37

Station 3

3.1  Petermann Etterlin: Eine Chronik für die gesamte Eidgenossenschaft


Die Anführer der schwäbischen Städte suchen ein Bündnis mit den Eidgenossen.

Holzschnitte waren teuer. Deshalb nutzte man den­ selben Holzschnitt, um verschiedene historische Begebenheiten zu illustrie­ ren. Man kann sich übri­ gens fragen, wer für die

prachtvolle Ausstattung des Buchs zahlte. Weder der Drucker Michael Fur­ ter noch der Autor Peter Etterlin verfügten über das notwendige Geld.

38


Petermann Etterlin: Das Weiterleben des Freiheitsmythos bis in die Neuzeit Petermann Etterlin, Kronica von der loblichen Eid­ gnoschaft, bearbeitet von Johann Jakob Spreng

Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, Zweyter Teil Von Anno MCCCCXV (= 1415) bis A. MCCCCLXX (= 1470)

Verlegt in Basel bei Daniel Eckenstein, 1752.

Verlegt bei Hans Jakob Bischoff in Basel, 1736.

39

Station 3

3.2


Johann Heinrich Füssli, Skizze zu «Der Rütli-Schwur». Art Institute of Chicago.

len die Schweizer Geschichte, wie sie die Chronisten des 15. und 16. Jahrhunderts über­ liefert hatten, unverändert gelehrt wurde, hinterfragten unkonventionelle Intellektuel­ le, die an den neuen Lehrstüh­ len für Schweizer Geschichte ausgebildet worden waren, eben diese Mythen und erreg­ ten so das Missfallen der natio­ nal gesinnten Bürgerschaft. Dafür steht die Auseinanderset­ zung um Wilhelm Tell, dem der Schweizer Theologe Uriel Freu­ denberger 1760 anonym eine Abhandlung widmete. Unter dem Titel «Der Wilhelm Tell. Ein dänisches Mährgen» veröffent­ lichte er eine Broschüre, in der er den Tellmythos als Topos entlarvte, der auch in anderen Kulturkreisen bekannt sei. Freudenbergers Schrift wurde auf Betreiben national gesinn­ ter Politiker verboten und in der Innerschweiz sogar vom Scharfrichter verbrannt.

Das Werk von Petermann Et­ terlin gehört zu den zentralen Quellen, aus denen der auf­ keimende Nationalismus des 18. Jahrhunderts seine Über­ lieferung bezog. Das war ein zweischneidiges Schwert. Während an den höheren Schu­

40


Auf diesem intellektuellen Hin­ tergrund muss man die Neuaus­ gabe von Etterlins Chronik durch Jakob Spreng im Jahr 1752 ver­ stehen. Johann Jakob Spreng war ein Schweizer Theologe, der bereits im Alter von 25 Jahren von Kaiser Karl VI. als kaiserli­ cher Dichter geehrt wurde. Er kehrte 1742 in seine Basler Hei­ mat zurück, wo er seit 1743 eine

ausserordentliche Professur für Eloquenz und deutsche Dich­ tung bekleidete. Seine Überset­ zung Etterlins aus dem Früh­ neuhochdeutschen in die Um­gangssprache des 18. Jahrhun­ derts mag mit dafür verantwort­ lich sein, dass man ihm 1754 eine ausserordentliche Professur in Schweizer Geschichte an­trug.

Epitaph des Johann Jakob Spreng. Epitaph an der Kirche St. Theodor / Basel. Foto: Ein Dao, cc-by 4.0.

41

Station 3

3.2  Petermann Etterlin: Das Weiterleben des Freiheits­mythos bis in die Neuzeit


Einführung von Johann Jakob Spreng zum Werk Etterlins

Spreng schickte dem Buch eine ausführliche Einfüh­ rung voraus, in der er zu erklären versuchte, warum Etterlin so viele Recht­ schreibfehler gemacht habe. Tatsächlich verur­ sachte nicht die Fahrläs­

sigkeit des Druckers die vielen «Fehler», wie Etter­ lin meinte, sondern die Tatsache, dass sich erst wesentlich später Recht­ schreibregeln heraus­ bildeten.

42


3.2  Petermann Etterlin: Das Weiterleben des Freiheits­mythos bis in die Neuzeit

Station 3

Spreng versuchte dem Leser das Verständnis des Textes durch Anmer­ kungen zu erleichtern und erklärte ihm auf S. 29, warum die Geschichte um Wilhelm Tell glaub­ würdig ist.

Die Geschichte von Wilhelm Tell

43


Auszug aus dem von Spreng erstellten Register zu Etterlin

Auch das Register zeugt von der naiven Kritiklosig­ keit, mit der Spreng die Geschichtsinterpretation Etterlins übernimmt. Seine kurzen Zusammenfassun­ gen sind vielsagend. So kommentiert er das Stich­ wort «Landvögte derer von Uri, Schweiz und Unter­ walden» mit den Worten «regieren tyrannisch, wer­den vertrieben».


Die Reformierten verbuchten dabei einen entscheidenden Vorteil für sich: Sie beherrschten die urbanen Zentren mit ihren Universitäten und Druckereien und verfügten so über wesentlich bessere Verbreitungsmöglichkeiten ihres Geschichtsbilds. Wir illustrieren dies anhand von vier Chroniken.

45

Station 2 Station 3 Station 4

Diese Glaubensspaltung auf engstem Raume löste unter Theologen (sic!) aller Konfessionen eine erhitzte Dis­kussion über die Interpretation der gemeinsamen Ver­gangenheit aus. Ganz im mittelalterlichen Gnaden­ verständnis verwurzelt, galt ihnen historischer Erfolg als zentraler Beweis dafür, welche Religion Gott ge­fällig sei.

Station 5

Man lässt heute die Schweizer Reformation gerne mit dem Jahr 1522 beginnen, als im Haus des Druckers Christoph Froschauer das berühmte «Wurstessen» stattfand. Der reformatorische Prozess endete damit, dass eine Reihe von Ständen wie Zürich, Bern, Basel, Genf und Schaff­hausen den reformierten Glauben als Staats­reli­gion einführten, während sich andere Orte der Eid­ge­nossenschaft weiterhin zum katholischen Glauben be­kannten.

Station 6

Glaubensfragen

Station 1

Station 4


4.1

Aegidius Tschudi: Der Vater der Schweizer Geschichte Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, Zweyter Teil Von Anno MCCCCXV (= 1415) bis A. MCCCCLXX (= 1470) Verlegt bei Hans Jakob Bischoff in Basel, 1736.

46


4.1  Aegidius Tschudi: Der Vater der Schweizer Geschichte

Aegidius Tschudi war ein Zeit­ genosse der Reformation. Er stammte aus einer der ältesten und einflussreichsten Familien des Glarus, was man z. B. daran sieht, dass es sein Vater war, der die Glarner vor Marignano be­ fehligte. Tschudi erhielt seinen ersten Unterricht von Huldrych Zwingli, damals Pfarrer in Gla­ rus. Mit elf Jahren ging Tschudi zum Studium erst nach Basel, dann nach Paris, damals Heimat der berühmtesten theologischen Fakultät Europas. 1529 finden wir ihn wieder im Glarus. Er bekleidete hohe Ämter und setzte dabei auf das friedliche Miteinander beider Konfessionen. Dafür nutzte er seine Leidenschaft, die Ge­ schichte. Sein Werk sollte refor­ mierten und katholischen Schweizern ihre Wurzeln vor Augen führen und so eine Identi­ fikation mit einer gemeinsamen Geschichte ermöglichen. Dafür führte er die Schweizer auf die Helvetier zurück, die prominent im Werk Caesars genannt sind. Die Zeit der Reformation sparte

Station 4

er in seiner Geschichte program­ matisch aus. Tschudi kopierte Inschriften, sammelte Münzen und nutzte die alten Schriftsteller genauso wie die eidgenössischen Archive. Damit leistete er Pionierarbeit. Berühmt machte ihn sein Werk «Das wirklich uralte Raetien in den Alpen», das 1538 in Basel erschien. Es war das einzige seiner Bücher, das zu seinen Lebzeiten in Druck ging.

Aegidius Tschudi (1505–1572).

47


Seite aus Tschudis Handschrift des Chronicon Helve­ ticum von 1555; das kleine Strichmännchen soll Wilhelm Tell sein

Als Sekretär der Tagsatzung in Baden erlebte Tschudi an vor­ derster Front das aggressive Verhalten der reformierten Orte, die ihrerseits die altgläubigen Orte zu zwingen versuchten, die reformierte Predigt einzuführen. Auch Tschudi radikalisierte sich und so trägt der «Tschudi-Han­ del», eine militärische Aktion, die eine Rekatholisierung der Schweiz durch die Innerschwei­ zer Orte zum Zweck hatte, sei­ nen Namen. Der Plan scheiterte und Tschudi ging nach Rappers­ wil ins Exil. Auch wenn er 1565 nach Glarus zurückkehrte, war seine politische Karriere vor­bei. Seine 1571 fertiggestellte Schweizer Geschichte wurde nicht gedruckt. Sie wurde zwar von Historikern immer wieder für ihre Zwecke ausgeschlachtet, aber erst 1736 publiziert.

Dennoch hatten Tschudis For­ schungen weitreichenden Ein­ fluss auf die Ergebnisse anderer Historiker. Er versorgte alle, die eine Schweizer Geschichte schrieben, grosszügig mit Infor­ mationen. Besonderer Nutznies­ ser war Johannes Stumpf, der Tschudis Forschungen nutzte, um Stimmung gegen die Katho­ liken zu machen. Tschudi be­ klagte sich in einem Brief vom 11. Dezember 1547 bitterlich über die Polemik gegen Mönche und Bilderverehrung in Stumpfs Chronik.

48


4.1  Aegidius Tschudi: Der Vater der Schweizer Geschichte

Erste Seite von Tschudis Chronicon Helveticum

Station 4

Iselin erwähnt in seiner Vorrede, dass Abschriften der Geschichte Tschudis bereits vor ihrem Druck in den meisten katholischen Kirchen und in vielen Bibliotheken reformierter Städte zu finden waren.

Verantwortlich dafür zeichnete Johann Rudolf Iselin (1705–1779), ein Schweizer Jurist, der sich als Historiker und Publizist betätigte.

Vorwort von Johann Rudolf Iselin

49


Johannes von Müller (1752–1809)

Johannes Müller war der bedeutendste Schweizer Historiker des 18. Jahrhun­ derts. Sein Ruhm beruht zum grossen Teil darauf, dass er Tschudis Werk rezipierte. Er sagt über ihn: «So weit dieser [Tschudi] geht, ist Licht und Klarheit, vor ihm und nach ihm Finsternis und Dunkel.»

Vorwort von Johannes Rudolf Iselin

In seiner Einleitung zum zweiten Band sah sich Iselin gezwungen, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, er habe die katholische Polemik aus Tschudis Werk entfernt. Seine Zeitgenossen konn­ ten sich nicht vorstellen, dass seine Geschichte ohne Polemik auskam.

50


Station 4

4.1  Aegidius Tschudi: Der Vater der Schweizer Geschichte

Darstellung aus Wilhelm Tell von Friedrich Schiller, veröffentlicht 1804 in Tübingen. Foto: KW.

Über das Werk des Johan­ nes Müller kam Friedrich Schiller erstmals mit der Tell-Legende in Kontakt. Goethe lieferte ihm dazu den Originaltext von Aegi­ dius Tschudi. Er hatte sich Iselins Ausgabe von 1736 beschafft.

51


4.2

Johannes Stumpf: Der reformierte Blick Johannes Stumpf, Gemeiner Löblicher Eidgenossenschaft Städte, Länder und Völker Chronik, würdiger Taten Beschreibung. Verlegt in Zürich bei Christoph Froschauer, 1586.

52


4.2  Johannes Stumpf: Der reformierte Blick

Der reformierte Theologe Johan­ nes Stumpf schrieb die bis heute bekannteste Chronik der Schweiz. Sie verdankt ihren Ruhm nicht ausschliesslich seinem Text, sondern auch der exquisiten Bebilderung. Ihr Verleger Christoph Froschauer holte dafür einen der besten Buchillustratoren seiner Zeit: Heinrich Vogtherr den Älteren (1490-1556), selbst ein Drucker und Anhänger des reformierten Glaubens. Christoph Froschauer schrieb darüber am 18. Januar

Station 4

1545 an den St. Galler Histori­ker Joachim von Watt: «Um die Chronik steht es folgender­ massen: ich habe seit Martini (= 11. November) den besten Maler, den es derzeit gibt, bei mir im Haus. Ich gebe ihm jede Woche 2 Gulden und Essen und Trinken; er macht nichts ande­ res, als Holzschnitte für die Chronik. Daran werden keine Kosten gespart!» Diese rund 400 Holzschnitte illustrieren die erste Schweizer Chronik aus reformierter Sicht.

Druckermarke von Christoph Froschauer aus dem Jahr 1525

53


sich Stumpf für seine Publikation stützte. Mit seiner Arbeit wollte Stumpf das gescheiterte Vorgehen Zwinglis ver­ teidigen, der mit militäri­ scher Gewalt versucht hatte, die Reformation in der gesamten Schweiz durchzusetzen und so die Eidgenossenschaft religiös zu einen. Den Erzfeind sah er in den katholischen Habsburgern, die zeit­ gleich im Reich versuchten, die Reformation zurück­ zudrängen. Dieser Streit gipfelte 1547 – kurz vor der Erstpublikation von Stumpfs Chronik – in der Schlacht von Mühlberg, in der die Truppen Kaiser Karls V. die protestanti­ schen Reichsstände unter­ warfen.

Johannes Stumpf (1500 – 1577 / 78)

Ihr Autor, Johannes Stumpf, war mit Haut und Haar ein Anhänger Zwing­ lis und eigentlich gar kein Historiker. Der studierte Theologe kam in den 1520er Jahren nach Zürich, wo er 1529 die Tochter von Heinrich Brennwald heiratete. Auch Brennwald gehörte zu den zentralen Gestalten der Zürcher Reformation. Er hatte eine vierbändige Schweizer Chronik verfasst, auf die

54


4.2  Johannes Stumpf: Der reformierte Blick

vergewaltigt haben soll. Karl V. war über die Stumpfsche Chronik und ihre Sicht auf die Habsbur­ ger so verärgert, dass er das Buch im Reich verbot und einen Haftbefehl gegen Autor und Verleger erliess.

Station 4

Johannes Stumpf betonte die anti-habsburgischen Mythen seiner Vorgänger. Er schilderte nicht nur die Geschichte von Wilhelm Tell, sondern auch die Ermordung des Vogts zu Unterwalden im Bad, der die Frau seines Mörders

Johannes Stumpf, Chronik von 1586: anti-habsburgische Mythen

55


Titelblatt der Stumpfschen Chronik von 1606

Sein Verbot blieb ohne Wirkung. Die Chronik wurde ein Erfolg. Ihrer Erstausgabe von 1548 folgte 1586 eine zweite,

die wir Ihnen zeigen. 1606 erschien eine dritte Auf­l age, von der das Mo­ neyMuseum ebenfalls ein Exemplar besitzt.

56


4.2  Johannes Stumpf: Der reformierte Blick

Die Stumpf-Chronik ist das erste gedruckte Werk, das die römische Ge­ schichte der gesamten Schweiz behandelt. Dies gelang Stumpf nur, weil ihn u. a. Aegidius Tschudi

Station 4

und Joachim von Watt grosszügig unterstützten. Das Kapitel über den Thurgau stammt praktisch vollständig von Joachim von Watt.

Die Geschichte des Thurgaus in der Stumpfschen Chronik, geschrieben von Joachim von Watt

57


Karte des Bodensees und des Gebietes von Zürich

Berühmt wurde Stumpf vor allem wegen seiner Karten. Sie waren so ge­ sucht, dass sie 1552 in einem eigenen Kartenwerk zusammengefasst und nachgedruckt wurden.

Wenn Ihnen die Darstel­ lung ungewohnt vor­ kommt, denken Sie daran, dass sich die «Nordung» erst im 19. Jahrhundert durchsetzte.

58


4.2  Johannes Stumpf: Der reformierte Blick

Stumpf hatte den An­ spruch, eine Weltchronik zu schaffen, die bis zur Erschaffung der Welt zu­ rückreichte, also ins Jahr

Station 4

1183 vor Christi Geburt. Sie thematisiert den Trojani­ schen Krieg, die Flucht des Aeneas und die Gründung Roms.

Faustulus bringt seiner Frau Romulus und Remus nach Hause / Der Bau Roms

59


4.3

Werner Schodeler: Vergraben in den Archiven Werner Schodeler, Eidgenössische Chronik Manuskript, 1510–1535. Faksimile

60


Schodelers Familie stammte aus Bremgarten. Seine Vor­ fahren hatten als Untertanen der Habsburger gegen die Eidgenossen gekämpft, bis die Stadt von ihnen im Jahr 1415 erobert worden war. Bremgar­ ten war nicht wie Zürich oder Bern reformiert. Hier herrschte nach dem Ersten Kappler Krieg kurzfristig konfessionel­­le Gleichberechtigung. Doch nachdem Zwinglis Versuch gescheitert war, in der ganzen Schweiz die reformierte Predigt durchzusetzen, wurde Brem­ garten unter Zwang rekatholi­ siert.

Das gedruckte Buch löste das handgeschriebene Manuskript nicht von einem Tag auf den anderen ab. Im Gegenteil. Bis in das 18. Jahrhundert schrieben all diejenigen, die sich ein gedrucktes Buch nicht leisten konnten, das daraus ab, was sie interessierte. Und selbstver­ ständlich blieben viele Bücher – wie die Schweizer Geschichte des Aegidius Tschudi – nur im Manuskript und vielen Ab­schriften erhalten. Dieses Schicksal teilte die letzte han­ dillustrierte Schweizer Bilder­ chronik, die der Bremgartner Bürger Werner Schodeler auf eigene Kosten zwischen 1510 und 1535 anfertigte und auf­ wändig illustrieren liess.

Darstellung Bremgartens aus der Schodeler Chronik

61

Station 4

4.3  Werner Schodeler: Vergraben in den Archiven


dieser Funktion machte er die Mailänder Kriege mit. Trotz seiner Talente und seiner Heirat mit einer Angehörigen der Zürcher Führungsschicht machte Schodeler keine Karriere. Vielleicht war er für seine Epoche zu tolerant. Er weigerte sich, seinen ka­tholischen Glauben auf­ zugeben, und hielt gleich­ zeitig, wie Joachim von Watt über ihn schrieb, viele Dinge für christlich, die von den Päpsten für häretisch gehalten wurden. Atmet die Chronik, die er auf eigene Initiative und Kosten verfasste, diesen Geist? Wir wissen es nicht. Sein zwischen 1510 und 1535 niedergeschriebenes Buch liegt bis heute nur als Faksimile vor. Es wurde bis heute nicht transkribiert und ediert.

Titelblatt des dritten Bands der Schodeler Chronik

Werner Schodeler war ein hervorragend informierter Zeitzeuge der Reformation. Er wurde 1490 geboren. Kurz nach 1500 trat er seine Lehre in der Berner Kanzlei an, wo der immer zu Scherzen aufgelegte Junge – so überliefern es uns Eintragungen in den Berner Archiven – zum Schreiber ausgebildet wurde. 1509 übernahm er den Posten des Bremgart­ ner Stadtschreibers. In

62


4.3  Werner Schodeler: Vergraben in den Archiven

Der zweite, üppig illust­ rierte Band, heute im Stadtarchiv von Bremgar­ ten, deckt die Jahre zwi­ schen 1436 und 1466 ab. Er beruht hauptsächlich auf der Chronik des Luzerners Hans Fründ, dessen Dar­ stellung heute als sachlich und kritisch beschrieben wird. In den 1950er Jahren bezeichnete man seinen Stil wegen seiner Zürichkritischen Haltung noch als «weinerlich».

Station 4

Schodeler Chronik 1. Band: Von den Wunderzeichen

Der erste Band, der wahr­ scheinlich zuletzt entstand, enthält eine redigierte Version der Tschacht­ lan-Chronik. Er wird heute in der Leopold-Sophi­ en-Bibliothek von Über­ lingen aufbewahrt. Dieser Band enthält zwar die Leerstellen für die Illustra­ tionen, aber wenig Bilder. Vielleicht war Schodeler das Geld ausgegangen.

Schodeler Chronik 2. Band: Rückzug der Zürcher Truppen nach der Niederlage von Pfäffikon im Alten Zürichkrieg

63


Das Standardwerk zur Schweizer Geschichts­ schreibung urteilt über Schodeler: «Der selbstän­ dige Teil ... zeichnet sich durch Umsicht, Ordnung und Überblick aus; man spürt die Wirkung des neuen Geistes, Tempera­ ment und Freimut; in seinen Urteilen schont er die Eidgenossen nicht.»

Schodeler Chronik 3. Band: Transport einer Kanone, inzwischen mit einer Lafette auf Rädern, sowie einer Kanonenkugel Schodeler Chronik 3. Band: Eidgenössische Truppen treiben ihre Beute weg

Der dritte Band, der in der Aargauer Kantonsbiblio­ thek liegt, beschäftigt sich mit dem Zeitraum zwi­ schen 1468 und 1525, umfasst also die Zeit der Reformation. Sein grösster Teil ist von Werner Scho­ deler selbst verfasst.

64


4.3  Werner Schodeler: Vergraben in den Archiven

Die Darstellungen des dritten Bands sind schwarz-weiss, atmen aber bereits die Kunstauf­ fassung der Renaissance. Diese Darstellung eines Mahls Karls des Kühnen gibt uns einen realisti­ schen Einblick in die Tafelgewohnheiten der Renaissance.

65

Station 4

Schodeler Chronik 3. Band: Festessen Karls des Kühnen


4.4

Josias Simler: Schweizer Basics Josias Simler, Regiment Gemeiner loblicher Eydgnoschafft. Verlegt in Zürich bei Christoph Froschauer dem Jüngeren, 1577.

66


Josias Simler gehört der Generation nach Tschudi, Stumpf und Schodeler an, also einer Generation, in der die Reformation zur Normalität geworden war und in der – vorläufig – Frieden zwischen refor­ mierten und katholischen Ständen herrschte, zumin­ dest im Heiligen Römi­ schen Reich, zu dem sich die Schweiz noch zählte. Simlers Vater war Geistli­ cher und auch er selbst studierte Theologie, finan­ ziell unterstützt vom Züri­

cher Staat auf die Vermitt­ lung seines Paten, des Zürcher Antistes Heinrich Bullinger. 1552 wurde Josias Simler Professor für die Exegese des Neuen Testaments am Zürcher Carolinum. Seine Tätigkeit liess Simler genügend Zeit, sich mit Geschichte, Geogra­ phie, Archäologie und Philologie zu beschäftigen. Er arbeitete zeitlebens an einer grossen Schweizer Geschichte, die unvollen­ det blieb.

Josias Simler (1530–1576)

67

Station 4

4.4  Josias Simler: Schweizer Basics


Ein Kompendium der Schweizer Verfassung(en)

Werk von Stumpf und lieferte seinen Lesern so eine Kurzfas­ sung, die wesentlich weitere Verbreitung fand als das längere Original. Neu war der zweite Teil. Darin fasste Simler sein Wissen über den «Staat» der Eidgenossen zusammen, also welcher Rechts­ status in welchem Schweizer Gebiet galt. Für Simler war die Schweiz nur auf emotionaler Basis ein «Staat», die verschiede­ nen Orte, die ihre Politik in der Tagsatzung abstimmten, waren rechtlich unabhängig.

Stattdessen gab Josias Simler die von ihm gesammelten Informa­ tionen kurz vor seinem Tode in einem leicht benutzbaren Kom­ pendium heraus. 1576 erschien das Buch, das vom MoneyMuse­ um an dieser Station in seiner deutschen Erstausgabe von 1577 gezeigt wird. Der Titel würde ins moderne Deutsch übersetzt heissen: «Zwei Bücher über das Staatswesen der Schweizer». Simlers Werk ist mehr als eine Chronik. Nur sein erster Teil ist der Schweizer Geschichte gewid­ met. Für ihn exzerpierte er das

68


4.4  Josias Simler: Schweizer Basics

Seite 177 ist der Schweizer Tagsatzung gewidmet, die Simler als Tagleistung bezeichnet. Sie wurde, wie er berichtet, zu seiner Zeit ausschliesslich im Rathaus von Baden abge­ halten, weil die Stadt we­ gen der heissen Quellen über angemessene Gast­ häuser und genügend Vorräte für die Gesandten verfügte.

Wie komplex die Rechts­ verhältnisse noch im 15. Jahrhundert waren, sieht man an Simlers Darstellung zum Rechts­ status des Kelleramts, eines Gebiets zwischen Affoltern, Bremgarten und der Reuss. Es gehörte ursprünglich zu Zürich, wurde an Bremgarten verpfändet, das die niede­ re Gerichtsbarkeit besass, während das Appellations­ gericht und die Blutge­ richtsbarkeit in Zürich ausgeübt wurde.

Zur Tagsatzung in Baden

69

Station 4

Ausführungen zum Bremgartner Kelleramt


Der Mythos von den weggetriebenen Ochsen

Josias Simler betrieb keine Quellenkritik, sondern übernahm, was er fand. In diesem Fall ist es die Ge­ schichte vom bösen Habs­ burger Knecht, der dem alten Bauern die Ochsen wegtreiben will.

70


4.4  Josias Simler: Schweizer Basics

Station 4

Simler war ein guter Er­ zähler, der die alten Ge­ schichten schön zu gestal­ ten verstand. Dieser Text handelt vom Mythos des Bauern Konrad von Baum­ garten, der den Amtmann von Wolffenschiess im Bad erschlug, weil der die schö­ ne Bäuerin zu verführen versuchte.

Der im Bad erschlagene Amtmann

71


Simler, De re publica Helvetiorum libri duo von 1734

Simlers Werk gehört zu den erfolgreichsten Chro­ niken der Schweiz. Nach der Erstausgabe in Latein wurde bereits im folgen­ den Jahr eine französische

und die deutsche Ausgabe publiziert. Als Johann Jakob Leu 1735 seine neu­bearbeitete Aktualisierung veröffentlichte, war es in 38(!) Ausgaben erschienen.

72


Unsere moderne Geschichtsforschung ist stolz darauf, keine Aussage ungeprüft zu übernehmen. Natürlich war es dorthin ein langer Weg. Wir stellen Ihnen in dieser Station zwei Historiker vor, die sich auf diesen Weg be­ gaben: Michael Stettler publizierte 1626 im Auftrag des Berner Rats eine neue Chronik. Sein Werk setzte Jakob Lauffer in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts fort, wobei wir Ihnen nicht Lauffers Bände zeigen, sondern die Unter­suchungen, die Johann Jakob Bodmer unter Lauffers Namen publizierte. 73

Station 2 Station 3 Station 4 Station 5

Die Reformation mit ihrer neuen, textbasierten Form der Argumentation hatte die katholische Geistlichkeit überrascht. Vor allem die Jesuiten begannen, den Studenten eine mindestens genauso gute Ausbildung zu geben, wie sie ihre reformierten Kollegen in Tübingen, Wittenberg, Strassburg oder Basel erhielten. Es entstand die so genannte Kontroverstheologie, in der sich Angehörige beider Konfessionen damit beschäftigten, die Werke der jeweils anderen Glaubensrichtung systematisch auf Irr­ tümer abzuklopfen und zu widerlegen. Dafür wurde auch das Instrumentarium der Historiker weiterentwickelt. Wir sprechen heute von Quellenkritik. Darunter verstehen wir die Fragen, die ein Historiker an seine Quelle stellt, wenn er herausfinden will, welche historische Botschaft eine Inschrift, eine Münze, eine Archivalie oder eine Chronik enthält.

Station 6

Kann Geschichte neutral sein?

Station 1

Station 5


5.1

Michael Stettler: Unparteiisch und zum Lob der Altvorderen? Michael Stettler, Gründliche Beschreibung der denkwürdigsten Geschichten und Thaten, welche in den Helvetischen Landen ... bis auf das 1627. Jahr ... sich zugetragen ... Verlegt bei Jacob Stuber in Bern, 1626.


5.1  Michael Stettler: Unparteiisch und zum Lob der Altvorderen?

Es war ein Spagat, eine offizielle, von Staats wegen finanzierte Chronik auf Quellen basiert zu schrei­ ben, und man darf durch­ aus kritisch sein, ob dies Michael Stettler gelang. Er gehörte selbst zur Berner Oberschicht und machte im Staatsdienst eine be­ scheidene Karriere. Als Schreiber des Ehegerichts, das über das moralische Verhalten der Berner ur­ teilte, besass er Zugang zu einem Teil der städtischen Archive. Bereits in jungen Jahren verfasste Stettler ein «kurzes poetisches Ge­ dicht einer hochlöblichen Eidgenossenschaft» und eine Tragikomödie über den «Ursprung der löbli­ chen Eidgenossenschaft» in 33 Akten. 1614 gab der Berner Rat seiner Bitte Gehör, ihm alle – auch die geheimen – Archive zu öffnen, damit er eine Fortsetzung der Ber­

Station 5

ner Chronik schreiben könne. 1623 überreichte Stettler sein Manuskript zu den Geschehnissen der Jahre 1526 bis 1610 dem Rat in zehn Bänden. Ehe das Werk in Druck gehen durfte, wurde es von den Ratsmitgliedern zensiert. Diese von staatlicher Seite kontrollierte Fassung er­hielt am 25. März 1625 die Publikationserlaubnis.

Michael Stettler (1580–1642) mit seiner Berner Chronik

75


Einleitung zu Stettlers Gründlicher Beschreibung.

einen von Gott verhängten Weltenplan, sondern um Ursache und Wirkung, um eine logische Abfolge von Ereignissen, bei der eine politische oder militäri­ sche Massnahme ein genau umrissenes Ergeb­ nis zeitigt. Für seine Re­ konstruktion der Ereignis­ se konsultierte Michael Stettler die Primärquellen wie Urkunden, Akten und Verträge. Dass er sein Werk der Berner Zensur unterwer­ fen musste, war für Stettler nicht ausschlaggebend. Er stellte eigene Wertungen in den Hintergrund, be­ schränkte sich auf eine Wiedergabe von Tatsachen. Dass bereits die Auswahl und Zusammenstellung von historischen Tatsa­ chen eine Bewertung darstellt, dessen war sich Stettler nicht bewusst.

Michael Stettler beschreibt in seiner Einleitung, was Geschichte leisten soll. So sind für ihn historische Analogien die Richtschnur, an der zeitgenössische Politiker lernen, welche Handlung welche Folgen hat. Doch um diese Richtschnur zu sein, muss­ te Stettler einen frischen Blick auf das Geschehen werfen. Seine Chronik dreht sich nicht mehr um

76


5.1  Michael Stettler: Unparteiisch und zum Lob der Altvorderen?

Michael Stettler schreibt auf dem Titelblatt, er habe nicht nur die zuverlässigs­ ten Autoren kopiert, son­ dern auch die wichtigsten Archive konsultiert. Wich­ tig ist ihm dabei, die Un­

parteilichkeit zu versi­ chern, mit der er alles zum Lob der verehrten Vorfah­ ren zusammentrug. Un­ parteilichkeit und Lob ist für ihn kein Gegensatz.

Station 5

Titelblatt der Chronik von 1626


Wir dagegen dürfen Stett­ lers Neutralität durchaus bezweifeln, vor allem wenn er sich jeder Kritik an den Berner Politikern enthält, auffällig vor allem in seiner Schilderung der Mailänder Kriege. Stettler zu den Mailänder Kriegen

78


5.1  Michael Stettler: Unparteiisch und zum Lob der Altvorderen?

Die verheerende Niederla­ ge von Marignano, die nach modernen Schätzun­ gen rund 9 – 10 000 der ca. 22 000 Söldner das Leben kostete, war verursacht worden, weil sich ein Teil der Söldner – darunter auch die Berner Kontin­ gente – aus dem Vertrag mit dem Papst zurück­ zogen, um einen neuen (und lukrativeren) Vertrag mit Frankreich zu schlies­ sen.

Station 5

Ferdinand Hodler, Studie zum «Rückzug von Marignano»

79


Stettler zu den Mailänder Kriegen

Führten frühere Autoren diese Niederlage auf die unchristliche Geldgier der Söldner zurück, machte Stettler Papst Leo und den spanischen König verant­ wortlich, während er die Eidgenossen als «unschul­ dig und teils übel verführt» darstellt.

80


5.1  Michael Stettler: Unparteiisch und zum Lob der Altvorderen?

enten Amman der Bünd­ ner das Fett ausgelassen, um damit ihre Waffen und Stiefel zu schmieren, wür­ de bei uns ebenfalls nicht als neutral gewertet wer­ den.

Station 5

Die dem Verstand wider­ sprechende Schilderung, die deutschen Landsknech­te hätten nach Marignano die Fahnen der Eidgenos­ sen kleingeschnitten, um sie auf dem Salat zu ver­ speisen, und dem korpul­

Stettler zu den Mailänder Kriegen

81


5.2

Jakob Lauffer: Mehr Anmerkungen als Text Johann Jakob Bodmer im Namen von Johann Jakob Lauffer, Beyträge zu der Historie der Eidsgenossen. Verlegt in Zürich bei Conrad Orell und Company, 1739.

82


5.2  Jakob Lauffer: Mehr Anmerkungen als Text

Johann Jakob Lauffer (1688– 1734) gilt als der letzte staatlich unterstützte Chronist von Bern. Er stammte aus Zofingen, stu­ dierte an der Berner Akademie und in Halle Theologie. Nach seiner Rückkehr nach Bern über­trug man ihm 1718 die Professur für Eloquenz und Geschichte. 1724 übernahm er mit grossem Widerstreben den Auftrag, eine Bernische Geschichte zu schrei­ ben. Er selbst sagt darüber: «Es ist auch sehr gefährlich, in einer Republik eine Geschichte zu

schreiben. Ein wahrheitslieben­ der Mann kann nicht vermeiden, mehrere Familien zu verletzen und sie sich zu verfeinden.» Tatsächlich musste Johann Jakob Lauffer diese Gefahr nicht auf sich nehmen. Seine Ge­ schichte wurde erst nach seinem plötzlichen Tod zwischen 1736 und 1739 in Zürich publiziert, selbstverständlich erst nachdem der Berner Rat das Geschichts­ werk begutachtet und zensiert hatte.

83

Station 5

Ansicht der Stadt Bern von 1757


der Bodmer vier eigene Bände folgen liess. Bodmer verband mit ihrer Publikation sein eigenes Anliegen. Er kämpfte für ein Schweizer Nationalge­ fühl, das durch eine ge­ meinsame Geschichte gefördert werden sollte. Deshalb bekleidete der studierte Theologe und gelernte Seidenhändler seit 1731 den Lehrstuhl für Helvetische Geschichte am Zürcher Carolinum. Bod­ mer war ein Aufklärer. Auch wenn er die nationa­ len Mythen nutzte, um das Schweizerische National­ gefühl zu fördern, durften die Inhalte nicht dem Verstand widersprechen. Seine Bücher richteten sich an die intellektuelle Oberschicht, nicht an eine breite Masse. Deshalb bewegten sich seine Ab­ handlungen auf dem neuesten Stand des dama­ ligen Wissens. Bodmer zitierte seine Quellen und kommentierte sie kritisch.

Johann Jakob Bodmer (1698–1783)

Verantwortlich dafür zeichnete Johann Jakob Bodmer, Zentrum des intellektuellen Zürich im ausgehenden 18. Jahrhun­ dert. Er hatte 1734 zusam­ men mit seinem Neffen Konrad Orell die Verlags­ buchhandlung Orell & Compagnie gegründet, die heute in Orell Füssli wei­ terlebt. Eines ihrer ersten Prestigeobjekte war die Herausgabe der achtzehn­ bändigen Chronik Lauffers,

84


Station 5

5.2  Jakob Lauffer: Mehr Anmerkungen als Text

Titelblatt des zweiten Bands

Bodmer formulierte sein Ziel bereits im Titel. Er schrieb eben keine neue Chronik, sondern «nur» Beiträge zur Schweizer Geschichte.

85


Inhaltsverzeichnis des ersten Bands

Der erste Band enthält zum Beispiel vier völlig unterschiedliche Teile:

Eine Geschichte der Zür­ cher Regierungsform bis zur Brunschen Zunftverfas­ sung von 1336 Einen Essay Bodmers über die Gründe, warum Bern in der Eidgenossenschaft die Führungsposition erwarb

86

Eine Abhandlung zum Münzrecht der Fraumüns­ terabtei Eine Edition des lateini­ schen Werks von Oswald Geisshüsler, genannt Myco­ nius, über den Kappeler Krieg.


5.2  Jakob Lauffer: Mehr Anmerkungen als Text

Station 5

Bodmer untermauerte den Text zur Geschichte der Zürcher Regierungsform mit zahlreichen und lan­ gen Anmerkungen, ganz wie wir das von modernen wissenschaftlichen Werken gewohnt sind.

87


5.2  Jakob Lauffer: Mehr Anmerkungen als Text

Ferner druckte er einen Katalog der von seiner Buchhandlung lieferbaren Neuerscheinungen, da­ runter ein medizinisches Werk, mehrere Romane und einige Bücher des damaligen Bestsellerautors Voltaire.

Im 18. Jahrhundert waren Bücher ein Geschäft, das mit Werbung angekurbelt wurde. So informierte «der Verleger» Bodmer in Band drei seine Leser darüber, was sie im nächsten Band erwarten würde.

88


Station 2 Station 6

Station 5

Wir machen die Probe aufs Exempel: Wir vergleichen den historischen Zwingli mit dem Zwingli von Stefan Haupts Film aus dem Jahr 2019.

Station 3

Und wie sieht das heute aus? Haben wir heute ein korrekteres Geschichtsbild, nachdem unsere Historiker mehrere Jahrhunderte Erfahrung mit der Quellenkritik haben? Oder ist unser Geschichtsbild von anderen, zeitgenössischen Faktoren beeinflusst? Welche Rolle spielen zum Beispiel die Mechanismen der Populärkultur, wenn wir uns an einem historischen Film erfreuen?

Station 4

Zwingli: Der nette Re­formator von nebenan?

Station 1

Station 6

89


6.1

Huldrych Zwingli: Ein unerbittlicher Krieger Gottes Huldrych Zwingli, Operum Verlegt bei Christoph Froschauer in Zürich, 1581.

90


6.1  Huldrych Zwingli: Ein unerbittlicher Krieger Gottes

Zwingli stammte aus einer wohl­ habenden Familie. Sein Onkel war ein hoher Amtsträger der Kirche, der es ihm ermöglichte, selbst eine Karriere innerhalb der Kirche zu machen. 1506 trat Zwingli seine erste Pfarrstelle in Glarus an. Er zog mit den Glarner Reisläufern in die italienischen Kriege und bezog jährlich 50 Gulden von päpstlicher Seite, um seinen Einfluss auf die füh­ renden Politiker zu nutzen, um die Belange der Kirche in militä­ rischen Dingen zu vertreten. Nach der Niederlage von Marig­ nano kam die Wende. Zwingli musste das Glarus verlassen und wechselte an den Wallfahrtsort Einsiedeln. Dort kam er mit den übelsten Auswüchsen des katho­ lischen Volksglaubens in Kon­ takt. Zwingli radikalisierte sich. Er wetterte gegen die Heiligen­ verehrung und das Reislaufen, wobei letzteres das Interesse des Rats von Zürich erregte. Dort

Station 6

suchte man einen Prediger für das Grossmünster, der die Zür­ cher davon abhalten sollte, ihr Geld mit Söldnerdiensten zu verdienen. 1519 trat Zwingli sein Amt an, und das sehr erfolgreich. Statt wie bisher über das Tagesevan­ gelium zu predigen, übersetzte er auf der Kanzel das Evangelium nach Matthäus. In eben diesem Sommer suchte eine Pestepide­ mie Zürich heim, die jeden vierten(!) Bewohner das Leben kostete. Zwingli überlebte und sah darin ein Zeichen Gottes, dass er ausersehen war, die Kirche zu reformieren.

Das bekannte Porträt von Huldrych Zwingli, gemalt 1549 von Hans Asper.

91


Kirchen und Klöster in Zürich vor der Reformation. Karte: Marco Za­ noli, cc-by 4.0

Zwinglis Karriere muss vor dem Hintergrund der Zürcher Expan­ sion gesehen werden. In den Jahren zwischen 1400 und 1500 vergrösserte die Stadt ihr Gebiet um ein Vielfaches. Auch im Inneren versuchte der Rat, die Kontrolle zu gewinnen. Dabei konkurrierte er mit dem Bischof von Konstanz, der Jahrhunderte lang die Aufsicht über die kirchli­ chen Institutionen und Klöster geführt hatte und damit nach zeitgenössischem Verständnis der rechtmässige Besitzer dieser Macht war. Die einzige Waffe, die dem Bischof von Konstanz blieb, war ein Drohen mit der Strafe Gottes, und diese Drohung wurde im 16. Jahrhundert noch ernst ge­ nommen. In einer Zeit, in der nur 8,2 % der Bevölkerung ihr 60. Lebensjahr erreichten – zum

Vergleich: in Afghanistan betrug die durchschnittliche(!) Lebens­ erwartung für 2019 64,8 Jahre –, war das einzige Ziel der grossen Mehrheit, sich nach dem Tod einen Platz in Gottes Reich zu sichern. Deshalb war ein Priester wie Zwingli, der anhand der Bibel beredt nachweisen konnte, warum dieser Raub Gott gefäl­lig sei, für den Zürcher Rat ein nützliches Werkzeug. Zwingli und der Rat von Zürich benutzten einander gegenseitig, um ihre Ziele zu erreichen. Zwingli rechtfertigte, dass der Rat von Zürich sich der kirchlichen Besitzungen bemächtigte und unabhängige Kritiker auf der Kanzel aus­ schaltete. Zürich ermöglichte es Zwingli, seine Vision vom Gottesstaat in die Realität um­ zusetzen.

92


6.1  Huldrych Zwingli: Ein unerbittlicher Krieger Gottes

Der Kampf für die Reformation Zürcher Prägung war natürlich auch eine politische Frage und hatte Auswirkungen auf die Machtposition der Stadt Zürich innerhalb der Eidgenossen­ schaft. Es war also ein herber Rückschlag, als die Zürcher am 11. Oktober 1531 auf einem Feld bei Kappel ihre Niederlage gegen die vereinigten Streitkräfte der katholischen Orte erlitten. Jeder zehnte Zürcher Bürger verlor damals sein Leben. Zwingli wur­de als Ketzer hingerichtet, was seine Zeitgenossen als Gottes­ urteil über Zwinglis Lehre inter­ pretierten.

Station 6

Für das nach der Schlacht von Kappel wiedererstarkte Zürich war das ein Image-Problem. Deshalb förderte der Zürcher Rat eine Prachtausgabe aller Werke Zwinglis anlässlich seines 50. Todestages, die wir Ihnen an dieser Station zeigen können. Mit diesen Büchern traten die Zürcher den Beweis an, dass Zwinglis Lehre immer noch gelebt wurde, seine Reformation also erfolgreich gewesen war. Damit deutete der Rat Zwinglis Tod um: Gestorben war nicht ein Ketzer, sondern ein Märtyrer.

Zwinglis Tod in der Schlacht von Kappel

93


Gwalther bekleidete seit 1575 die Position des obersten Beamten der Zürcher Staatskirche. Er hatte ein persönliches Interesse an der Rehabili­ tation Zwinglis. Er war mit dessen Tochter Regula verheiratet. Seine Tochter sollte den Sohn von Hein­ rich Bullinger, seinem Vorgänger, heiraten. Die Zürcher Staatspriester­ schaft etablierte sich als geschlossene Kaste.

Widmung

Exakt das sagt die Wid­ mung des Werks aus. Sie lautet «an die heilige und katholische Kirche aller Gläubigen, geliebte Braut unseres Königs und Pries­ ters Christus, und an alle gläubigen zukünftigen Generationen, die Recht­ fertigung des Herrn Huldrich Zwingli und seiner Werke durch deren Herausgabe von dem Zürcher Rudolf Gwalther.»

Rudolf Gwalther (1519–1586)

94


6.1  Huldrych Zwingli: Ein unerbittlicher Krieger Gottes

Wohl nichts zeigt klarer, wie die Zürcher Zwingli wahrge­ nommen haben wollten, als die Vignette der Widmung. Auf ihr reinigt Christus die Kirche von den Händlern. Vignette der Widmungsseite

Zwingli rechtfertigte mit seinen Schriften gegen die Täufer das Vorgehen des Zürcher Rats gegen diese Gruppe von Reformierten,

95

die nicht bereit waren, in Glaubensfragen die Autori­ tät des Stadtrats anzuer­ kennen.

Station 6

Inhaltsverzeichnis


Beginn der Reformationsfeiern von 2019 im Zürcher Grossmünster: Links Gottfried Locher, rechts Johann Schneider-Amman, hinter ihnen das Logo mit einem stilisierten Porträt Zwinglis.

Bis heute ist das histori­ sche Bild Zwinglis verstellt von den verschiedenen Bildern, die für verschiede­ ne Zwecke geschaffen wurden. Bei den schwin­ denden Zahlen von Kir­ chenbesuchern muss eine reformierte Kirche einen toleranten Gründervater präsentieren. Der Gottes­ krieger Huldrych Zwingli passt nicht mehr in unsere Zeit.

96


Huldrych Zwingli: Der nette Reformator von nebenan

Filme sind kommerzielle Unter­ nehmungen und unterliegen den Regeln des Marktes. Mit anderen Worten: Erfolg bedeutet für einen Film nicht, die Wahrheit gesagt zu haben, sondern mög­ lichst viele Menschen dazu gebracht zu haben, Geld für diesen Film auszugeben. Dies geht in zwei Richtungen. Im Vorfeld müssen möglichst viele Fördergelder akquiriert werden, um so eine opulente Ausstattung zu gewährleisten. Danach zählt

die Gunst des Publikums, und das schenkt einem Film seine Gunst nach dessen Unterhal­ tungswert. Deshalb ist es von existentieller Bedeutung für jeden Regisseur, dass sein Film die Erwartungen seiner Kunden erfüllt bzw. übertrifft.

Ein Film über Zwingli Schon das Thema «Zwingli» war opportunistisch. Zum Zeitpunkt seiner Erstaufführung wurde das Reformationsjubiläum weltweit mit grossem medialem Aufwand und finanziellem Einsatz vorbe­ reitet und begangen. Die refor­ mierte Kirche erhoffte sich durch das Jubiläum eine erhöhte Auf­ merksamkeit für ihre Inhalte, um so gegen die schwindende Zahl an Kirchenbesuchern vorzuge­ hen. In diesem Umfeld fiel die Finanzierung eines «histori­ schen» Filmes um den Zürcher Reformator Zwingli wohl we­ sentlich leichter als zu jedem anderen Zeitpunkt.

Zwingli. Ein Film von Stefan Haupt, Drehbuch Simone Schmid, produziert von C-Films, EIKON und SRF.

97

Station 6

6.1


berechtigung ist eine Sache des 20. Jahrhunderts. Und unsere Vorstellungen von einer auf Liebe gründenden Ehe ist ein Konzept des 19. Jahrhunderts. Zur Zeit Zwinglis heiratete man, um eine starke Wirtschafts­ gemeinschaft zu bilden. Zunei­ gung war natürlich erwünscht, aber keine Bedingung. Zwingli wird seine Haushälterin danach ausgesucht haben, wie tüchtig sie ihm schien. Anna Reinhart schätzte an Zwingli, dass er als Leutpriester am Grossmünster zu den bestbezahlten Beamten der Stadt gehörte. Übrigens, dass Zwingli im Film so dramatisch zu seinem Kind und zur Liebe zu seiner Anna Reinhart steht, hätte im 16. Jahrhundert niemand für etwas Besonderes gehalten. Im Gegen­ teil. Es war normal, dass ein gut verdienender Priester in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebte. Die gesamte Geistlichkeit erwartete, dass der Zölibat bald fallen werde. Das wäre wohl auch geschehen, hätte es die Reformation nicht gegeben. Sie veranlasste das Reformkonzil von Trient dazu, den Zölibat beizubehalten und zum Allein­ stellungsmerkmal der katholi­ schen Geistlichkeit zu machen.

Wolfdietrich von Raitenau, Bischof von Salzburg, nahm seine Lebensgefährtin Salome Alt in den 22 Jahren ihrer Beziehung zu allen offiziellen Anlässen mit. Sie gebar ihm 15 Kinder)

Kein Film ohne zarte Liebesbande Im Film erleben wir eine zarte Liebesgeschichte zwischen der Witwe Anna Reinhart und dem Pfarrer Huldrych Zwingli, mit Erröten, zärtlicher Fürsorge, liebevollen Küssen und einfach allem, was wir uns heute von einer Liebesbeziehung erwarten. Das muss so sein, schliesslich erwartet der Zuschauer heute – von einem Film genauso wie von einem Buch – eine nette Liebes­ geschichte, möglichst in Kombi­ nation mit einer starken Frau, die mit ihrem Verhalten demons­ triert, dass Frauen schon immer den Männern ebenbürtig waren. Historisch ist das nicht. Gleich­

98


6.2  Huldrych Zwingli: Der nette Reformator von nebenan

der Zuschauer daraus, so sind sie halt, die Katholiken: Egoisten, selbstverliebt, arrogant, intri­­gant und geldgierig, und das Klar weiss die Allgemeinheit, ohne Unterschied. Stefan Haupt wie es zur Reformation kam: bringt dieses Vorurteil wun­der­ Eine kleine Gruppe von selbst­ bar auf den Punkt. All seine losen Geistlichen revoltierte Darsteller von katholischen gegen die egoistischen Pfaffen, Geistlichen sind fett. Und – oh Schreck, oh Graus, der politisch die die Angst der Christen vor korrekte Bürger, vielleicht sogar dem Jenseits ausbeuteten, um es sich gut gehen zu lassen. Und Veganer, wendet sich angewidert das zelebrieren Stefan Haupt ab – sie tragen üppige Pelzkrä­ gen. Die Reformatoren dage­und seine Drehbuchautorin: Ihre Handlung beginnt mit einer gen schwingen ihre eleganten, schwarzen Roben durch die Kameraeinstellung auf ein Ge­ mälde vom jüngsten Gericht. Strassen, sind hübsche, junge Eindrucksvoll fordert ein schmie­- Männer, die man auch gerne mal riger Pfaffe von der frommen in der Badehose sähe. Das un­ Witwe Anna, ihm das Geld für terscheidet sie von den Täufern, eine Seelenmesse zu geben, denen man ihre wilde Gesin­ nung schon an der wilden Bart­ damit ihr Mann nicht im Fege­ tracht ansieht. feuer braten müsse. Ja, schliesst

Katholiken sind fett, geldgierig und tragen Pelz

Station 6

Darstellung eines katholischen Abts aus dem Zürcher Totentanz. Der reformierte Dichter unterstellt dem Geistlichen Wollust, Geldgier und Bequemlichkeit. – Nicht anders als es ihm die Drehbuchautorin heute tut. Aus dem Totentanz von Rudolf und Conrad Meyer, Zürich 1650; neu herausgegeben 1759

99


Es bedarf wohl keines ausführ­ lichen historischen Kommentars, um das als Schwarz-Weiss-Ma­ lerei zu entlarven. Spannende Geschichten leben von gut und böse. Je dunkler der Gegner, umso strahlender der Held. Natürlich war historisch gese­hen die moralische Qualität der katholischen Geistlichen im Durchschnitt um keinen Deut besser, aber auch nicht schlech­ ter als die der reformierten Geistlichen. Allerdings nutzten

Alles nur zum Wohle der Armen Die Szenenabfolge ist eindrucks­ voll: Die edle Katharina von Zimmern übergibt dem Rat ihren Schlüssel zum Fraumünster – natürlich nur, um so die Bot­ schaft des Evangeliums zu be­ folgen und die Armen mit den Erträgen ihres Klosters zu er­ nähren. Schnitt. Eine Beisszange von Klosterschwester trägt un­ter Protest ihr Bündel aus dem Fraumünster. Schnitt. Eine Reihe von hungrigen Armen steht

die Reformierten zu Beginn der Reformation höchst geschickt die Tatsache, dass sich die neue Lehre besonders schnell in den Universitätsstädten verbreitete, wo es leistungsstarke Drucker­ pressen gab. Damit liessen sich Vorurteile zwar nicht genauso schnell transportieren wie heute über Facebook, aber da­für haben sie länger überlebt – und zwar mehr als ein halbes Jahrtausend lang.

geduldig und lächelnd Schlange, um ihren Anteil an der Armen­ speisung zu erhalten. Schnitt. Die Botschaft der Szenenabfolge: Die Klöster wurden aufgelöst, um die armen, armen Menschen zu ernähren. Das ist hervorragende Propa­ ganda des 16. Jahrhunderts. In erster Linie gingen die gewalti­ gen Besitzungen nämlich in die Kontrolle der Stadt Zürich über, die nach freiem Willen über das Einkommen verfügte. Ein biss­

100


6.2  Huldrych Zwingli: Der nette Reformator von nebenan

diesem System überzeugt waren, illustriert der Zürcher Totentanz von 1650. Der Künstler wählte den Zürcher Armenvogt als Beispiel für einen korrupten Beamten. Übrigens, Katharina von Zimmern übergab das Frau­ münster nicht aus reiner christli­ cher Nächstenliebe. Sie verhan­ delte geschickt. Sie erhielt als Gegenleistung eine grosse Leib­ rente sowie das Wohnrecht in ihrem ehemaligen Kloster.

chen ging natürlich auch an die Armen. Man richtete ein Amt ein, das sich darum kümmerte. Mehr schlecht als recht. Hatte die katholische Kirche mit den Stiftern klare Verträge geschlos­ sen, wie viele Arme von den Erträgen zu welchem Zeitpunkt des Jahres gekleidet, gespeist oder mit Almosen versorgt wer­ den sollten, entschied jetzt ein Beamter, wer Unterstützung verdiente. Dass nicht einmal die reformierten Mitbürger von

101

Station 6

Darstellung des Armenvogts des reformierten Zürichs. Aus dem Toten­tanz von Rudolf und Conrad Meyer, Zürich 1650; neu heraus­ gege­ben 1759


Zwingli wäscht seine Hände in Unschuld Ach, wie gerne hätte doch die Frau Anna ihren Mann überre­ det, die Täufer zu schützen. Sie ist ja die Gute, das Gewissen von Zwingli, der für den Zuschauer völlig unmotiviert gegen Ende des Films von einem netten Kerl erst zu einem hilflosen Zuschau­ er und dann gar zum Kriegsbe­ fürworter wird. Denn schuld sind ja immer die anderen. Die Täufer wollen einfach nicht einsehen, dass jetzt nicht die

Zeit ist für zusätzliche Zuge­ ständnisse; die katholischen Priester – Intriganten, wir erin­ nern uns – wiegeln die Eidgenös­ sische Tagsatzung auf, Zürich auszuschliessen; und als sich die katholischen Orte weigern, sich von den reformierten Gutmen­ schen aushungern zu lassen, schwingt Zwingli sich entschlos­ sen aufs Pferd, um – ja, was eigentlich? Der Film lässt diese Frage in der Luft hängen. Hätte er nämlich die Wahrheit gesagt,

Felix Manz wird am 5. Januar 1527 in der Limmat ertränkt. Die Zeichnung entstand zwischen 1605 und 1606.

102


6.2  Huldrych Zwingli: Der nette Reformator von nebenan

Gläubigen empfehlen soll. Da baut man lieber eine Bemerkung ein, in der Zwingli seine Toleranz zeigt, indem er den Koran ins Lateinische übersetzen will. Filme werden gemacht, um zu unterhalten. Und das ist auch in Ordnung. Drehbuchautorin­ nen wie Simone Schmid produ­ zieren Zeitvertreib wie ihre Erfolgsserie «Der Bestatter». Auch Stefan Haupt hat keinerlei Hintergrund als Historiker. Muss er auch nicht. Dass ihm aller­ dings die Theologische Fakultät der Universität Zürich den Eh­ rendoktortitel für den Film Zwingli verliehen hat, das sollte einen bedenklich stimmen. Mein einziger Trost als Historike­ rin ist es, dass es nicht die histo­ rische Fakultät war.

Station 6

dass Zürich und Zwingli die ganze Eidgenossenschaft zu zwingen versuchten, die Refor­ mation zu übernehmen, wäre das schöne Bild des netten Zwingli von nebenan den Bach runtergegangen. Tatsache bleibt, dass Zwingli die Hinrichtung und Vertreibung der Täufer mit seinen Schriften rechtfertigte, und dass er zentral am Beschluss des Zürcher Rats, die katholischen Orte zu bekrie­ gen, beteiligt war. Aus seiner Weltsicht heraus völlig zurecht. Ihm ging es nicht um das diesseitige Leben der Menschen, sondern um ihr Heil im Jenseits. Genauso wie einem Taliban. Nur passt das natürlich nicht in einen Film, den die reformierte Kirche nach Möglichkeit ihren

103



Nachwort

Ursula Kampmann, Historikerin, Numis­ matikerin und Kuratorin der Büchersammlung des MoneyMuseums.

Damit sind wir am Ende dieser Ausstellung. Unser Anliegen wäre erfüllt, wenn diese Ausstellung Sie ein klein wenig skeptischer gemacht hätte. Denn es gilt immer drei Fragen zu stellen, um den Wahr­ heitsgehalt einer Aussage zu überprüfen: Was kann ihr Urheber über den Sachverhalt wissen? Welche Werte vertritt ihr Urheber? Wem nützt es, wenn ich glaube, was der Urheber sagt? Bleiben Sie skeptisch!

Ursula Kampmann

105




Die Welt der Bücher Ein gemeinsames Projekt der Sunflower Foundation und des Teams der MünzenWoche Bücher aus der Sammlung MoneyMuseum

www.bookophile.com


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.