2006/04 - Made in India - Was wir von Indien lernen können

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56. Jahrgang | 6 Euro

Herausgegeben vom Institut für Auslandsbeziehungen

KULTURAUSTAUSCH

Zeitschrift für internationale Perspektiven

Ausgabe 1v/2006

In dieser Ausgabe Pankaj Mishra: Pole-Position Tapas Chakraborty: Gangster am Ganges Heidemarie Wieczorek-Zeul: Grünes Wissen Manil Suri: Mathe lernen oder sterben

Bilder von Lord Snowdon Nadine Gordimer: Afrikaner im Vorstand Tahar Ben Jelloun: Massenflucht

A I D en n ön k IrnN en

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PDF-Ausgabe eines vergriffenen Titels der Zeitschrift f端r Kulturaustausch


editorial

Sie müssen jetzt etwas lernen. Sie sollten ohnehin lebenslang lernen, um zukunftsfähig zu bleiben, das haben Sie vermutlich schon einmal gehört. Zur Zeit des British Empire, im 19. Jahrhundert, stellte der Indologe Friedrich Max Müller seinen Studenten in Oxford die Frage: „Was können wir von Indien lernen?“ Damals dürfte sich bis auf ein paar begeisterte Kollegen und einige versprengte Intellektuelle kaum jemand für die Antwort interessiert haben. Heute ist das anders. Indien wird Weltmacht, wie es aussieht. Also: Lernen von Indien. Inder sind gut im Rechnen, brillant beim Programmieren, und fleißig bemüht, den Aufstieg zu meistern – soweit die gängigen Bilder, die ziemlich nah an der Realität liegen dürften. In dieser Ausgabe schauen wir nach Indien, um zu verstehen, mit welchen Annahmen man dort auf das Leben, die Politik und den Weltmarkt schaut. Was lernen wir? Zum Beispiel, dass Indien sich bestens mit multiplen Identitäten auskennt, und dass es bereits das ist, was Europa werden möchte: eine aus vielen Nationalitäten, Sprachen, Religionen und Kulturen zusammengesetzte Gemeinschaft, die sich auch als solche fühlt. Und wir lernen auch, dass in der viel gepriesenen größten Demokratie der Welt enorm viele Kriminelle in den Parlamenten sitzen. Lernen heißt, sich verändert zu verhalten, zu fühlen oder zu denken – weil man die Welt anders begreift, als man es zuvor getan hat. Indien denkt, fühlt und handelt ganz anders als wir, und das lesen Sie am besten selbst.

Fotos: Nina Mallmann (1), privat (2), Margit Knapp (3), Anthony Powell (4)

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Der Schweizer Illustrator CHRIGEL hatte eigentlich genug vom Tierezeichnen, nachdem er das Buch „Twains Tierleben“ gestaltet hatte. Wir freuen uns, dass er für das Cover dieser Ausgabe eine Ausnahme gemacht hat.

SUDHIR KAKAR erklärt im Gespräch auf Seite 28, warum Europäer und Inder keine Ahnung von Erotik haben. Auf der Frankfurter Buchmesse können Sie Kakar im Live-Interview erleben. Weitere Informationen hierzu auf Seite 37.

Jenny Friedrich-Freksa

LORD SNOWDONs Bilder erfolgreicher Inder zeigen wir auf den Seiten 14 bis 61. Er selbst pflegt ein unverkrampftes Verhältnis zu Geld. „Mein Vater war arm, meine Mutter war arm, sogar unser Butler war arm“, vertraute er uns an.

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Lernen von Indien Indische und internationale Autoren erkären, was wir von Indien erwarten kÜnnen. Thema: Made in India, Seite 14 bis 61

Khushwant Singh, 91, Historiker, Schriftsteller und Kolumnist in Indien

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Inhalt

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Die Welt von morgen Top Ten: Die beliebtesten Sportarten in Finnland Kulturleben Fokus: Iran Fokus: Kasachstan Wählen in: Mauretanien

Fotos: © SNOWDON/The Nand & Jeet Khemka Foundation (links), Picture-Alliance/scanpix (1), Reuters (2), Royalty-Free/corbis (3)

Thema: Made in India 16 18 24 28 30 31 34 36 42 44 48 52 53 55 56 57 58

Pole-Position von Pankaj Mishra Alles wird eins von Karan Singh Bushs Glückwünsche von Ashgar Ali Engineer „Dem Westen fehlt die Spannung“ Gespräch mit Sudhir Kakar In guten wie in schlechten Zeiten Heiratsannoncen Großes Kino von Anupama Chopra Geistiges Eigentum von Balaji Parthasarathy Mathe lernen oder sterben von Manil Suri „Sonst geht uns die Luft aus“

Interview mit Lord Snowdon

Interview mit Heidemarie Wieczorek-Zeul Gangster am Ganges von Tapas Kumar Chakraborty Schubladendenken von T. K. Rajalakshmi Angebot und Nachfrage von Olaf Ihlau Menschen im Park von Guy Helminger Tiere aus Indien Mitgemacht, mitgelacht von Akshay Patak Experimentiergeister von Deeksha Nath „Es ist aufregender, Fremde zu fotografieren“

Magazin 62 64 65 66 67 68 71 72 74 75 77 78 79 80 81 83 84 88 90

„Afrikaner im Vorstand“ Interview mit Nadine Gordimer Die Stille vor dem Schuss von Thomas Burkhalter Islamic Banking von Klaus Hachmeier Gemeinsam statt einsam von Wolfgang Schneider Wir haben uns ein Denkmal gebaut von Nikola Richter Neue Landkarte der Konflikte von Albrecht von Lucke Leserbriefe/ Kommentare Festung Europa von Binyavanga Wainaina und Saskia Sassen Pressespiegel Impressum Köpfe Netzakademie von Ludovic Penda Studieren mit Kalaschnikow von Olga Sasuhina Lasterhafter Alltag von Christine Müller Trautes Heim Gespräch mit Irmgard Klamant Kulturorte: Die Blaue Moschee in Istanbul von Alex Webb Bücher Neuerscheinungen Weltmarkt

Machenschaften

Chef werden

Islamic Finance

Neue Landkarten

Wie korrupt sind Politiker in Indien? Sehr, findet der Journalist Tapas Kumar Chakraborty Thema: Seite 44

Früher Gold, heute Öl: Nadine Gordimer weiß, was momentan an Afrika interessant ist Magazin: Seite 62

Gläubige und Gläubiger: Geldgeschäfte nach islamischem Recht sind im Kommen Magazin: Seite 65

Vor welchen Herausforderungen steht die Außenkulturpolitik? Eine Analyse von Albrecht von Lucke. Forum: Seite 68

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Die Welt von morgen

Italien: Rufen Sie im Gefängnis an Das neue Callcenter für Kunden der Telecom Italia (TI) liegt im Rebbibia-Gefängnis in Rom, dem größten Gefängnis Italiens. Es soll den Insassen Berufserfahrung für die Zeit nach der Haft ermöglichen. Die Telecom zahlt ihren Arbeitern in Haft 20 bis 25 Euro am Tag.

Nigeria: Nichtschmelzende Schokolade Nigerianische Ernährungswissenschaftler haben eine hitzeresistente Schokolade auf der Basis von Maisstärke entwickelt. Geschmackstests bestätigen: Die neue Schokolade schmeckt wie herkömmliche Milchschokolade und zergeht auf der Zunge. US-Amerikaner versuchen bereits seit dem Zweiten Weltkrieg, eine solche Schokolade herzustellen. Argentinien: Im Namen der Mutter Als letztes lateinamerikanisches Land führt Argentinien ein Gesetz zur doppelten Namensgebung ein. Bisher trug ein Kind nur den Nachnamen des Vaters. Nun bekommen alle Kinder die Nachnamen beider Elternteile als Doppelnamen. Falls Kinder von ihrem Vater nicht anerkannt werden, bekommen sie den Doppelnamen der Mutter. Mit dieser Aufwertung des Namens der Mutter distanziert Argentinien sich vom traditionellen Modell der vaterzentrierten Familie.

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Bulgarien: Sofia, Sofija oder Sofiya? Die EU bekommt nächstes Jahr ein neues Alphabet: das bulgarisch-kyrillische, das 30 Buchstaben und einige Sonderzeichen ohne lateinische Entsprechung hat. In dem Projekt „Verständliches Bulgarien“ wird derzeit auf Geheiß des bulgarischen Ministeriums für Verwaltung und Verwaltungsreform eine Software entwickelt. Diese legt die Schreibweise von Personennamen und geographischen Bezeichnungen verbindlich fest.

China: Mehr Öl Bis 2010 soll Chinas Abhängigkeit von Öl auf 50 Prozent ansteigen. So steht es im EnergieBlaubuch 2006, das vom Verlag der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften herausgegeben wurde. Die chinesischen Behörden versuchen der Abhängigkeit entgegenzuwirken, indem nationale und regionale Systeme zur besseren Lagerung von Ölreserven entwickelt werden. China ist einer der größten Energieverbraucher weltweit.

Südafrika: Teuerstes Kabel der Welt

Australien: Benzinklau

Die Kosten für einen Internetzugang sind in Afrika 90-mal höher als in den USA. Grund: Es gibt nur ein einziges Unterseekabel, das seit 2002 Subsahara-Afrika mit dem Rest der Welt verbindet. Dessen Kosten belaufen sich inzwischen auf 650 Millionen Euro. Das Kabel führt von Südafrika an der Westküste entlang zum Transatlantik-Verteiler auf den Kanarischen Inseln. Da jedoch 33 der afrikanischen Staaten nicht mit dem Glasfaserkabel vernetzt sind, muss eine Verbindung zwischen zwei Nachbarstaaten oft per Satellit zu noch höheren Preisen über die USA hergestellt werden.

Australische Autofahrer tanken immer häufiger ohne zu bezahlen. Wie in den meisten Ländern ist auch in Australien der Spritpreis explodiert: Bis zu umgerechnet 97 Cent kostet ein Liter bleifreies Benzin – ein Preisanstieg von rund 30 Cent im Vergleich zum Vorjahr. Trotz der für europäische Verhältnisse moderaten Spritpreise ist die Anzahl von Benzindiebstählen seit 2004 um 130 Prozent gestiegen. Zahlreiche Tankstellen haben zusätzliche Mitarbeiter eingestellt, die vorbeugend die Autokennzeichen aller Kunden notieren.

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Top Ten Die beliebtesten Sportarten in Finnland

2. pyöräily (Radfahren) 828.000 Sportler 3. h iihto (Ski-Langlauf) 747.000 Sportler 4. uinti (Schwimmen) 578.000 Sportler 5. kuntosaliharjoittelu (Krafttraining) 524.000 Sportler 6. juoksulenkkeily (Jogging) 496.000 Sportler 7. sauvakävely (Nordic Walking) 444.000 Sportler 8. voimistelu (Gymnastik) 293.000 Sportler 9. salibandy (Floorball) 223.000 Sportler 10. aerobic (Aerobic) 190.000 Sportler

1. Gut zu Fuß: Exercise Walking Finnen bewegen sich in ihrer Freizeit am liebsten zu Fuß: in einer Mischung aus Laufen und Wandern. Für mehr als 1,8 Millionen Finnen ist Exercise Walking der beliebteste Sport. Er dient sowohl dem forschen Spazierengehen durch Finnlands unverwechselbare Natur als auch dem Verbrennen von Kalorien. Hierfür zeigen ausgebildete Trainer in Kursen die richtige Technik und stellen individuelle Trainingsprogramme zusammen. Auf „walking roads“ wird mit Hilfe von Schildern an die richtige Haltung erinnert und auf spezielle Übungen für Walker hingewiesen. Sogar im Winter walkt der Finne: mit Spikes unter den Schuhen durch den Schnee.

7. Kleine Schritte: Nordic Walking Die Anfänge dieser Sportart liegen in den 1930er Jahren. Schon damals wurde der so genannte Stockgang oder Stocklauf von den meisten Ski-Langläufern im Sommer in ihr Training eingearbeitet, um die Kondition zu verbessern. Aber erst nach optimaler Anpassung der Stöcke etablierte der Sport sich im Frühjahr 1997 in Finnland als Nordic Walking. Bald darauf schwappte die WalkingWelle auch nach Deutschland über. Wichtig ist, keine zu großen Schritte zu machen. Denn nur so können Oberkörper und Rückenmuskulatur ideal trainiert werden.

9. Ball mit 26 Löchern: Floorball Floorball ist ein dem Hockey ähnlicher Mannschaftssport, der besonders in Schweden, der Schweiz und in Finnland gespielt wird. Diese Länder sind seit 1986 die Gründungsmitglieder der International Floorball Federation. Der Sport kommt ursprünglich aus den USA, wo er anfangs mit einem Puck gespielt wurde. Das eigentliche Spiel entstand in den 1970er Jahren in Schweden. Beim Floorball stehen sich fünf Gegner und ein Torwart pro Mannschaft mit dem Ziel gegenüber, einen mit 26 Löchern versehenen, hohlen Plastikball mit einer Art Hockey-Schläger ins gegnerische Tor zu befördern. Zusammengestellt von Marieke Kraft

Quelle: National Sport Survey 2005-2006 der 19- bis 65-Jährigen (durchgeführt von TNSGallup, unterstützt durch den Finnischen Sportbund SLU); Mehrfachnennungen waren möglich

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Foto: Stephan Hoeck (1), Johnér (2), dpa (3)

1. kävelylenkkeily (Exercise Walking) 1.840.000 Sportler

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Kulturleben was anderswo ganz anders ist

Foto: H. Armstrong Roberts/Corbis (1), Fritz von der Schulenburg (2) Protokolle: Martina Koch, Marieke Kraft, Lisa Schreiber

ROSA Wie man sich in Liberia begrüßt

Was die Farbe Rosa in El Salvador bedeutet

Wenn in Österreich der Krampus kommt

Begrüßt man in Liberia einen Freund oder auch einen Fremden auf der Straße, reicht man einander die Hand, schaut sich dabei in die Augen und verharrt erstaunlich lange in dem Händedruck – viel länger jedenfalls als das in Europa üblich ist. Wir halten die Hand des anderen so lange fest, weil wir glauben, dass wir an der Art und Weise seines Händedrucks spüren können, ob er uns wohlgesonnen ist, wie es um unsere Freundschaft steht oder einfach, ob der andere gute Laune hat. Wenn unsere Hände dann auseinander fahren, schnipsen wir uns zu. Um mit Daumen und Mittelfinger ein richtig lautes, fröhliches Schnipsen hinzukriegen, bedarf es allerdings einiger Übung. Diese Begrüßung ist ganz typisch für unser Land. Denn Liberia wurde ja gegründet als ein Staat der ehemaligen Sklaven, die aus Amerika zurückkamen. Sie haben diesen Gruß entwickelt und praktizieren ihn zusammen mit den einheimischen Stämmen. Ein Gruß der Freiheit, des Respekts und der Ehrerbietung.

Der 15. Geburtstag eines Mädchens ist in Lateinamerika ein ganz besonderer: Die señorita wird zur señora. In El Salvador und anderen mittelamerikanischen Ländern wie etwa dem Nachbarland Honduras, heißt die Feier „fiesta rosa“ (Rosenfest). An diesem Tag ist alles rosa: das Kleid der 15-jährigen „Prinzessin“ und ihrer 14 Hofdamen (wobei die Gefeierte natürlich das eleganteste Modell von allen trägt), die mehrstöckige Torte, der Rosenstrauß, das Geschenkpapier, die Luftballons, mit denen das Auto geschmückt wird, das die „quinceañera“ (15-jährige) von der Kirche zum festlich geschmückten Saal fährt. Dort wird Walzer getanzt, zuerst mit dem Vater, dann mit dem „chambelán“ (Kammerherr), einem Jungen, der an dem Tag die Ehre hat, Begleiter der Gastgeberin zu sein. Die „fiesta rosa“ ähnelt einer Hochzeit – manchmal gibt es sogar einen Ring, der die Zahl 15 zeigt: Nur der Bräutigam fehlt, und das Kleid der Braut ist rosa statt weiß. Großstadtmädchen finden die Tradition der „fiesta rosa“ oft kitschig und wünschen sich statt der Feier eine Reise. In El Salvador sind es eher traditionelle ärmere Familien vom Lande, die das Fest ausrichten. Oft möchten die Mütter, die früher nicht die finanziellen Möglichkeiten hatten es zu feiern, dies nun wenigstens ihrer Tochter bieten. In anderen Fällen sind es auch die Mädchen selbst, die diesen Tag schon lange im Voraus herbeisehnen.

In meiner Heimatstadt Wien kommt am Nikolaustag nicht nur der Nikolo, sondern auch sein Begleiter, der Krampus, in den Kindergarten, Hort oder die Schule: Der Krampus kommt zu den bösen Kindern und der Nikolo zu den guten. Vor dem Krampus hatten wir immer alle furchtbare Angst, denn er sah schrecklich aus: Der Krampus hat eine lange rote Zunge, ein schwarzes Fell und zwei Hörner. Er sieht aus wie ein stilisierter Teufel. Eines seiner wichtigsten Accessoires ist eine Rute aus einem abgeschnittenen Reisigbesen. Wenn man vor ihn treten musste und der Krampus gefragt hat: „Warst du auch brav?“, dann hat man schon angefangen zu zittern. Viele Kinder haben geweint, wenn der Krampus sie gerügt hat. Es blieb aber nicht beim Schimpfen, sondern diese Kinder sind dann wirklich leer ausgegangen. Ich erinnere mich noch, dass einmal ein ganz schlimmer Bub vom Krampus statt einem Geschenk Kohle bekommen hat. Das kam selten vor. Ich habe es nie vergessen. Ich hatte immer eine große Angst vorm Krampus. Nur die Großen haben oft gelacht und sind dann des Öfteren auch verdroschen worden. Aber den Kleinen hat es schon gereicht, wenn er sie einmal schief angeschaut hat. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, scheint mir diese Tradition eine ziemlich harte Angelegenheit zu sein.

Zoe Mazah wurde in Liberia geboren und zog später mit ihren Eltern nach Deutschland. Die deutschafrikanische Sängerin wurde 2005 beim German Reggae Award zur besten deutschen „Reggae Queen“ gewählt. Sie lebt in München.

Giovanni Guardado Cabrera wurde 1972 in San Salvador geboren, wo er im Alter von 15 Jahren auf einigen fiestas rosas der „chambelán“ war. Heute ist er Arzt und lebt in Leipzig. Kulturaustausch 1v/06

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Sarah Wiener, österreichische Fernsehköchin, 1962 in Wien geboren, zog später nach Berlin, wo sie heute mehrere Restaurants betreibt. Im Mai 2006 erschien ihr neues Buch „Mediterrane Küche“ beim Bloomsbury Verlag Berlin.

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Fokus: Iran

Die angepasste Generation Die Jugend im Iran ist so gut ausgebildet wie noch nie. Doch nur wer seine Beziehungen zum Regime spielen lassen kann, hat eine Perspektive Von Kambiz Tavana

Behnam, 25 Jahre alt, hat Industriedesign studiert und arbeitet heute im Fotoarchiv einer Tageszeitung. Was er an der Universität gelernt hat, entspricht genau seinen Interessen, aber er hatte nie die Chance auf einen Job, der zu seinen Qualifikationen passt. Derzeit packt er seine Sachen, um in Kanada ein neues Leben zu beginnen. „Ich hatte eine Menge Pläne, was ich alles machen wollte, und meine Examensnoten waren erstklassig, aber ich fand keinen Job, weil ich an jeder Tür ein Zauberwort gebraucht hätte.“ Zwei Drittel aller Iraner sind zwischen 17 und 22 Jahren alt. Eine Generation, die mit den Folgen vieler Entscheidungen leben muss, die sie nicht selbst getroffen hat. Zwar haben sich nach der Revolution von 1979 die Perspektiven für junge Leute, eine Universitätsausbildung zu bekommen, verbessert, aber dafür sind in der iranischen Gesellschaft neue Probleme entstanden. Die extrem hohen Studentenzahlen haben zu einem Verfall der Bildungsstandards geführt: Die Hochschulverwaltungen legen mehr Wert auf Sitzscheine und Teilnahmenachweise als auf Wissen und intellektuellen Glanz. Die Konsequenz: Im Iran gibt es eine große Zahl ausgebildeter Menschen, die weder besonders talentiert noch besonders erfahren sind. Der Frauenanteil unter ihnen ist übrigens steigend: Bereits 2004 betrug das Zahlenverhältnis von weiblichen zu männlichen Studierenden 60 zu 40, und 2007 wird dieses Verhältnis 70 zu 30 betragen. Laut iranischem Bildungsministerium gehen 90 Prozent der hochbegabten iranischen Studenten ins Ausland, drei Viertel von ihnen an Hochschulen in den USA. Was manch einer als Braindrain verbuchen mag, ist für Behnam, der in seinem Job nichts von dem einbringen kann, was er an der Universität gelernt hat, ein vernünftiger Schritt. Denn obwohl er sich auf jede erdenkliche Stelle in der Industrie

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sich dafür allerdings an Regeln halten. Yasser, 24, studiert noch und hat seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet, aber durch seinen Vater, einen General der Revolutionsgarden der Islamischen Republik Iran, verfügt er über beste Beziehungen. Zu Zeiten der reformorientierten Chatami-Regierung arbeitete Yasser in der Nachrichtenredaktion eines staatlichen Fernsehsenders und wechselte dann ins Wahlkampfteam des späteren Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad. Er hat es an die Spitze geschafft und verdient fünfmal so viel wie andere, die eine qualifiziertere Ausbildung vorweisen können. Heute schreibt er Pressemitteilungen für das Präsidialamt, arbeitet als Journalist für eine der wichtigsten Zeitungen und wirkt außerdem an Geheimrecherchen für die Nachrichtendienste der Regierung mit.

beworben hat, blieb er erfolglos. „Man braucht einen Fürsprecher im islamischen Regime. Ziemlich viele Leute sitzen im Büro und tun nicht viel, weil sie einfach nicht wissen, was sie tun sollen. Sie sitzen dort nur, weil sie mit jemandem versippt oder verschwägert sind, der zum System gehört“, sagt Behnam. Das Fundament für die iranische Verwaltung sind familiäre Seilschaften und freundschaftliche Bande. An diesem historisch gewachsenen Problem hat sich in den letzten 100 Jahren nichts geändert. Wer an den Hebeln der Regierung sitzt, sucht stets Leute um sich zu scharen, denen er vertrauen kann. Professionalität, Expertenwissen und Erfahrung sind sekundär. Dies war in den monarchischen Zeiten des Schahs Mohammad Reza Pahlavi nicht anders als in der Islamischen Republik Iran mit ihrem von Klerikern dominierten System. Menschen wie Behnam und andere junge Iraner, die nicht mit dem islamischen Regime verbandelt sind, bleiben Außenseiter. Azita, die ebenfalls keine Beziehungen hat, glaubt, dass es ihr gut gehen würde, wenn es keine Revolution gegeben hätte. Mit einem Vater, der als hochrangiger Militärführer diente, hätte sie sich im alten Regime eine hübsche Karriere sichern können. Jetzt, mit 28 Jahren und einem Bachelor in Fremdsprachen, bleibt ihr nur der Weg ins private Kleingewerbe. Wer aber durch Beziehungen mit den islamischen Hardlinern ver- Nicht einfach, nach vorne zu blicken: bunden ist, hat es leichter, muss Jahrestag der Islamischen Revolution in Teheran

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Foto: Picture-Alliance/dpa

Fokus: Iran

Er hört gern Jennifer Lopez und sagt: „Ich darf mir die Korruption und Dekadenz des Westens aus beruflichen Gründen ansehen, aber für die übrige Bevölkerung ist das eine Sünde – und verboten, weil sie es sich nur zum Spaß anschaut.“ Abolfazl, 23, macht es nicht anders. Ohne jede Redakteursausbildung betreibt er einige wichtige Nachrichtenwebseiten und Magazine im Internet. Er ist ein Insider. Einer, dem vertraut wird. Seine religiöse Haltung und Loyalität zum islamischen Regime sind nur vorgespielt: Er trägt zwar die schlichte Kleidung der Systemtreuen, betet zur rechten Zeit und agiert wie ein frommer Mann. Insgeheim aber hört er Chris de Burgh und Marilyn Manson, schaut im Fernsehen Satellitenprogramme und reist nach Europa. Er sagt: „Ich stehe loyal zum System, nehme mir Vorteile, lasse mich kritisieren und kritisiere; andere westlich orientierte junge Leute haben keine Rechte.“ Diejenigen, die ihre familiären Beziehungen spielen lassen können, steuern das System. Die anderen versuchen entweder im Kleinen etwas auf die Beine zu stellen, oder sich mit etwas Glück durch eifriges Studieren ein Stipendium für eine Universität in den USA oder in Europa zu erarbeiten, oder sie sparen, um irgendwann ganz auswandern zu können. Geschätzte 60 Prozent der jungen Menschen gehören zu denen, die ich die „angepasste Generation“ nenne. Sie können nicht wie Yasser auf Beziehungen zurückgreifen und stehen nicht außerhalb des Regimes wie Azita. Sie halten sich von der Universität fern, und, wenn sie doch studieren, geht es ihnen nicht um Wissen, sondern um den Abschluss. Sie suchen nach einer Möglichkeit, an das System anzudocken und zu überleben. Reza hat sich im Alter von 22 Jahren mit einem Freund zusammengetan, der wegen seines im Parlament sitzenden Vaters zu den Insidern des Regimes gehörte und mit illegal importierten Computern sein Geld verdiente. Heute ist er 26, besitzt zwei Häuser und fährt edle Autos. Moosa hat sich mit 25 Jahren durch einen Deal mit einem Revolutionsgardisten den Auftrag für Bauarbeiten an den Kasernenfluren gesichert. Die Vergabe solcher Aufträge sollte zwar laut Gesetz auf dem Wege einer öffentlichen Ausschreibung erfolgen, doch Kulturaustausch 1v/06

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Moosa wusste, wie man es anstellen muss, und machte der Regierung einen guten Preis. Weder Reza noch Moosa nehmen je eine Zeitung in die Hand und mit Fragen des globalen Wandels können sie nichts anfangen. Religion ist für sie auch kein Thema. Sie verdienen Geld und fliegen einmal im Jahr nach Dubai und Istanbul, um es dort komplett in Vergnügungen aller Art zu investieren. Im Falle eines Militärschlages gegen den Iran würde nur ein geringer Teil der Bevölkerung seine Stimme gegen das islamische Regime erheben. Der Rest würde untätig bleiben und das System somit im Grunde verteidigen. Wären die Verhältnisse auch nur etwas anders, müsste Moosa eine Universität besuchen und sich redlich mühen, um in 20 Jahren das zu erreichen, was er jetzt in fünf Jahren geschafft hat. So gut und schnell wie er verdienen auf dieser Welt sonst nur Drogenhändler. Die Meinungen der jungen Generation zum Atomstreit zeugen von einer Diskrepanz zwischen Denken und Handeln. Das liegt zuerst daran, dass Nachrichten zur Atomfrage zensiert werden. Während der Westen davon ausgeht, dass der Iran danach strebt, eine Atommacht zu werden, sagt man im Iran, dass es sich beim Atomstreit um eine energiepolitische Frage handelt. Das Thema einer Annäherung des Irans an den Westen in diesem Konflikt ist tabu. Das staatlich kontrollierte nationale Fernsehen und Radio informieren nonstop darüber, dass der Westen einen fortschrittlichen Iran, mit hochentwickelten Technologien ablehnt. Aufgrund dieser Meinungskontrolle hat die Mehrheit keine Ahnung, was die wirklichen Hintergründe des Atomstreits sind. Die wenigen gut Ausgebildeten verlangen eine bessere Zusammenarbeit und eine bessere Verständigung mit den westlichen Ländern. Jemand wie Behnam zieht es vor, „erst zu wissen, wer die Kontrolle über die Atompolitik im Iran übernimmt, und mich dann zu entscheiden, ob ich auswandere. Wenn militärische Extremisten an die Macht kommen, werde ich sie sicherlich nicht unterstützen.“ Moosa hat kein Problem mit der gegenwärtigen Situation: Er kennt sich auf dem Schwarzmarkt aus, und jede mögliche Sanktion gegen den Iran kann ihn nur reicher machen. Behnam hingegen glaubt, dass seine Entscheidung, ob

er auswandert, durch Sanktionen beschleunigt würde. Yasser schließlich ist überzeugt, dass der Westen unfähig ist, etwas gegen den Iran auszurichten. Als die Frage auf die Vereinigten Staaten und ihre Waffen kommt, sagt er: „Wir waren gegen die USA und Europa, während sie mit Saddam beschäftigt waren. Und jetzt gibt es nur noch die USA und eine umstrittene Situation im Irak und Afghanistan, und wir sind dabei die Gewinner.“ Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld Kambiz Tavana wurde 1972 in Isfahan geboren und arbeitet als Journalist bei der iranischen Tageszeitung Hamshari. Er lebt in Teheran.

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Fokus: Kasachstan

West-östlicher Turban Das neuntgrößte Land der Erde zwischen dem Streben nach internationaler Anerkennung und nationaler Selbstbehauptung: Wohin will Kasachstan? Von Matthias Echterhagen und Cornelia Riedel

Der Schneeleopard scheint zum Absprung bereit. Das kasachische Wappentier hockt auf der 28 Meter hohen Steinstele des „Denkmals der Unabhängigkeit“, das 1996 auf dem „Platz der Republik“ in Almaty eingeweiht wurde. Das Denkmal steht für die neue Stärke des seit 1991 unabhängigen Landes, das dennoch wie alle ehemaligen Sowjetrepubliken nach seiner nationalen Identität sucht. Dazu gehört für den Vielvölkerstaat in Zentralasien die politische und wirtschaftliche Positionierung zwischen dem Westen, Russland im Norden und dem erstarkenden östlichen Nachbarn China. Präsident Nursultan Nasarbajew, seit 1991 an der Macht, kann bei der Klärung dieser Frage die Wirtschaftszahlen für sich sprechen lassen. Umfangreiche Erdöl- und Erdgasvorkommen und ein jährliches Wirtschaftswachstum von rund neun Prozent machen das neuntgrößte Land der Erde mit seinen knapp 15 Millionen Einwohnern zur stärksten Kraft in Zentralasien. Und bislang auch zur krisenfesten, wofür Nasarbajew selbst immer wieder mit harten und umstrittenen Maßnahmen sorgt. Im Juli verärgerte er die kasachischen Journalisten, als er ein neues Mediengesetz unterzeichnete. Danach sind die Gebühren zur Registrierung neuer Medien drastisch erhöht worden. Außerdem dürfen Medienunternehmer und Journalisten, deren Medium von den Behörden geschlossen wurde, nicht wieder als Chefredakteure oder Gründer eines neuen Mediums auftreten. Aus der Sicht von Jennifer Windsor von der Nichtregierungs-Organisation „Freedom House“ in Almaty ist das Mediengesetz ein Rückschritt für das ganze Land, das im Juli auf dem G-8-Gipfel in St. Petersburg als Beobachter zugelassen war. Von der Medien- zur Wahlkontrolle: Kasachstans Präsident Nasarbajew war erst im Dezember vergangenen Jahres mit mehr als 90 Prozent der Stimmen für weitere sieben Jahre

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Scharmachan Tujakbai kündigte an, eine sozialdemokratische Partei zu gründen, die die Interessen der kleinen Leute vertritt. Vor allem soll dabei der Wohlstand gerechter verteilt werden, der durch Kasachstans Öl- und Gasboom in den letzten Jahren entstanden ist. Doch die Opposition sieht sich immer mehr Restriktionen ausgesetzt. So wurde jüngst der neu gegründeten Partei „Alga“ die Zulassung vom Obersten Gericht verwehrt, weil sie angeblich die zur Anerkennung nötige Mitgliederzahl von 50.000 nicht erreichte. Vorläufiger Höhepunkt einer Reihe von Repressionen war die Ermordung Altynbek Sarsenbajews, einem Führungspolitiker der Partei „Für ein gerechtes Kasachstan“ und einflussreichster Gegner des Präsidenten. Aufsehen erregte auch der Mord an einem französischen Journalisten Anfang August in Almaty, der bislang ebenfalls ungeklärt ist. Trotz innenpolitischer Turbulenzen bemüht sich der an Öl und Gas reiche Staat währenddessen nach außen um Ausgleich. Kasachstan ist nicht nur wichtiger Bündnispartner des Westens und insbesondere der USA bei der Bekämpfung des Terrorismus. Als Mitglied der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) interessiert sich die Regierung zugleich für gute Beziehungen zu China. „Das Hauptziel der Außenpolitik ist, eine politisch ausgewogene Balance zwischen Kasachstan und den Nachbarländern beziehungsweise

wiedergewählt worden. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kritisierte Unregelmäßigkeiten und fehlende Transparenz der Wahlen. „Kasachstans ökonomische Fortschritte sind enorm, doch die Demokratie bildet sich nur langsam heraus“, sagt Christopher Krafchak, Anwalt bei der amerikanischen NichtregierungsOrganisation „ABA Ceeli“ in Almaty. „Wir hoffen, dass sich Kasachstan von einer Politik der Rückwärtsbewegungen einiger Nachbarstaaten abwendet.“ Doch vorerst gibt es dafür keine Anzeichen: Im Juni festigte die Präsidentenfamilie ihre Macht. „Otan“, die Partei Nasarbajews, vereinigte sich mit „Asar“, der Partei seiner Tochter Dariga Nasarbajewa, in deren Händen sich auch das größte Medienunternehmen des Landes befindet. Die neue Superpartei kontrolliert nun 60 Prozent der Sitze im Unterhaus des kasachischen Parlaments. Beobachter sehen in der Vereinigung der Parteien die Absicht des Präsident en , d ie Macht sei ner Tochter zu beschränken und schon jetzt die Weichen für die nächsten Wahlen 2012 zu stellen. Unterdessen hofft die Opposition auf mehr Zustimmung innerhalb der Nasarbajew wohlgesonnenen B e völ k e r u n g . Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Beflaggt: Kasachen zwischen Traditionen und Visionen

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Foto: „Pastan 3“ von Erbossyn Meldibekow (2002)

Fokus: Kasachstan

den Ländern, die ein geopolitisches Interesse an Kasachstan haben (China, Russland und die USA), zu finden“, glaubt Birgit Brauer, Korrespondentin für das britische Wirtschaftsmagazin „Economist“. Intellektuelle thematisieren seit Jahren das Verhältnis zum Westen. Ihre Plattform ist die philosophische Zeitschrift „Tamyr“. Staatlich gefördert holt sie die Postmoderne im Schnelldurchgang nach und schließt sie mit kasachischen Traditionen kurz. „Die Stadt und die Steppe“ oder „Steppen-Wissen“ heißen die Essays, in denen ein anderes Denken proklamiert wird, das Alternativen zu den Begriffen des Westens bieten soll. Für Chefredakteur Aujekschan Kodar besteht dabei kein Zweifel, dass die „Epoche der kasachischen Kultur“ nach Jahrzehnten der sowjetischen Unterdrückung nun endlich begonnen habe. Das ist ganz im Sinne von Kasachstans Regierung, die nach innen eine lang angelegte Ethnopolitik betreibt. Nicht zuletzt der Einfluss der Russischstämmigen, die mit 30 Prozent der Gesamtbevölkerung die größte Minderheit in dem Vielvölkerstaat ausmachen, soll damit zurückgedrängt werden. Hauptverkehrssprache ist immer noch Russisch, doch der Einfluss des Kasachischen wird durch gezielte bildungspolitische Maßnahmen immer mehr erhöht. Ein kleiner Teil der Intellektuellenszene sieht die schleichende Kasachifizierung in einem kritischen Licht. Zu ihm gehört auch Waleria Ibrajewa, Direktorin des Soros-Zentrums für zeitgenössische Kunst: „Der Kitsch bekommt immer mehr Stellenwert in der kasachischen Gesellschaft.“ Ibrajewas Vorzeigekünstler ist Erbossyn Meldibekow, der bereits mehrmals in Deutschland ausstellte und auch auf der Biennale in Venedig 2005 vertreten war. In Almaty, wo er mit Frau und Kind lebt, darf der 42-Jährige als ausgebildeter Lehrer nicht unterrichten. „Ich gelte als Vergifter der Jugend“, sagt er. „Ich kann hier als Künstler arbeiten, weil es die meisten sowieso nicht verstehen.“ Beliebt in westlichen Galerien sind inzwischen Meldibekows Teller, die wie die offzielle kasachische Kunst mit Ornamenten verziert sind. Doch dann entdeckt man auf ihnen losfeuerndes Kriegsgerät und Gewaltdarstellungen. Meldibekows Kommentar zur offiziellen Erinnerungspolitik seines Landes ist die Skulptur „Heldendenkmal“. Sie besteht aus Kulturaustausch 1v/06

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Wählen in: Mauretanien Mit den Wahlen auf gesetzgebender und kommunaler Ebene am 19. November 2006 hofft Mauretanien, endlich in eine Ära der Demokratie einzutreten. Ihre Unabhängigkeit erlangte die Islamische Republik Mauretanien im Jahr 1960. Nachdem 18 Jahre später Militärs die Regierungsmacht übernahmen, lebte die Republik unter dem Regime der PRDS (Parti Républicain, Démocratique et Social). 1991 setzte sich ein Demokratisierungsprozess in Gang. Unter dem damaligen Staatsoberhaupt, Oberst Maayouya Ould Sid Ahmed Taya, wurde über eine Verfassung, die individuelle Freiheiten sowie ein Mehrparteiensystem garantiert, abgestimmt. Die Änderungen waren jedoch eher formeller Natur. Die in der Verfassung als unabhängig deklarierte Presse unterlag in Wirklichkeit der Zensur. In jeder nachfolgenden Wahl wurden Vorwürfe massiven Wahlbetrugs laut. Die Regierung zeigte keine Anzeichen, den politischen Prozess auch für die Opposition zu öffnen. Unter diesen Umständen kam es am 3. August 2005 zu einem Staatsstreich. Oberst Ely Ould Mohammed Vall verspach, nachdem er an der Spitze des „Militärischen Rates für Gerechtigkeit und Demokratie“ die Führung des Landes übernommen hatte, nach einer Übergangszeit von zwei Jahren der Zivilbevölkerung wieder mehr Mitspracherecht zu geben. Die Mauretanier, erschöpft von den demokratischen Defiziten des gestürzten Regimes, unterstützen den neuen starken Mann. Am 25. Juni 2006 wurde eine Verfassungsänderung, die die Amtszeit des Präsidenten verkürzt, per Referendum in Kraft gesetzt und eine unabhängige nationale Wahlkommission, die für die Transparenz der Wahlen sorgen soll, aufgestellt. Die mauretanische

einem monumentalen Sockel, auf den lediglich vier Pferdefüße montiert sind. Das Pferd selbst, wohl das wichtigste Symbol der Kasachen, eines traditionellen Reitervolkes, fehlt. Meldibekows Förderin Ibrajewa achtet dabei auf eine zeitgemäße Darstellung seiner Kunst – sei es bald in Almaty oder bei der nächsten Moskauer Biennale. „Wir setzen auf Videound Filmkunst, denn mit CDs können wir uns leichter international präsentieren“, sagt sie. Den Schneeleoparden hat die Kunstkritikerin allerdings nicht mit im Gepäck, schon gar nicht in der Version des Unabhängigkeits-Denkmals

Bevölkerung ist nun zuversichtlich, dass freie und transparente Wahlen möglich sein werden. Durch den Demokratisierungsprozess hat Mauretanien das Vertrauen seiner Kreditgeber (IWF und Weltbank) zurückerlangt, die dem Land die Schulden erließen. Aber alle Probleme sind noch nicht gelöst. Bislang sind die Fälle hunderter schwarzafrikanischer Militärs, die unter dem gestürzten Regime Opfer außergerichtlicher Hinrichtungen wurden, ungeklärt. Die Übergangsbehörden nehmen das Problem tausender mauretanischer Flüchtlinge, die sich in senegalesischen Camps befinden, nicht in Angriff. Afrikaner, die nach Europa flüchten wollen, sind angesichts der strengen Kontrollen in Marokko, auf einen neuen Hafen in Nouadhibou im Nordosten Mauretaniens ausgewichen. Von dort aus versuchen Tausende die Kanarischen Inseln zu erreichen. Die mauretanischen Behörden haben mit Hilfe Spaniens ein Übergangslager im Hafen von Nouadhibou errichtet und gehen nun zur Rückführung illegaler Auswanderer über. Nach Meinung von Beobachtern ist der Ausgang der Wahlen am 19. November mehr als offen. Eine Koalition aus rund einem Dutzend demokratischer Parteien gilt als Favorit. Diese Parteien kämpfen seit Jahrzehnten für die Errichtung einer Demokratie in Mauretanien. Sofern ihre Koalition nicht auseinanderbricht, könnte sie die Mehrheit in der Nationalversammlung stellen.

Aus dem Französischen von Valentina Heck Diagana Khalilou arbeitet als Journalist bei der Zeitung Nouakchott Info. Er lebt in Nouakchott, der Hauptstadt Mauretaniens.

von Almaty. Die vom Aussterben bedrohte Gebirgskatze ist in der staatlichen Version ein mythisches Fabelwesen. Sie hat Flügel und trägt auf dem Rücken den „Goldenen Mann“, jenen sakischen Krieger mit Schild und Schwert, der als Vorfahre aller Kasachen gilt. Das Nationalsymbol: ausgestattet mit Urahn und Märchenattribut. Die nationale Selbstvergewisserung geht weiter. Matthias Echterhagen und Cornelia Riedel arbeiten für das Korrespondentennetzwerk n-ost in Almaty und Berlin.

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Charles Correa, Architekt, Mumbai. Alle Bilder im Hauptteil: Lord Snowdon, Š SNOWDON/The Nand & Jeet Khemka Foundation

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Made in India

Es gibt vieles, was in Indien hergestellt wird: Software, Räucherstäbchen, Armut. Derzeit ist Indien in Aufbruchstimmung. Wie sein großer Nachbar China ist es auf dem Weg vom Entwicklungsland zum Wirtschaftsgiganten. Indien hat die besseren Chancen, heißt es. Die Menschen sind jünger, sie sprechen Englisch und können Computer programmieren. Sie können aber noch mehr. Was wir von Indien über das Leben, über unsere eigene Identität, Politik und Wirtschaft lernen können, lesen Sie auf den folgenden Seiten. Ein Themenschwerpunkt zu Indien.

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Indien / Identität

Pole-Position Von Pankaj Mishra

Pankaj Mishra wurde 1969 in Nordindien geboren. Er ist Autor der Bücher „Unterwegs zum Buddha“ (Blessing, München 2005) „Benares oder Eine Erziehung des Herzens“ (Blessing, München 2001). Er schreibt regelmäßig literarische und politische Essays für The New York Times, New York Review of Books und The Guardian. Mishra lebt in London und Indien.

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Seit einigen Jahren verwöhnt uns die englischsprachige Presse Indiens mit Schlagzeilen wie „India the Next Superpower“ („Indien, die neue Supermacht“), „The Global Indian Takeover“ („Die globale Übernahme durch Indien“) und „Bollywood Fever Sweeps the West“ („BollywoodFieber erfasst die westliche Welt“). In den vergangenen Monaten haben nun auch das Time Magazine, Newsweek und Foreign Affairs in den Chor eingestimmt und bejubeln den „Aufstieg Indiens“, von dem sie sich einen neuen „strategischen Partner“ für die USA versprechen. Um ein etwas komplexeres und facettenreicheres Bild vom zeitgenössischen Indien zu bieten, habe ich kürzlich einen Artikel auf der Meinungsseite der New York Times veröffentlicht: „The Myth of New India“ („Der Mythos vom neuen Indien“). Ich rief ein paar Fakten in Erinnerung, die in den hymnischen Berichten über Indien übersehen oder verdrängt wurden: den schlechten Zustand des Gesundheitswesens und der Grundschulbildung, das Fehlen eines Aufschwungs im Produktionsbereich, die hohe Arbeitslosigkeit, die verschwindend geringe Anzahl von Arbeitsplätzen in den Bereichen IT und weiterverarbeitende Industrie (1,3 Millionen bei 400 Millionen Arbeitskräften); dazu kommen die Krise in der Landwirtschaft (die in den letzten zehn Jahren mehr als 100.000 Bauern in den Selbstmord getrieben hat) und die Verbreitung eines militanten Kommunismus in den ärmsten und am dichtesten bevölkerten Gegenden Indiens. Kaum war der Artikel erschienen, hagelte es Reaktionen. Viele Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und NGOs, die sich in Indien im Kampf gegen ländliche Armut, Krankheiten und Analphabetismus engagieren, bedankten sich in Leserbriefen dafür, dass ich wenigstens ein paar der beunruhigend weit verbreiteten Probleme des Landes angesprochen hatte. Andere Leserbriefe widersprachen, durchaus höflich, meiner impliziten Meinung, wonach Indien – wie China – sein Wirtschaftswachstum erst noch politisch und ökologisch nachhaltig gestalten muss. In den meisten Leserbriefen wurde ich jedoch wütend beschuldigt, mein Land zu verunglimpfen, indem ich öffentlich Indiens schmutzige Wäsche wasche. Es überrascht mich kaum, dass diese Briefe meist von Indern aus Amerika kamen, die sich Indien als Supermacht auf

Augenhöhe mit den USA wünschen, und von der Generation beziehungsweise Schicht von Indern, die von der Globalisierung profitiert haben. Sie identifizieren sich eindeutig mit indischen Erfolgen und amerikanischen Machtansprüchen und scheinen umgekehrt davon überzeugt, dass ich einen erbitterten Kreuzzug gegen die engen Beziehungen der Vereinigten Staaten mit Indien führe. Einige meinten auch, ich sei ein Pessimist, Sozialist, ein militanter Globalisierungsgegner voller Illusionen – und voller Hass auf Hindus und Indien insgesamt. Zwar habe ich mich mittlerweile an derartige Ausbrüche gewöhnt. Erstaunlich finde ich sie aber nach wie vor schon deshalb, weil ich ja selbst zur Schicht der indischen Globalisierungsgewinner gehöre. Aus meiner Familie hat vor mir niemand das Land verlassen. Heute verbringe ich einen Großteil des Jahres in London und schreibe für amerikanische und britische Zeitschriften – ein schlagendes Beispiel dafür, wie der weltweite Austausch von Waren und Gedanken Einzelnen helfen kann, wenig aussichtsreiche Lebensverhältnisse hinter sich zu lassen. Für mich ist Indien, wo ich den größeren Teil meines Lebens verbracht habe, nicht nur ein unendlich komplexes und intellektuell bereicherndes Thema; ihm verdanke ich ein Gefühl der Zugehörigkeit auf dieser Welt, ihm fühle ich mich auf eine Weise verbunden, die ich nicht immer in Worte fassen kann. Als Nationalstaat mag Indien nur 59 Jahre alt sein, aber da gibt es noch etwas, das weiter reicht: eine lange indische Kulturtradition, der die meisten meiner Helden angehören – Buddha, Ashoka, Gandhi und Tagore. Diese Denker und Aktivisten haben meine Weltsicht geprägt; ihre ungeheure schöpferische Originalität und ihr hoher Anspruch ließen die Überzeugung in mir wachsen, dass das Land, in dem sie erfolgreich wirkten, der Welt etwas Wichtigeres und Grundsätzlicheres zu bieten hat als die Fähigkeit, die tief zerrissene amerikanische Konsumgesellschaft zu imitieren. Umso mehr erschrecke ich immer wieder angesichts eines unsicheren und ängstlichen Nationalismus, den ich bei vielen gebildeten Indern beobachte: Ihr Selbstwertgefühl ist offenbar so schwach ausgeprägt, dass man es durch einen einzigen Artikel in der New York Times, der etwas vom Mainstream abweicht, untergraben kann. Gerade deshalb, denke ich, müssen die Wunschbilder über eine neue Größe und Bedeutung Indiens genauer beleuchtet werden, die sich viele offenbar nur als enges Schüler-Lehrer-Verhältnis zu den USA vorstellen können. Auf beinahe jeder Ebene scheint es den Wunsch nach einer umfassenden Vorherrschaft zu geben, wie sie die Ver-

Foto: Privat

In der Zukunft wird es mehrere Weltmächte geben. Kein Land ist dafür besser gerüstet als Indien

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einigten Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts genossen, als amerikanische Präsidenten die Weltpolitik bestimmten, amerikanische Manager und Hollywoodstars internationale Berühmtheit erlangten und die neoliberale Ideologie des amerikanischen Kapitalismus den Endpunkt der Geschichte zu bezeichnen schien. Doch die Geschichte ging weiter. Während die USA in Irak und Afghanistan militärisch in einer Sackgasse stecken, stark an internationaler Glaubwürdigkeit eingebüßt haben und wirtschaftlich aufgrund ihrer hohen Verschuldung von China abhängig sind, versuchen sie verzweifelt, ihren Status der überragenden Supermacht aufrechtzuerhalten. Doch schon in der Nachbarschaft, in einigen lateinamerikanischen Staaten, stößt der Neoliberalismus auf Widerstand. Das wachsende Selbstbewusstsein Chinas, die Unabhängigkeit der EU, die Unnachgiebigkeit Russlands und die Verachtung, die Iran, Venezuela und Nordkorea offen zum Ausdruck bringen, zeigen deutlich die Grenzen der amerikanischen Macht auf. All die Anfechtungen Amerikas in letzter Zeit machen klar,

dass wir nun in einer Welt leben, in der nicht mehr eine einzige wirtschaftliche oder kulturelle Macht dominieren kann. Mit anderen Worten: Obwohl es viel zu bewundern gibt am derzeitigen Wirtschaftswachstum Indiens und der wachsenden internationalen Bedeutung indischer Geschäftsmänner, ist kaum zu erwarten, dass Nandan Nilekani, CEO (Chief Executive Officer) von Infosys, der neue Bill Gates wird und dass Bollywood schließlich sowohl über Hollywood als auch über die Filmindustrie Hongkongs triumphiert. In einer Welt mit vielen Machtzentren wird Indiens Einfluss wohl kaum jemals mit jenem vergleichbar sein, den die Vereinigten Staaten oder Großbritannien einst genossen. Und obwohl sich manche Inder oder indischstämmige Amerikaner, die von der Globalisierung profitieren, Indien als eine Art Juniorpartner der USA wünschen, kann das nicht die Lösung für die immensen Probleme sein, die Indien hinsichtlich Armut und sozialer Ungerechtigkeit hat. Auch würde eine derartige Rolle Indien nicht dabei helfen, die größte Herausforderung zu meistern, der sich fast jedes größere Entwicklungsland seit Ende des Kalten Krieges stellen muss: die Frage, wie sich die Koexistenz verschiedener Länder und Kulturen bei globalem Wirtschaftswachstum politisch gestalten lässt.

Nandy und Amartya Sen beneiden, die eloquent die herrschenden Verhältnisse kritisieren und neue Visionen über menschliche Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten haben. Die Chinesen haben natürlich Recht, die Schriftsteller, Ökonomen, Historiker, Soziologen und politischen Denker zu bewundern, eine indische Intelligenzija, die tatsächlich genauso, wenn nicht beeindruckender ist als der viel beschriebene „Pool“ indischer Naturwissenschaftler und Ingenieure. Doch was bedeuten diese Leute jenen Indern, die sich auf die globale Übernahme vorbereiten?

China beneidet uns um Denker, die die herrschenden Verhältnisse kritisieren und neue Visionen zu bieten haben In einem Artikel über die Buchmesse 2006 in Frankfurt am

Main ging es kürzlich darum, wie indische Diplomaten Ansehen und Einfluss von Indiens international bekannten Künstlern und Intellektuellen dazu nutzen wollen, um „die Qualität Indiens als eine Art neue sanfte Supermacht hervorzuheben“. Ein Schriftsteller, der auch im diplomatischen Dienst ist, wurde mit den Worten zitiert: „Diese Stärke muss eingesetzt werden, um die indische Regierung in ihren außenpolitischen Zielen zu unterstützen.“ Das wirkt wie eine indische Version des alten amerika-

nischen Versuches, „weiche“ und „harte“ Machtfaktoren zu verbinden. Allerdings hat sich kaum ein angesehener Schriftsteller der USA jemals vom amerikanischen Außenministerium für irgendwelche strategischen Ziele einspannen lassen; und die Monumente amerikanischer Kultur – ob von Saul Bellow oder Bob Dylan geschaffen – gründen nicht so sehr auf einer Verherrlichung amerikanischer Macht als vielmehr in der Tradition selbstkritischer Reflexion. So sehr das auf der Hand liegen mag, so wichtig scheint es mir, hier noch einmal darauf hinzuweisen, dass indische Schriftsteller und Intellektuelle ihrem Land am besten dienen können, wenn sie offen über die neuen historischen Aufgaben und die Verantwortung sprechen, die auf Indien warten, und die Fantasien und Illusionen zerstreuen, mit denen es auf seinem Weg noch zu tun haben wird. Aus dem Englischen von Loel Zwecker

Glücklicherweise scheint kein Land dafür intellektuell besser gerüstet als Indien. Als ich kürzlich in China war, gestanden mir viele Akademiker und Schriftsteller, mit denen ich sprach, dass sie mich um indische Denker wie Ashis Kulturaustausch 1v/06

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Indien / Identität

Heute lebt jeder von uns mit mehr als einer Identität: Wer das begreift, kann auch das Zusammenleben besser organisieren Von Karan Singh

Dr. Karan Singh wurde 1931 im Hotel Martinez in Cannes geboren. Er ist der letzte Erbe des Prinzen von Jammu/Kaschmir. Mit 18 Jahren ernannte ihn sein Vater aufgrund der Vermittlung von Premierminister Jawaharlal Nehru zum Regenten der Region. Später war er mit 36 Jahren der jüngste Minister in der Gandhi-Regierung. Der ehemalige Staatspräsident und ehemalige Botschafter engagiert sich in einer Vielzahl von Organisationen, unter anderem im Club of Rome. Er ist Präsident des Indischen Rats für Kulturaustausch (Indian Council of Cultural Relations) und lebt in Neu-Delhi .

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Gegenwärtig wird unsere Welt von Unruhen und Umwälzungen geprägt. Wohl oder übel bewegen wir uns unweigerlich auf eine neue Form von „Kultur“ zu, eine Kultur, die – ob uns das behagt oder nicht – global ist und von Wissenschaft und Technik angetrieben wird. Die Welt wandelt sich zu einer globalen Gesellschaft. Man sollte sich vielleicht daran erinnern, dass der Begriff einer globalen Gesellschaft sehr tief in der kulturellen Tradition Indiens verwurzelt ist. Wenn man unser Parlamentsgebäude besucht, sieht man am allerersten Eingangstor einen herrlichen Vers in Sanskrit, der übersetzt bedeutet: „Das gehört mir, das gehört dir ist eine kleinliche und enge Weise, die Wirklichkeit zu sehen. Für Menschen höheren Bewusstseins ist die ganze Welt eine Familie.“ Wir müssen uns der Frage oder vielmehr der Herausforderung stellen, ob wir friedlich zu einer globalen Gesellschaft übergehen können oder ob wir immer wieder gewalttätige Phasen durchmachen müssen, die letztlich alle unsere Hoffnungen auf eine bessere menschliche Kultur zerstören. Zuerst einmal möchte ich festhalten, dass wir für eine globale Gesellschaft eine globale Organisation benötigen. Leider sind die Vereinten Nationen, die grundlegende globale Organisation des 20. Jahrhunderts, inzwischen altmodisch und überholt. Sie sind in der Zeit erstarrt. Die Vereinten Nationen stellen die Situation von heute so dar, wie sich die Welt 1945 präsentierte, als der Zweite Weltkrieg zu Ende war. Sie vertreten nicht mehr die Mehrheit aller Menschen. Deshalb sind ja zum Beispiel auch weder Indien noch Deutschland dauerhafte Mitglieder im Sicherheitsrat. Daher glaube ich, dass in Zukunft die regionalen Organisationen neben den über 200 Nationalstaaten und der globalen Organisation eine sehr wichtige Rolle spielen werden. Insofern ist in meinen Augen die Europäische Union die erstaunlichste Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. In unserer Jugend haben wir alles über die europäischen Kriege gelernt – die Rosenkriege, den Hundertjährigen Krieg, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg und die Napoleonischen Kriege. Die ganze Welt wurde von den europäischen Kriegen in Atem gehalten. Als die Europäer Kolonialisten wurden, breiteten sich ihre Kriege über die ganze Welt aus. Deshalb war es die Unruhe in Europa, die

jahrhundertelang die ganze Welt in Unruhe versetzt hat. Daher ist es für uns so verblüffend, dass sich die Europäische Union herausgebildet hat. Sie erscheint uns fast wie ein Wunder. Wir reisen seit drei oder vier Jahrzehnten ausgiebig durch Europa. Inzwischen sind die Mark, der Franc und die Lira verschwunden. Wenn wir jetzt nach Europa kommen, brauchen wir nicht mehr nach jeder Grenze unsere Taschenrechner zu zücken. Das an sich ist schon faszinierend, und daher möchte ich gerne sagen, dass wir die Europäische Union als eine extrem positive Entwicklung betrachten, da sie zeigt, dass wir in unserem Teil der Welt das Gleiche zustande bringen könnten. Ich halte die Europäische Union seit jeher als Vorbild dafür hoch, wohin sich die SAARC (South Asian Association for Regional Cooperation) entwickeln könnte. Ich möchte den Europäern für den Mut und die Fantasie danken, die sie bei der Schaffung der Europäischen Union bewiesen haben. Es gibt Rückschläge, es gab einige negative Abstimmungen, und vielleicht kommen noch mehr. Vielleicht hat sie zu schnell expandiert. Es zählt indessen allein schon die Tatsache, dass es in Europa heute keine Kriege mehr gibt, außer natürlich auf dem Balkan. Was Europa werden möchte, ist eine aus vielen Ethnien, vielen Nationalitäten, vielen Sprachen, vielen Religionen und vielen Kulturen zusammengesetzte Nation. Also genau das, was Indien bereits ist. Europa ist wesentlich reicher, besser organisiert und hat wesentlich effizientere Institutionen, aber wenn man Indien wirklich verstehen will, muss man das Land als eine Art Europa betrachten. Es besitzt ebenso viele Sprachen, es besitzt doppelt so viele Religionen und Menschen und ist doch eine Nation. Also haben Europa und Indien diese Dinge gemeinsam. Wir haben einen ebensolchen Schatz an Geschichte wie die Europäer. Wir besitzen ein sehr tragfähiges kulturelles Fundament, genau wie Europa. Europa hat die großen griechischen und römischen Kulturen, wir haben die großen hinduistischen, buddhistischen und jainistischen Kulturen und Kunstgegenstände, die die gesamte Welt beeinflusst haben. Der Buddhismus hat sich von hier aus über ganz Südostasien ausgebreitet, ohne dass ein einziger Schuss gefallen wäre. Unsere Expansion, wenn ich das so sagen darf, verlief nicht wie die europäische Expansion durch die Macht von Gewehren oder Schlachtschiffen. Unsere Expansion verlief auf kultureller Ebene, durch kulturelle, religiöse und spirituelle Ideen. Beide sind demokratische Gesellschaften. Wir haben freie Wahlen mit zahlreichen Parteien, nur dass unsere Wählerschaft, also die Gesamtzahl von wahlberechtigten Personen über 18 Jahre, größer ist als die gesamte Bevölkerung Europas

Foto: Bajaj Photo World, New Delhi

Alles wird eins

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Indien / Identität

und Nordamerikas zusammen. Aber trotzdem sind dies Bereiche, die wir gemeinsam haben. Es sind sogar sehr wichtige Gemeinsamkeiten. Wie bereits erwähnt, sind wir beide pluralistische Gesellschaften; wir haben viele Religionen, viele Sprachen, viele Ethnien und viele Kulturen. Wir glauben nicht an den Kampf der Kulturen, sondern an das Verschmelzen der Kulturen, weil wir auf unseren Staatsgebieten viele unterschiedliche kulturelle Faktoren integriert haben. Der Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Dilemmas in der Welt von heute liegt im Begriff der multiplen Identitäten. Wir müssen uns von der Vorstellung einer einzigen, alles umfassenden Identität verabschieden. Ich selbst zum Beispiel habe eine Kastenidentität, eine sprachliche Identität, eine religiöse Identität, eine nationale Identität und eine globale Identität. Durch einen Zufall bin ich in Europa geboren, daher bin ich gebürtiger Europäer. Man kann mich nicht auf eine einzige meiner Identitäten festlegen. Ich bin Hindu, und man kann zwar sagen, ich sei ausschließlich Hindu, aber ich stehe in ständigem Austausch mit Muslimen. Ich bin ein Dogra, aber ich stehe in ständigem Austausch mit den anderen Gemeinschaften in Nordindien. Ich bin Inder, aber ich fühle mich als Weltbürger überall auf der Welt zu Hause und vergesse nie, dass die ganze Welt eine Familie ist. So gesehen, ist der Begriff der multiplen Identitäten etwas, das Indien und Europa teilen. Indien und Europa stehen in einer strategischen Partnerschaft. Unser Premierminister hat am 7. September 2005 ein Abkommen über eine strategische Partnerschaft mit Europa unterzeichnet. Dies ist ein sehr bedeutsames Dokument. Ich lege es jedem ans Herz, der die Beziehung zwischen Indien und Europa studieren möchte. Natürlich ist es ein Basisdokument, doch es schreibt die grundlegenden Parameter des gemeinsamen Wertesystems und der gemeinsamen Interessen dieser Länder fest. Darüber hinaus fühlen wir uns einer mehrpoligen Gesellschaft verpflichtet. Wir lehnen die Vorstellung einer einpoligen Welt ab, ganz egal wie mächtig eine einzelne Nation auch zu irgendeinem Zeitpunkt sein mag. Viele Nationen sind irgendwann einmal mächtig gewesen – einmal war das Römische Reich am mächtigsten und dann das Reich Dschingis Khans, einmal war das deutsche Dritte Reich am mächtigsten und einmal das Britische Empire. Diese Machtverhältnisse wandeln sich. Macht verharrt nicht lange an einem und demselben Ort. Macht zerstreut sich, Macht wandert, doch ich glaube, dass sich Indien und Europa eher einer mehrpoligen Welt verpflichtet fühlen, statt sich auf eine einpolige Welt versteifen zu wollen. Nordamerika, Europa, China, Japan und Indien werden Kulturaustausch 1v/06

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einige der wichtigsten Pole der aufkommenden globalen Gesellschaft sein, zu der eventuell auch einige Länder oder regionale Gruppen in Afrika und Lateinamerika zählen werden. Schließlich sind Indien und Europa mit ähnlichen Bedrohungen konfrontiert. Da ist die Bedrohung durch den Fundamentalismus, die Bedrohung durch den Terrorismus

Europa möchte genau das werden, was Indien bereits ist und die Bedrohung durch illegale Einwanderung. Sowohl Indien als auch Europa muss sich diesen Problemen stellen. Es ist allgemein bekannt, dass der Terrorismus seine Tentakeln mittlerweile über die ganze Welt ausgespannt hat und nicht mehr nur ein Phänomen der Entwicklungsländer ist. Allmählich beginnt er die Zentren der westlichen Zivilisation anzugreifen, während der Fundamentalismus in allen Weltreligionen sein Haupt erhebt, in manchen allerdings mehr als in anderen. Des Weiteren stehen beide Weltregionen vor großen und gravierenden Umweltproplemen. Die globale Erwärmung schreitet rasch voran. Tausende von Arten wurden im letzten Jahrhundert ausgerottet und Tausende von Hektar tropischer Regenwald abgeholzt, die Ozonschicht ist erschöpft und die Gletscher schmelzen, wie man anhand von Satellitenaufnahmen erkennen kann. Ich gehörte zur indischen Delegation auf der ersten Umweltkonferenz der Vereinten Nationen 1972 in Stockholm. Später folgte die große Konferenz in Rio und manche weitere. Europa hat sich im Hinblick auf den Umweltschutz wesentlich besser entwickelt als die USA. Zumindest scheinen die europäischen Länder ernsthaft bemüht, die Emissionsnormen einzuschränken. Eines steht allerdings fest: Indien und China brauchen mehr Wachstum, da die Bekämpfung der Armut unser wichtigstes Anliegen ist. Es ist eine Schande für uns, dass ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeit Millionen indischer Kinder Tag für Tag zu wenig Nahrung haben. Es ist eine Schande für uns, dass Millionen indischer Kinder nicht zur Schule gehen und Millionen von Familien im Winter frieren, vom Monsun durchnässt und im Sommer von der Hitze geplagt werden. Wir müssen die Armut ausmerzen – noch zu unseren Lebzeiten. Wir können nicht ewig warten. Sonst werden sich die sozialen Spannungen auf ein unbeherrschbares und unkontrollierbares Maß steigern. Daher brauchen wir Wachstum. Wenn es jedoch keine Grenzen des Wachstums im Westen gibt, weiß ich nicht, wie wir des Problems je Herr werden sollen. Ich bin Mitglied des Club of Rome. Bekanntlich hat der Club of Rome vor 30 Jahren ein Buch mit dem Titel „Die Grenzen des

Der Text ist der leicht gekürzte Eröffnungsvortrag zum Internationalen Kulturforum Neu-Delhi 2005 der Bertelsmann Stiftung. Weitere Informationen unter www.bertelsmannstiftung.de/kultur

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Wachstums“ herausgegeben. Die Vorstellung, dass man immer weiter und weiter und weiter wachsen kann wie ein schauriges Monster im Film, gilt nicht mehr. Man muss irgendwann aufhören, und dies ist eine der größten Herausforderungen, vor denen wir stehen. Wir haben also viele Gemeinsamkeiten, wir müssen uns vielen gemeinsamen Herausforderungen stellen, und ich schlage vor, dass wir verschiedene Bereiche in Augenschein nehmen. Zunächst einmal müssen unsere wirtschaftlichen Bezie-

Musik oder die klassische Musik des Westens –, große Malerei und großen Tanz: All das kann man in Indien ebenso finden wie in den Ländern der Europäischen Union. Wir müssen Tanz, Musik, Malerei und Theater weiter fördern. 2006 wird das Jahr Indiens in Europa sein. Wir sind das Partnerland auf der Hannover-Messe und das Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Im Oktober eröffnen wir in Brüssel eine große Indien-Ausstellung im Palais Bozar, die danach in Teilen durch mehrere Städte reisen wird. Lille in Frankreich wird zum Beispiel ein komplettes Indien-Fest veranstalten. In Paris findet 2007 die große Gupta-Skulpturen-Ausstellung statt, und in London werden 2006 die Bronzearbeiten aus der Chola-Epoche gezeigt. Doch dies sind nur einige Anlässe. In meiner Funktion

hungen besser und stärker werden; Binnen- und Außenhandel müssen zunehmen. Schon heute ist die Europäische Union unser größter Handelspartner. 23 Prozent unserer Exporte gehen in die Europäische Union und 21 Prozent unserer Importe stammen aus der Europäischen Union, doch diese Zahlen müssen noch Die wahre Herausforderung der Globalisierung steigen. Die europäischen Direktinvestitionen in Indien liegen nach wie vor bei nur 0,2 Probesteht darin, wie viel wir innerlich wachsen zent der gesamten ausländischen Direktinvestitionen der EU. Das ist nicht genug. Indien ist ein aufstrebender Markt, der nach exponentiellem als Präsident des Indischen Rats für Kulturaustausch Wachstum verlangt, und kluge Investoren kommen nach werde ich mich darum bemühen, der Intensivierung der Indien, weil wir hier ein anpassungsfähiges System haben. Bindungen zwischen Indien und Europa oberste Priorität Wir arbeiten an unserer Infrastruktur. In den nächsten einzuräumen. Jahren werden unsere Flughäfen hoffentlich wesentlich moderner sein als heute, unsere Straßen werden erneuert Noch viel wichtiger als all diese Einzelaspekte ist doch, ob sein, und unsere allgemeine Infrastruktur wird ebenfalls sich unser Bewusstsein weiterentwickelt oder nicht, ob besser sein. unsere spirituellen Zentren sich zu entwickeln beginnen, Gleichzeitig muss der akademische Austausch inten- ob wir allmählich begreifen, dass der menschliche Geist siviert werden. Es gibt eine sehr starke und angesehene den unauslöschlichen Funken des Göttlichen birgt und Gelehrtentradition in Europa im Hinblick auf Indien, es die höchste Bestimmung des Menschen ist, diesen insbesondere in Deutschland. Doch diese muss verbessert Funken zum lodernden Feuer der spirituellen Erkenntnis und modernisiert werden. Wir brauchen mehr High-Tech- anzufachen. Das herrliche Licht des Atman, das wahre Licht, das Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik. So beteiligen wir uns zum Beispiel am Galileo-Satellitenprojekt. jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt, wie die Bibel Ich bin Kanzler der Jawaharlal-Nehru-Universität, und sagt, das Noor-e-Illahi der Sufis, das Ek Onkar der Sikhwir haben mit vielen europäischen Ländern Kollabora- Gurus. Lassen wir das Licht des Bewusstseins aufleuchten, tionsvereinbarungen im Rahmen der Studentenaustausch- versuchen wir eine neue Art von Bewusstsein auf unserem programme Erasmus und Mundas. Als Präsident des ICCR Planeten zu entwickeln, denn während sich der Planet auf (Indian Council for Cultural Relations) will ich unsere die Globalisierung zubewegt, verharren unser Verstand kulturellen Beziehungen weiter ausbauen. Der Tourismus und unser Bewusstsein nach wie vor in präglobalen und muss zunehmen. Noch kommen nicht genug Europäer nach prähistorischen Vorstellungen. Deshalb besteht die wahre Indien. Es sollten mehr Menschen nach Indien reisen. Es Herausforderung angesichts der Globalisierung nicht gibt vieles, was wir von Europa lernen können, und auch darin, wie viel wir äußerlich, sondern darin, wie stark Europa kann vieles von uns lernen. Wünschenswert wäre wir innerlich wachsen. ein kontinuierlicher politischer Dialog zwischen Indien und der Europäischen Kommission. Einige Delegationen Aus dem Englischen von Ariane Böckler des Europäischen Parlaments haben unser Parlament besucht. Ich habe sie in unserem Ausschuss getroffen und hoffe, dass noch mehr kommen werden. Auf dem Gebiet des kulturellen Austauschs können wir vieles tun. Große Musik – sei es nun klassische indische 20

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„Wollen Sie einen Journalisten ärgern, sagen Sie ihm, Sie kennen seine Texte nicht. Nichts verletzt einen Journalisten mehr als die Tatsache, dass seine Worte tiefgründiger Weisheit nicht gelesen wurden. “ Vinod Mehta war einer der jüngsten Redakteure des Landes, als er in den 1970er Jahren Chef von Debonair, dem indischen Playboy, wurde. Heute ist er Chefredakteur des politischen Magazins Outlook. Er ist bekannt für seine provokanten Kolumnen, weshalb er regelmäßig Drohbriefe in seinem Briefkasten findet. Es heißt, Mehta habe den indischen Nachrichtenjournalismus neu definiert. Das Foto zeigt ihn zusammen mit seinem Hund „Editor“. Mehta lebt in Neu-Delhi.

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„Delhi ist ein Schmelztiegel von Alt und Neu. Es besitzt die Komplexität, die Gegensätze, die Schönheit und Dynamik einer Stadt, in der Vergangenheit und Gegenwart nebeneinander bestehen.“ Der „Wächter“ des indischen Kunst- und Kulturerbes, OP Jain, gründete die Denkmalschutzstiftungen Intach und Sanskriti. Diese initiieren Unterstützungsprogramme für indische Künstler und Intellektuelle. Der 77- Jährige steht hier vor einem Feigenbaum, der an seinem sechzigsten Geburtstag im Garten des Stiftungssitzes von Sanskriti in Neu-Delhi gepflanzt worden war.

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Indien / Identität

Der Terrorismus heizt die politische Debatte um die Gruppe indischer Muslime an. Deren größtes Problem bleibt jedoch die Armut Von Ashgar Ali Engineer

Ashgar Ali Engineer, Jahrgang 1940, hat bisher 47 Bücher über den Islam und die gewaltsame Unterdrückung von Muslimen in Indien veröffentlicht. Sein Engagement gilt dem besseren Verständnis des Islam von außerhalb. Als Vorsitzender des CSSS (Centre for Study of Society and Secularism) in Mumbai, das sich für den interreligiösen Dialog und die Harmonie in den Gemeinden einsetzt, ist er Herausgeber des Indian Journal on Secularism und des monatlich erscheinenden Islam and Modern Age. Er lebt in Mumbai.

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Abgesehen von Indonesien wohnen in keinem Land der Welt so viele Moslems wie in Indien. Die 130 Millionen indischen Moslems machen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung Indiens jedoch nur eine Minderheit von 13 Prozent aus. Die meisten sind Konvertiten aus einer niederen Hindukaste, deren Angehörige als Dalits bezeichnet werden. Ihr Status als Minderheit sowie Armut und Bildungsmangel, die Kennzeichen der Dalits, sind nach wie vor die größten Probleme der indischen Moslems. Nimmt man die Tragödie der Teilung Indiens 1947 in die Indische Union und die Islamische Republik Pakistan hinzu, für die die Mehrheit der Bevölkerung die Moslems verantwortlich machte, kann man nachvollziehen, welchem Druck sie sich im politischen Leben Indiens ausgesetzt fühlen. Auch wenn dies von Außenstehenden üblicherweise anders wahrgenommen wird, haben indische Moslems keine einheitliche Identität. Sie unterscheiden sich sprachlich und kulturell stark voneinander, leben in unterschiedlichen Regionen und gehören verschiedenen Glaubensrichtungen an. Auch politisch sind sie sich keineswegs einig. So weigern sich etwa die kaschmirischen Moslems, sich als indisch zu verstehen. Die südindischen sprechen Malayalam und Tamil oder Kannada und Telugu, die nordindischen teils Konkani, teils Gujarati und teils Bengali. Sie alle gehen kaum Mischehen ein und verfügen über eigene Organisationen. Es gibt schiitische und sunnitische Moslems, wobei die Sunniten zahlenmäßig weit überlegen sind. Die Sunniten werden wiederum in Barelwis, Deobandis, Tablighis und Ahl-e-Hadis (Salafiten) eingeteilt. Die Schiiten setzen sich aus Ithna Ashariyya (Zwölferimamiten) und Ismailiten zusammen, wobei sich die Ismailiten wiederum in Bohras und Khojas gliedern. Darüber hinaus unterscheidet man nach der hanifitischen und der schafiitischen Rechtsschule, während die schiitischen Moslems teils der jafaritischen und teils der ismailitischen Rechtsschule zugerechnet werden. Bei den Moslems in Indien handelt es sich also um eine überaus gemischte Bevölkerungsgruppe. Da dennoch unter ihnen ein Zusammengehörigkeitsgefühl herrscht, ist es legitim, sie in unter dem Oberbegriff „indische Moslems“ zusammenzufassen. In einem Land, das so vielfältig ist wie das demokratische Indien, spielen

Identitäten eine wichtige Rolle. Demokratien sind von Konkurrenz geprägte Gemeinwesen, in denen Identitäten genutzt werden, um Menschen zu mobilisieren. Der Versuchung, Identitäten für ihre eigenen politischen Interessen zu instrumentalisieren, können nur wenige Politiker widerstehen. Nicht selten sind Konfrontationen zwischen Mehrheiten und Minderheiten eine Folgeerscheinung dieser Manipulation von Identitäten. Seit Ende der 1980er Jahre hat sich die kommunalistische Polarisierung enorm verschärft. Die BJP (Bharatiya Janata Party), eine rechtsgerichtete Hindu-Partei, kam dadurch an die Macht, dass sie diese Polarisierung geschürt und unterstützt hat. Dass 2002 in Gujarat mehr als 2000 Moslems brutal ermordet und zahlreiche Frauen vergewaltigt wurden, war das Ergebnis einer Instrumentalisierung religiöser Identitäten durch die führenden Köpfe der BJP. Paradoxerweise redeten die Wortführer der BJP den Hindus ein, sie würden in ihrem eigenen Land marginalisiert. Sie behaupteten, die Moslems würden „um ihrer Wählerstimmen willen von der Kongresspartei besänftigt und seien daher ‘Privilegierte’“. Nach dem Blutbad von Gujarat protestierten aber nicht nur Moslems, sondern auch zahlreiche säkulare Hindus. Der Oberste Gerichtshof Indiens griff ein. Er verwies die Strafprozesse gegen Angeklagte, die an den Ausschreitungen beteiligt waren, von den eigentlich zuständigen Gerichten im Bundesstaat Gujarat an Gerichte in anderen Bundesstaaten, damit den Moslems von Gujarat Gerechtigkeit widerfahren konnte. Der Terrorismus hat die kommunalistische Debatte im Land weiter angeheizt. Im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs werden Moslems als Hauptursache für den Terrorismus dargestellt. Die RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh), als „Nationale Freiwilligenorganisation“ das ideologische Rückgrat der rechtsgerichteten Hindupartei, hat den kreativen Slogan geprägt: Nicht alle Moslems sind Terroristen, aber alle Terroristen sind Moslems. Tatsache ist, dass indische Moslems keinerlei Terrorgruppe angehören. Selbst der BJP-Chef Advani räumte in seiner Zeit als Innenminister in der Regierungskoalition der Nationalen Demokratischen Allianz (NDA) ein, dass es keinen einzigen indischen Moslem gäbe, der Mitglied von Al-Qaida sei. Sogar US-Präsident Bush beglückwünschte den indischen Premierminister Manmohan Singh dazu, dass kein indischer Moslem Al-Qaida angehöre. Auch wenn dieses Thema viele Sichtweisen zulässt, besteht Konsens darüber, dass die säkulare Demokratie in Indien in diesem Fall eine wichtige Rolle spielt. Wenn Muslime in Indien echten Groll verspüren, gewährt die Demokratie ihnen den nötigen Freiraum, um diesem

Informationen rechte Seite mit wissenschaftlicher Beratung von Dr. Eberhard Guhe, Institut für Indologie der Universität Mainz

Bushs Glückwünsche

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Indien / Identität

Groll Luft zu machen. Diese guten Seiten der säkularen Demokratie in Indien werden von allen moslemischen Intellektuellen, Wissenschaftlern und politischen Führern gewürdigt. So stauen sich die Gefühle nicht auf und können nicht in terroristische Gewalt umschlagen. Einige Terroranschläge in indischen Städten wie Delhi, Varanasi und Bombay gehen höchstwahrscheinlich auf das Konto ausländischer Terroristen, die den einen oder anderen indischen Moslem als Kontaktperson vor Ort eingespannt haben. Auch wenn nicht die ganze Wahrheit bekannt ist, so ist dies doch die wahrscheinlichste Version. Über die Frage, wie tief indische Moslems in diese Anschläge verwickelt sind, kann nur spekuliert werden. Es steht jedoch außer Zweifel, dass die Hauptakteure von jenseits der Grenze kamen, wo ein südasiatisches Zentrum des Terrors im Entstehen ist. Obwohl es in den Reihen von Al-Qaida keine indischen Moslems gibt, haben die Moslems in Indien ihre eigene Sicht auf Al-Qaida und seine terroristischen Gewaltakte. Alle Terrorakte – insbesondere die Anschläge, die sich in Indien ereignen – werden von islamischen Geistlichen mit unmissverständlichen Worten verurteilt. Weil die amerikanische Außenpolitik und die bedingungslose Unterstützung der Vereinigten Staaten bei den israelischen Angriffshandlungen in Palästina und im Libanon abgelehnt werden, stößt man allerdings auch auf Sympathien für Al-Qaida. Während eines Workshops über friedliche Koexistenz, den das „Zentrum für Gesellschafts- und Säkularismusforschung“ jüngst in Rajasthan veranstaltete, antwortete ein moslemischer Professor auf die Frage nach dem Terrorismusproblem, für den Terror von Al-Qaida trage weitgehend Bush die Verantwortung. Die meisten moslemischen Intellektuellen werden ihm in dieser Frage zustimmen. Man muss eine klare Trennlinie zwischen den Terrorakten und der Analyse der Hauptursachen des Terrorismus in der Welt von heute ziehen. Interessanterweise hat vor kurzem Narendra Modi, der Chefminister des Bundesstaates Gujarat, in dessen Regierungszeit sich die blutigen Ausschreitungen gegen Moslems ereignet haben, in einem Artikel im RSS-Sprachrohr „The Organiser“ dazu aufgerufen, den Terror nicht mit Religion in Verbindung zu bringen. Das Phänomen sei sehr komplex und habe nicht immer religiöse, sondern politische Gründe. Ausnahmsweise hat Modi die parteipolitischen Grabenkämpfe ruhen lassen und ein wahres Wort gesprochen. Multireligiöse, multikulturelle und vielsprachige Länder sehen sich in modernen, vom Wettbewerb geprägten Demokratien vor politische Herausforderungen gestellt. Sie sind besonders schwer in Gesellschaften zu meistern, die Kulturaustausch 1v/06

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unterschiedliche Entwicklungsniveaus aufweisen und in denen einige Kasten und Religionsgemeinschaften mehr an sich reißen, als ihnen zusteht, und wo Angehörige anderer Kasten und Gemeinschaften ins Abseits gedrängt werden. Solche Verhältnisse führen zu einem heftigen Ungerechtigkeitsempfinden. Und ohne Gerechtigkeit – das lehrt uns eine alte Weisheit – kann es keinen Frieden geben. Die indische Gesellschaft ist zwar eine säkulare und demokratische, aber mit Sicherheit keine gerechte Ge-

Der Versuchung, Identitäten zu instrumentalisieren, können nur wenige Politiker widerstehen sellschaft. Zu den Opfern massiver Ungerechtigkeit zählen neben den Moslems auch die Hindus aus niederen Kasten und Stammesangehörige. Dies hat zur Entstehung der gewalttätigen, kommunistisch ausgerichteten Naxalitenbewegung geführt, die bei Teilen der Dalits und Stammesangehörigen starken Zulauf hat. In Indien stellt die Naxalitenbewegung eine weitaus größere Herausforderung dar als der islamische Terrorismus. Mittlerweile geht Politikern auf, dass sie im Grunde ebenfalls eine Terrorbewegung ist. Die kommunalistische Polarisierung jedoch sorgt dafür, dass die „islamische Terrorbewegung“ im politischen Diskurs die wichtigere Rolle spielt. Es sind die politisch Mächtigen, die die Begrifflichkeiten prägen und in Umlauf bringen. Vor dem 11. September kam das Wort „Terrorismus“ im politischen Diskurs Indiens nicht vor. Erst nach dieser Katastrophe wurde das Wort aus den amerikanischen Medien übernommen und allgemein gebräuchlich. Bis dahin hatte man im politischen Sprachgebrauch Indiens in Bezug etwa auf die Khalistan- und die Kaschmiri-Bewegung Formulierungen wie „Militanz and Extremismus“ oder „militante oder extremistische Gewalt“ bemüht. Seit dem 11. September hat sich die Terminologie komplett verändert. Abschließend möchte ich betonen, dass der Kampf gegen den Terrorismus keinen Erfolg haben wird, ehe nicht gerechte Gesellschaften geschaffen werden, in denen einem marginalisierten Teil der Bevölkerung seine politischen und wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten nicht vorenthalten werden. Alle Menschen sollten das Gefühl einer gerechten Teilhabe an der politischen und wirtschaftlichen Macht haben. Und kein Land sollte über andere Länder herrschen und den Versuch unternehmen, deren Ressourcen an sich zu reißen.

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„Frauen in Indien werden entweder vergöttert oder kommerzialisiert. “ Alka Pande leitet die populärste Galerie NeuDelhis. Sie ist Kuratorin der Visual Arts Gallery des India Habitat Centre, dem kreativen Zentrum der Hauptstadt. Die „Königin der Erotik“ genannte Alka Pande hat schon viele Bücher über Sexualität und visuelle Kultur sowie Indologie herausgebracht. Dr. Pande unterrichtet außerdem am Delhi College of Art.

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„Ich sammle fast ausschließlich Werke jüngerer Künstler meiner Generation, da sie eine Vision Indiens repräsentieren, mit der ich mich verbunden fühle.“ Anupam Poddar (links) und Nitin Bhayana sind zwei der jüngsten und berühmtesten Kunstsammler und Förderer zeitgenössischer Kunst in Indien. Bhayana begann bereits als Teenager Kunst zu sammeln, Poddar ein paar Jahre später. Zusammen wurden sie bald die treibende Kraft hinter dem entstehenden Kunstmarkt.

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Indien / Identität

„Dem Westen fehlt die Spannung“

Sudhir Kakar, 1938 in Nainital, Uttaranchal, geboren, ging 1960 nach Mannheim, um Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Am Freud-Institut in Frankfurt/Main wurde er 1975 zum Psychoanalytiker ausgebildet. Er praktizierte in Neu-Delhi und lehrte in Harvard, Princeton und Chicago. Zuletzt erschien im August 2006 in Zusammenarbeit mit seiner Frau Katharina Kakar „Die Inder - Portrait einer Gesellschaft“ im C.H. Beck Verlag. Er lebt in Goa.

Sie haben für Ihr Buch „Intime Beziehungen. Erotik und Sexualität in Indien“ Interviews mit Frauen aus Slums in Delhi geführt. Warum diese Gruppe? Von Frauen der untersten Klassen hört man fast überhaupt nichts, sondern nur von Frauen aus der indischen Mittelklasse. In den Slums habe ich ein sehr trauriges Bild bezüglich deren Sexualität wahrgenommen: Unter diesen Frauen gibt es eine große Sehnsucht nach Intimität, nach Partnerschaft, die oft enttäuscht wird. Grund für diese Situation sind vor allem die wirtschaftliche Not und die Verantwortungslosigkeit der Männer. Das ist vergleichbar mit der afroamerikanischen Unterklasse in den USA: Die Männer wechseln von einer Frau zur anderen und lassen sich von den Frauen aushalten. Sexualität wird von Frauen als eine lästige Angelegenheit empfunden, mit der man schnell fertig werden muss. Ein Viertel der indischen Gesellschaft lebt in den platzenden indischen Metropolen, die meisten vielköpfigen Familien müssen sich ein bis zwei Räume teilen. Kann es unter diesen Bedingungen überhaupt Sexualität geben? In manchen Familien wird Platz für die Privatsphäre gemacht, indem Zeichen gegeben werden. Wenn zum Beispiel zwei Familien, also zwei Brüder und ihre Frauen, zusammenleben, dann stellt das Paar auf diskrete Weise seine Schuhe vor die Tür, damit man weiß, dass hier nicht gestört werden darf. Von derartigen Zeichen gibt es viele. In den städtischen Slums sind solche Abmachungen natürlich schwieriger. Welche Moralvorstellungen gibt es in Indien bezüglich Sexualität? Die indische Gesellschaft hat eine sehr konservative Moralvorstellung: Das heißt, Sexualität ist vor dem Heiraten streng verboten. Dies gilt eher für Frauen als für

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Männer. Diese können sexuelle Erfahrungen vor dem Heiraten mit den so genannten Tanten in der Nachbarschaft machen, verheiratete, aber sexuell unglückliche Frauen. In der Mittelklasse wird es geschätzt, wenn man erst mit dem Eintritt in die Ehe sexuelle Erfahrungen macht. Aber ungefähr 25 Prozent der Männer haben schon vorher Erfahrungen gesammelt und zehn Prozent der Frauen. Diese Sittenvorstellungen sind dabei nicht von der Kaste abhängig, sondern ziehen sich durch alle Schichten. Aber Indien ist ein großes Land, und in einigen Teilen ist es freier. So ist auch die städtische Oberklasse ungezwungener. Die jungen Frauen und Männer dürfen sich auch vor der Ehe treffen. Und wenn sie sich treffen, findet natürlich auch Sexualität statt. Wie wird das Thema Sexualität in Filmen, wie zum Beispiel in den berühmten Bollywoodfilmen behandelt? Sexualität wird dort langsam freizügiger gezeigt. Bis vor kurzem war nicht einmal ein Kuss erlaubt. Das liegt daran, dass er zur intimen sexuellen Sphäre gehört, die man nicht öffentlich zeigen darf. Auch Ehepaare dürfen sich auf der Straße nicht küssen. Mittlerweile wird es in Filmen jedoch zugelassen. Aber man sieht den Schauspielern an, dass sie sich nicht wohl fühlen, weil sie noch keine Erfahrungen haben. In den neuen Filmen werden auch Tabuthemen wie Ehebruch gezeigt. Es gibt also einen Trend zu einer offeneren Diskussion. Sexualität wird aber nicht direkt gezeigt, obwohl die Filme sehr sexuell sind, wie in zweideutigen Gesprächen oder in den Tanzszenen, die pure Sexualität sind. Da wird kein Hehl daraus gemacht, das ist erlaubt. Welche Unterschiede gibt es zwischen westlichen Gesellschaften und Indien in Bezug auf Sexualität? Ich glaube, dass beide Gesellschaften Erotik in unterschiedlicher Weise kaputtmachen. Die westliche Gesellschaft erlaubt alles, da fehlt die Spannung. Aber Erotik braucht Spannung, Geheimnis, Romantik. Das Feuer der Sexualität, die Erotik im Westen, ist verzerrt. In Indien würde ich es eine Art Eis-Moral nennen, eine moralische konservative Kälte, die die Erotik hemmt. Die Erotik hat weder zwischen dem westlichen Feuer noch dem indischem Eis Platz. Die amerikanische Serie Baywatch war 1996 in Indien die populärste Fernsehsendung. Wie sieht es heute mit den westlichen Einflüssen auf Indien aus? In Baywatch sind die Szenen fast pornographisch. Das hat aber keine Auswirkungen auf die Gesellschaft und

Foto: Margit Knapp

Sowohl Indien als auch die westlichen Gesellschaften zerstören die Erotik, behauptet der indische Autor und Psychoanalytiker Sudhir Kakar. Ein Gespräch

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Indien / Identität

die Partnerschaftsvorstellungen in Indien. Auch heute bevorzugen immer noch circa 80 Prozent der jungen Leute arrangierte Ehen statt Liebesehen. Grund ist, dass in Indien das Hauptprinzip der Familie nicht die MannFrau-Bindung ist, sondern, dass Eltern und Söhne als Großfamilie zusammenleben. Die Mann-Frau-Bindung ist oft störend, weil sie als sexuelle Bindung gesehen wird: Der Mann kann dann vielleicht kein guter Bruder, kein guter Sohn mehr sein. Liebe wird darum als ein störendes Element gesehen. Ein weiterer Grund ist, dass sich jeder sicher sein kann, durch arrangierte Ehen einen Partner zu finden, egal, wie man aussieht. Das nimmt viel Angst. Drittens werden innerhalb der Erziehung bereits die Kinder auf die arrangierte Ehe getrimmt: Von der Schule bis zur Universität gibt es eine Geschlechtertrennung. Bis sie heiraten, wird der hormonelle Druck so stark, dass sie sich fast sicher in den Partner verlieben, da sie keine Vergleiche haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Liebe erst nach der Ehe kommt, ist hoch. Was hat es zu bedeuten, wenn Männer in Indien in der Öffentlichkeit Händchen halten? Das ist in Indien ein Zeichen von Freundschaft, Zuneigung, das aber nie homosexuell ausgelegt wird. Zwischen den Geschlechtern darf das jedoch nicht gezeigt werden. Ein Inder würde wiederum fragen, warum sich in Europa Männer und Frauen an den Händen halten. In Indien ist auch die körperliche Distanz zwischen den Gesprächspartnern kleiner. Während des Gesprächs den Arm des anderen zu streicheln, ist gängiger. Das Händchenhalten ist eine Entwicklung davon. Sie haben ein weiteres Buch geschrieben: „Kamasutra oder die Kunst des Begehrens“. Hat Kamasutra heute noch eine Bedeutung in Indien? (Lacht) Leider nicht! Kamasutra gehört zu einer Kultur, die lange vergangen ist. Aber es existiert noch immer im kulturellen Gedächtnis. Die Tradition des Kamasutra zeigt, dass der freie Umgang mit Sexualität kein westliches Produkt ist, vor dem man Angst haben muss, sondern dass die sexuelle Freiheit in der eigenen Kultur vorhanden ist und wiederbelebt werden kann, ohne verdächtig zu werden, alles Westliche zu importieren. Im Kamasutra hat die Frau auch eine viel gleichberechtigtere Stellung. Die vier wichtigsten Umarmungen werden zum Beispiel von der Frau initiiert. Dort steht auch: Wenn der Mann die Frau sexuell nicht befriedigt, soll sie ihn verlassen. In einem Kapitel steht auch, wie eine Frau ihren Mann los wird: Wenn er Witze macht, soll die Frau nicht darüber lachen.

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Warum hat das Kamasutra seine Gültigkeit verloren? Das sind jetzt vor allem Spekulationen von meiner Seite: In Indien stand die erotische Tradition des Kamasutra und die asketische Tradition der absoluten Kontrolle der Sexualität oft im Konflikt. Die erotische Tradition war vom 3. bis zum 12. Jahrhundert sehr dominant, danach wurde die asketische Tradition führend. In den letzten 200 Jahren ist diese auch durch den Einfluss der britischen Kolonialisten und deren viktorianische Prüderie stärker geworden. Beide zusammen hatten großen Einfluss auf die Gesellschaft. Ich glaube, dass in den letzten 30 bis 40 Jahren die asketische Tradition wieder zurückgegangen ist und eine Tendenz zu mehr Sexualität da ist. Diese wird vor allem durch die Globalisierung ausgelöst. Die jungen Leute gehen in den Westen und sehen dort die Offenheit, die ihre Kultur einst hatte. Sie fragen sich, warum man das Asketische hochhalten soll, und nicht die andere Tradition? In welcher gesellschaftlichen Situation ist das Kamasutra in Indien vor 2000 Jahren entstanden? Das Kamasutra ist in einer Phase der Urbanisierung durch die wachsenden Handelsrouten mit Rom und China entstanden. Dadurch kam Geld in die kleinen Städte, und durch den Wohlstand hatten die Menschen mehr Freizeit und damit mehr Zeit für Erotik. Das betraf hauptsächlich Klassen wie Händler oder Menschen, die am Hof gelebt haben, wo man Zeit hatte, über Sexualität und dichterische Künste nachzudenken.

„Intime Beziehungen. Erotik und Sexualität in Indien“ von Sudhir Kakar erschien 1994 im Verlag Waldgut, „Kamasutra oder die Kunst des Begehrens“ wurde 2003 (1999) im C.H. Beck Verlag veröffentlicht.

Was kann man vom Kamasutra lernen? Vom Kamasutra kann man lernen, dass Erotik und Sexualität nicht das Gleiche sind. Sexualität ist Natur und Erotik ist Kultur: Sexualität braucht Kultur. Vom Kamasutra kann man lernen, wie man Sexualität in Erotik verwandeln kann, zum Beispiel durch Verzicht. Und im Kamasutra steckt die Idee, dass Sexualität und Erotik viel mehr Lebensbereiche brauchen. Zum Beispiel gibt es ein Kapitel, wie man sich nach dem Geschlechtsakt verhalten soll: Es wird empfohlen, nach oben auf das Dach zu gehen, den Mond anzuschauen, der Mann soll der Frau die verschiedenen Sternbilder zeigen. Der Geschlechtsakt ist nicht mit der Ejakulation fertig. Die Idee ist, dass Erotik eine viel längere, viel ausgedehntere Sache im Leben ist als die Sexualität. Das Gespräch führte Lisa Schreiber

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In guten wie in schlechten Zeiten

Protestant gesucht Wir sind fünf in unserer Familie. Ich, meine Mutter ist Hausfrau, mein Vater arbeitet in einer Bank, meine ältere Schwester hat vor zwei Jahren geheiratet. Ich arbeite im Empfang in einer Photovoltaik-Firma. Ich bin eine sehr ruhige, bodenständige Person. Ich mag Kochen, Filme, Fernsehen, Einkaufen. Ich suche einen Protestanten. Er sollte fürsorglich, liebevoll und mit gutem Humor ausgestattet sein. Das äußere Erscheinungsbild ist mir ziemlich egal. Ich warte also nicht auf irgendeinen eingebildeten Mann, den ich heirate, um mich fürs Leben niederzulassen. Ich möchte einen vernünftigen Kopf, nicht vernünftiges Aussehen. Denn ich mag Leute, die sie selbst bleiben. Suzy Fernandes, unverheiratet, 24 Jahre, 163 cm, 48 kg, normale Figur, BachelorAbschluss, arbeitet im Bereich ComputerSoftware, Protestantin, Bangalore

Alles über meine Tochter Meine Tochter ist ein intelligentes, f leißiges, zuverlässiges, einfallsreiches, freundliches, gut gelauntes und anpassungsfähiges Mädchen mit positiver Ausstrahlung. Sie ist hochqualifiziert: Sie hat einen Master of Business Administration in Human Resource Management (Gold-Medaille) von der Mysore Universität. Derzeit arbeitet sie für Tata Technologies in Pune. Ihre Hobbys sind Bücher, Musik, Kreuzworträtsel, Reisen. Sie glaubt an traditionelle indische Familienwerte und an die Bedeutung von lang anhaltenden guten Beziehungen zu Familie und Freunden. Aber sie ist nicht nur traditionell und altmodisch. Sie ist so modern wie andere Mädchen ihrer Generation. Wir suchen einen jungen Mann, der aus einer guten Familie kommt, gebildet ist, eine gute Arbeit mit Karrieremöglichkeiten hat. (Wer im Verteidigungssektor arbeitet, hat bessere Chancen.) Sie ist meine Stieftochter. Ihr Vater war Ingenieur im Verkehrsministerium. Er verstarb 1992 bei einem Unfall. Ihre Mutter kommt aus einer Familie mit einer langen Tradition im Verteidigungssektor. Sie arbeitet für die Telefongesellschaft

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Bharat Sanchar Nigam Ltd. und ist jetzt mit mir verheiratet. Ich bin pensionierter Armeeoffizier mit zwei eigenen Kindern: einem Sohn, Offizier in der Luftwaffe (er heiratete im Dezember 2002) und einer Tochter, die ihren naturwissenschaftlichen Master macht. Wir sind eine großzügige und fortschrittliche Familie. Weiblich, 27 Jahre, Single, 160 cm, 48 kg, Brahmin-Madhwa, Management, Karnataka

Ein Freund, ein bester Freund Ich arbeite als Commercial Clerk im U.S. Commercial Service, der zur Amerikanischen Botschaft in Neu-Delhi gehört. Mein Vater arbeitet als Fahrer, meine Mutter ist Hausfrau, einer meiner Brüder arbeitet für Sundaram Finance Ltd. Ich bin bis zur 12. Klasse in die Schule gegangen, schaffte es aber nicht weiter. Jetzt verdiene ich 10. 120 Rupien ( 170 Euro, Anm. d. Red.) monatlich. Ich bin ein sehr gelassener Typ, und ich mag alle guten Menschen, die ich in meinem Leben treffe. Ich versuche, von ihnen etwas Positives zu übernehmen. Für mich steht das Aussehen an zweiter Stelle. Am wichtigsten ist mir, dass meine Partnerin ein guter Mensch ist. Sie sollte ebenso offen und ehrlich sein wie ich. Falls sie meine Lebenspartnerin wird, wünsche ich sie mir als meinen besten Freund. Ich habe nur sehr bescheidene Wünsche, wie meine Frau sein soll. Ich hoffe, jemand hört dies. Bitte schnell melden, denn ich bin sicher, ich wäre ein guter Lebenspartner. Rajaneesh, unverheiratet, 24 Jahre, 165 cm, 52 kg, schlanke Figur, High-School-Abschluss, Büroangestellter, Hindu, ThiyyaKaste, Bangalore

Landwirt mit US-Visum Meinen Landwirtschafts-Bachelor machte ich am Landwirtschaftlichen College an der Acharya N. G. Ranga Agricultural University in Hyderabad. Ich setzte meine Studien in Pflanzen-Pathologie an der University of Agricultural Sciences in Dharwad fort.

Masterabschluss November 2002. Dann promovierte ich an der Osmania University in Hyderabad bis Dezember 2004, bis ich im Januar 2005 in die Vereinigten Staaten umzog, um dort an der University of Kentucky weiter zu promovieren. Mein Vater war ein pensionierter Zoologie-Dozent am Hindu College in Guntur und starb am 11. September 2005 an einem Gehirntumor. Deshalb kehrte ich nach Indien zurück, wo ich derzeit bei meiner Familie wohne. Im Herbstsemester 2006 gehe ich wieder zurück in die USA, nach Chicago. Mein Visum gilt noch bis November 2009. Meine Partnerin sollte einen naturwissenschaftlichen Masterabschluss haben oder Ingenieurwesen studieren. Sie sollte Lust haben, sich in den Vereinigten Staaten niederzulassen. Falls sie schon in den USA lebt, sollte sie entweder in einem Master- oder Doktorantenstudiengang sein. Sie sollte aus einer anständigen, kultivierten Familie kommen und sich gut benehmen. Falls andere Informationen erwünscht sind, zögern Sie nicht, sich zu melden. Sesha Kiran Kollipara, unverheiratet, 28 Jahre, 167 cm, 68 kg, normale Figur, Doktorand, Wissenschaftler/Forscher, Hindu, Arya-Vysya-Kaste, Guntur

Mit einem Lächeln aufstehen Ich bin eine unkomplizierte Person mit einer unkomplizierten Weltsicht und einem hohen IQ. Ich bin höflich und bescheiden. Am wichtigsten ist mir: Respekt für andere Menschen, besonders für diejenigen, die ehrlich und treu sind. Denn man wird nicht respektiert, nur weil man gut aussieht, sondern, wenn man ehrlich, treu und loyal zu demjenigen ist, den man liebt. Ich lese gerne Bücher, weil ich das schon seit meiner Kindheit mache. Jeder sollte jeden Tag Zeit für sich haben. Mein Humor ist gottgegeben. Ich glaube, dass man, wenn man morgens aufwacht, ein Lächeln auf dem Gesicht haben sollte, dann wird automatisch der gesamte Tag großartig. P.K., unverheiratet, 34 Jahre, 173 cm, 63 kg, schlanke Figur, Muslima, Siddiqu-Kaste, Karatschi

Quellen: www.freemarriage.com, www.aryashaadi.com/index.aspx http://indiaoptions.com/matrimonials, zusammengestellt von Nikola Richter

Frauen sollten in Indien bis mit Mitte Zwanzig verheiratet sein, Männer sobald sie einen Job haben, spätestens mit 30 Jahren. Wer das richtige Alter verpasst, hat es schwer. Nach wie vor wird ein Großteil der Ehen durch die Familien arrangiert. Der Heiratsmarkt selbst hat sich mittlerweile ins Internet verlagert. Hier die Auswahl einiger Profile:

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Indien / Wirtschaft

Großes Kino Den Status quo bestätigen und bloß nicht das reale Leben abbilden: Was einen guten Bollywood-Film ausmacht Von Anupama Chopra

Anupama Chopra schreibt als Filmkritikerin für das India Today Magazine. Aus Bollywood berichtet sie für die New York Times, die Variety und die L.A. Times. Sie ist außerdem Autorin zweier Bücher über Bollywood. Für das erste, „Sholay: The Making of a Classic“, erhielt sie 2000 den Indian National Award. Derzeit arbeitet sie an ihrem dritten Buch, das 2007 veröffentlicht wird. Anupama Chopra wurde 1967 geboren und lebt mit ihrem Mann, dem Filmemacher Vidhu Vinod Chopra, und ihren beiden Kindern in Mumbai.

Foto: privat

Quellen: www.freemarriage.com, www.aryashaadi.com/index.aspx http://indiaoptions.com/matrimonials, zusammengestellt von Nikola Richter

Hollywood versus Bollywood ist wie der Kampf von Goliath

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gegen David. Der eine ist ein kultureller Gigant des Westens, der jährlich Milliarden Dollar einnimmt und mit links andere Filmindustrien der Welt aussticht. Der andere ist die bunte, aber chaotische Filmindustrie in Mumbai, die mit einem Bruchteil dieses Budgets funktioniert. Hollywood braucht allein für das Marketing seiner größten Filme mehr Geld als Bollywood für die Produktion seiner größten. Geschätzte 3,6 Milliarden Zuschauer pilgern weltweit an die Kinokassen. Damit zieht Bollywood rund eine Milliarde Menschen mehr an als Hollywood. Diese erstaunliche Zahl besteht nicht nur aus indischen Fans. Bollywood ist mittlerweile dafür bekannt, an den unwahrscheinlichsten Orten neue Anhänger zu finden. In Deutschland ist die Begeisterung zum Beispiel so groß, dass seit August mit dem „Bollywood Rapid Eye Magazine“ sogar eine eigene Zeitschrift zu diesem Thema erscheint. Pro Jahr entstehen über 200 Bollywoodfilme, vom 10Millionen-Dollar-Epos bis zur schnell gedrehten Low-Budget-Version. In den Streifen geht es nicht um Realismus. Stattdessen bekommt der Zuschauer ein überlebensgroßes Spektakel serviert, das sie oder ihn für mindestens drei Stunden in den Bann ziehen soll. Geboten wird eine einzigartige Mischung aus Romantik, Action, Komödie und Emotion mit einer Unmenge an Songs. Diese sind

Einige Stars weigern sich weiterhin, sich vor der Kamera zu küssen ein wesentlicher Bestandteil jener besonderen Mischung; pro Film gibt es mindestens vier bis sechs davon. Und jeder einzelne Song vermittelt große Gefühle und ist für die Bildsprache und den weiteren Verlauf der Handlung von hoher Bedeutung. Einige Songs treiben die narrative Spannung an, andere sorgen für visuelle und dramatische Erholung. Solche Lieder werden bei indischen Hochzeiten gespielt, aber auch in Nachtclubs, bei Partys und sogar bei religiösen Zeremonien. Ein guter Bollywoodfilm kombiniert viele verschiedene Elemente ohne Mühe. Am Ende einer solchen indischen Achterbahnfahrt stehen die traditionellen Werte der

Familie und die Bestätigung des Status quo. Das ist ein Konsens, der seit dem ersten indischen Filmemacher, Dhundiraj Govind Phalke, Bestand hat. Phalke stammt aus einer Familie von Geistlichen und hat 1913 den Film „Raja Harishchandra“ gedreht. Alle frühen Hindi-Filme basierten entweder auf religiösen Schriften oder behandelten historisch-mythologische Stoffe. In diesen Filmen, die oftmals Kostümfilme waren, war der Held noch sprichwörtlich heldenhaft. Ein schöner, moralisch aufrechter und ehrwürdiger Mann, dem ein linkischer, hässlicher Halunke gegenübersteht. Und am Ende gewinnt natürlich das Gute gegen das Böse. Das behält auch der moderne Bollywoodfilm bei. Die Darsteller spielen dementsprechend auch keine Rollen, sondern verkörpern Archetypen. Held und Heldin bewegen sich innerhalb eines fest umrissenen moralischen Universums. Viel Gewicht erhalten die familiären Beziehungen, besonders die zu den Eltern. Die Mutter war lange die zentrale moralische Instanz der Hindi-Filme. Viele der erfolgreichsten Blockbuster der letzten zehn Jahre stellten die indische Familie feierlich in den Mittelpunkt. Bestimmte moralische Grenzen werden niemals überschritten. Obwohl sich Kuss- und Liebesszenen mittlerweile durchgesetzt haben, scheut der Bollywoodfilm vor expliziten Sexszenen immer noch zurück. Einige Stars wie Shah Rukh Khan oder Aishwarya Rai weigern sich sogar weiterhin, sich vor der Kamera zu küssen. So ist Khan überzeugt: „Sobald ich einen Kuss brauche, um eine romantische Stimmung aufzubauen, ist meine Schauspielkunst nur noch die Hälfte wert.“ Was dazu führte, dass ein Film wie „Kabhi Alvida Na Kehna“ („Sag nicht, es sei vorbei“) – der immerhin das provokante Thema Untreue behandelt – ohne eine einzige Mund-zu-MundBerührung auskommen musste. Aber dem Bollywoodfilm geht es auch nicht darum, das tatsächliche Leben abzubilden. Stattdessen wird eine fantastische Welt geschaffen, die aus lauter Schönheiten, großen Gefühlen, eingängigen Schlagern und hohen Werten besteht. Das erklärt den Erfolg bei Milliarden von Menschen, egal welcher Nationalität, welcher Klasse, welchen Alters. Der deutsche Verleih „Rapid Eye Movies“, der viele synchronisierte Bollywoodfilme vertreibt, wirbt zum Beispiel mit dem Slogan: Bollywood macht glücklich. Womit er Recht hat. Aus dem Englischen von René Hamann

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„Die Filmindustrie wird immer glatter an der Oberfläche, aber ich sehe keinen Fortschritt im Inhalt. Wir erzählen immer noch die gleichen alten Geschichten.“ Naseeruddin Shah, Nach mehr als 100 Filmen als Schauspieler und Regisseur kehrt der wohl berühmteste Filmstar Indiens, Naseeruddin Shah, der Kinowelt den Rücken und geht zurück zu seiner ersten Liebe: der Theaterbühne. Zusammen mit Frau und Tochter leitet er die Theatergruppe „Motley“ in Mumbai.

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„Wenn Frauen Jeans tragen, muss der Hintern gut aussehen. Beim Blick in den Spiegel interessiert sich eine Frau am meisten dafür.“ Die Modedesignerin Ritu Kumar wurde durch ihre aufwendigen, handgemachten Kreationen zur Meisterin der indischen Haute Couture. Sie brachte die „Boutique-Kultur“ nach Indien und ist in ihren Kollektionen darauf bedacht, das kulturelle Erbe Indiens mit seinen speziellen Textilien, Farben und Verarbeitungstechniken zu erhalten. Kumar lebt in Kalkota.

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Indien / Wirtschaft

Geistiges Eigentum Von Balaji Parthasarathy Software findet man überall: in der Verwaltung, der Bildung

Balaji Parthasarathy, geboren 1964, ist Assistant Professor am International Institute of Information Technology in Bangalore. Er lebt in Bangalore.

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der Unterhaltungsindustrie bis hin zur Landwirtschaft. Ihre wachsende wirtschaftliche Bedeutung lässt sich daran ablesen, dass der weltweite Handel mit Software in der Zeit von den 1970er Jahren bis zum Jahr 2000 von beinahe null auf 350 Milliarden Dollar gestiegen ist. Die Handelszuwächse gehen mit einer Globalisierung der Produktion einher. Mittlerweile gilt Indien als globaler Knotenpunkt für Softwaredienstleistungen. Mehr als 15 Prozent aller indischen Exporte sind Softwareexporte. Nach den USA ist die Europäische Union mit einem Anteil von 20 Prozent der gesamten Exportmenge der zweitgrößte Abnehmer von Software und entsprechenden Dienstleistungen aus Indien. Auf der Kundenliste stehen europäische Unternehmen wie KLM, BMW, Saab, Nokia, ING, Rabobank, Philips und Volvo – ein Beweis für die technologische Expertise und Qualität der indischen Softwareindustrie. Entstanden ist diese Branche Mitte der 1980er Jahre, als das Land sich von einem seit den 1950er Jahren praktizierten Industrialisierungsmodell abzuwenden begann, das auf Autarkie und den Ersatz von Importen durch Eigenprodukte gesetzt hatte. Die Softwarebranche profitierte noch von dem alten Modell, denn sie konnte dadurch auf das zweitgrößte Angebot an Ingenieuren weltweit zurückgreifen, die bis zu den 1980er Jahren relativ unterbeschäftigt waren. Diese hochqualifizierten Arbeitskräfte sprachen Englisch und arbeiteten für verhältnismäßig geringe Löhne. Da die Inder keine Erfahrung darin hatten, wie man aus einer isolierten Volkswirtschaft mit schlechter Infrastruktur IT-Produkte exportiert, boten sie zunächst gering qualifizierte Dienstleistungen, die direkt am Standort ausländischer Kunden erbracht wurden, an. So konnten sie auf einfache Weise und ohne große Risiken Zugang zu Exportmärkten finden und kamen zudem mit neuen Technologien, Markttrends und internationalen Managementpraktiken in Berührung. Bis Mitte der 1990er Jahre umfasste das Aufgabenspektrum größtenteils wenig lukrative Produktionstätigkeiten wie Kodierung, Tests und Instandhaltung, und nicht die anspruchsvolleren Aufgaben wie Bedarfsanalysen oder Spezifikationsentwicklung, so dass die Arbeit der Fachkräfte abwertend als „intellektuelles Lakaientum“ bezeichnet wurde.

Um höherwertige Dienstleistungen wie Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im Kundenauftrag zu unterstützen, etablierte die indische Regierung den ersten SoftwareTechnologiepark in Bangalore. Heute gibt es im ganzen Land über 40 davon. Sie bieten die nötige Infrastruktur für die Datenkommunikation, damit ausländische Firmen Offshore-Entwicklungszentren (ODC) aufbauen können. Dort werden die Arbeitsplätze des Kunden nachgebildet. Statt Fachkräfte verstreut an Kundenstandorten in allen Teilen der Welt zu beschäftigen, werden sie in den ODC an einem Ort konzentriert. Dadurch konnten indische Unternehmen auch die höherwertigen Segmente der Softwareentwicklung übernehmen. Bis Juni 2002 erfüllten 85 von ihnen den höchsten internationalen Standard im Vergleich zu 42 Software-Firmen in der übrigen Welt. Für ausländische Unternehmen wurden im Zuge einer neuen Handelspolitik die Niederlassungsbeschränkungen aufgehoben. Durch die Kommerzialisierung des Internet, durch Aufträge im Zusammenhang mit der Rechnerumstellung zur Jahrtausendwende und mit der Einführung des Euro ergaben sich in den 1990er Jahren weitere Marktchancen. Beim Aufbau der Offshore-Zentren taten sich indische Firmen als Pioniere hervor: Sie gründeten Entwicklungszentren in den wichtigsten Märkten, um näher beim Kunden zu sein und so Aufträge schneller ausführen zu können. Beispielsweise eröffneten große Unternehmen wie Tata Consulting Services und Wipro Technologies Niederlassungen in europäischen Ländern. Gleichzeitig reagierten deutsche Firmen wie SAP, Deutsche Bank und Daimler Chrysler auf die sich in Indien bietenden Chancen und investierten dort in Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen für Software. Schon in den 1980er Jahren entschieden sich multinationale Konzerne und prominente inländische Firmen wie etwa Infosys – zweitgrößter indischer Softwareexporteur und erstes Nasdaq-notiertes Unternehmen Indiens – für Bangalore als Firmensitz. Die Stadt war besonders attraktiv durch die vorhandene Infrastruktur und die hohe Konzentration an qualifizierten Arbeitskräften, die zu der Zeit in staatlichen Produktionsbetrieben und Labors für Luft- und Raumfahrt, Militärelektronik und Telekommunikation beschäftigt waren. Sie wurden später durch die vielen Absolventen der umliegenden Ingenieurhochschulen verstärkt. Bangalore entwickelte sich zum wichtigsten Produktionszentrum für die Branche und gilt inzwischen als „Silicon Valley“ Indiens. Nach dem Platzen der Internetblase wuchs die indische Softwareindustrie unbeirrt weiter. Dies ist unter anderem

Foto: privat

Wie konnte es geschehen? Bangalore hat sich zum indischen Silicon Valley entwickelt

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Indien / Wirtschaft

der Tatsache zu verdanken, dass Unternehmen in aller Hindernisse aus dem Weg geräumt werden: Erstens haben Welt Outsourcing betreiben, um ihre Kosten zu reduzieren das kontinuierliche Wachstum der Branche und die welt– nicht nur im Softwarebereich. Bis 2005/2006 erreichte der weite Nachfrage nach indischen Fachkräften sowohl die indische Export von Forschungs- und Entwicklungsleistun- Arbeitskosten als auch die Abwanderungsrate in die Höhe gen ein Volumen von 3,1 Milliarden Dollar. 2010 erwartet getrieben. Zwar gibt es im Land genügend Absolventen, man ein Volumen von 9,2 Milliarden Dollar. Diese Erfolge die frisch von den Ingenieurhochschulen kommen, aber gründen sich in der immer ausgereifteren technologischen erfahrene Fachkräfte sind Mangelware. Zweitens ist die Kompetenz und in einer neuen Generation inländischer Firmen, die vor allem für diverse Nach dem Platzen der Internetblase wuchs die Nischenmärkte entwickeln. Viele Firmen, die sich auf Forschungs- und Entwicklungsdienstindische Softwareindustrie unbeirrt weiter leistungen spezialisieren, werden von Indern gegründet, die sich im Ausland viele Jahre mit den dortigen Technologien und Märkten vertraut gemacht physische Infrastruktur in den Zentren der Softwareinhaben und in ihre Heimat zurückkehren: der Beginn einer dustrie erschreckend unzulänglich: steigende Grundstückneuen Unternehmerkultur in Bangalore. Die Experten dort spreise, Strommangel und verstopfte Verkehrswege. An sind untereinander vernetzt, so dass lokale Unternehmen neuen Standorten wären die Bedingungen kaum besser. von intensivierter Kooperation profitieren können. Ergänzt Schon orientieren sich daher einige Firmen nach China. wird dieses informelle Netz durch formelle Institutionen, Die Regierung versucht mittlerweile, den Druck zu lindern. etwa die 1988 ins Leben gerufene National Association for Es wurden beispielsweise Elitehochschulen geschaffen, an Software and Services Companies (NASSCOM). Sie fun- denen Fachkräfte weitergebildet werden sollen. Um eine giert als wichtigster Branchenverband der IT-Industrie in zuverlässige Stromversorgung sicherzustellen, wird das Indien. Sie betreibt politische Lobbyarbeit für die Industrie, Stromnetz privatisiert. Beträchtliche Summen werden in beteiligt sich an der Förderung von Start-ups, unterstützt den Aufbau eines landesweiten Autobahnnetzes investiert, die Forschung und lenkt die Branche in bestimmte Ent- und man bemüht sich um private Investoren für Häfen und wicklungsbahnen, die sie zuvor evaluiert hat. Flughäfen. Ende 2007 soll der neue internationale FlughaAngesichts des Wachstums der indischen Software- fen in Bangalore fertig sein. Wann die Softwareindustrie industrie in jüngster Zeit und ihres wachsenden Aktions- von der verbesserten Infrastruktur profitieren wird, bleibt radius erscheint es realistisch, dass sie bis 2008 den von abzuwarten. McKinsey prognostizierten Jahresumsatz von 87 Milliarden Dollar erreichen wird. 30 Milliarden Dollar davon sollen Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld auf Exporte entfallen. Bis dahin müssen aber noch einige

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Indien / Wirtschaft

Mathe lernen oder sterben Von Manil Suri

Manil Suri, geboren 1959 in Mumbai (Bombay), ist Schriftsteller und Mathematiker. Er studierte in Mumbai und den USA und ist seit 1994 Professor der Mathematik an der University of Maryland. Für seinen Debütroman, den Bestseller „Vishnus Tod“ (Luchterhand, München 2001), der in 25 Sprachen übersetzt wurde, erhielt er den Rolf Heyne Buchpreis und ein Stipendium des PEN-Verbandes. Er lebt in Baltimore.

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Willkommen in Indien, der mathematisch überlegenen Nation. Mehr als eine Milliarde Menschen sind durch numerische Fähigkeiten in ihren Gehirnen verkabelt. Natürlich erwartet man nicht weniger von dem Land, in dem die Null, die Grundlage der Mathematik, erfunden wurde. Mit der Zeit verstärkten sich die Gene, sie breiteten sich mit den Generationen aus, bis die ganze Bevölkerung damit infiziert war. Ja, eine Nation auf dem Vormarsch, überzeugt, mit ihrem mathematischen Können die Weltherrschaft an sich zu reißen. Ein großer Zentralrechner mit 1,1 Milliarden Rechnungsknoten. Nur leider ist diese Vorstellung einfach nicht wahr. Auch wenn man die gewaltige Anzahl von ungebildeten Menschen außen vor lässt und sich nur auf den äußerst kleinen Bereich der Gebildeten konzentriert, wurde bisher noch kein genetischer Vorteil der Inder in diesem Bereich entdeckt. Gehen Sie zu irgendeiner Schule und Sie werden genügend Beweise dafür finden, dass auch wir durch unsere Geometrie- und Algebra-Klausuren fallen.

Millionen von Studenten machen jährlich ihren Abschluss an Schulen, Fachhochschulen und Universitäten. Aber es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Stellen an Hochschulen, Berufs- und Medizinakademien, von privaten Jobs und Arbeitsplätzen in der Regierung, um die die Studenten wetteifern können. Politisch motivierte Quoten, wie die derzeitigen Überlegungen, 27 Prozent der Studienplätze für Menschen unterer Kasten zu reservieren, erhöhen nur den Druck auf die Mehrheit der Bevölkerung. Die einzige Option ist zu lernen – lerne härter als dein Nachbar, dein Schulkamerad, dein Collegefreund, und gewinne selbst die Nische, die ihr beide begehrt. Aber wie viel lernen Studenten überhaupt? Nehmen wir

das Beispiel von Drishti, der 14-jährigen Tochter eines Freundes, die im Vorort Mira Road in Mumbai lebt. Im März, nach dem Abschluss ihrer neunten Klasse mit guten Noten, nahm sich Drishti nur eine Woche Ferien, wie so viele ihrer Klassenkameraden. Danach besuchte sie vom 20. März bis Mitte Mai täglich von 15 bis 21 Uhr Zusatzunterricht, stand früh auf, um die Hausaufgaben für die kommenden Stunden zu erledigen. Ihre Mutter packte Proviant ein, da Drishti in diesen sechs Stunden gerade einmal zwei viertelstündige Pausen hatte. Während dieser Unterrichtsreihe lernte sie ungefähr 90 Prozent des Unterrichtsstoffes der zehnten Klasse in Mathematik und allen anderen Fächern. Die normale Schule, an der all dieser Unterrichtsstoff in den kommenden Monaten wiederholt wird, begann im Juni, als die „Sommerferien“ zu Ende waren. Drishti wird sich im kommenden März einer Prüfungskommission stellen. Diese Ergebnisse

Ist dies also nun nur ein Stereotyp, das auf Anekdoten über Inder im Westen basiert? Alle Studenten mit den Namen Sunil oder Sunita, die Ihnen an Schulen und Universitäten begegnet sind, lösen quadratische Gleichungen im Kopf? Wenn dem so ist, dann gibt es für dieses Phänomen eine einfache Erklärung. Der Westen Mathematiker kommen auf Partys gut an bedient sich bei der Crème de la Crème des indischen Bildungsbürgertums. Solche, die es die akademische Leiter mit den besten Noten und der größten Anstrengung hinauf geschafft haben; solche, werden bestimmen, ob sie an das richtige College kommt, die sich aus dem riesigen Pool von Talenten hervorgetan um ihren Traum, Psychologin zu werden, verwirklichen und bewiesen haben, dass sie es wert sind, in Übersee zu zu können. studieren. Da sich in Ländern wie etwa den USA weniger Obwohl solch eine intensive Versenkung in SchularStudenten für die Fächer einschreiben, in denen man beiten nicht der ausgewogenste (manche würden auch Mathematik braucht (die Zahl der Erstsemester in Ingeni- sagen humanste) Weg ist, den Sommer zu verbringen, eurswesen sinkt von Jahr zu Jahr), sind es genau diese freien vollbringt er dennoch Wunder im Erlangen mathemaPlätze, auf die es die indischen Studenten abgesehen haben. tischer Kenntnisse. Um Mathematik zu lernen, braucht Wenn sie als Immigranten in den USA bleiben, richten man schlicht und einfach Drill. Man muss nicht nur sie dann im Gegenzug die gleichen hohen akademischen grundlegende Konzepte verstehen, sondern eine enorme Erwartungen an ihre Kinder. Dies verzerrt das Bild In- Anzahl an Problemstellungen lösen, um diese Konzepte diens, das der Westen wahrnimmt, noch weiter. All dies zu verinnerlichen, man muss so lange daran arbeiten, übt immensen Druck auf den indischen Mittelstand aus. bis die Muster sich im Gehirn verankern. Es gibt keinen

Foto: Marion Ettlinger

Dass Inder besser rechnen können als andere, hat nur einen Grund: Sie pauken ständig

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Indien / Wirtschaft

Zaubertrank, den man trinken und keinen Zeitsparknopf, den man drücken kann, egal ob man nun gerade Integralrechnung oder Multiplikationstabellen paukt. Glücklicherweise wurde die Gleichung ( investierte Stunden = erarbeitete Kompetenz) in Indien bisher noch nicht infrage gestellt. Der Lehrplan und die Lerntechniken mögen nicht die innovativsten sein, aber an mathematischen Grundlagen festzuhalten hat sich bisher bewährt. Ich habe so viele fehlgeschlagene Versuche von übereifrigen Lehrern in den USA gesehen. Sie setzten das Lernniveau herunter, um fehlende Motivation oder Fähigkeiten der Studenten zu kompensieren. Sie gaben triviale, belanglose Fragestellungen als Hausarbeit, damit alle das Gefühl haben konnten, mathematische Fähigkeiten zu besitzen. Indien, mit seiner wachsenden Bevölkerung und der gewaltigen Konkurrenz hat keine Wahl, außer das Prinzip „survival of the fittest“ anzunehmen. Entweder du beherrscht die Mathematik oder Türen werden sich vor dir schließen. Zusammengehalten wird dieses System jedoch durch die positive Einstellung gegenüber der Wissenschaft und dem Ingenieurswesen im Allgemeinen und der Mathematik im Besonderen. Anders als im Westen wird man in Indien weniger auf Skepsis, sondern eher auf reges Interesse der Menschen treffen, wenn man ihnen sagt, dass man Mathematiker sei. Daraus ergeben sich durchaus auch Partygespräche. Man wird niemals eine Sari tragende Barbiepuppe vorfinden, die beim Draufdrücken sagt „Ich hasse Mathe“, wie sie vor einigen Jahren in den USA erhältlich war.

Man sollte nicht vergessen, dass Indien eine sehr junge Staatsmacht ist, die noch in der Industrialisierungsphase steckt. Wir brauchen also Wissenschaftler und Ingenieure. Seit der Unabhängigkeit sind die begabtesten Köpfe aus mathematischen Berufen hervorgegangen. Natürlich ändert sich dies langsam und es eröffnen sich neue Möglichkeiten in anderen Bereichen (auch beim Schreiben von Romanen!). Dennoch wird sich die konkurrenzbetonte Atmosphäre in der Bildung, gemessen an Indiens Bevölkerung, nicht allzu schnell entspannen. Wir werden uns also noch einige Jahre am Bild von mathematisch begabten Indern erfreuen dürfen.

Anz: indische Naturheilprodukte

Aus dem Englischen von Julia Brockmeier

KULTURAUSTAUSCH

auf der Frankfurter Buchmesse Sie finden uns am Stand des Instituts für Auslandsbeziehungen in Halle 5.0, Stand E 940 Fr, 6.10., 11 Uhr, ARTE-Stand (Halle 3.1, Westfoyer): „Berührbar. Warum Erotik Kultur ist – und was wir sonst noch von Indien lernen können.“ Gespräch mit dem indischen Psychoanalytiker und Sexualforscher Sudhir Kakar und Jenny FriedrichFreksa, Chefredakteurin KULTURAUSTAUSCH Moderation: Martin Kämpchen, Journalist (FAZ)

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Fr, 6.10., 15 Uhr, Internationales Zentrum (Halle 5.0, D 901): „Die Zukunft der Stadt – Explodieren Schrumpfen Konkurrieren“ Podiumsdiskussion mit der Soziologin Saskia Sassen, dem Architekten Albert Speer und dem ehemaligen Direktor des UN-Umweltprogramms Klaus Töpfer Moderation: Jenny Friedrich-Freksa, Chefredakteurin KULTURAUSTAUSCH

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„Ich weiß nicht, wie vieler Generationen es noch bedarf, bis sich die Menschheit von der Ausbeutung befreit. Aber ich bin davon überzeugt, dass Kapitalismus nicht die endgültige Antwort für die menschliche Zivilisation ist.“ Seit Jyoti Basu(rechts), hier neben seinem Ebenbild aus Wachs, 1940 von seinem Jurastudium in Großbritannien heimkehrte, ist er Mitglied der neuen Kommunistischen Partei Indiens. 1977 wurde er zum Ministerpräsidenten Westbengalens gewählt und blieb 23 Jahre in diesem Amt. Als Indiens dienstältester Ministerpräsident ist er im Alter von 86 Jahren im Jahr 2000 aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten. Er lebt in Kalkota.

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„Wen soll ich ansprechen? Die differenzierten Großstädter oder die Massen auf dem Land? Anders gesagt: Am Ende bleibt mir nur der Kompromiss.“ Mrinal Sen, geboren 1923 im heutigen Bangladesch, ist Regisseur und Drehbuchautor. Er wirkte bei über vierzig Spielfilmen, politischen Kurzfilmen und Dokumentationen mit. Er ist einer der wenigen indischen Regisseure, die auch international erfolgreich sind: Sen erhielt für seine Arbeit Auszeichnungen auf fast allen großen Filmfestivals der Welt. Im Jahr 2004 erschien seine Autobiographie „Always Being Born“. Er lebt derzeit in Kalkota.

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„Vielleicht sind diese Erscheinungen rein zufällig, aber es gibt Phasen, in denen ich mit einer Vorahnung arbeite. Ich male, und plötzlich sagt mir das Bild ein Ereignis in der Zukunft voraus.“ Die Bilder der 69-jährigen Künstlerin Arpita Singh befinden sich in praktisch jeder größeren Kunstsammlung Indiens. Betrachtet man alle Werke ihrer 40-jährigen Karriere, kann man in ihnen die politische Entwicklung Indiens seit der Unabhängigkeit erkennen. Die Gesetze des Kunstmarktes scheinen sie nicht zu interessieren – kürzlich tauschte sie eines ihrer Bilder gegen eine Packung Pralinen. Das Foto zeigt sie vor ihrem Gemälde „Map of Delhi“ in ihrem Atelier. Sie lebt und arbeitet in Neu-Dehli.

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„Jenen, die auf der Suche nach einem Disneyland sind – nach Maharadscha-Palästen, verschleierten Schönheiten und vor Virilität strotzenden Männern, sei gesagt: Wie viele solcher Inszenierungen es auch geben mag, sie können das wahre Indien nicht verbergen.“ Seit über zwei Jahrzehnten hat es sich der Kunsthistoriker Aman Nath (links) zur Lebensaufgabe gemacht, antike Gebäude und Kunstwerke zu restaurieren, um so das Kunst- und Kulturerbe Indiens in die moderne Architektur der Megacities zu integrieren. Zusammen mit seinem Freund Francis Wacziarg eröffnete er vor kurzem die Hotelkette „Neemrana Hotels“, deren Gebäude in ihrem Design eine Verschmelzung von Alt und Neu aufzeigen sollen. Nath ist außerdem Autor des Romans „Jaipur: the Last Destination“ und veröffentlichte zahlreiche Studien und Fotostrecken über Kultur in Rajasthan, einem Bundesstaat in Nordindien. Er lebt in seiner Heimatstadt Neu-Delhi.

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Indien / Politik

„Sonst geht uns die Luft aus“

Heidemarie WieczorekZeul, 1942 in Frankfurt am Main geboren, ist seit Oktober 1998 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Von 1993 bis 2005 war sie stellvertretende Vorsitzende der Bundes-SPD.

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Die künftige Weltmacht Indien erhält insgesamt acht Milliarden Entwicklungshilfe. Warum eigentlich? Indien war eines der ärmsten Länder der Welt und hat natürlich in den Jahrzehnten zuvor wirkliche Entwicklungshilfe erhalten. Heute bekommt Indien pro Jahr rund 64 Millionen Euro. Dabei geht es nicht um traditionelle Entwicklungshilfe, sondern um wirtschaftliche Zusammenarbeit. Davon profitieren beide Seiten. Indien ist ein Land mit bis zu 400 Millionen Armen: Es hat ein Eigeninteresse, jenseits aller äußeren Signale in Richtung Weltmacht, die inneren Konflikte einhegen zu können. Wir beraten Indien zum Beispiel im Bereich der sozialen Sicherungssysteme. Und Indien ist der fünftgrößte Emitteur von Kohlendioxid. Wir haben ein ureigenes Interesse daran, erneuerbare Energien und Energieeffizienz zu fördern. Bei Energiefragen geht es weniger um Armutsbekämpfung als um Märkte und Ressourcen. Der französische Atomkonzern Areva etwa möchte 25 bis 30 Atomkraftwerke nach Indien verkaufen. Wie situieren Sie sich in Bezug auf die Interessen der Unternehmen? In Indien und weltweit gilt: Ohne den Zugang zu moderner Energie entkommt man der Armut nicht. Wer keinen Kühlschrank hat, um Medikamente zu kühlen, wer keinen Generator oder Stromanschluss hat, kommt nicht wirklich weiter. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, dass existierende Kraftwerke ihre Energieeffizienz verbessern und Energieverluste aufgrund schlechter Isolation und undichter Leitungen verringert werden. Wichtig ist außerdem die Photovoltaik: Mit Solarenergie können Menschen dezentral Strom erzeugen. Da gibt es in Indien wunderbare Ansätze. Denn Atomkraftwerke – abgesehen davon, dass ich sie auch unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit für fatal halte

– führen ja nicht dazu, dass die Menschen in den armen Regionen Zugang zu Strom haben. Das sind Rieseninvestitionen, die Kapazitäten verschwenden, die man viel besser einsetzen kann. Wie denn? Wenn man Technologien für erneuerbare Energien unterstützt und die Funktionsfähigkeit existierender Kraftwerke verbessert, verbindet man viele Dinge miteinander: Klimaschutz, Armutsbekämpfung und Qualifikation vor Ort. All dies ist auch eine Chance für Deutschland, denn Deutschland ist Marktführer im Bereich Energieeffizienz und erneuerbarer Energien. Wenn China oder Indien alte Technologien einsetzen – und sie fragen uns ja nicht, ob sie das dürfen –, dann geht uns in wenigen Jahren im wahrsten Sinne die Luft aus. Wie verändert sich die Entwicklungszusammenarbeit, wenn ein Land aufsteigt? Indien ist ein „Ankerland“, das für die gesamte Region, aber auch global, von zentraler Bedeutung ist – mit sozialer Ungleichheit im Inneren. In Zukunft kann es niemandem auf der Welt gleichgültig sein, wie es anderswo auf der Welt aussieht. Soziale Explosionen können sich auch auf uns auswirken. Vor vier Jahren hat Indien seine Partner der Entwicklungszusammenarbeit durchforstet und nur sechs, darunter auch Deutschland, beibehalten. Das freut uns. Indien sucht sich seine Geberländer selbst aus? Und warum Deutschland? Das war eine Anerkennung unserer hohen Qualität in diesem Bereich. Den anderen Ländern wurde mitgeteilt, dass Indien jetzt so weit sei, dass es mit ihnen keine Entwicklungszusammenarbeit mehr brauche. Wir haben beispielsweise keine staatliche Tsunami-Hilfe an Indien gegeben, weil Indien keine Hilfe angefordert hat. Das fand ich stark. Indien war der Meinung, dass Sri Lanka und Indonesien dringender Unterstützung brauchten. Was sind die konkreten Herausforderungen in Indien? Ländliche Regionen müssen Zugang zu produktiver Entwicklung haben – Selbstmorde unter Landwirten haben ganz entsetzliche Formen angenommen. Weiterhin Armutsbekämpfung und Umweltfragen: Klimaschutz und neue Technologien. Wie sieht es mit dem Umweltbewusstsein in Indien aus? Die indische Regierung legt einen besonderen Schwerpunkt auf erneuerbare Energien. Es gibt ein eigenständiges

Foto: Picture-alliance/ZB

Entwicklungshilfe für Energiehungrige: Wenn Deutschland sein grünes Wissen exportiert, profitiert auch die Wirtschaft. Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im Gespräch

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Indien / Politik

Ministerium für diese Fragen. In der Euro-Solar-Initiative, die Hermann Scheer leitet, gibt es den „grünen Maharadscha“ Rakesh Bakshi, der im indischen Staat Tamil Nadu Solartechnik in einem unglaublichen Umfang eingeführt hat. Es gibt sicher auch die alte Position: „Was sollen wir uns um die Umwelt scheren, wir müssen erst mal die Armen ernähren.“ Aber wie Klaus Töpfer, der ehemalige UNEP-Exekutivdirektor, gesagt hat: „Umwelt ist das Kapital der Armen.“ Oft sind unsere Partner froh, dass ihnen der Rücken gestärkt wird. Ein Beispiel? Staudämme sind ein potenzieller Konflikt. Entweder mit der Zentralregierung oder mit regionalen Regierungen. Unser Ministerium ist Mitglied im interministeriellen Ausschuss, der einstimmig entscheiden muss, für welche deutschen Exporte die Bundesregierung eine Absicherung übernimmt. Anfang 2000 ging es um den Bau des Staudamms in Maheshwar. Wir haben eine Expertengruppe dahin geschickt, um zu überprüfen, ob das, was auf dem Papier stand, auch wirklich gewährleistet wurde: Beteiligung der Bevölkerung, Kompensation des Landverlusts durch neues Land. Dem war nicht so. Auf der Basis unseres Berichts konnten wir dieses Projekt ablehnen. Also muss man bei Großprojekten eigentlich jedes Mal Kommissionen hinschicken und vor Ort entscheiden lassen. Ich habe ein gesundes Misstrauen. Ich rieche das dem Papier an. Arundhati Roy, die Aktivistin gegen das Maheshwar-Projekt, hat uns damals mit ihren Anhängerinnen im Büro besucht, voller Dankbarkeit: Das hätte sie noch nie erlebt, dass sich jemand die Mühe macht, hinter die Projektanträge zu schauen. Das geht auch gar nicht immer. Aber in diesem Fall waren die Zweifel absolut berechtigt. Indien besitzt jetzt 35 Städte mit einer Million Einwohner. NGOs fordern, die Stadtbevölkerung stärker zu unterstützen. Die Frage ist, wie das Land selbst seine Möglichkeiten gewichtet. Die indische Regierung ist daran interessiert, auch der Landbevölkerung Einkommensmöglichkeiten zu eröffnen, etwa durch landwirtschaftliche Produktion. Es ist doch klar, dass man die Abwanderung in die Städte nicht fördern sollte. Man wird sie bloß nicht verhindern können. Hier liegt vielleicht ein Unterschied zu afrikanischen Entwicklungsländern, die in vielen Fällen nur den Agrarbereich produktiv nutzen können. In Indien gibt es noch andere Ressourcen, die genutzt werden können.

Es geht darum, wie wir es in diesem Wettbewerb schaffen, dass ein Entwicklungsland uns nicht qualifizierte Arbeitsplätze abzieht. Da sind wir selbst gefordert, Bildung, Entwicklung und Forschung bei uns voranzubringen und bestimmte Technologien gezielt mit Forschung zu unterstützen. Manche Unternehmen sind dabei bisher ein bisschen schläfrig. Brauchen wir mehr Bildung in Deutschland? Auf jeden Fall ist Bildung überall die Grundlage, um Qualifikation voranzubringen. Allemal in einem Land wie Deutschland, das keine Rohstoffe außer Kohle hat. Kann Indien etwas von China lernen? China ist ja in der Armutsbekämpfung schon weiter. Das kann man schwer vergleichen. China ist ein autoritär regiertes Land, während in Indien ein vielfältiges Netz von demokratischen Entscheidungsstrukturen existiert. In Bezug auf Umwelt und Armut haben beide zu kämpfen. Nur weil es China gelungen ist, die Armut zu reduzieren, sollte man nicht schlussfolgern: je autoritärer, desto weniger Armut. In letzter Konsequenz sind gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit der große Unterschied. Den Rechtsstaatdialog, den wir mit China führen, müssen wir mit Indien nicht führen. Letztlich kommt es auf die Stärkung der Menschen vor Ort an, um Armut überwinden zu können. Im Bericht „State of the World 2006: Special Focus: China and India“ schreibt die Direktorin des indischen Zentrums für Wissenschaft und Umwelt Sunita Narain, der Weg der Entwicklung der Industriestaaten sei „toxic“. Was ist damit gemeint? Die derzeitige indische Regierung ist auch deshalb gewählt worden, weil die Menschen wollen, dass der Marktradikalismus ein Stück gemildert wird. Da ist wieder der Bezug zu uns. Wirtschaftliche Stärke braucht ein soziales Fundament. Wie gut arbeitet Ihr Ministerium mit dem kulturellen Sektor und der auswärtigen Kulturpolitik zusammen? In einem Gespräch mit der Leitung des Goethe-Instituts haben wir vor kurzem eine engere Zusammenarbeit vereinbart. Pilothaft wollen wir dies in Indien ausprobieren. Wir prüfen beispielsweise, wie öffentliche Räume noch besser für kulturelle Aktivitäten der breiten Öffentlichkeit, zum Beispiel Feste oder Konzerte, genutzt werden können. Dies lässt sich sehr gut mit unserem verstärkten Engagement im Bereich städtischer Entwicklung vereinbaren. Das Gespräch führte Nikola Richter

... etwa die Computertechnologie. Was könnten wir von Indien lernen, um konkurrenzfähig zu bleiben? Kulturaustausch 1v/06

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Siehe auch Olaf Ihlau: „Angebot und Nachfrage“, Seite 52

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Indien / Politik

Die größte Demokratie der Welt ist anfällig: Sie hat zu viel vorbestraftes Führungspersonal. Ein Blick nach Uttar Pradesh, Indiens größtem Bundesstaat Von Tapas Kumar Chakraborty

Tapas Kumar Chakraborty, geboren 1962, ist Journalist. Nach dem Studium der englischen Literatur mit einem Diplom in Journalismus, schreibt er seit 1988 für The Telegraph, der größten Zeitung Ostindiens. Während seiner 18-jährigen Journalismuslaufbahn berichtete er aus den aufgewühltesten Regionen Indiens und verhalf mit einer Reportage über illegale Festnahmen 300 Frauen, aus dem Gefängnis zu entkommen. Er lebt in Lucknow, der Hauptstadt des Bundesstaats Uttar Pradesh.

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Nehmen wir an, William Shakespeare verlege die Handlung seines „Othello“ in das Indien der Gegenwart. Welchen Bundesstaat würde er wohl als Schauplatz wählen? Der indische Filmregisseur Vishal Bhardwaj weiß es: Uttar Pradesh. Bhardwaj lässt seinen jüngsten Film „Omkara“, eine Othello-Adaptation in Hindi, in der trüben Welt der Regionalpolitik des Bundesstaates Uttar Pradesh spielen. Der indische Othello heißt Omkara – ein Outlaw und Gangsterboss aus einer niederen Kaste und treuer Gefolgsmann des örtlichen Mafia-Dons Bhaisaab (Großer Bruder), der Politiker werden will und einen Sitz in der Lok Sabha, dem indischen Unterhaus, anstrebt. „Es war einmal im Osten, in einer Welt, die von Outlaws beherrscht wurde, in einer Welt mit dem Finger am Abzug …“, heißt es in den Werbetrailern zum Film. Soweit die filmische Fiktion. Nun zum realen Uttar Pradesh, das ebenso wie die übrigen zentralindischen Bundesstaaten wie Bihar, Rajasthan und Madhya Pradesh eine politische Kultur pflegt, die ebenfalls gemeinhin den Finger am Abzug hat und sich auf das Kastendenken der Bevölkerung gründet. Eine der Gangsterfiguren, die in die Politik gegangen sind, heißt Pawan Pandey – ein ganz realer Schlägertyp, der als Politiker auf Bundesstaatsebene tätig war und nun in einem Gefängnis des Distrikts Faizabad in Uttar Pradesh einsitzt. Seine Karriere begann er als Kleinkrimineller. Später schloss er sich der rechtsextremen Hindupartei Shiv Sena an und stürzte sich in eine hindu-fundamentalistische Politik, die 1992 in der Verwüstung einer Moschee in der hinduistischen Pilgerstadt Ayodhya und in Ausschreitungen in der Region gipfelte. Als in einer Reihe von Strafsachen gegen ihn ermittelt wurde, schloss man ihn 1994 aus der Partei aus. Im Jahr darauf kandidierte er als unabhängiger Bewerber für einen Sitz im Staatsparlament von Uttar Pradesh. Er wurde Mitglied der sozialistischen Partei, verließ sie wieder und trat später in eine andere regionale Partei ein. Für die 2007 anstehenden Wahlen in Uttar Pradesh plant er eine neuerliche Kandidatur. Derzeit allerdings sitzt er noch im Gefängnis von Faizabad, 135 Kilometer entfernt von Lucknow, der Hauptstadt des Bundesstaates, und sieht seinem Prozess entgegen. Anfang August stand er bei einem seiner vielen Auftritte vor dem Richter unter dem eigentümlich surrenden De-

ckenventilator eines feuchtheißen Gerichtssaals. Der Richter hatte mit seinen Beisitzern an einem erhöhten Tisch hinter Bergen von Ermittlungsakten Platz genommen und versuchte sich auf einen Fall zu konzentrieren, mit dem Pandey im Zusammenhang steht. Im Saal drängen sich Polizisten, Zeugen, Prozessbeteiligte und die Anwälte mit ihren schwarzen Roben. Im schrägen Licht, das durch die Flurfenster vor dem Gerichtssaal fällt, schieben vier kräftig gebaute Männer Wache. Es handelt sich um Pandeys private Sicherheitsleute, die „Bahubalis“ − die „starken Männer“. Die Wölbung in Gürtelhöhe verrät, dass sie unter ihren weiten Hemden Waffen tragen. Sie haben die Aufgabe, zusätzlich zur Polizei einen zweiten Sicherungsring zu bilden, wenn Pandey sich auf den Rückweg ins Gefängnis begibt. Auch weit außerhalb dieses Gerichtsgebäudes gibt es zu beiden Seiten der Schnellstraße ein planloses Labyrinth schmutziger Gassen und Läden, wo Trugbilder sich in der flimmernden Hitze bewegen. Da die hölzerne Zeugenbank im Gerichtssaal kaputt ist, steht der Anfang 40jährige Pandey auf dem Boden, während seine Verteidiger um eine Vertagung des Prozesses bitten, in dem eine der 25 gravierenden Straftaten, die man Pandey vorwirft, verhandelt werden soll. „Sie beantragen eine weitere Vertagung?“, fragt der Richter, den Blick direkt auf Pandey gerichtet, und setzt hinzu: „Das kann ich unmöglich zulassen. Der Prozess würde sich zu sehr verzögern. Die Opfer haben einen Anspruch auf Gerechtigkeit.“ Doch Pandey will unbedingt einen anderen Termin für die Anhörung und behauptet, sein Anwalt habe die Prozessunterlagen noch nicht fertig. Er habe sich in der vergangenen Woche unwohl gefühlt. „Aber das ist die letzte Vertagung, die ich Ihnen gewähre. Keine weitere Änderung des Prozesstermins; denken Sie daran“, sagt der Richter streng. Diese Strategie, die Verhandlung von Strafprozessen zu verschleppen, wird in Indien von prominenten und einflussreichen Angeklagten wie Pandey häufig angewandt. Je länger sich der Prozessbeginn verzögert, umso geringer ist die Chance, dass Zeugen sie mit präzisen Aussagen belasten können. Da das Gedächtnis des Menschen bekanntlich kurz ist, steigt so die Wahrscheinlichkeit eines Freispruchs. Pawan Pandey ist einer von 280 Gangstern, die ungesetzliche Verbindungen mit der Politik in Uttar Pradesh unterhalten, diesem größten Bundesstaat Indiens mit seinen 170 Millionen Einwohnern, in dem 30 Prozent der 403 Mitglieder des Parlaments vorbestraft sind. In der indischen Politik spielen diese Gangster eine vom Beginn des Wahlkampfes bis zur Regierungsbildung genau festgelegte Rolle. Im Wahlkampf versammeln sie die Massen hinter den politischen Führern. Wenn nach

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Gangster am Ganges

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der Wahl keine politische Partei die absolute Mehrheit erreicht, machen sich diese Männer daran, für die Partei, die vermutlich erfolgreich eine Mehrheit zusammenschustern kann, gewählte Parlamentarier abzuwerben. Als Gegenleistung dafür, dass sie die betreffende Partei bei der Regierungsbildung unterstützen, bietet man Abgeordneten der Bundesstaatsparlamente Geld und Traumjobs in der Regierung. Nicht selten lassen die wenig zimperlichen Politiker rivalisierender Parteien ihre Parteiabgeordneten bewachen und so lange an einem unbekannten Ort festhalten, bis die entscheidende Abstimmung im Bundesstaatsparlament vorüber ist. Die beiden wichtigsten Parteien des politischen Mainstream in Indien sind die Bharatiya Janata Party (BJP, die „Indische Volkspartei“) und die Kongresspartei (kurz für „Indischer Nationalkongress“). Die BJP gründet auf den Ideen der Hindutva-Bewegung oder des hinduistischen Nationalismus und kam 1999 an die Macht, die sie jedoch bei den Parlamentswahlen 2004 wieder an die Kongresspartei abgeben musste. Seitdem kommt die Partei wegen interner Machtkämpfe nicht zur Ruhe. Meist war seit 1947 die Kongresspartei an der Macht, die 1885 gegründet und später von Jawaharlal Nehru, dem ersten Ministerpräsidenten eines unabhängigen Indien, geführt wurde. Die jetzige Vorsitzende der Kongresspartei, Sonia Gandhi, übernahm die Parteiführung 1998; ihr Mann Rajiv, Nehrus Enkel und selbst früherer Ministerpräsident, wurde 1991 ermordet. Da absolute parlamentarische Mehrheiten in Indien heutzutage eine Seltenheit sind, sind die größeren Parteien zur Koalitionsbildung mit den kleineren Regionalparteien gezwungen, die – oftmals mit korrupten Methoden – die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten dominieren. Diese Parteien bringen ihre eigenen Anliegen aufs Tapet: So lehnen etwa kommunistische Parteien aus Westbengalen und Kerala, die mit großem Eifer eine bedeutendere Rolle in der nationalen Politik anstreben, immer wieder die Wirtschaftsreformen ab und beharren auf einem komplizierten populistischen Maßnahmenpaket für die Armen, das der bekannte Wirtschaftsfachmann Manmohan Singh erarbeitet hat, dem Sonia Gandhi im Mai 2004 zur Wahl zum Ministerpräsidenten verhalf. Die Samajwadi Party und die Bahujan Samaj Party – die beiden Regionalparteien in Uttar Pradesh, die sich in den letzten 15 Jahren in der Regierung des Bundesstaates abgewechselt haben – sind für ihren Wahlerfolg in den Unionsstaaten auf Kastenkoalitionen und kriminelle Gangs angewiesen. Zugleich verfolgen sie das Ziel, ihren Einfluss auf die Politik auf nationaler Ebene auszubauen. In keiner anderen Partei findet sich so viel vorbestraftes Führungspersonal wie in diesen beiden Parteien. Die Folge ist eine Abwertung der parlamentarischen Standards. Kulturaustausch 1v/06

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Von der Kandidatur für das indische Parlament oder das Parlament eines Bundesstaates können Personen, die gegen die Interessen der Gesellschaft verstoßen, nur dann ausgeschlossen werden, wenn sie gerichtlich verurteilt wurden. Die Führenden in Indien jedoch machen sich die Vorteile eines Gerichtssystems zunutze, das im Zeitlupentempo arbeitet und in dem gerade einmal 15 Prozent aller

30 Prozent der Parlamentsmitglieder standen schon einmal vor Gericht Angeklagten verurteilt werden. Und wenn der Angeklagte einflussreiche Freunde auf Regierungsebene hat, kann er den Gang der Justiz in seinem Sinne beeinflussen. Als besonders schockierend wird der Verfall der politischen Kultur von Historikern empfunden, war Uttar Pradesh doch stets von zentraler Bedeutung für die Kultur und Politik Indiens. Der Bundesstaat spielte eine wichtige Rolle für die indische Unabhängigkeitsbewegung. Aus der Stadt Allahabad in Uttar Pradesh stammten so herausragende nationale Leitfiguren wie Motilal Nehru, Purushottam Das Tandon und Lal Bahadur Shastri. In einem Punkt hat Allahabad einen regelrechten Rekord aufgestellt – als Heimatstadt von fünf indischen Ministerpräsidenten: Jawaharlal Nehru, Indira Gandhi, Lal Bahadur Shastri, Vishwanath Pratap Singh und Rajiv Gandhi. Heute ist Uttar Pradesh eine Hochburg der Kastenpolitik und Kriminalisierung der politischen Kultur. Im alten Indien hat sich bekanntermaßen im Laufe der Zeit ein Gesellschaftssystem entwickelt, das die Menschen in separate, geschlossene Gemeinschaften einteilt, in Kasten (das Hindi-Wort hierfür lautet „Varna“). In der hinduistischen Sozialordnung gibt es vier Hauptkasten. Die höchste Kaste bilden die Brahmanen. Ihr gehören die Priester und Gelehrten in der Gesellschaft an. Die zweithöchste Kaste heißt Kshatriya. Dieser Klasse werden die Herrscher und Adligen zugerechnet. An dritter Stelle folgen die Vaishya, die Landbesitzer, Kaufleute und Händler. Daran schließen sich in der Hierarchie die Shudra an. Zu dieser Klasse gehören die Bauern und Arbeiter mit „sauberen“ Berufen. Damit endet die Kastenhierarchie. Unterhalb dieser Kasten stehen die Ausgestoßenen, die für die vier Kasten unberührbar sind. Die Unberührbaren erledigten niedrige Tätigkeiten wie etwa Reinigungsarbeiten und Abwasserbeseitigung. Diese Kastenordnung ist zwar gesetzlich verboten, besteht jedoch fort. Auch die säkulare liberale Klasse im Staat ist hierarchisch gegliedert. Diskussionsfreude oder Selbstreflexion zählen nicht zu ihren Anliegen. Mitte der 1980er Jahre führte dies dazu, dass die niedrigeren Kastengruppen und Unberührbaren unter Führung 45

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der neuen Regionalparteien gegen die Oberkasten wie die Brahmanen und Kshatriyas revoltierten. Die Loyalität der niedrigen Kastengruppen und Unberührbaren verlagerte sich von der Kongresspartei zu den Regionalparteien. Aber diese regionalen Parteien betrachteten die Unterstützung der „rückständigen Kasten“ als Selbstverständlichkeit und enttäuschten die Erwartungen ihrer Wähler. „Die Geschichte der Politik in Uttar Pradesh seit 1989 ist die Geschichte der Desintegration der kastenübergreifenden Regenbogenkoalition, die die Kongresspartei zu Zeiten ihrer Dominanz vor Mitte der achtziger Jahre geschmiedet hatte. Dadurch wurde einer Politik der Polarisierung entlang der Kasten- und Gemeinschaftsgrenzen im Staat Vorschub geleistet”, so Professor A. K. Verma von der Politikwissenschaftlichen Fakultät des Christ Church College in Kanpur. Die wichtigsten Glaubensgemeinschaften in diesem Staat sind Hindus mit einem Anteil von 81,4 Prozent und Moslems mit 17,33 Prozent, doch diese religiösen Gruppen bestehen ihrerseits aus einer Vielzahl von Kasten und Unterkasten. Die zahlenmäßig stärkste der „rückständigen“ Unterkasten sind die Chamar (Jatavs). Die Bahujan Samaj Party (BSP) unter ihrer gemeinhin als „Bahinji“ (Angesehene Schwester) betitelten Führerin Mayawati hat ihre Wurzeln in der Jatav-Kaste und setzte auf Polarisierung, indem sie heftige Ressentiments gegen die hochkastigen Großgrundbesitzer schürte, die die Verhältnisse in den Dörfern weitgehend kontrollierten. Ihre Spitzen gegen die reichen höheren Kasten sicherten ihr eine verlässliche Wählerschaft. Die 50-jährige Mayawati, politische Ziehtochter des ebenfalls aus einer „rückwärtigen“ Kaste stammenden Gründers und Vorsitzenden der BSP, Kanshiram, war dreimal Ministerpräsidentin in Uttar Pradesh, hat sich jedoch nie für die Stärkung der Armen oder für Programme zur Linderung der Armut eingesetzt. Lieber nahm sie bildhafte Projekte in Angriff, wie etwa den Bau von Statuen zur Verschönerung eines Parks für die Armen oder die Errichtung eines Tempels für sich selbst. In ihrer dritten Amtszeit kam sie 2002 wegen der Annahme von 34 Millionen Euro Schmiergeld von Unternehmerseite für den Bau eines Korridors unweit des zum Weltkulturerbe gehörenden Monumentes Taj Mahal ernsthaft ins Gerede. Sobald sie in einen Skandal verwickelt ist, wirft Mayawati den höheren Kasten stets Verleumdung vor. Am 1. Oktober letzten Jahres rief sich Mayawati selbst zur „Lebendigen Göttin“ der kastenlosen Dalits, rückständigen Klassen und Minderheiten, aus. „Ihr habt anderen Göttern eure Zeit und euer Geld geschenkt. Aber was haben sie für euch getan? Ich bin eure lebendige Göttin. Unterstützt mich, und ich werde für euch kämpfen“, sagte Mayawati auf einer Kundgebung der BSP in Bangalore. Diese Kundgebung war Teil einer landesweiten Kampagne, in der die Partei 46

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den Regierungen vorwarf, dass sie Regierungsposten von der Quotenregelung für bestimmte niedrige Kasten ausnehmen. „Wenn die BSP in fünf Jahren in Neu-Delhi und in den Bundesstaaten an die Macht kommt, werde ich das Unrecht wiedergutmachen, das die ‚Manuvadi-Parteien‘ (so betitelt Mayawati die Parteien der hochkastigen Hinduführer) in den letzten fünfzig Jahren begangen haben“, erklärte sie. Auch die Samajwadi-Partei, eine weitere Regionalpartei, die jetzt in Uttar Pradesh regiert, nutzt das Kastendenken als Instrument im Spiel der Politik. Parteichef Mulayam Singh Yadav, ebenfalls dreimaliger Ministerpräsident des Bundesstaates, führte die nach ihm benannten Yadavas, eine „rückständige“ Kastengruppierung, und die Moslems zu einer Koalition zusammen. Yadav war erst Ringer, dann Politiker. Als Anfang der 1990er Jahre mit dem Erstarken radikaler Hindu-Parteien und einer hindu-nationalistischen Politik die Kommunalisierung des politischen Lebens im Land anstand, ergriff er Partei für die Moslems. In den Dörfern und Ghettosiedlungen mit überwiegend moslemischer Bevölkerung nennt man ihn, obgleich er Hindu ist, mit einem Titel, der islamischen Geistlichen vorbehalten ist, verehrungsvoll „Maulana Mulayam“. Seit Yadav den Bundesstaat regiert, erhalten die Mafiosi und Führer mit kriminellem Hintergrund verstärkt Zugang in seine Organisation. Die Strategie, mit der sowohl Mayawati als auch Mulayam Singh Yadav auf ihre Wahlsiege hinarbeiten, sieht vor, dass einflussreiche Kastenführer in denjenigen Wahlkreisen aufgestellt werden, in denen die Kastengruppe der Kandidaten die Stimmenmehrheit hat. In Wahlkreisen etwa, in denen die Moslems die stärkste Gruppe bilden, bewirbt sich demnach ein Moslem um den Einzug ins Parlament. Die Kandidatenauswahl hängt ganz wesentlich davon ab, ob es sich bei dem Kandidaten um einen Bahubali (einen starken Mann) vom Schlage eines Pawan Pandey handelt. Aus Mau, einem Wahlkreis im Osten von Uttar Pradesh, rekrutierte Yadav den gefürchteten Mokhtar Ansari als Kandidaten, einen Mafia-Don und Wortführer mit beeindruckender Muskelkraft, der von Straßengewalt und pastellfarbenen Luxuslimousinen überzeugt ist. Sogar die rechtsgerichtete BJP stellt mafiöse Wortführer wie Krishnand Rai aus der rückständigen und von Armut geprägten Region Ghazipur-Mau auf, wo der Schlüssel zum Wahlsieg die Angst ist, die die starken Männer verbreiten. Jeder Bundesstaat im hindisprachigen Kerngebiet Indiens ist ein ganz eigenes Laboratorium der Demokratie, in dem die Armut Rebellion und Kriminalität hervorbringt. In Uttar Pradesh leben mindestens 54 Millionen Menschen in bitterer Armut. Für diese Menschen ist Politik die Wahl zwischen zwei gleich großen Übeln. Es überrascht nicht, dass der Bundesstaat vor Kriminalität nicht zur Ruhe Kulturaustausch 1v/06

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kommt, so lange diese Schlägertypen ihren Weg in die Shahbuddin lässt sich in einer Kolonne mit mindestens Parlamente finden. Die jüngste Kriminalitätsstatistik mel- sieben Fahrzeugen chauffieren, nennt sich selbst Doktor det, dass in Uttar Pradesh die Morde von 1.856 auf 3.104, der Politikwissenschaften, trägt US-Jeans, Sneakers und die Vergewaltigungen von 443 auf 937 und die Überfälle eine Ray-Ban-Sonnenbrille und bewegt sich im Schutz auf Frauen sprunghaft von 412 auf 906 zugenommen eigener bewaffneter Bodyguards. Fragen werden ihm derhaben. Obwohl häufig Krankheiten ausbrechen, gibt der zeit nicht gestellt, da es in keinem der gegen ihn geführten Bundesstaat nur 4,1 Prozent seiner gesamten Haushalts- Strafprozesse zu einer Verurteilung kam und in vielen mittel für Gesundheit aus. Die Alphabetisierungsrate in anderen Fällen das Verfahren noch gar nicht begonnen hat. Uttar Pradesh beträgt gerade einmal 56,27 Prozent. Im Nachbarstaat Bihar stagniert Jeder Bundesstaat ist ein Labor der Demokratie die Wirtschaft, während die Kriminalität Tag für Tag Rekorde bricht. Einem Bericht der Regierung zufolge wurden zwischen Januar und Juni Doch neben dem Geruch des Verbrechens haben die Parla1997 mindestens 64.085 Gewalttaten verübt. In dieser mente in Indien auch Glamour zu bieten, werden sie doch Zahl sind 2.625 Morde, 1.116 Entführungen und 127 Fäl- mehr und mehr zur Heimstatt alternder, pensionierter le von Menschenraub enthalten. Bihar erlebt jeden Tag und politisch nicht geschulter Filmstars. Polly Datta vom vierzehn Morde und alle vier Stunden eine Entführung. Südasien-Institut der Universität Heidelberg hat in einem In allen Statistiken, die über Wohlstand und Entwicklung Aufsatz zur „Mitwirkung von Bollywood-Filmstars in der Auskunft geben, rangiert Bihar am untersten Tabelle- indischen Politik“ sechs bekannte Stars aufgelistet, die in nende. In keinem anderen Bundesstaat sind so wenige Indiens Unterhaus, der Lok Sabha, sitzen. „Man hat diese Menschen alphabetisiert, sterben so viele Inhaftierte in Filmstars aufgestellt, um die Stimmen der Bevölkerung Polizeigewahrsam, sind die Straßen so schlecht und ist zu gewinnen“, so Datta. Demokratie führt nicht selten die Kriminalitätsrate so hoch. zu einem Chaos aus falschen Hoffnungen, und die zu Regiert wurde der Staat über fünfzehn Jahre hinweg von Politikern gewordenen Filmstars oder Gangster haben es einem Mann namens Rastriya Janata Dal, dem Führer einer übernommen, diese falschen Hoffnungen für die armen starken regionalen Partei, den man im vergangenen Jahr und des Lesens und Schreibens unkundigen Wähler in aus der Regierung warf. Ein anderer Kastenführer, der Indien zu produzieren. häufig mit Mulayam Singh Yadav verglichen wird, ist Laloo Ist die indische Demokratie vor diesem Hintergrund Prasad Yadav, der wegen seines erdverbundenen Realismus zum Untergang verurteilt? Diese Frage wird von vielen und schlichten Lebensstils zugleich gehasst und geliebt Kommentatoren verneint. Sie verweisen darauf, dass wird und im Dhoti, einem losen Wickelrock, umherwan- die von großen Persönlichkeiten wie Jawaharlal Nehru delt, Tabak kaut und im Garten seines Amtsbungalows geschaffenen demokratischen Institutionen stark genug Kühe hält. So wie man Mulayam Singh Yadav vorwirft, sind, um zu gewährleisten, dass das Wirtschaftswachser erfülle seine Aufgaben in Uttar Pradesh nicht, wirft tum nicht durch Mängel der Regierungsführung und das man Laloo Yadav vor, dass er nichts unternimmt, um das Eindringen krimineller Elemente in die Politik gefährdet Los des Bundesstaates Bihar zu erleichtern. Unmittelbar wird. Swaminathan S. Ankleswria, ein erfahrener Journach seiner Amtsübernahme geriet Laloo Yadav in einen nalist und Wirtschaftsexperte, meint: „In Indien haben Strudel von Korruptionsfällen, die ihn fünfmal hinter wir es mit einem Paradox zu tun. Die Regierungsführung Gitter brachten. Die vier wichtigen Bundesstaaten Uttar verschlechtert sich durch eine Vielzahl von Maßnahmen. Pradesh, Bihar und Rajasthan sowie Madhya Pradesh wur- Trotzdem hat das Wirtschaftswachstum in den letzten drei den zum Schauplatz einer von Mafiabossen angeheizten, Jahren immer den Rekordwert von acht Prozent erreicht.“ bisweilen explosiven Kastenpolitik. Der Schriftsteller und Andere, die ob der deprimierenden politischen Kultur InJournalist Khuswant Singh kommentierte den Verfall in diens beunruhigt sind, schreiben den Wirtschaftsboom des den politischen Parteien so: „Unsere Politiker sind schon Landes der gesunden Weltkonjunktur zu. „Erwirtschaftet als Witzfiguren zur Welt gekommen. Sie sind nicht in der die Subsahara-Region mit ihrer notorisch schlechten ReLage, echte Themen auf die Tagesordnung zu bringen und gierungsführung nicht auch Jahr für Jahr fünf Prozent auf diese Weise der Regierung die Stirn zu bieten.“ Kaum Wachstum?“, fragen sie. verwunderlich, dass in Indien Politiker jedermanns LiebAus dem Englischen von Andreas Bredenfeld lingsfeinde sind. Sogar im indischen Zentralparlament, dem höchsten gesetzgebenden Organ auf gesamtstaatlicher Ebene, sitzen Politiker wie Mohammad Shahbuddin, der angeblich in zwei Dutzend Strafsachen verwickelt ist. Kulturaustausch 1v/06

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Schubladendenken Von T. K. Rajalakshmi

T.K. Rajalakshmi ist 38 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in Delhi. Ihr besonderes Interesse gilt der Gleichberechtigung von Frauen und der Arbeitswelt. Bevor sie als Journalistin zu arbeiten begann, war sie Beraterin der indischen Nationalkommission für Frauen. 1998 war sie Fellow des „Panos Reproductive“-Programms, wo sie im Bereich Gesundheitsfürsorge für Frauen arbeitete.

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Als der indische Bildungsminister Arjun Singh am 5. April 2006 bekannt gab, dass die Regierung und das Ministerium die Quoten für „Other Backward Classes“ (OBC) (wie die sozial und wirtschaftlich benachteiligten Klassen offiziell genannt werden) im Hochschulwesen auf 27 Prozent anheben wollten, war in Indien die Hölle los. Immerhin ging es um technische, medizinische und wirtschaftswissenschaftliche Eliteeinrichtungen. Angestachelt von einer das Kastenwesen befürwortenden Presse, starteten diese Institutionen eine Kampagne, die teilweise von den Institutsverwaltugen unterstützt wurde, gegen den geplanten Schritt der Regierung. Das Hauptargument: man setze die Leistung aufs Spiel. In den frühen Neunzigern, als die „Mandal Kommission“ diejenigen Klassen und Kasten bekannt gab, die durch staatliche Fördermaßnahmen bei Stellenausschreibungen in der Regierung begünstigt werden sollten, hatte es größeren Aufruhr gegeben. Heute hat sich die Mehrheit der politischen Klasse mit der Tatsache der Quotenregelung abgefunden. Daher verliefen die diesjährigen Proteste wenig spannungsreich. Sie wurden allerdings von einigen politischen Parteien fortgesetzt. Unter dem Banner „Youth for Equality“ („Jugend für Gleichheit“) protestierte eine Jugend aus der Oberschicht, die an den öffentlichen Schulen eine gute Bildung genossen hat und nie zuvor als Fürsprecher für „Gleichheit“ aufgetaucht ist oder sich für mehr Arbeitsplätze und Bildungschancen stark gemacht hätte. Diese Demonstrationen beschränkten sich auf die städtischen Zentren. Der Bedarf für eine Quotenregelung im Bildungs- und Hochschulwesen, den die „Mandal Kommission“ in einem Bericht aufgezeigt hatte, wurde währenddessen vertuscht. Es hatte mindestens ein halbes Dutzend Empfehlungen gegeben. Sie forderten die gezielte Unterstützung der benachteiligten Kasten beim Zugang zu Regierungsstellen und zu edukativen Einrichtungen, sowie Beratungsstellen, die die betroffenen Studenten bei der Bewerbung an technischen und beruflichen Institutionen unterstützen sollten, und speziell auf das Berufsleben ausgerichtete Beratungsstellen zur Erweiterung des akademischen und kulturellen Umfelds von „OBC“- Studenten. Der Bericht sprach sich außerdem für eine progressive Reform des

Landrechts aus, die zu einer strukturellen Veränderung beitragen sollte. In einer ungleichen Gesellschaft wie der indischen, in der Angehörige niedriger Kasten und Kastenlose über Jahrhunderte hinweg in allen Lebensbereichen diskriminiert worden sind, ist der Verweis auf das Leistungsprinzip schlichtweg haltlos. In Wirklichkeit hatten sich in den neunziger Jahren die Quotengegner mit großen Worten wie Chancengleichheit und Beseitigung der Armut für eine Quotenregelung im Bildungswesen ausgesprochen, um die Quotenregelung bei der Vergabe von Regierungsposten zu verhindern. Nun, wo sich Ersteres zu verwirklichen scheint, geht man dagegen auf die Straße. Die Haltung, die sich in diesem Verhalten nach außen kehrt, ist tief in den höher gestellten Kasten verwurzelt. Tatsächlich spielt die Kaste im Leben der meisten Inder eine Rolle. Hochzeiten zwischen verschiedenen Kasten werden nicht gerne gesehen. Wenn sich Paare über die Kastennormen hinwegsetzen, führt dies oft zu Ehrenmorden, die in aller Öffentlichkeit begangen werden. Auf dem Land sitzen Schüler aus oberen Kasten nicht neben Schülern aus unteren Kasten. Es wird also noch mindestens hundert Jahre dauern, bis das Kastensystem völlig verschwunden ist. Der gegenwärtige Aufruhr begann bereits vor April dieses

Jahres. Im Januar hatte das indische Parlament eine seltene Einstimmigkeit hinsichtlich einer Verfassungsänderung gezeigt, die die Möglichkeit von Quoten in privaten Bildungseinrichtungen vorsah. Am 24. August, als das Gesetz verabschiedet werden sollte, protestierten Studenten erneut gegen die Quotenregelung und entschieden, der Bewegung in den nächsten Monaten eine neue Intensität zu verleihen. Selbstverständlich gingen die Privatschulen, die exorbitante Gebühren verlangen, auch gegen das geplante Gesetz vor. Gleichzeitig stellten sich die Privatschulen in der darauf folgenden Leistungsdebatte insofern bloß, als die einzige Leistung, um zu diesen Institutionen zugelassen zu werden, darin besteht, hohe Aufnahmegebühren zu zahlen. Der Blick auf den Süden Indiens widerlegt deutlich das Argument der Leistungseinbuße. Dort blickt man auf eine lange Erfahrung mit Quoten im Bildungswesen zurück. Tamil Nadu regelt die Vergabe von Studienplätzen für OBCs mit einer Quote von 65 Prozent, in Karnataka sind es 50, in Andhra Pradesh 49,5 Prozent. Weder die Leistung noch die Qualität der Lehre haben sich dadurch verschlechtert. Die Indikatoren für soziale Entwicklung sind hier weitaus besser als in den Staaten im Norden mit Quoten von 22,5 Prozent.

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An indischen Universitäten sollen die Quoten für Studenten aus benachteiligten Kasten erhöht werden. Das gefällt nicht allen

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Ironischerweise führten gerade solche Studenten, für die in den höheren Kasten. Sie werden nicht nur wirtschaftlich, 25 Prozent der Plätze in den postgradualen Studiengängen sondern auch gesellschaftlich unterdrückt. Die „Anteilnahme“ an ihrem Schicksal äußert sich imfreigehalten werden und die an der landesweit besten medizinischen Universität lernen, die Bewegung gegen die Quo- mer dann, wenn es der Argumentation gegen die Quote tenregelung an. Bis 2001 hatten sie sogar von einer Quote dient. Ansonsten werden diese Probleme verschwiegen. von 33 Prozent profitiert, bis der Oberste Gerichtshof In Wirklichkeit gibt es sogar Vorbehalte gegenüber dem entschied, das Quantum auf 25 Prozent zu beschränken. wirtschaftlichen Kriterium für die Platzvergabe. Ein Angesichts dieser internen Platzvergaberegelung war es von ihnen heuchlerisch, anderen Unsere Verfassung ist eine der besten der Studenten gegenüber mit Leistungseinbußen zu argumentieren. Welt, aber sie wird viel zu selten umgesetzt Reine Meinungsmache ist auch das Argument, die Platzvergaberegelung brächte unterqualifizierte Ärzte und Ingenieure hervor. Es wird Gerichtshof in Delhi entschied etwa, dass zukünftig eine unterstellt, dass Ärzte und Ingenieure, die ihren Studi- bestimmte Anzahl an Plätzen in Privatschulen für Kinenplatz über die Quotenregelung erhalten haben, unter- der aus ärmeren Verhältnissen bereitgehalten und ihnen qualifiziert und weniger professionell seien als Studenten außerdem die Beiträge erlassen werden sollten. Dieser aus anderen Platzvergabekategorien. Dies dient wiederum Regelung verweigerten sich die Schulverwaltungen einiger als Basis für eine aus dem Kastensystem resultierende, angesehener Schulen. Die von der Verfassung vorgesehene Quote für sozial hasserfüllte Hetze, etwa in der häufig zitierten Frage: „Von wem möchten Sie sich lieber behandeln lassen, von und wirtschaftlich schlechter Gestellte soll Zugehörigen einem semi-professionellen dalit oder einem OBC-Arzt?“. niederer Kaste oder Kastenlosen den Zugang zu Bildung Als „Dalits“ bezeichnet man die Zugehörigen niederer und Arbeitsplätzen gewährleisten. Es ist ein Eingeständnis Kasten oder Kastenlose. Das ist die reinste Provokation, gegenüber der Ungleichheit des Kastenwesens und der denn alle Studenten, gleich welcher sozialen Herkunft, damit einhergehenden jahrhundertelangen Diskriminierung. Auch wenn Indien mit einem Wirtschaftswachstum legen dieselben Zulassungsprüfungen ab. In den aktuellen Auseinandersetzungen um die Quo- von acht Prozent prahlt, kann von einem tatsächlichen tenregelung finden sich viele ähnlich diskriminierende Wachstum so lange nicht die Rede sein, wie die Mehrheit Anspielungen. So zeigten sich Ärzte in Delhi demonstrativ der Bevölkerung keinen Zugang zu selbst den geringsten mit Besen auf der Straße, vielleicht um anzudeuten, was Leistungen des Gesundheits- und Bildungssystems hat. Der ihnen blühen würde: das Straßenkehren, das wie das Tel- indische Staat hat in dieser Hinsicht versagt. 53 Prozent der lerwaschen oder das Häuten und Schlachten von Tieren im indischen Schulkinder brechen die Schulausbildung vor hinduistischen Kastensystem als Aufgabe der Angehörigen der achten Klasse ab. Angesichts eines solchen Szenarios niedriger Kasten und Kastenlosen angesehen wird. Auch kann Indien nicht erwarten, eine der führenden Wissenauf den von der „Jugend für Gleichheit“ organisierten schaftsnationen zu werden. Für Arme und Bedürftige der Demonstrationen gegen die Quotenregelung waren belei- gesellschaftlichen Schichten sollte es Quoten geben. Es digende Slogans zu vernehmen. Das alles geschah in klarer sollte ein sozial-ökonomisches Kriterium gelten, das die Missachtung des indischen Gesetzes, das Äußerungen mit Reichen und jene, die bereits Zugang zum Bildungssystem Bezügen auf das Kastensystem unter Strafe stellt. Selbstver- und dem Arbeitsmarkt haben, ausschließt. Damit einherständlich zog jemand unter Berufung auf den „Paragrafen gehend wird eine gesetzliche Regelung für alle privaten zur Verhütung von Gewalt gegen untere Kasten“ gegen die Bildungseinrichtungen benötigt, um eine verstärkte KomÄrzte vor Gericht. Unsere Verfassung ist eine der besten merzialisierung der Weiterbildung zu verhindern. Denn diese führt ebenfalls zum Ausschluss einer großen Anzahl der Welt, aber sie wird viel zu selten umgesetzt. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang als von Studenten, gleich welchen Hintergrunds, selbst bei Hauptargument angeführt, dass Quoten nach sozial-öko- entsprechender Qualifizierung und Leistung. nomischen Kriterien und nicht abhängig von KastenzugeAus dem Englischen von Valentina Heck hörigkeit vergeben werden sollten, da dies eher zu einer Zementierung des Kastensystems als zu dessen Abschaffung führen würde. Man sollte sich jedoch vor Augen halten, dass Kastenlose und Zugehörige niederer Kasten nahezu 70 Prozent der indischen Bevölkerung ausmachen. Der Anteil an Armen in niederen Kasten ist wesentlich größer als der Kulturaustausch 1v/06

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„Meine ersten Reaktionen aufs Tanzen wurden durch die Magie der Bewegung hervorgerufen: von der Poesie der visuellen Sprache tanzender Finger, Hände, Augen, Füße. Ein Körper in Ekstase hat mich schon immer fasziniert. “ Chandralekha, geboren 1929, ist die Grande Dame des indischen Tanzes und seine kontroverseste Choreografin. Der Star des klassischen Tanzes in den 50er und 60er Jahren wendete sich vom Traditionellen und Kommerziellen ab und kreierte eine neue Tanzform, die berühmt ist für ihre Erotik und die Betonung des weiblichen Körpers. Chandralekha lebt in Chennai.

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„Ich glaube nicht an Hierarchien. Für mich dreht sich nicht alles um oben oder unten. Unsere Möglichkeiten sind so unermesslich weit. Es gibt immer andere Wege, die Dinge zu betrachten. “ Rajeev Sethi ist einer der führenden Kunsthandwerker Südasiens. Er wird international besonders für sein Engagement für die Erhaltung und das Zelebrieren von Südasiens kulturellem Erbe geschätzt. Der Allroundkünstler – Sethi ist Historiker, Maler, Filmemacher/Szenograf und Kunsthandwerk-Designer – gründete die Asian Heritage Foundation und wird oft als der kulturelle Impresario Indiens bezeichnet. Er lebt in Delhi.

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Das neue Indien wird längst vom alten Europa hofiert. Nur Deutschland macht weiter Sprachkurse Von Olaf Ihlau Eine Erfolgsgeschichte ist sie ganz gewiss nicht, die deutsch-

Dr. Olaf Ihlau, Jahrgang 1942, arbeitete sechzehn Jahre als Ressortleiter beim Spiegel, zuletzt als Auslandschef. Derzeit ist er als Autor für das Nachrichtenmagazin tätig. Der promovierte Sozialwissenschaftler sprach als Reporter und Korrespondent mit acht indischen Premierministern, von Indira Gandhi bis zu Manmohan Singh. Zuletzt erschien „Weltmacht Indien“ (Siedler, München 2006).

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indische Kulturarbeit. Die Kulturbeziehungen zwischen beiden Ländern waren in Zeiten des Kalten Krieges einmal gut, weil die westdeutsche Kulturarbeit im Wettbewerb mit der Kulturarbeit der DDR stand. Regelmäßig kamen prominente Schriftsteller, Künstler, Theater- und Jazzgruppen nach Indien. Aber dafür ist seit langem kein Geld mehr da. In den letzten zehn Jahren hat die Kulturarbeit in puncto Vermittlung zeitgenössischer deutscher Kultur, also Lesungen, Konzerte, Theatergastspiele, dramatisch nachgelassen und sich auf reine Sprachvermittlung verengt. Die letzten deutschen Kulturfestspiele in Indien – die nicht besonders erfolgreich waren – fanden im Jahr 2000 statt. Günter Grass hat seine letzte Reise nach Kolkata selbst bezahlt. Heute dominieren die wirtschaftlichen Kontakte. In den letzten 40 Jahren haben sich die ökonomischen und politischen Koordinaten auf diesem Planeten drastisch verändert. Wie lachten vor 30 Jahren die Experten, als die ersten japanischen Autos in Europa auf den Markt kamen: „Der rostet durch, alles abgekupfert.“ Heute lacht niemand mehr über die Japaner – und morgen wird niemand mehr über die Inder lachen. Wenn wir 20 Jahre vorausschauen, wird Indien neben China und den USA die größte Volkswirtschaft der Welt sein und Japan und Deutschland abgehängt haben. Nächstes Jahr bringt der indische TataKonzern das billigste Auto der Welt heraus. Es soll knapp 2.000 Euro kosten, eine Revolution. Indien ist dabei, das bessere China zu werden, weil es eine demokratische, stabile Gesellschaft ist. In den nächsten Jahrzehnten werden die Inder mit ihrer bisher völlig maroden Infrastruktur viele Aufträge an den Westen vergeben. Vor allem die deutschen Firmen hoffen, davon zu profitieren. Durch eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit werden sich dann auch die Kulturen wechselseitig stärker durchdringen. Bisher hatten die Deutschen mehr Interesse an Indien als umgekehrt. Indien war ein Symbol für das Fremde, für das ganz andere. Dieses Bild stammt noch aus der Romantik, die Indien als bessere Welt im Fernen Orient glorifizierte. Dieses Vorstellung wirkt bis heute in der Faszination für das Esoterische, in spirituellen Sehnsüchten fort. Daneben verbinden wir Indien auch mit Armenhaus, Kastensystem

und Kinderarbeit. Ein sehr zwiespältiges Bild. Nun kommt etwas Neues hinzu, nämlich das moderne Indien, das Hightech-Indien, der erwachende Riese. Die Inder sind dabei, sich anders kulturell zu präsentieren, nicht mehr so altmodisch, mit klassischem Tanz, der gelangweilt vorgetragen wird. Sondern die neue „Sonnenschein-Generation“ tanzt lasziv vor Bollywood-Hintergrund. Sie ist viel aktiver als wir, voller Optimismus, vielleicht auch ein bisschen naiv, und voller Fröhlichkeit. Für Inder besteht in Sachen Kultur nach wie vor eine große angelsächsische Verbundenheit – es wäre dumm, das zu übersehen. Aber gerade für die indische Oberschicht und für die riesige Mittelschicht sind neben den Franzosen auch die Deutschen interessant. Das beweisen nicht zuletzt die überfüllten Sprachkurse der Goethe-Institute. Und da macht es nun wirklich Sinn, dass wir parallel zu galoppierenden Außenhandelszahlen, auch im kulturellen Bereich zulegen. Wir müssen die Etats der Goethe-Institute sowie der Kulturabteilungen der Botschaft drastisch ausweiten. Außerdem müssen wir so schnell wie möglich wieder etwa durch eine Messe oder Festspiele präsent werden. Da muss man powern. Für ihre Kulturarbeit sind die Goethe-Institute derzeit im Grunde auf Sponsoren angewiesen und somit oft abhängig von Geschäftsinteressen. Ein vernünftiges Kulturprogramm lässt sich aber nicht auf Bettelei aufbauen. Es reicht nicht das einmalige Event. Eine gewisse Kontinuität wäre unbedingt nötig. Wenn kein Geld da ist, kann man zumindest im Etat umschichten. Es ist absolut lächerlich, dass die GoetheInstitute 40 Prozent für Europa ausgeben, und nur acht Prozent für Südasien, wo ein Drittel der Menschheit lebt. Gerade in den urbanen Boom-Zentren sollten wir mit einem kulturellen Angebot aufwarten. Andere Europäer klotzen dort. Während wir unsere Programme abbauen und nicht einmal eine vernünftige Bibliothek anbieten, haben das British Council, die Alliance Française und selbst das spanische Cervantes-Institut neue Gebäude gebaut und präsentieren sich mit fantastischen kulturellen Angeboten, und zwar regelmäßig. Das kommt gerade bei den jungen Indern, die sehr westlich orientiert sind, hervorragend an. Sie, die nach vorn drängen, glauben fest daran, dass sie in 20 Jahren eine Weltmacht sind. Man sollte sie nicht nur mit der amerikanischen Kultur allein lassen. Man sollte ihnen zu verstehen geben, dass Europa ein bisschen mehr zu bieten hat. Die Franzosen und Spanier, unsere direkten Rivalen in Delhi, haben das längst erkannt. Siehe auch Albrecht von Lucke: „Neue Landkarte der Konflikte“, Seite 68.

Foto: Siedler Verlag

Angebot und Nachfrage

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Indien / Leben

Menschen im Park Ein Sonntag im Zoo von Hyderabad – ein Tatsachenbericht Von Guy Helminger

Foto: Selbstporträt „Guy Helminger im Verkehr“

Guy Helminger ist ein deutschsprachiger Autor aus Luxemburg. Er wurde 1962 in Eschsur-Alzette geboren. 2004 wurde er beim Ingeborg-BachmannWettbewerb mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien der Erzählband „Etwas fehlt immer“ (Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005). Der hier abgedruckte Text entstand im Rahmen des deutsch-indischen Stadtschreiberprojekts „Akshar“ des Goethe-Instituts.

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Sonntag ist Zootag, also nehme ich eine Autorikscha zum Nehru Zoological Park. Leider sage ich zum Fahrer, dass ich zum Nehru Zoological Garden möchte. Mit „Garden“ assoziiert der Mann aber offensichtlich etwas anderes als den Zoo. Wir rasen durch die Straßen, bis sogar ich merke, dass die Richtung nicht ganz stimmen kann. Ich wiederhole mein „Nehru Zoological Garden“, und der Fahrer schaut mich fragend an. Ist er nicht schnell genug? Um Gottes willen, doch, doch! Irritiert schaut er wieder nach vorn auf die Straße, was ich wiederum ganz gut finde. An einer roten Ampel bewegt sich ein Bettler im Schneidersitz auf einem Rollbrett zwischen den wartenden Wagen, hebt den Arm zum Fenster und zeigt mit dem anderen auf seinen nackten Fuß, der um 180 Grad um die eigene Achse verdreht ist, so dass Sohle und Ferse dort sind, wo eigentlich der Fußrücken sein sollte. Sein Kopf ist mit einem Käppi bedeckt, in das die Sonne ein grelles Weiß häkelt. Die Wagenfenster gehen demonstrativ hoch. Als er mich entdeckt, springt die Ampel gerade auf Grün, und wir alle fahren los, umschiffen den Mann in einer Welle aus Krach und Abgasen. Ich lehne mich aus der Autorikscha, um herauszufinden, wie der Bettler es schafft, nicht überfahren zu werden, aber ich kann ihn bereits nicht mehr sehen, weil er sitzend auf seiner niedrigen Rollvorrichtung nicht größer ist als ein dreijähriges Kind. Russisches Roulette ist auch nicht anders. Der Fahrer hält kurz hinter der Kreuzung, fragt Passanten nach irgendetwas, wovon er denkt, dass ich dahin möchte. Alle schicken ihn geradeaus. Wenig später fragt er erneut einen Mann, der am Straßenrand Tee trinkt. Auch der schickt ihn geradeaus. Wir wenden. Nach zehn Minuten biegt der Fahrer zu einer Tankstelle ab, kauft Treibstoff, fragt erneut nach dem Weg. Der Tankwart zeigt geradeaus. Vorbei an einem Brunnen ohne Wasser, vorbei an Kleiderständern, Fahrradreifen, Schustern, gebrauchten Büchern, vorbei an Kokosnüssen, Essbuden auf Rädern, an Sektenanhängern vorbei, Tassenverkäufern und Teigwaren, immer geradeaus, bis mir plötzlich eine grandiose Idee kommt. Ich klopfe kurz gegen den Fahrersitz, mache auf mich aufmerksam und imitiere in dem Moment, als der Fahrer sich umdreht, einen Lö-

wen. Meine rechte Hand ist zur Kralle gekrümmt, meine Zähne sind entblößt und ein fauchender Laut kommt aus meiner Kehle. Der Fahrer verliert fast die Kontrolle über sein Mobil, so habe ich ihn erschreckt. Er starrt mich an, reißt die Augen auf, und ich sehe ihm an, dass er mich für verrückt hält. „Zoological Garden“, rufe ich, „Nehru Zoological Garden.“ Der Fahrer wirft einen schnellen Blick vor sich auf die Fahrbahn, dann dreht er seinen Kopf wieder nach hinten. Offensichtlich traut er mir jetzt nicht mehr. Ich atme etwas laut aus und sacke in mich zusammen. Der Fahrer streckt daraufhin mangels Blinker die linke Hand aus und hält am Straßenrand, steigt aus, verschwindet in einem Geschäft. Wenig später kommt er mit jemandem heraus, der ein dunkelbraunweißgestreiftes Hemd in seine helle Hose gestopft hat und dessen Schuhe so schwarz glänzend sind, dass ich denke, dieser Mann geht selten zu Fuß, und wenn, dann nur über englischen Rasen. Der Fahrer zeigt schon von weitem auf mich, redet auf den Mann ein, während sie näher kommen. Dann fragt der Mann in feinstem Englisch, was ich vom Fahrer möchte. „Zum Nehru Zoological Garden, möchte ich, aber irgendwie kann ich mich nicht ...“, versuche ich auszuführen. Aber der Mann hört mir bereits nicht mehr zu, sagt zum Fahrer: „Nehru Zoological Park“ und zeigt geradeaus. Ich sehe buchstäblich, wie dem Fahrer ein Licht aufgeht. Er strahlt mich an, bittet mich einzusteigen, dreht sich während der Fahrt immer wieder zu mir um und lacht. Ich nicke freundlich zurück. Es wird immer heißer. Der Wind zieht stumpfe Klingen über mein Gesicht. Erneut passieren wir Häuser, die ich zu kennen glaube, und der Fahrer lehnt sich weit zurück, um auf den Taxameter zu schauen. Der zählt nämlich nur bis 99,90 Rupien, bis etwa 17 Euro, eine dreistellige Zahl vor dem Komma ist nicht vorgesehen. Und wir sind schon lange unterwegs. Einen Plan von Hyderabad, der alle Straßen zeigt, gibt es übrigens nicht, aber ich weiß, dass der Zoo südlich vom Charminar liegt und an der Moschee fahren wir gerade vorbei. Der Fahrer hupt, fährt langsam in die Menge. Die Leute öffnen nach und nach eine Gasse. Eine Frau ergreift meine Hand und lässt sie genauso schnell wieder los. Kinder schreien: „Hello!“ Als wir den Zoo erreichen, ich aussteige und den Fahrer bezahle – der Zähler hat nach wie vor die 100-Rupien-Grenze nicht erreicht –, steckt er das Geld ein und faucht mich an. An der Kasse gibt es – ganz britisch – Gitter, die eine Schlange ermöglichen sollen. Eine zusätzliche Unterteilung lese ich auf den beiden Schildern über den Kassenschaltern: die linke Schlange für die Männer, die rechte für die Frauen.

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Indien / Leben

Das Gelände ist riesig, allerdings gibt es mindestens so viel

Platz für die Besucher wie Lebensraum für die Tiere. Die Wege werden von Rasenflächen begrenzt, die mitunter die Größe eines Fußballfeldes haben. Teiche sind in der Mitte angelegt, überall strecken Bäume ihre Kronen in den endlosen Himmel. Auf einem Schild lese ich: „The Zoo is not a picknick spot. It’s an animal conservation centre.“ Aber das sehen die Menschen hier anders. Ihre Taschen sind prall mit Essbarem gefüllt, und die Familien sitzen überall, wo es sich sitzen lässt, das heißt im Schatten der Sträucher unter den Palmen. Die Hitze greift mit einer Wucht um sich, dass ich das Gefühl bekomme, ein Sieb zu sein, so schnell läuft mir das Wasser, das ich trinke, im gleichen Augenblick den Rücken hinunter. Die Gehege der Antilopen sind so ausufernd, dass es durchaus möglich erscheint, den Zoo ein ganzes Jahr lang jeden Tag zu besuchen, ohne sie jemals zu Gesicht zu bekommen. Dann sehe ich direkt daneben einen Käfig mit vier weißen Tigern, der wiederum so klein ist, dass die Tiere mit Sicherheit in der nächsten Generation ohne Beine geboren werden. Merkwürdig ist auch die Selbstverständlichkeit, mit der Kinder und Jugendliche Steine nach den Tieren schmeißen, ohne dass die Eltern oder die uniformierten Aufpasser sie daran hindern. Besonders schlimm trifft es einen Bonobo, der dem Kieselhagel einer ganzen Horde Teenager ausgesetzt ist und auf seiner Insel – einem Hügel, umgeben von einem Wassergraben – keine Möglichkeit hat, sich irgendwie zu schützen. Dass das, was sie machen, nicht in Ordnung ist, wissen aber einige, hören auf, während ich vorbeigehe, schauen mich etwas verschämt an. Andere hingegen demonstrieren mir geradezu, wie man am besten wirft, damit der Schimpanse reagiert. Für sie scheint dieses Verhalten eine absolute Selbstverständlichkeit zu sein, das Tier ein rechtloses Spielzeug. Währenddessen füllen sich die Wiesen, kleine Einheiten schließen sich zu Großfamilien zusammen. Der Zoobesuch wird durch das Picknick erst recht zum Ereignis. Viele sind etwas schicker gekleidet als gewöhnlich. Vor allem die Kinder tragen ihre beste Kleidung: die Mädchen glitzernde Röcke mit Rüschen, die Jungs Jacken aus Seide mit aufgeblähten Schultern. Bereits als ich aus der Autorikscha gestiegen war, hatten Männer mir Popcorn und Ähnliches angeboten, immer mit den Worten: „Für die Affen.“ Ich nahm das natürlich nicht ernst, weil ich gelernt habe, dass Zootiere nur vom 54

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Pfleger gefüttert werden und nicht vom Besucher. Und tatsächlich sehe ich Schilder im Zoo, die darauf hinweisen, dass man den Tieren bitte nichts zu fressen geben soll, weil sie sterben könnten. Das interessiert aber nun wirklich niemanden mehr. Denn wer nicht mit Steinen schmeißt, der schmeißt mit Esswaren. Und so ist das Fell einiger Bären mit Chips dekoriert, den Affen fliegen die Bananen gegen die Schädel, während im Graben um das Gehege zwei Schildkröten mit einer Plastiktüte voll Popcorn kämpfen. Hier herrscht eindeutig die Jugend und macht sich die Erde untertan. Im Zoo gibt es auch noch einen Dinosaurierpark. Und jeder dieser Riesen hat ein eigenes Gehege. Die Besucher stellen sich vor die Steinskulpturen und fotografieren sich. Ich stelle mich auch davor und mache ein Selbstporträt.

Wer nicht mit Steinen schmeißt, der schmeißt mit Esswaren Anschließend kehre ich in die Neuzeit zurück, stelle mich an die Kasse zur Besichtigung der nachtaktiven Tiere. Drinnen ist es so dunkel, dass am Anfang des Rundganges ein Mann mit einer Taschenlampe steht und auf den Boden leuchtet. Ich denke, die Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, sie tun das auch, aber sehen kann ich trotzdem nichts. Denn das Nachtlicht hinter den Vitrinen ist so reduziert, dass ich beim besten Willen weder ein Tier entdecken kann, noch sehe, wohin ich trete. Das geht allen so, weshalb meine Mitbesucher, sobald sie außer Reichweite der Taschenlampe sind, und das ist hinter der ersten Kurve, ihre Handys einschalten. Das Licht der Displays beleuchtet nun den Boden, und wir schreiten langsam voran. Irgendwo hinter einer Pflanze huscht ein Schatten vorbei. Das Ganze ähnelt einem Gang durch die Geisterbahn, bis uns am anderen Ende jäh das Licht wieder in Empfang nimmt und uns die Augen zudrückt. Zwei Stunden später hat mein Denken aufgehört. Mein

Gehirn muss aussehen wie ein aufgegebenes Tiergehege: ausgetrocknet, verlassen und rissig. Auf dem Weg nach draußen – kurz vorm Ausgang – hieve ich mich noch drei Stufen ins so genannte naturkundliche Museum, schlendere einmal an einem ausgestopften Büffel, einem ausgestopften Tiger, einem ausgestopften Reh, einem ausgestopften schwarzen Schwan vorbei, schleppe mich erneut ins Licht, wanke aus dem Zoo und rette mich unter das Dach einer Autorikscha. Abends sagt jemand zu mir: „War das nicht ein wunderbar sonniger Tag.“

Informationen rechte Seite mit wissenschaftlicher Beratung von Dr. Eberhard Guhe, Institut für Indologie der Universität Mainz

Soweit die Theorie. Nur ein Schalter ist geöffnet, und davor verknäuelt sich alles, was eine Eintrittskarte möchte. Selbst die, die keine Karte kaufen, weil ein Verwandter oder Freund sie besorgt, stehen mit an der Kasse, setzen die Ellenbogen ein. Sonntag ist Zootag, habe ich es mir doch gedacht.

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Der Indische Elefant Wer früher einen Elefanten besaß, brauchte sich nicht um das tägliche Brot sorgen. Indiens größtes Säugetier ist leicht zähmbar und wurde so zum Nutztier der Menschen domestiziert. Die Abbildung von Elefanten ist daher in Indien auch heute noch ein Symbol für Reichtum. Ganesha, der einen Elefantenkopf besitzt, ist im Hinduismus der Gott der Weisheit, der mit Erfolg (Siddhi) und Einsicht (Buddhi) verheiratet ist.

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Der Tiger Da die Raubkatze lange Zeit vom Aussterben bedroht war, erklärte Indira Gandhi den Tiger 1969 per Dekret zum indischen Nationaltier und ließ anschließend die Tigerjagd in Indien verbieten. Heute sind in Indien noch etwa die Hälfte der weltweit in freier Wildbahn lebenden Exemplare der Großkatze heimisch, weniger als 3000 Tiere. Der Tiger ist das Reittier der furchtbaren Göttin Kali.

Das Krokodil Wegen seiner wertvollen Haut wurde das Krokodil in Indien auf wenige Tausend Tiere dezimiert. Mittlerweile hat die Regierung jedoch Schutzprojekte eingerichtet. Außerdem gibt es Krokodilfarmen, wo die Tiere gezüchtet werden, um ihre Haut zu gewinnen. In der Hindu-Mythologie ist Makara, eine Kreatur mit dem Körper eines Krokodils und dem Schwanz eines Fisches, das Reittier von Ganga, die den Ganges als Göttin personifiziert.

Der Pfau Der indische Nationalvogel wird sehr geschätzt, da er junge, giftige Kobraschlangen jagt und mit seinem schrillen Schrei vor Großkatzen warnt. In Hinduismus und Buddhismus ist der Pfau Symbol für Glück und Reichtum und gilt daher als heilig. Das Pfauensymbol soll auch gegen das ,,böse Auge“, also missgünstige, Unheil bringende Blicke schützen. Der Urahn des Pfaus ist der mythische Vogel Garuda. Aus einer der Federn dieses Reittiers der Gottheit Vishnu soll der Pfau entstanden sein.

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Indien / Leben

Ob arm oder reich: Unterhaltung in Indien ist lautstarke Meinungskundgabe Von Akshay Patak Etwas Allgemeingültiges über Indien formulieren zu wol-

Akshay Patak ist 23 Jahre alt und lebt als freier Journalist in Delhi. Bisher war er als Deutschlehrer für internationale Unternehmen, Übersetzer und Redakteur tätig. Im vergangenen Jahr kam er im Rahmen des Kulturmittler-Programms des Goethe-Instituts nach Deutschland.

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len, gleicht einem intellektuellen Selbstmordversuch. Das gilt für sämtliche Autoren und Journalisten weltweit. Andererseits kann man natürlich nicht vom Versuch einer Verallgemeinerung absehen, angesichts einer Nation, in der jeder noch so kleine Prozentsatz eine enorme Zahl von Menschen darstellt. Eine allgemeine Vorstellung von Kunst und Kunstbedürfnis festzulegen fällt schwer. Was verstehen die Menschen in Indien also unter Unterhaltung? Hier kann es sich nicht um einen landesweiten Überblick handeln, ein paar Einblicke lassen sich trotz der Vielfalt aber vornehmen – Einblicke in die verschiedenen Arten und Weisen, wie sich die Menschen hier für Kunst und Unterhaltung interessieren. Raipur, Chattisgarh – eine typische Szene in einer indischen Kleinstadt: Vor einem verfallenen Gebäude, das eigentlich ein großes Kino ist, haben sich lange Schlangen gebildet. Die heiß ersehnte Filmpremiere eines neuen Kassenmagneten wird fast zwangsläufig die Gespräche für die nächsten Wochen bestimmen. Die Tickets sind zum begehrten Objekt geworden. Eine kleine Mafia verhökert die wenigen Restkarten über Kioske und Schwarzhändler zu überhöhten Preisen. Im Saal geht es alles andere als ruhig zu. Sobald der Film läuft, wird laut dazwischengerufen und gegrölt. Die Tonspur geht völlig in der allgemeinen Lautstärke unter. Hier haben wir es mit der ersten Reaktion, der ersten Kritik eines grundehrlichen Publikums zu tun. Was gemeinhin als „Mainstream“ gebrandmarkt wird, tobt sich hier aus und unterscheidet schnell in Schwarz und Weiß. Ist der Film sein Geld nicht wert, hagelt es Beschimpfungen. Oder der Saal wird vorzeitig verlassen. Neu-Delhi – ein Filmfestival in einer reichen Gegend im Süden der Stadt: Die Schlangen vor dem Auditorium bestehen aus Intellektuellen in indischer Kleidung moderner Machart, bis hin zu Leuten, die zur Gucci-Prada-Fraktion gehören. Alle halten sie Ausschau nach jemandem mit Einfluss, nach dem städtischen Pendant zur Kioskmafia. Offensichtlich ist dies eine Gelegenheit, den neuesten Klatsch mitzubekommen. Nach einer langen Wartezeit und einigen Sicherheitsschleusen betritt man das Auditorium, dessen laut brabbelnde Atmosphäre der einer angesagten Cocktailparty gleicht. Eine Aura des Besonderen scheint

über dem Ganzen zu liegen, etwas, das über den Film hinausgeht, vor allem wenn dieser für viele der anwesenden Leute keinen wirklichen Sinn ergibt. So passiert es, dass einige den Film nur zur Hälfte sehen, lieber den Saal verlassen, um einen anderen, „wichtigeren“ Film des Festivals noch mitnehmen zu können. Was wiederum zu missbilligendem Grummeln führt. Einmal draußen, beginnt das Völkchen der Aussteiger sich über die cineastischen Mittel auszutauschen, mit denen der Regisseur seinen „postmodernen und gewalttätigen“ Intentionen Ausdruck verleiht. Die anschließende Party hat natürlich nichts mehr mit dem Film zu tun. Hier geht es mehr um den Champagner und um größere Themen und Probleme wie zum Beispiel die des kränkelnden, „unterentwickelten“, ländlichen Indiens. Der Kulturkonsum unterscheidet sich nicht nur in diesen in der Anlage gleichen, letztlich aber völlig verschiedenen Situationen. Er verändert sich innerhalb der Gesellschaft und hängt erheblich von Faktoren wie Tradition, Religion, Durchschnittseinkommen und regionalen Bedingungen ab. Was überrascht ist die große Rolle, die die Unterhaltung in diesem Land spielt. Verglichen mit dem strukturstarken und kritischen Westen, wurde Indien nämlich aus dem Chaos geboren. Wirklich verblüffend ist das indische Vermögen, noch im größten Wirrwarr einen Sinn zu erkennen. So gesehen, besitzt Indien eigene Ansprüche an Kunst und Unterhaltung, und kann sich darüber hinaus Fremdes zu Eigen machen, ob freiwillig oder nicht. Bei meinen Besuchen in Deutschland habe ich gesehen, wie Kulturmanagement dort funktioniert und wie sehr sich dies von meinem Land unterscheidet. So begeistert ich von der Aufmerksamkeit in Gestalt von Geld und Hingabe war, die in Deutschland der Kultur gewidmet wird, so verwundert war ich auch über das ständige Jammern über fehlende Mittel. Tatsächlich ist es überaus interessant, diese zwei verschiedenen Kulturen in all ihren Aspekten zu beobachten. Es ist, als ob sich diese so gegensätzlichen Kulturen beide der Realität verweigerten. In Hindi gibt es das Wort „mela“, grob mit „Tohuwabohu“ zu übersetzen. Dieses Wort scheint der gemeinsame Nenner zu sein, unter dem sich alles Indische fassen lässt. Ich denke, die gesunde Lösung liegt in der Mitte, irgendwo zwischen Unordnung und Ordnung. Andererseits findet sich oft gerade in dieser in Indien vorherrschenden Unordnung die Schönheit des Lebens. Und schön sollte das Leben doch sein.

Aus dem Englischen von René Hamann

Foto: privat

Mitgemacht, mitgelacht

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Indien / Leben

Experimentiergeister Indische Kunst verkauft sich prima in der ganzen Welt. Dabei fragen sich die Künstler selbst, was eigentlich indisch ist Von Deeksha Nath

Foto: privat

Deeksha Nath, geboren 1976 in Mumbai (Bombay), ist Kunsthistorikerin und freischaffende Kuratorin. Sie hat in Baroda (Westindien) und London studiert und in der Tate Gallery London sowie dem NGMA in Neu-Delhi gearbeitet. Sie ist Chefredakteurin des Online-Magazins www. craftrevivaltrust.org. Derzeit schreibt sie an einem Buch über die Textildruckkunst aus der Provinz Madhya Pradesh. Sie lebt in Neu-Delhi.

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nelt. Die Schaukästen, aus denen die Arbeit besteht, zeigen jedoch keine Erinnerungsstücke aus dem Hause und Leben Gandhis, sondern menschliche Überreste und Reste von Besitztümern aus den hinduistisch-muslimischen Unruhen in Indien. Beide Künstler verwenden unterschiedlichste Ausdrucksformen, um sich der Ikone Mahatma Gandhi zu nähern, jüngste Unruhen zwischen Bevölkerungsgruppen im Land zu beklagen und die Inhaltslosigkeit von Indiens Behauptung, eine „säkulare“ Nation zu sein, aufzuzeigen. Sharmila Samant, Gründungsmitglied der Künstlerinitiative Open Circle, hinterfragt beständig den Globalisierungsprozess. Ihr Werk kritisiert, dass die Globalisierung zwar angeblich eine Weltordnung schaffe, die sich dank eines kulturellen Austauschs auf gegenseitiges Verständnis stütze und die durch eine freie ökonomische Struktur vereinfacht werde. In Wirklichkeit führe die Globalisierung jedoch zu einer weltweiten Homogenisierung von Kultur und Gesellschaft, so dass die Vielfalt der Lebensstile bedroht sei. Eine ihrer Videoarbeiten „Global Clones“ veranschaulicht auf prägnante Weise die geographischen Wanderungen von Menschen und ihre materiellen Ambitionen. Unter Verwendung der Morphing-Technik zeigt das Video stetig

Der indische Kunstmarkt boomt. Kunstwerke indischer Künstler verkaufen sich zu astronomischen Summen und Arbeiten begehrter Künstler werden schon im Vorhinein bestellt. Galerien mit indischer Kunst eröffnen in London, New York, Singapur und Hong Kong. Die zeitgenössische Kunst Indiens zeichnet sich durch eine enorme Vielfalt von Verfahren und Visionen aus, die konventionelle Abgrenzungen hinsichtlich des Gebrauchs von Bildern und Medien und ihrer Interpretation verschwimmen lassen. Aufgrund dieser Vielfalt kann man nicht von einer einzelnen „authentischen“ Vision von indischer Kunst sprechen. Die Koexistenz verschiedener Identitäten – individueller, regionaler, nationaler, globaler – ist ein wiederkehrendes Thema in den Arbeiten vieler Künstler: Was ist indisch? Wer ist indisch? Kann man gleichzeitig indisch und noch etwas anderes sein? Gibt es ein homogenes „Indisch“? Künstler wie Atul Dodiya und Justin Ponmany sind Beispiele für diese Diversität. Ponmanys Im Frontalzusammenstoß von Kunst und vorrangiges Interesse gilt Salz, wobei er dieses Gesellschaft liegt eine große Ehrlichkeit Thema von den unterschiedlichsten Seiten angeht. Sein Ausgangspunkt ist Salz als biologischer Bestandteil des menschlichen Körpers. Gleichzeitig ineinander übergehende Bilder der Fußbekleidung verbezieht er auch die zerstörerische Seite dieser Substanz mit schiedener Gruppen auf der Seidenstraße, angefangen bei ein und verweist auf die langsame, durch den Seewind be- handgearbeiteten Ledersandalen und endend bei einem dingte Erosion von Gebäuden und Objekten der Küstenstadt Paar Nike-Turnschuhe. Die Forderung, die Heterogenität Mumbai. Schließlich untersucht er die Rolle von Salz bei der der indischen Gesellschaft zu bewahren, findet sich auch Ausformung des indischen Selbstverständnisses: In seinem in der Filmtrilogie von Amar Kanwar. Darin zeigt er, dass allerersten Video „What is Salt if it Loses its Saltiness“ stellt nationale oder persönliche Identitäten, die um SchlagwörPonmany den „Dandi-Marsch“ dar, den Mahatma Gandhi ter wie Inder-sein oder Hindu-sein kreisen, nicht nur auf im Jahr 1930 als Protest gegen die durch die Briten einge- Religion, Sprache oder Geographie basieren. Sie beziehen führte Salzsteuer unternahm. Dieser Marsch steht in der sich auch auf historische Konflikte und Abgrenzungen indischen Geschichte für die Formulierung der Idee einer zwischen den Bevölkerungsgruppen. Nation und die Forderung nach Selbstbestimmung: Der Im Frontalzusammenstoß von Kunst und Gesellschaft in Salzmarsch wurde zum Freiheitsmarsch. Ponmony lässt Indien liegt eine mächtige Ehrlichkeit. Indische Kunst heute jedoch das Bild eines verwirrten Anführers entstehen, ist geprägt von einem beständigen Experimentiergeist, der der schwer zu fassenden Salzkörnern nachjagt, und hin- Verschiedenheit und Individualität aufrechterhält und förterfragt damit die Nachhaltigkeit der Ideale von zivilem dert. Indem sie auf ihre kulturellen Unterschiede verweisen, Ungehorsam mit friedlichen Mitteln, die der Dandi-Marsch erzwingen Künstler eine Anerkennung vielstimmiger ästhebeinhaltete. Dodiya, der früher das Bild Gandhis auf Stra- tischer Empfindungen innerhalb wie außerhalb Indiens. ßenfensterläden malte, produzierte 2002 die Installation Aus dem Englischen von Annalena Heber „Broken Branches“. Sie erschafft einen Raum, der einem Gandhi gewidmeten Museum in Porbandar, Gujarat, äh-

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Indien / Leben

„Es ist aufregender, Fremde zu fotografieren“

Lord Snowdon wurde 1930 als Antony Armstrong-Jones geboren. Als Fotograf spezialisierte er sich auf Mode, Design, Theater und berühmte Persönlichkeiten. In erster Ehe war er mit Prinzessin Margaret verheiratet. Publikationen: „Photographs by Snowdon. A Retrospective“ (National Portrait Gallery, London, 2000). Zur Buchmesse erscheint „India by Snowdon“ (Khemka Foundation).

Lord Snowdon, wir zeigen in dieser Ausgabe Ihre Bilder von Menschen aus Indien, die in ihren Berufen sehr erfolgreich sind. Erstaunlich ist, dass sie alle auf den Fotos unglaublich entspannt aussehen. Ja, das waren sie. Und das war sehr schön. Manche waren natürlich trotzdem Angeber. Sehen Sie sich diesen Mann hier an (siehe Seite 60). Ich wollte, dass er seine Schuhe auszieht. Er ist einer der reichsten Männer Indiens. Aber er kann sich keine Schuhe leisten. (lacht) Wie schnell finden Sie heraus, ob einer Ihnen was vorspielt oder ob er sich natürlich verhält? Meistens weiß man es ziemlich schnell. Es ist eine Frage des Vertrauens. Man muss eine Verbindung herstellen können. Wann waren Sie das erste Mal in Indien? 1966, für eine Strecke für die Sunday Times. Und dann wieder 1984, als Set-Fotograf für David Leans Film „Eine Reise nach Indien“. Was hat sich seither verändert? Als wir jetzt kürzlich in Indien waren, dachte ich zuerst, es hat sich gar nichts verändert: Nach wie vor wimmelt es überall von Menschen, die Gebäude sind immer noch ziemlich uninspirierend, und der Verkehr ist unglaublich. Aber als ich dann die Leute traf, merkte ich den riesigen Unterschied. Sie waren im Auftrag der Khemka Foundation dort, einer indischen Stiftung, die sich für Gesundheit, Bildung und soziale Projekte einsetzt. Sie sollten Aufsteiger fotografieren, Menschen, die etwas erreicht haben. Genau. Wir wollten den Erfolg

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zeigen, und die Menschen, die Indien zu dem machen, was es heute ist: ein moderner Kontinent. Ich habe also nicht die bekannten Dinge fotografiert: Amerikaner, die in Reisfeldern Vorlesungen halten oder Kinder, die betteln. Ich habe dieses Mal überhaupt keine Armut fotografiert. Bei meinen früheren Besuchen war die Atmosphäre anders, da kamen oft Leute an die Tür und baten um Geld. Das war jetzt nicht mehr so. Aber es gibt natürlich immer noch sehr viele arme Menschen in Indien. Ich habe nicht viel Armut auf meiner letzten Reise gesehen. Ich hatte mehr mit Überfluss und Erfolg zu tun. Also nicht der erste Fotoauftrag dieser Art für mich. Wie ist es heute, als Engländer nach Indien zu fahren? Es ist nicht mehr viel von der Wut übrig. Welcher Ort hat Ihnen besonders gefallen? Ich mochte den Süden sehr, Kerala. Da war ich jetzt zum ersten Mal. Ist es anders, Menschen in Indien zu fotografieren als, zum Beispiel, Europäer? Nö. Man braucht nur mehr Scheinwerfer. Je dunkler die Haut, desto mehr Licht braucht man als Fotograf. Sie sind berühmt für Ihre Bilder der High Society, zu der Sie selbst gehören. Ist es leichter für Sie, Ihre Freunde zu fotografieren oder Fremde? Fremde. Warum? Es ist aufregender. Aber selbst, wenn man Menschen fotografiert, die man gut kennt, findet man meistens irgendeine Kleinigkeit, die man vorher noch nie bemerkt hat. Du willst sie auch unbedingt finden und sichtbar machen. Gelingt Ihnen das immer? Es ist sehr wichtig, sehr viel über eine Person zu recherchieren, bevor man sie fotografiert. Man kann nicht einfach hingehen und auf den Knopf drücken. Ich lese sehr viel über die Leute, bevor ich sie treffe. Sie haben viele berühmte Menschen fotografiert: Marlene Dietrich, Rudolf Nurejew, Richard Burton. Große Künstler gelten oft als schwierige Charaktere. Ach, ich weiß nicht, eigentlich ist es eher das Gegenteil. Je berühmter die Leute sind, desto höher ist die Wahr-

Foto: Anthony Powell

Ein Treffen mit Lord Snowdon in seinem Londoner Haus, um über seine Bilder berühmter Inder zu sprechen. Snowdon, 76, bekannt für Fotos aus und ein Leben in der High Society, genießt auch heute noch gern. Wie man sich am exzellenten Aroma eines Brandy erfreut, demonstriert er später im Restaurant, indem er seiner Gesprächspartnerin einen Schwall in die Hände gießt.

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Zahlen und Fakten

scheinlichkeit, dass sie pünktlich erscheinen. Kleine, junge Popstars hingegen neigen dazu, zu spät zu kommen. Sie fotografieren nie von ganz nah, Sie halten immer eine gewisse Distanz. Es hängt davon ab, ob jemand Mundgeruch hat oder nicht. (lacht) Wissen Sie, ich möchte die Leute nicht von so nah sehen, möchten Sie das? Es ist auch einfach unhöflich. Und ich kann mich so nicht auf jemanden konzentrieren. Geraten Sie manchmal in Streit mit den Menschen, die Sie fotografieren? Wenn ich vergesse, den Film einzulegen, ja. Das ist mir allerdings noch nie passiert. Fotografieren Sie lieber in Farbe oder Schwarzweiß? Ich mag beides. Aber ich sehe nicht in Farben. Tun Sie das? Ich denke schon. Machen Sie die Augen zu! Welche Farbe hat die Decke? Vielleicht ein dunkles Rot? Sehr gut. Die Decke ist weiß. Weiter. Was ist auf meinem Schreibtisch? Sehr viele Papiere. Und ein Glas Wein. Richtig. Wissen Sie, das ist ein sehr gutes Spiel. Ich spiele es mit allen, die sich bei mir als Foto-Assistenten vorstellen. Wann haben Sie begonnen zu fotografieren? 1934. Da waren Sie vier. Richtig. Als Sie etwas älter waren, haben Sie dann Architektur studiert, wurden schließlich aber Fotograf. Wie kam das? Das war sehr leicht. Wie denn? Ich fiel durch die Architektur-Prüfungen. Das war sehr leicht. Ich habe später ein einziges Gebäude gebaut, für den Londoner Zoo, eine Voliere. Es macht mir auch heute noch großen Spaß, dort hindurchzugehen. Wie viel arbeiten Sie heute noch? Sehr viel. Eigentlich jeden Tag. Außer sonntags. Das Interview führte Jenny Friedrich-Freksa Kulturaustausch 1v/06

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Einwohner: mit 1,1 Milliarden nach China das bevölkerungsreichste Land der Welt Hauptstadt: Neu-Delhi Staatsoberhaupt: Dr. A.P.J. Abdul Kalam (seit Juli 2002) Regierungschef und Außenminister: Dr. Manmohan Singh (seit Mai 2004) Staatsform: Demokratisch Föderale Republik, laut Verfassung von 1950 Parteien: Die Regierungspartei „Congress“ ist die stärkste Partei der Regierungskoalition „United Progressive Alliance“, Oppositionsparteien Bharatiya Janata Party (BJP), Biju Janata Dal (BJD), Shiv Sena (SS) u.a. Unabhängigkeit: seit 15. August 1947 Die größten Städte und ihre Einwohner: Mumbai (Bombay) 11,9 Millionen, Delhi 10,2 Millionen, Kolkata (Kalkutta) 4,6 Millionen, Chennai (Madras) 4,3 Millionen, Bangalore 4,3 Millionen, Hyderabad 3,6 Millionen, 32 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 15 Jahre Bevölkerungsdichte: 363 Einwohner/Quadratkilometer, das Bevölkerungswachstum liegt bei 1,51 Prozent, 28 Prozent aller Inder leben in Städten Fruchtbarkeitsrate: 2,9 Geburten/Frau Größe des Landes: 3.287.000 Quadratkilometer, entspricht in etwa neunmal der Fläche Deutschlands Nachbarstaaten: Bangladesch, Bhutan, Myanmar, China, Nepal, Pakistan, Grenze in Kaschmir umstritten. Weitere natürliche Grenzen: Arabisches Meer im Westen, Golf von Bengalen im Osten, Indischer Ozean im Süden, Küstenlinie: 7.516km Landessprachen: Hindi, Englisch, dazu 22 anerkannte Regionalsprachen Religionen: 80,5 Prozent Hindus, 13,4 Prozent Muslime, 2,3 Prozent Christen, 1,8 Prozent Sikhs sowie Buddhisten, Jainisten und Parsen Kinderunterernährung: 47 Prozent Kinderarbeit: 11 Prozent Frauenanteil an den Beschäftigten: 32,6 Prozent Lebenserwartung: Männer 63 Jahre, Frauen 64 Jahre Schulpflicht: neunjährige Grundschule Einschulungsquote: 83 Prozent Analphabetenrate: Männer 32 Prozent, Frauen 55 Prozent Universitäten: 231 Währung: Indische Rupie. 1 €= 54 INR Wachstumsrate des BIP: 6,9 Prozent BSP/Kopf: 720 US$ Arbeitslosenquote: 4,3 Prozent Inflationsrate: 2,9 Prozent Rohstoffe: Eisenerz, Diamanten, Kohle, Zink, Blei Landwirtschaft: Weizen, Reis, Zuckerrohr, Tee, Kartoffeln, Tabak, Baumwolle Wichtige Industriezweige: Nahrungsmittelindustrie, Textilindustrie, Maschinenbau, Elektroindustrie, Fahrzeugbau Export: Schmuck 16,9 Prozent, Treibstoffe 5,8 Prozent, Eisen und Stahl 4,1 Prozent Hauptausfuhrländer: USA (18,o Prozent), Vereinigte Arabische Emirate (8,0 Prozent), Hongkong (5,1 Prozent) Handelsbilanzsaldo: -11,183 Milliarden US$ (2003) Wehrpflicht: keine, drittgrößte Berufsarmee der Welt nach den USA und China mit 1,325 Millionen Soldaten Zugverkehr: Indiens Schienennetz ist 63.221 Kilometer lang und damit knapp hinter China das zweitlängste der Welt. Die indische Eisenbahn ist mit 1,6 Millionen Beschäftigten der größte Arbeitgeber des Landes. Internationale Flughäfen: 11 Tourismus: 2,726 Millionen Besucher (2003), Einnahmen: 4,128 Milliarden US$ (2003) Medien: auf 1000 Einwohner kommen 120 Radios, 83 Fernsehgeräte, 41 Telefonanschlüsse, 44 Mobiltelefone, 12 PCs und 32 Internet-Nutzer; die größten Tageszeitungen und ihre Auflagen: Dainik Jagran 2,6 Millionen, The Times of India 2,2 Millionen, Dainik Bhaskar 1,5 Millionen, Malayala Manorama 1,3 Millionen Quellen: Spiegel Online; Stefan Loose Travel Handbücher; Auswärtiges Amt

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„Unsere Kultur in Indien ist keine, in der man sich gegenseitig etwas missgönnt. Ich denke wir sind ein sehr respektvolles Volk, was manchmal dazu neigt unterwürfig zu sein, aber das ist die Schönheit Indiens. “ Vijay Mallya ist Vorsitzender bei der United Beverages Group, die mit dem Kingfisher Bier berühmt wurde. Seine talentierte Vermarktung machte die UB Group zum drittgrößten Bierhersteller der Welt und Mallya zu einem der reichsten Männer Indiens. Sein Unternehmen breitet sich nun auch in andere Bereiche aus, seit einigen Jahren hat es eine eigene Airline. Mallya lebt in Bangalore.

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„Delhi ist eine multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft, das heißt, selbst ein Mikrokosmos Indiens. “ Sheila Dikshit, die amtierende Ministerpräsidentin Delhis, versucht ihre Stadt zu einer boomenden Metropole zu konvertieren. Die 68-jährige Politikerin des Indian National Congress ist bekannt für ihr Großmutter-Image und ihre Eloquenz.

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Magazin In Europa

Forum

Hochschule

Kulturprogramme

Bücher

Gemeinsam statt einsam Europäische Kulturinstitute schließen sich zusammen

Neue Landkarte der Konflikte Zur Lage der Auswärtigen Kulturpolitik

Netzakademie Wie das Internet in Kamerun beim Studieren hilft

Lasterhafter Alltag Wie Brummifahrer auf der Straße Theater machen

Emigration ist nicht die Lösung Tahar Ben Jelloun im Interview

Ein Denkmal gebaut Das Weltkulturerbe-Manual der UNESCO

Festung Europa Saskia Sassen und Binyavanga Wainaina über die Migration aus Afrika

Lernen mit Kalaschnikow Sicherheitserziehung an Russlands Universitäten

Trautes Heim In den USA bekommen alte Menschen das, was sie brauchen

Im Rotlichtviertel Hira Mandi – ein Bildungsroman aus Pakistan

„Afrikaner im Vorstand“ Die südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer erklärt, weshalb Afrika für Europa so interessant ist und warum auch Afrikaner Chefs sein sollen

Zu Beginn dieses Jahres bereiste der deutsche Bundespräsident Horst Köhler Afrika, letztes Jahr setzte der englische Premierminister Tony Blair das Thema ganz oben auf die Tagesordnung. Braucht Afrika die europäische Aufmerksamkeit? Ich sehe das anders. Weil Afrika von verschiedenen Völkern kolonialisiert wurde, gab es immer nur das Hin und Her zwischen SüdNord, Nord-Süd. Afrika schaute nach Europa, auf all die europäischen Standards, auf all das, was an Europa erstrebenswert war: von trivialen Dingen wie Mode bis zu wichtigen Dingen wie wirtschaftliche Strukturen und Handel. Nun kommt Bewegung in die Sache: Der afrikanische Kontinent entwickelt eine immer stärkere Einheit und enge wirtschaftliche und politische Beziehungen der afrikanischen Länder untereinander. Inzwischen gibt es die Afrikanische Union und andere politische Organisationen, die Handel und kulturellen Austausch fördern. Die Nord-SüdAchse wurde durch engere Beziehungen zu Brasilien und anderen lateinamerikanischen Staaten abgelöst. Mit diesen Ländern haben wir viel gemeinsam: unsere Kolonial-Vergangenheit, die Unterentwicklung, den Wunsch nach Entwicklung. Vor allem aber müssen wir dafür sorgen, dass unsere Rohstoffe nicht einfach abgepumpt werden, von Europa aufgekauft und gewinnbringend zum Endprodukt gefertigt werden, sondern wir müssen sie selbst im Land verarbeiten.

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Gibt es ein neues afrikanisches Selbstbewusstsein – und damit einhergehend, einen neuen europäischen Blick auf Afrika? Das müssen Sie die Europäer fragen. Aber sicher, Afrika wird jetzt als ein wichtiger Teil der Welt wahrgenommen, nicht mehr als ein Irgendwo, ein kleines koloniales Eigentum. Afrika hat natürlich viele wichtige natürliche Rohstoffe, etwa Öl und Uran. Früher ging es nur um Gold, jetzt nicht mehr. Wir alle wissen von der Ölkrise. Europa interessiert sich jetzt sehr für jedes Land mit Ölvorkommen im Boden oder im Meer. Afrika steht jetzt auch mit Indien und China in engen wirtschaftlichen Beziehungen. Entwickelt sich Afrika zu einem neuen weltpolitischen Partner? Ja, das kann man so sagen. Der Kontinent wird nun auch von den großen Jungs ernst genommen. Leider passieren hier immer noch schlimme Dinge. Zunächst sind da diese ewigen Konflikte. Und wir haben korrupte Regierungen – etwa die in Simbabwe, wo Herr Mugabe dieses wunderschöne Land, den Garten der Region, auf die Knie zwingt und ruiniert. Daran, wie die Einheit unseres Kontinents vorangetrieben wird, habe ich eigentlich nichts auszusetzen, außer dass ich die „Peer Reviews“ der Afrikanischen Union kritisiere. Die sollen ja so funktonieren: Im Falle von antidemokratischen Bewegungen in Ländern der Afrikanischen Union ermahnen sich die Staatschefs dieser Länder gegenseitig

als Peers – als Partner – und ziehen sich zur Rechenschaft. So soll der Kontinent umfassend demokratisiert werden. Aber noch greift niemand wirklich durch. Die Peers sagen etwa: „Dieser oder jener handelt falsch, wenn er die Pressefreiheit einschränkt“, aber ernsthafte Strafmaßnahmen bleiben aus. Sie fühlen sich als Brüder: Sie sind schwarz, sie wurden Jahrzehnte lang unterdrückt. Daher fällt es ihnen schwer, sich gewissermaßen gegeneinander zu stellen, obwohl das dringend notwendig wäre. Bisher sind die Peer Reviews noch sehr uneffektiv. Prinzipien sind gut und schön, aber ihnen müssen auch Taten folgen. Wie könnten die Peer Reviews besser funktionieren? Es ist gut, dass es sie gibt. Wichtig ist, dass wir nicht darauf warten, dass uns der Rest der Welt kontrolliert. Wir müssen unser Haus, den afrikanischen Kontinent, alleine aufräumen. Wohin geht es für Afrika? Tja, wohin geht es mit der Welt? Die Umweltverschmutzung ist unser gemeinsames Problem. Amerika zum Beispiel verbraucht unglaubliche Mengen an globalen Energievorräten. Die Industriestaaten sollten erst einmal vor ihrer eigenen Haustür kehren. Nun sind wir auch dabei, uns zu entwickeln, und es besteht die Gefahr, dass wir auch Umweltver-

Über uns hängt, wie über der ganzen Welt, die nukleare Bedrohung schmutzer werden. Überall auf der Welt stehen wir vor der kommenden Wasser-, Kraftstoffund Stromknappheit. Die Frage ist, ob mit den Ölreserven zukünftig genug Energie erzeugt werden kann. Deshalb wird überall nach Öl Kulturaustausch 1v/06

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gesucht – verstärkt auch in unterentwickelten Ländern, wo die Ressourcen bisher vernachlässigt wurden. Und über uns hängt, das ist klar, die nukleare Bedrohung. Diese Sorgen teilen wir mit der ganzen Welt. Wir leben nicht mehr in der Isolation. Und wie verändern sich globale Akteure, etwa Handelsorganisationen? Globalisierung erscheint erstrebenswert, aber noch funktioniert sie nur sehr, sehr fehlerhaft. Bisher profitieren nur die reichen Länder von ihr. Aber so sieht die weltweite Entwicklung aus, und wir müssen daran teilhaben. Jedes Land hängt an der ganzen Welt. Ja. Überleben ist unser gemeinsames Problem.

Foto: Reuters

Was bringt Afrika in diese globalisierte Beziehung, die weltweite Partnerschaft, ein? Wir sollten den Tatsachen ins Auge sehen: Abgesehen von Bodenschätzen und landwirtschaftlichen Produkten, können wir ein Riesenpotenzial menschlicher Arbeitskraft und Kompetenz einbringen. Wir brauchen mehr Investitionen mit einer bestimmten Komponente: Wenn beispielsweise eine deutsche Firma ein Motorenwerk errichtet, sollte die regionale Bevölkerung nicht nur auf dem niedrigsten Lohnniveau, als Zuarbeiter, beschäftigt werden. Die Verträge beinhalten häufig, dass die Unternehmen ihre eigenen Experten aus dem Ausland mitbringen. Wir freuen uns, dass sie kommen. Aber die internationalen Firmen sollten ihre eigenen Maßstäbe nur dann anwenden können, wenn sie auch die Ortsansässigen mit einbinden und darauf vorbereiten, die Führung zu übernehmen. Ich meine nicht, dass sie auch finanziell alles übernehmen sollten, dass also der Betrieb in das Eigentum des Landes übergeht. Aber sie sollten auch im Vorstand sitzen, Direktor werden: mit anderen Worten, den Laden schmeißen können.

Afrikaner sollten auch Chefs sein. Genau. Sie sollten auch für höhere Positionen ausgebildet werden. Wir haben jetzt viel über Bodenschätze gesprochen. Natürlich gibt es in Afrika auch kulturelle Schätze. Wie steht es beispielsweise um die afrikanische Literatur? Das hängt natürlich vom Talent des jeweiligen Künstlers ab. Wir haben einige wunderbare, weltberühmte Autoren wie Chinua Achebe und Wole Soyinka. In jedem Land der Welt leben hervorragende Schriftsteller, die reflektieren und tief in das Leben des Landes, zu dem sie gehören, eintauchen. Andere befinden sich einfach auf einem anderen Level der Berühmtheit. Es ist unglaublich wichtig, dass Autoren die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln. Wie könnte man den afrikanischen Autoren von Europa aus helfen? Eine Sache, über die ich mir in meinem eigenen Land Sorgen mache, ist das Fehlen literarischer Zeitungen und Magazine, in denen junge Leute ihre eigene Arbeit erstmalig

publiziert sehen können. Nur so bekommt man einen objektiveren Blick. Man entwickelt sich, andere können Kritik üben – und das hilft wieder der eigenen Entwicklung. Natürlich ist alles, was mit Bildung zu tun hat, bei uns willkommen. Aber die Künste sind auch ein wichtiger Teil der Bildung. Wenn man afrikanische Literatur unterstützen will, wäre es ein Kleines, uns Geld für die Gründung einiger Literatur-Magazine zu geben. Es besteht noch eine andere Gefahr: Ich nenne sie „Pocket-Television“. Menschen lenken sich heute durch Bilder ab. Kinder lesen immer weniger. Wie ist das in Deutschland? Und ein weiterer Aspekt ist wichtig, wenn wir über die Zusammenarbeit zwischen Europa und Afrika reden. Mehr Übersetzungen! Viele, die so wie ich nie Deutsch gelernt haben, wären nie in der Lage gewesen, die wunderbare deutsche zeitgenössische Literatur zu lesen, wenn es keine Übersetzungen gegeben hätte. Übersetzungen sind sehr wichtig, und ich würde mir wünschen, dass die Verlage viel stärker zusammenarbeiten. Das Interview führten Valentina Heck und Nikola Richter

Selbstbewusst: Nadine Gordimer, 1923 geboren, erhielt 1991 den Nobelpreis für Literatur. Sie lebt in Südafrika.

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Die Stille vor dem Schuss

herum. Andere tun das Gleiche.“ In einem Live-Webjam (www.beirut.streamtime.org) zeichneten Yassin, Kerbaj und andere Künstler Beiruts ein beeindruckendes audiovisuelles Wie libanesische Musiker die Geräusche des Krieges verarbeiten Bild des Krieges. Wir hören Mazen Kerbaj auf seiner Trompete gegen den Motorenlärm der Von Thomas Burkhalter israelischen Flieger anspielen, „Starry Nights“ heißt der MP3-File. Der Gitarrist Charbel Haber stellt „summerdrone“ vor, ein Dröhnen von Gitarren und Kriegsflugzeugen. Er Gelb ist die Farbe der Hizbullah. Auch die pro-israelische Meldungen verlesen. Israeli- wolle der Situation möglichst nahe kommen, syrische Hauptstadt Damaskus ist an vielen sche Musiker nutzten die Propaganda-Lieder sagt er, der Monotonie, dem Ausgeliefertsein: Ecken gelb. Man kann Hizbullah-Flaggen und und Videos der Hizbullah als manipulierbares „Die Zukunft ist nicht mehr in deiner Hand, Schnickschnack kaufen. An den Markständen Material für Gegen-Kompositionen. Nasrallah sie ist in der Hand von Politikern. Du kannst dröhnt die Widerstandsmusik der Hizbullah erhielt sogar einen eigenen Song: „Yallah nichts mehr tun, um den Lauf der Dinge zu aus kleinen Boxen. Ihr Chef Hassan Nasrallah, o Nasrallah, wir werden dich zermalmen, verändern.“ Die Musiker haben mit dazu beidie Flagge seiner „Partei Gottes“ und manch- inshallah“. Substanzieller Widerstand gegen getragen, dass die Weltöffentlichkeit Beirut als mal eine Libanon-Fahne zieren die Cover der Krieg und Propaganda kam von Musikerinnen offene, spannende Stadt wahrgenommen hat. CDs, die für wenige Cent feilgeboten werden. und Musikern der aufstrebenden, vielfältigen Ob die subkulturellen Sounds in Zukunft ein Auf einer CD sind patriotische Lieder mit den Beiruter Subkulturszene, viele von ihnen substanzielles Gegengewicht zur Propaganda Reden Nasrallahs zu einem Medley gemixt. während des libanesischen Bürgerkriegs gebo- geben können, wird sich zeigen. Die meisten Den Auftakt machen laute Paukenschläge: ren. Die Hörerinnerungen aus ihrer Kindheit Musiker Beiruts würden gerne Musik machen, „Wenn ihr die vielen Libanesen in israelischen prägen ihr heutiges musikalisches Schaffen, die für sich spricht und nicht vom Krieg. Gefängnissen freibekommen wollt, so müsst wie genau, ist vielen allerdings unklar. „Wahrihr israelische Soldaten schnappen. Es ist scheinlich imitiere ich auf meiner Trompete Thomas Burkhalter lebt in Beirut, wo er über unsere Pflicht, Israelis gefangen zu nehmen, die Geräusche aus meiner Kindheit. Ich habe Musik im Libanon promoviert. Er schreibt unter nichts ist klarer als das“, schreit Nasrallah. zudem eine spezielle Beziehung zur Stille. anderem für die Neue Zürcher Zeitung. Daraufhin singt ein Männerchor ein Hohelied Stille ist zwar ein Synonym für Frieden, aber auf den Widerstand. Eine strahlende, helle Stille war immer auch bedrohlich: Ein Warten Männerstimme setzt ein. Sie singt zu wilden auf den nächsten Bombenhagel“, erzählt der Geigen, dass sich der Ruf des Muezzins und die Trompeter und Comiczeichner Mazen Kerbaj. Glocken der Kirche umarmen werden. Nasral- Auf seiner Solo-CD „brt vrt zrt krt t“ zischt, lah versichert, wiederum zu Paukenschlägen, grunzt, gurgelt seine Trompete in höchsten er werde an der Seite des libanesischen Volkes und tiefsten Lagen, oft mehrstimmig, rhythstehen und Libanon vor jeglicher Art von misch immer präzise. Der Trompetensound im Besatzung verteidigen: „Politische Analysten Stück „Tagadagadaga“ erinnert an die Salven wollen Libanon neu definieren und näher an eines Maschinengewehrs. In „Taga of Daga“ die USA und Israel heranführen. Wir werden rattern die Rotoren eines Hubschraubers. Raed das verhindern.“ Ein anderes Stück ist domi- Yassin sammelte Radioaufnahmen aus dem niert von Trommelwirbeln, breiten Synthesi- libanesischen Bürgerkrieg, und er hörte auch zer-Flächen und Gewehrschüssen: „Sie haben im neuen Krieg ganz genau hin. „Ich nehme mein Heim zerstört, aber meinen Willen alles auf, was ich im Radio höre und bastle nicht. Sie haben meinen Sohn getötet, aber Soundcollagen daraus. Das ist meine Art von ich bleibe stark. Ich werde immer auf meine Widerstand. Ich will leben und atmen“, sagt Gegner schießen.“ Pompöse Fanfaren-Musik er. Sein jüngstes Kriegsstück „Day 13“ ist eine und Gewehrsalven untermauern die Worte: Kakophonie aus Kriegsgeräuschen, politischen „Ob ich sterbe oder am Leben bleibe ist egal: Reden, Propaganda-Musik, Werbejingles, poliMeine Feinde werden auf immer und ewig tischen Analysen und Störgeräuschen. Chaos, verdammt sein.“ Der Krieg zwischen Israel und gemixt aus verschiedenen Soundeffekten. der Hizbullah war auch ein Krieg der Medien. „Wir sind zurück im Zeitalter des Radios. Oft Cartoon aus dem Libanon-Krieg:„von hier aus Israel störte immer wieder libanesische TV- gibt es keinen Strom mehr“, erzählt Yassin. hören wir nur die Flugzeuge/ VVVVVSSSHSHund Radio-Programme, unvermittelt wurden „Ich trage immer ein Transistorradio mit mir SHSHSSSS/ und den Rest denken wir uns dazu“ 64

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Magazin

Islamic Banking Kein Glücksspiel, Zinsverbot, islamische Aktienfonds: Finanz-Transaktionen nach islamischem Recht sind auf dem Vormarsch Von Klaus Hachmeier

Foto: Zeichnung von Mazen Kerbaj, www.mazenkerblog.blogspot.com

Der Begriff „Islamic Finance“ hat sich mittler-

weile auch im Deutschen als Ausdruck für ein umfassendes System islamisch geprägter geschäftlicher Transaktionen durchgesetzt. Eng verwandt und fast genauso häufig anzutreffen ist der Ausdruck „Islamic Banking“, der die in vielen Fällen zentrale Rolle der Banken in diesem Feld dokumentiert. Nun lässt sich aus den islamischen Quellen – und dazu zählen neben dem Koran vor allem die tradierten Überlieferungen über die frühe islamische Gemeinde um den Propheten Muhammad – schwerlich ein umfassendes Wirtschaftssystem konstruieren. Zumindest kristallisieren sich gewisse Grundzüge heraus, die für den Islam eine Art „soziale Marktwirtschaft“ nahe legen: Während anerkannt wird, dass durch kaufmännisches Handeln Gewinn und Wohlstand erzielt werden dürfen (ökonomisch gesehen spricht dies für das Recht auf Privateigentum und eine freie Preisbildung durch Angebot und Nachfrage), werden deutlich auch die sozialen Verpflichtungen, wie die Spende an Arme und Bedürftige, betont. Beispiele: „Wenn am Freitag zum rituellen Gebet gerufen wird, dann lauft, Gottes zu gedenken, und lasst das Kaufgeschäft so lange ruhen!“ (Koran 62: 9-10) – „Ihr Gläubigen! Gebt Spenden von den guten Dingen, die ihr (im Erdenleben) erworben habt, und von dem, was wir die Erde für euch haben hervorbringen lassen!“ (Koran 2:267). Westliche (auch muslimische) Islamwissenschaftler weisen auf den historischen Hintergrund der koranischen Offenbarung im Umfeld der Handelsstadt Mekka hin. Nach konservativer islamischer Auslegung ist der Koran das unverfälschte Wort Gottes, das unabhängig von räumlichen und zeitlichen Beschränkungen Gültigkeit besitzt. Darüber hinaus finden sich einige stärker fassbare Einschränkungen, die das wirtschaftliche Leben berühren. Die erste Kulturaustausch 1v/06

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betrifft das generelle Verbot von Glücksspielen, welches aus dem koranischen Verbot des „maisir“ hergeleitet wird: ein Spiel, bei dem mit Pfeilen um die besten Stücke geschlachteter Kamele gespielt wurde. Aus den islamischen Quellen leitet sich ein Verbot spekulativen Handelns („gharar“) ab, wie man es bei kurzfristigen Spekulanten, die vorübergehende Kursschwankungen ausnutzen wollen, zu sehen glaubt. Die folgenschwerste Einschränkung durch das islamische Regelwerk ist zweifellos das Verbot von „riba“, das vielfach und nicht völlig korrekt als allgemeines Zinsverbot aufgefasst wird. Dieses Wort von umstrittener Herkunft wird im Koran im Zusammenhang mit Geldleihern genannt, die exzessive Zinsen verlangen, und kann als „Wucherzins“ übersetzt werden. Heute wird das Verbot so interpretiert, dass keine Zinsen für gewährte Kredite erhoben werden dürfen. Dagegen sind zinsähnliche Strukturen bei Verkaufstransaktionen erlaubt: Zahlt jemand beispielsweise für ein Objekt später, erkennen islamische Juristen an, dass als Entgelt für die zeitliche Geldüberlassung ein Preisaufschlag angemessen ist. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts traten die ersten Vorläufer des heutigen „Islamic Bankings“ auf. 1963 gründete etwa der Ägypter Dr. Ahmad al-Najjar, inspiriert durch die westdeutschen Genossenschaftsbanken, eine Bank im Nildelta, die vollkommen auf Zinsgeschäfte verzichtete und die Kundeneinlagen gänzlich in Beteiligungsmodelle oder in eigene Handelsaktivitäten investierte. Das Experiment endete wenige Jahre später unter ominösen Umständen, wohl einer finanziellen Schieflage. Die islamischen Republiken Sudan, Pakistan und Iran haben weite Teile ihres Staatssystems, darunter auch die Banken, islamischen Regeln unterworfen. Die stärkste Dynamik in diesem Feld kommt heute aus den

arabischen Golfstaaten sowie aus Malaysia, wo islamische und „konventionelle“ Banken in freier Konkurrenz stehen und Erstere bereits einen Marktanteil von bis zu 20 Prozent mit rasant steigender Tendenz erobert haben. Zunehmend bieten auch westliche Bankinstitute eigene islamische Produkte aus eigenen islamischen Produktabteilungen an. Mittlerweile finden sich Dinge wie islamische Kreditkarten, islamische Aktienfonds und Unternehmensanleihen auf dem Markt. Kritisiert wird, dass islamische Produkte oft nur die konventionellen imitieren und somit bis auf den Namen keine eigenen islamischen Charakteristika aufweisen. Dies trifft gerade für Produkte zu, die zinsähnliche Strukturen nachbilden. Ein Immobilienkredit wird zum Beispiel durch die „murabaha“-Transaktion nachgebildet, in der die Bank die Immobilie oft nur für eine Sekunde erwirbt und direkt an den Endkäufer gegen Ratenzahlung weiterveräußert; die Kaufraten werden so kalkuliert, dass sie den Zinszahlungen des klassischen Immobilienkredits entsprechen. Kritiker fordern, solche kreditäquivalenten Strukturen einzuschränken oder ganz abzuschaffen; es soll dann nur noch zinslose Kredite oder Geldanlagen mit voller Gewinn- und Verlustbeteiligung („mudaraba“) geben. Dagegen ist einzuwenden, dass der Durchschnittshaushalt für größere Anschaffungen (Haus, Auto, Stereoanlage) oft zur Geldaufnahme gezwungen ist, weil der Kauf nicht auf einen Schlag vom eigenen Konto bezahlt werden kann. Sofern diese Anschaffungen einzig dem Eigenkonsum gelten, kommt „mudaraba“ nicht infrage, da keine Gewinne anfallen. Der Erfolg von „Islamic Finance“ wird davon abhängen, ob islamische Produktalternativen entstehen, die über die bloße Konformität mit dem islamischen Recht (das wie andere Rechtssysteme auch mehr oder weniger f lexibel gehandhabt werden kann) hinaus die Bedürfnisse der breiteren islamischen Bevölkerung ansprechen. Dr. Klaus Hachmeier lebt in Frankfurt und arbeitet für die BHF-Bank, die gerade eine Filiale in Abu Dhabi eröffnet hat. Er ist Islamwissenschaftler und Volkswirt.

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In Europa

Gemeinsam statt einsam Europäische Kulturinstitute: Ohne Zusammenarbeit geht gar nichts mehr Von Wolfgang Schneider

In Luxemburg gibt es ein trinationales Kul-

turinstitut, in Kiew zogen vor einiger Zeit das Goethe-Institut und das British Council in ein gemeinsames Haus und in Genua entsteht derzeit ein multinationales Kulturzentrum. Weitere Beispiele für die transnationale Zusammenarbeit von Kulturinstituten kommen aus Paris („Forum des Instituts Culturels Etrangers à Paris“), Amsterdam und Wien: Es wird deutlich, wie sehr die bisherigen Vernetzungen auf Metropolen beschränkt sind. Da überrascht die Gründung eines Netzwerkes europäischer Kulturinstitute, das eine wirkungsvolle Kulturpolitik durch europaweite Zusammenarbeit anzustreben gedenkt. Am 23. Juni 2006 tagten rund 100 Vertreter von Kulturinstitutionen aus 24 europäischen Staaten im Auswärtigen Amt in Berlin. Hinter verschlossenen Türen vereinigte man sich zur European Union of National Institutions for Culture (EUNIC). Während die bisherigen Debatten um eine europäische Kulturpolitik allzu sehr um die Frage kreisten: „Was kann Europa für die Kultur tun?“ scheint sich mit der Etablierung von EUNIC ein Paradigmenwechsel anzukündigen. Die entscheidende Frage lautet nun: „Was kann Kultur für Europa tun?“ Und das wiederum wird vor allem über die Inhalte zu definieren sein. Europäische Kulturpolitik bedarf der kritischen Reflexion. Sie muss einer Symbolik entsagen, wie sie die Tage oder Wochen der europäischen Kultur prägen, wie sie sich mittels zahlreicher europäischer Filmfestivals zeigt oder wie sie gelegentlich auch in Diskursveranstaltungen vorkommt. Es ist zu wenig, wenn die seit 2003 existierende Gemeinschaft Europäischer Kulturinstitute einmal im Jahr die Pforten ihrer Häuser öffnen lässt und verschiedene europäische Nationen zu Ausstellungen sowie Einzelveranstaltungen 66

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einladen. Wenn Europa als das verbindende Gemeinsame zum Gegenstand der Politik werden soll, genügen schon lange nicht mehr die additiven Präsentationen. Es bedarf der integrativen Projekte, wie sie etwa in Berlin mit einem Programm über Sinti und Roma exemplarisch aufgezeigt wurden. Nur verhalten wurden diese Punkte auf dem Berliner Treffen angesprochen. Es fehlten die kritischen Stimmen, die deutlich machen, dass mit rein additiven Aktivitäten zukünftig kein (europäischer) Staat zu machen sein wird. Das Kulturprogramm von Morgen wird auf Zusammenarbeit setzen müssen, sicher weit mehr als sich dies Sir David Green, Direktor des British Council und spiritus rectus von EUNIC mit dem Begriff der „Patchwork-Programme“ als Zukunftsmodell vorstellen konnte. Ein „Flickenteppich“ mit aneinander geknüpften Aktivitäten entfaltet erst dann seine Wirkung, wenn eine thematische Verbundenheit hergestellt wird und sich Zusammenhänge aufzeigen. Immerhin sprach Green als Vertreter jener europäischen Kulturinstitute, die gerade in den letzten Jahren eine eher nationale Kultur- und vor allem Sprachenpolitik zum Ziel hatten. Seine deutlichen Worte an die Politiker waren deshalb von besonderer Brisanz: Multinationale Zusammenarbeit verstärke die binationale Kooperation und sei in Hinblick auf die globalisierte Welt notwendig, um sich der großen Herausforderungen zu stellen, mit außereuropäischen Kulturen, etwa der Asiens, Afrikas oder der des Nahen Ostens zusammenzuarbeiten. Der Weg scheint vorgezeichnet zu sein: von der Koordination über die Kooperation zur Koproduktion. Aber ist die jeweilige nationale Auswärtige Kulturpolitik so weit, dies mit zu tragen? Gibt es dazu klare Aussagen, klare Ziele, klare Vorgaben? Auch dieser Komplex kam in Berlin zu kurz. Kaum einer fragte

danach, was im Ausland ausgestellt wird, welche Musik bei den Projekten eine Rolle spielt, wie die Vermittlung von Theater stattfindet. Denn noch immer geht es doch vorrangig um den Export. Der Austausch wird gepredigt, gepf legt wird die Präsentation. Wer sich einmal der Mühe unterzieht, die Jahresberichte der Kulturinstitute zu analysieren, wird feststellen, dass der weitaus größte Teil der Veranstaltungen von Theateraufführungen, Lesungen, Filmvorführungen, Vorträgen und Kunstausstellungen geprägt ist – also schon in der Form sehr eindimensional strukturiert ist. Es wird etwas demonstriert, aber wie intensiv ist die Kommunikation angelegt? Wo bleibt der Austausch im Sinne eines Prozesses? Und was entsteht Neues, wenn das Programm vorrangig den Konsum bedient? Das aktuellste skandalöse Beispiel aus deutscher Sicht ist das Programm „Deutschland in Japan“, das der „nachhaltigen Werbung für die Marke Deutschland“ dienen sollte, wie es in der Selbstdarstellung im Internet zu lesen war. Ein Sammelsurium an Veranstaltungen als Konzept? „Lifestyle“ als Programm? Auswärtige Kultupolitik als PR-Instrument? Denn es waren nicht etwa die Kulturvermittler, die mit der Konzeption betraut wurden, es waren Wirtschaftslobbyisten und eher kulturferne Organisatoren, die mit Modenschau und Glamourpartys einen bunten Cocktail mixten, in dem auch die Künste ein bisschen schillern durften. Kein Wunder, dass auf der Konferenz kaum einer der Beteiligten auf konkrete Projekte zu sprechen kam. Alle sind sie nämlich auch Beteiligte der bisherigen Praxis und kennen wahrscheinlich nur zu gut auch die Fehler aus der Vergangenheit. Diese Einigkeit findet sich noch nicht in Strukturen und Schwerpunktsetzungen der europäischen Kulturinstitute. Sie sind nicht nur unterschiedlich organisiert – als Vereine, als Abteilung der Botschaft oder als so genannte Mittlerorganisationen, sie sind auch in ihrer Programmarbeit indifferent und insbesondere in der Sprachpolitik meist eher separatistisch. In vielen Ländern sind Auswärtige Kulturpolitik und Entwicklungspolitik noch immer zwei voneinander getrennte Politikbereiche. Da könnten die nordischen Länder mit ihren Agenturen für Entwicklungszusammenarbeit Impulse geben: Sie berücksichtigen nicht nur Kulturaustausch 1v/06

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In Europa

Foto: Deckelfolie gedruckt bei NYCO flexible packaging

die Hilfe zur Selbsthilfe beim Bau von Infrastrukturen, sondern auch zur Sicherung kultureller Identität. Und dass es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht nur um die Finanzierung der Institutionalisierung von Kulturprogrammen gehen sollte, muss sicher auch noch in der Arbeit von EUNIC Selbstverständlichkeit werden. „Man solle nicht beklagen, dass Institute geschlossen werden“, bemerkte Pius Knüssel, Direktor der Schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia, provokativ. „Wir sollten lieber denen Mut machen, die an anderen Kulturen interessiert sind.“ Umso mutiger erscheint der Aufbruch zu neuen Ufern. Hans-Georg Knopp, Generalsekretär des Goethe-Instituts, propagierte die stärkere Verknüpfung von Kulturinnen- und Kulturaussenpolitik: „Vielleicht könnte man daraus folgern, dass staatliche Förderung der grenzüberschreitenden europäischen Kulturkooperation heute viel mehr innenkulturpolitische als außenkulturpolitische Aspekte mit sich bringt? Und dass darum die Begründung für unsere Arbeit als nationale europäische Kulturinstitute am ehesten aus einer europäischen innenpolitischen Perspektive abzuleiten wäre.“ Sein Grundsatz in der Kulturarbeit lautet „Europa mitzudenken“. Und dies würde mittlerweile auch schon strukturell beherzigt werden. Alternativen Vermittlungsstrukturen gehört die Zukunft. Und er meinte damit nicht nur die Staatsferne von Kulturpolitik, sondern sicher auch kleinere Netzwerke. Der große Schirm ist hinfort aufgespannt. Die Bedeutung dieser bemerkenswerten Initiative wird sich in der konkreten Programmarbeit beweisen müssen. Prof. Dr. Wolfgang Schneider ist Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und Sachverständiges Mitglied der Enquête-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages.

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Wir haben uns ein Denkmal gebaut Wie wird ein Ort zum Welterbe? Das Welterbe-Manual weiß, wie es geht Ich würde gerne meine Straße als Weltkulturerbe vorschlagen. Sie befindet sich im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Ich lebe gerne in diesem „sozialen Brennpunkt“. Hier kann ich Wasserpfeife rauchen, elsässische Flammkuchen essen oder im angrenzenden Park Grillkulturen studieren. Niemand wird mir ein Messer in den Rücken rammen. Eher bekomme ich Messer geschenkt: Immer liegt passabler Sperrmüll auf der Straße. Ich möchte diese No-Go-Area zu einer Must-Go-Area machen. Helfen würde dabei das Kulturerbe-Logo, das man auf Gratispostkarten drucken könnte. Mit meinem lokalen Denken liege ich auch auf der Höhe der Welterbe-Forschung. Auf der Tagung „Heritage Education“, die im Juni in Cottbus stattfand, betonte die Stiftungskonservatorin Gabriele Horn, wie wichtig Identifikation sei. Wenn lokale Gruppen den Status ihres Erbes schätzten – man könnte mit „attraktiven Hinweisschildern“ nachhelfen –, würden sie etwa die Potsdamer Gärten nicht bloß als Erholungsort für Picknicken, Grillen und Statuenklettern nutzen. Nein, sie würden das Außergewöhnliche der Anlagen bemerken. Doch kommt meine Idee überhaupt für ein Welterbe in Frage? Oder gar, falls noch mehr Kohleöfen wegsaniert werden, für die „Rote Liste“, mit der die UNESCO gefährdetes Welterbe ausweist? Im Juli 2006 wurde das Dresdner Elbtal auf die Rote Liste geschrieben, um den Bau der „Waldschlösschenbrücke“ zu verhindern, die den Dresdner Verkehr entlasten soll. Denn die Brücke könnte die einmalige Kulturlandschaft zerstören. Interessanterweise hatte im Juni 2004 ein UNESCO-Gutachter nichts gegen den Entwurf einzuwenden: Die Brücke sei „schlank ausgebildet“ und würde „tief“ liegen, „um die massive Wirkung in der Landschaft zu reduzieren“. Wie auch immer die Sache ausgeht, eines ist klar: Weltkulturerbe zu sein, zu werden oder zu bleiben bringt in jedem Fall eine angeregte Debatte in der Öffentlichkeit. Warum also nicht für meine charmante Straßenzeile? Der neueste deutsche Beitrag auf der Welterbeliste ist seit Juli 2006 die Altstadt von Regensburg. Ausgewählt als „außergewöhnliches Beispiel für eine intakte mittelalterliche Großstadt“, in der sich „auf engem Raum 984 Baudenkmäler“ reihen. Ich überschlage, welche Baudenkmäler sich in meiner Straße auf engem Raum reihen: Parkbänke, Mietshäuser,

Balkonkästen, Mülleimer und Verkehrsberuhigungsschwellen. Sind sie nicht Zeugnisse der modernen Metropole: der Verzahnung von Natur und Zivilisation, der Konsumkultur und Verbrauchermentalität, der sozialen Stratifikation und des Mobilitätsdenkens? Weil in Kreuzberg alles 100 Prozent Multikulti ist, erfüllt meine Straße die Kriterien „Einzigartigkeit“, sowie „Authentiztität“, die für einen Welterbestatus nötig sind. Ja: Sie hätte es verdient, zu den mehr als 30 deutschen Kulturerbestätten zu gehören. Was meine Straße noch mitbringen muss, damit meine Idee Erfolg hat, sagt mir ein neues Handbuch, das die deutsche UNESCO-Kommission herausgegeben hat. UNESCO-Experten schreiben über die Geschichte des Welterbes, die politischen Hintergründe, über Rechte und Pflichten der Besitzer, pädagogische Maßnahmen, Monitoring-Instrumente oder die „Globale Strategie“ für eine ausgewogene Welterbeliste, damit nicht über die Hälfte der 812 Welterbestätten in Europa und Nordafrika liegt, wie es noch 2005 der Fall war. Der Anhang enthält viele nützliche Dokumente, Richtlinien und Adressen. Und: Man erfährt in dem 341 Seiten dicken Band, wer Welterbestätten vorschlagen kann und wie der Antragsprozess abläuft, der mindestens 18 Monate dauert. Ich muss leider erfahren, dass in Deutschland nur die Kultusministerkonferenz Vorschlagsrecht hat. Und dass die 1998 verabschiedete Warteliste mit 21 deutschen Natur- und Kulturgütern bis 2010 gilt. Es bringt also gar nichts, wenn ich für den Antrag topographische Karten sammle, den Breiten- und Längengrad ausmesse oder einen Managementplan entwerfen. Aber schön, dass wir mal drüber gesprochen haben. Nikola Richter Welterbe-Manual. Handbuch zur Umsetzung der Welterbekonvention in Deutschland. Deutsche UNESCO-Kommission e.V., Bonn 2006.

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Neue Landkarte der Konflikte Ende Oktober findet im Auswärtigen Amt eine Konferenz zur Zukunft der Auswärtigen Kulturpolitik statt. Diskutiert werden sollen etwa die kulturelle Präsenz in den Weltregionen und der kulturpolitische Beitrag zur Konfliktprävention. Vor welcher globalen Bewährungsprobe steht die deutsche Außenkulturpolitik?

Auf eines kann man sich verlassen: Mit jedem Antritt legt. Wer wie Goethe-Generalsekretär Hans-Georg Knopp die Institute zu „einem vielgestaltigen Frieeines neuen Außenministers beginnt die aufgeregte densinstrument par excellence“ erklärte, muss seine Debatte über Aufgabe und Stellenwert der Auswärtigen Kulturpolitik aufs Neue. Das war unter JoschArbeit heute daran messen lassen. Und tatsächlich ka Fischer so; und unter Frank-Walter Steinmeier wird man dies für die Institute in Beirut und Ramallah ohne Frage in Anschlag bringen können. Aber ist es nicht anders. Mit einem kleinen und doch erheblichen Unterschied. Diesmal hatte es, ohne dass bedarf es dafür wirklich sechs Häuser in Frankreich die Debatte überhaupt erst richtig angehoben war, und sieben in Italien? Nein. Würde das Goethe-Institut tatsächlich seinen eigenen, oft ziemlich lauthals bereits die ersten Meldungen über Schließungen Albrecht von Lucke wurde artikulierten Ansprüchen gerecht, müsste es seine von Goethe-Instituten gegeben. „Kopenhagen macht 1967 geboren. Der Jurist Zelte längst in weiten Teilen Europas ab- und in andicht“, raunte es im Feuilleton – und schon stand und Politikwissenschaftler ist deren Weltregionen wieder aufgebaut haben. scheinbar die ganze Bildungselite des Landes Kopf. Redakteur der MonatszeitGewiss schoss Goethe-Präsidentin Limbach über Doch bevor man sich, wie der deutsche Schriftstel- schrift Blätter für deutsche und lerverband PEN, umstandslos in aufgeregten Solida- internationale Politik. Er lebt das Ziel hinaus, als sie Anfang April gegenüber der in Berlin. ritätsadressen für die betroffenen Kollegen ergeht, Süddeutschen Zeitung Europa gleichsam als kulturell sollte man sich das Positive dieser Überlegungen bebefriedet erklärte, weil „inzwischen“ alle Europäer wusst machen. In Deutschland ist derzeit eine echte Diskussion „die Grundsätze des modernen Verfassungsstaats“ akzeptierten. über die Bedeutung von Kulturpolitik in Gang gekommen – und Schon ein Blick auf die Debatte zwischen Polen und Deutschland zwar in einer Dringlichkeit, wie es sie in dieser Weise wohl noch über ein künftiges europäisches Zentrum gegen Vertreibungen nicht gegeben hat. Schon deshalb gebührt Frank-Walter Steinmeier belegt, dass man, allen Aussöhnungsbemühungen zum Trotz, von für seine Verschärfung der Lage Dank. Könnte es also tatsächlich echtem Verständnis für die Bedürfnisse des Nachbarn weit entfernt eine „Trendwende“ geben? Zugegeben, sein Versuch einer Neude- ist – und zwar auf beiden Seiten. Schon was die Verständigung über finition Auswärtiger Kulturpolitik, von der Brandt‘schen „Säule die blutige Vergangenheit angeht, sind nicht nur Deutsche und deutscher Außenpolitik“ zum „Brückenpfeiler“, lässt noch einiges Polen meilenweit voneinander entfernt – von einer gemeinsamen an inhaltlicher Konkretisierung vermissen. Doch gerade bei der europäischen Zukunft ganz zu schweigen. Dennoch: Im Kern hat gegenwärtig diskutierten geographischen Verschiebung von Ins- Limbach völlig Recht, wenn sie die „vornehmste Funktion“ der Goetituten geht es tatsächlich um eine grundlegende Definition der the-Institute heute darin sieht, „in Regionen und Staaten kulturell zu Inhalte Auswärtiger Kulturpolitik. Doch weder handelt es sich bei wirken, wo überhaupt erst ein gemeinsamer Verständigungshorizont der Schließung einzelner Institute um einen gänzlichen „Rückzug erarbeitet werden muss, um Konflikte gewaltfrei zu lösen“. aus Europa“, zu dem der Sachverhalt von interessierter Seite sofort hochbeschworen wurde; noch geht es darum, lediglich den neoli- Davon kann aber, zumindest in Westeuropa, zum Glück nicht mehr beralen ökonomischen Imperativen zu genügen, die schon lange ernsthaft die Rede sein. Im Gegenteil: Hier hat sich, so die ganz gen Osten drängen. Im Mittelpunkt der Debatte muss vielmehr spezifische Erfolgsgeschichte der Auswärtigen Kulturpolitik, dieder Wille stehen, dem eigenen, selbstdefinierten Anspruch Aus- se selbst überflüssig gemacht. Denn dass Kulturpolitik durchaus wärtiger Kulturpolitik gerecht zu werden. Denn die Latte der eige- friedensfördernd sein kann, beweist ein Blick in die europäische nen Aufgaben hat die Politik selbst in der Vergangenheit hochge- Kulturgeschichte der letzten 60 Jahre. Nach dem Ende des Zweiten

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Foto: Jörn von Lucke

Von Albrecht von Lucke

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Weltkrieges war es nicht zuletzt der Kulturaustausch, der aus einstigen Todfeinden Freunde machte. Doch was Politiker als Pioniere anstießen, leistet längst die Zivilgesellschaft aus eigenem Antrieb, seit jedes Gymnasium einen gut funktionierenden Schüleraustausch mit England und Frankreich betreibt. Spätestens der gemeinsame Aufruf von Jürgen Habermas und Jacques Derrida gegen den Irakkrieg und die US-amerikanische Hegemonialpolitik hat gezeigt, dass es sich selbst bei dem in Intellektuellenkreisen so heftig diskutierten, angeblich so unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Moderne und Postmoderne eher um graduelle Unterschiede handelte.

Wohlfahrtsstaates und die Entfeindung vormals unversöhnlicher Gegner in der Außenpolitik, erst in Westeuropa und im Zuge der Entspannungspolitik auch gegenüber den Osteuropäern. Um der globalen Verfeindung doch noch zu wehren, bleibt deshalb der Blick in die Geschichte der europäischen Kulturpolitik essentiell notwendig. Gerade in Europa konnte man nach 1945 den subversiven Charakter von Kultur studieren. Zu Hochzeiten des Kalten Krieges war es gerade die Kulturpolitik, die den Eisernen Vorhang durchlässig für freien Gedankenverkehr machte. Die westeuropäischen Botschaften und „Vertretungen“ wurden zu Fluchtburgen der Dissidenten und ihres revolutionären Freiheitsdrangs.

Die eigentlichen Kulturkämpfe werden heute längst ganz woanders ausgetragen, auf einer neueren Landkarte der Kulturen und ihrer Konflikte. Fortgesetzter Staatszerfall in Afrika und das Aufleben ethnischer Konflikte, wachsender Nationalismus in Südostasien, nicht nur zwischen den beiden Koreas, sondern auch zwischen den Regionalmächten Japan und China, zunehmender Fundamentalismus in der islamischen Welt, das weiterhin ungelöste Problem zwischen Israel und Palästina, aber auch zwischen Indien und Pakistan, und schließlich drohende Ressourcenkriege zwischen der absteigenden Hegemonialmacht USA und den bereits absehbaren Konkurrenten China und Russland – allen diesen Konflikten ist eines gemeinsam: Kommunikation und friedliche Streitschlichtung werden immer schwieriger, während das radikale FreundFeind-Denken immer mehr die Oberhand gewinnt. Karten zum Zwecke kriegerischer „Konfliktbewältigung“ gibt es deshalb längst, die wohl bekannteste ist jene „Pentagon’s New Map“ von Thomas P. M. Barnett, Professor am U.S. Naval War College und Berater von Verteidigungsminister Rumsfeld. Nach den Anschlägen vom 11. September veröffentlichte er eine Landkarte „künftiger Konfliktherde und Interventionspunkte“, 19 an der Zahl (vergleiche „Blätter für deutsche und internationale Politik“, Mai 2003). Mit Hilfe dieser Karte soll das Pentagon die gefährlichen „Lücken“ der Weltgesellschaft beseitigen und isolierte Länder einbinden, gegebenenfalls mit Gewalt. Parallel dazu existieren längst spiegelbildliche Terror-Karten, mit denen Al-Qaida den globalen Dschihad propagiert.

Doch bekanntlich hat sich die Welt seit dem 9.11.1989 und dem 11.9.2001 fundamental verändert. Nicht, dass dies das beschrieene „Ende der Geschichte“ bedeutet hätte, schon gar nicht in Bezug auf das Denken und den kulturellen Austausch. Aber wie hochpolitisch kultureller Austausch beschaffen sein kann, lässt sich heute nicht primär in Europa, sondern zum Beispiel im Iran studieren. Dort saß bis vor wenigen Wochen mit Ramin Jahanbegloo der vielleicht wichtigste Importeur westlichen Gedankenguts im berüchtigten Evin-Gefängnis von Teheran. Was dem Philosophen, jenseits des absurden Spionage-Vorwurfs, tatsächlich zur Last gelegt wurde? Schlicht der Kontakt mit dem Westen, der Versuch, durch Diskussionsveranstaltungen, zum Beispiel mit Jürgen Habermas und Richard Rorty, westliches, freiheitliches Denken in den radikalislamistischen Gottesstaat zu importieren, um einen aufgeklärten Dialog zwischen Ost und West in die Wege zu leiten. Schwer gezeichnet von der Haft wurde Jahanbegloo schließlich entlassen – allerdings nur unter der Auflage, Teheran in Richtung Indien zu verlassen. Diese Art, sich der Ruhestörer durch Abschiebung zu entledigen, ist einem aus der deutschen Geschichte nach 1945 nur allzu vertraut. Umso mehr zeigt dieses Beispiel, dass sich heute in diesem neuen, immer näher rückenden Osten wird beweisen müssen, ob der drohende „clash of civilisations“ doch noch in einen Dialog der Kulturen zu überführen ist. Hier könnte gerade deutscher und europäischer Kulturaustausch eine entscheidende Rolle spielen, um die verhärteten Fronten zwischen dem Mullahregime und den Vereinigten Staaten des George W. Bush vielleicht doch noch zu lockern, vor einer bereits absehbaren kriegerischen Entladung. An dieser Stelle kann „interkultureller Dialog“ in der Tat zu einer Frage von Krieg und Frieden werden. Aus demselben Grunde wurde, völlig zu Recht, auch der Eröffnung eines Lesesaales in Pjöngjang durch das Goethe-Institut weltweit Beachtung geschenkt. Immerhin handelt es sich dabei um die erste ausländische Kultureinrichtung in einem Land, in dem der Konsum ausländischer Medienprodukte nach wie vor als schwerwiegendes Verbrechen geahndet wird. Während die harte Diplomatie in den Atom-Verhandlungen mit Pjöngjang immer wieder an ihre Grenzen stößt, könnte der weiche Kulturaustausch auch hier Wandel durch Annäherung an westliche

Spätestens seit „Nine Eleven“ befinden wir uns offensichtlich an ei-

ner Weggabelung der Geschichte: hin zu immer größerer Verfeindung, wofür gegenwärtig eine Menge spricht, oder zu friedlichem Interessenausgleich. Von dieser Zäsur wird auch Europa nicht unberührt bleiben, wie bereits die Beispiele Iran und Libanon zeigen. Im Gegenteil: In dem Maße, in dem uns der Nahe Osten mit seinen Konflikten immer näher rückt, steht eben das auf dem Spiel, was Europa nach 1945 leisten konnte, nicht zuletzt dank der Unterstützung durch die Vereinigten Staaten: die soziale Befriedung im Innenpolitischen durch den Ausbau des sozial-interventionistischen Kulturaustausch 1v/06

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Lebens- und Konsummuster wirksam befördern. Sowohl Iran als auch Nordkorea zeigen also, dass Kulturpolitik nichts an ihrer Subversivität verloren hat – wenn sie ihre eigenen Ansprüche ernst nimmt und sich den globalen Brennpunkten zuwendet. Dafür kommt es aber darauf an, den vorherrschenden Eurozentrismus zu beenden. Europa ist, zum Glück möchte man sagen, nicht mehr der „Nabel der Welt“, jedenfalls was die kulturellen Konflikte anbelangt.

ihren vor allem ökonomisch ausgerichteten Leitfragen lässt da keineswegs nur Gutes erahnen. Allein auf die neue „schwarz-rotgeile“ Marke Deutschland zu setzen, wird das intellektuelle Vakuum kaum kitten. Im Gegenteil: Nicht erst seit der Weltmeisterschaft macht sich allzu große Selbstzufriedenheit breit, die Freude an der farbenprächtigen Republik verspricht jedoch gerade nicht die dringend erforderliche kulturelle Unruhe.

Das aber macht Kulturpolitik nicht per se obsolet, im Gegenteil. Die Auswärtige Kulturpolitik steht heute vor ihrer größten, nämlich globalen Bewährungsprobe. Andere haben das längst begriffen – und starten ihre ganz spezifischen Kulturrevolutionen. So will das Reich der Mitte mit zahllosen Konfuzius-Instituten in den Kampf um die kulturelle Hegemonie eintreten. Doch auch auf dem alten Kontinent ist die Botschaft längst angekommen. Sogar die habituell durchaus konservativen Briten haben umgesattelt und investieren längst nur noch außerhalb Europas. Überspitzt könnte man sagen, dass das alte Empire eben noch weiß, wozu Kulturexport gut sein kann. Nur die deutsche Kulturnation, 200 Jahre nach Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, lieber sentimental zurückstatt politisch vorausblickend, scheint sich mit dem kulturellen Biedermeier weiter zufrieden geben zu wollen. Gewiss ist es schön, wenn das Goethe-Institut in Westeuropa so manchem Kulturbeflissenen ein auskömmliches und diskursives Leben garantiert und wenn in jeder zweiten Auslandsdelegation heute auch ein so genannter Kreativer an Bord ist, um die wirtschaftlichen Interessen des

Lohnender als der Blick auf die inhaltsleere „Marke Deutschland“ wäre deshalb die Erinnerung an das „Modell Deutschland“ der alten Bundesrepublik, das durchaus zu einem „Modell Europa“ zu erweitern wäre. Über 60 Jahre profitierten Westeuropa im Allgemeinen und die Bundesrepublik im Besonderen von einer „Friedensdividende“, die auch aus einer mühsam erlernten Kultur des Friedens erwuchs. Das ist ein kulturelles Kapital, das nicht im lediglich Ökonomischen aufgeht. Das „Modell Europa“ ist heute weit mehr als die „Marke Deutschland“, es steht für die Befriedung nach innen wie nach außen. Insbesondere Deutschland verkörpert heute, bei aller berechtigter Kritik im Einzelnen, eine gelungene Integrationspolitik – gegenüber seinen Bürgern und Nachbarn. Wie sehr diese Tradition heute weltweit anerkannt wird, zeigt sich unter anderem gegenwärtig im Nahen Osten, wo Europa und speziell Deutschland als Mittler hochgefragt sind. Gleiches gilt für Korea, das in seinen Vereinigungsbestrebungen vor allem an Deutschland Maß nimmt. Und wenn zwischen Japan und China erst jener Aussöhnungsprozess einsetzte, der in Europa nach 1945 in die Wege geleitet wurde, wäre auch dieser Region sehr gedient. Schon deshalb sollte Alt-Europa nicht von seinem selbsterhobenen Anspruch lassen, im Wettstreit der An den Brennpunkten kultureller Konflikte Mächte durch seine historisch beglaubigte Strategie aufklärerisch und präsent tätig zu sein, müsste der Konfliktbewältigung auf das friedliche ZusamAnspruch unserer geistigen Elite sein menleben der Völker und Staaten hinzuwirken. Aus der globalen Problemlage wie aus der großen Tradeutschen Standorts ein wenig kultürlich zu bemänteln. Doch ihren dition europäischer Kulturpolitik wäre deshalb eines zu lernen. selbstgestellten Ansprüchen wird Auswärtige Kulturpolitik damit So sehr die Frage „Wie kommt Geld in die Kasse?“ heute berechtigt nicht gerecht. Deutschland, das selbst ausgerufene „Land der Ideen“, ist: Die in der Vergangenheit, aber auch zukünftig entscheidende sollte sich weder mit neo-biedermeierlichem WM-Patriotismus noch Dimension Auswärtiger Kulturpolitik wird nicht in kleiner Münmit plumpem Ökonomismus im Dienste der „Marke Deutschland“ ze zu verrechnen sein. Wenn man Kulturpolitik tatsächlich in der zufrieden geben. An den Brennpunkten der kulturellen Konflikte beschriebenen Weise als angewandte Friedenspolitik begreift, aufklärerisch tätig und präsent zu sein, müsste Anspruch gerade wird auch in Zukunft nicht jede Ausgabe sofortige Wirkung zeitigen, wird man mit Geduld auf den mittelfristigen Erfolg setzen seiner vorgeblichen geistigen Elite sein. Nein, man kann Frank-Walter Steinmeier nur dankbar sein. Die müssen. Ein derartiges kulturelles „investment“, das auf zivilisatofetten Jahre gleichermaßen distinguierter wie sinnleerer Konversa- rischen Fortschritt und Friedenssicherung ausgerichtet ist, dürfte tion sind auch in der Kulturpolitik vorbei. Die Auswärtige Kultur- jedoch jeden kurzfristigen Reputationsgewinn für den Standort politik zu einer Sache sui generis zu erklären, hilft da nicht weiter. Deutschland bei weitem übertreffen. Im Gegenteil: Rechtfertigungsdruck kann durchaus heilsam sein. Mehr noch: Nur der ambitionierte Wettstreit um das zukünftige Noch wird sich allerdings zu beweisen haben, wie es sich mit der friedliche Zusammenleben wird dem selbsterhobenen Anspruch operativen Umsetzung der „Trendwende“ verhält. Die kommende Alt-Europas gerecht. große Konferenz zur Zukunft der Auswärtigen Kulturpolitik mit

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Leserbriefe / KOMMENTAre

Rente futsch

studiere Kulturwirtschaft in Passau und finde oft studiumsrelevante Artikel und Informationen.

3/2006 – Die Zukunft der Stadt Die Welt von morgen: Turkmenistan

Anne-Marie Jentsch, Passau

Ihre Zeitschrift gefällt mir gut. Erschreckend ist die Nachricht, dass in Turkmenistan die Rente gestrichen wurde, und das sogar rückwirkend. Da fehlen einem ja die Worte.

Schreiben Sie uns einen Leserbrief an: leserbrief@ifa.de

Frank Cieszynski, Berlin

Klug gemacht

Riesiges Lob

3/2006 – Die Zukunft der Stadt

3/2006 – Die Zukunft der Stadt Ich abonniere die Zeitschrift „Kulturaustausch“ seit geraumer Zeit und möchte ein riesiges Lob an die Redaktion und alle an der Zeitschrift Beteiligten aussprechen. Meiner Meinung nach ist sie das informativste und zugleich spannendste Printmedium dieser Zeit. Ich

Wird die Zukunft verstopften Kreuzungen oder dem meditativen Fluss deutscher Autobahnen gleichen, werden ihre Landschaften zersiedelte Vororte oder steile Skylines sein? Solche Fragen stellt die klug gemachte und informative Zeitschrift „Kulturaustausch“. Die Antworten sind je nach Standort sehr verschie-

den. Während Stadtarchitekt Rem Koolhaas das nigerianische Lagos als Beispiel für eine lebhaft expandierende Stadt heranzieht, in der die Bewohner die Möglichkeit haben, „ihre Umgebung mitzugestalten“, erzählt der dort lehrende Umweltspezialist David Aradeon von der Anarchie einer Metropole, deren öffentliche Verwaltung längst zusammengebrochen ist. (...) Frei von nostalgischen Vorurteilen ist Iain Borden. Der britische Professor für Stadtkultur schlägt vor, der weltweiten Liebe zum Auto endlich Rechnung zu tragen und die Metropolen der Lust am Cruisen entsprechend einzurichten (...). Ingeborg Harms in Frankfurter Allgemeine Zeitung am 21. August 2006

Kulturaustausch Zuletzt erschienene Hefte: 3/2006 Die Zukunft der Stadt – Explodieren Schrumpfen Konkurrieren

2/2006 China – auf dem Weg nach oben 1/2006 Fernbeziehungen – Kommen wir zusammen?

3+4/2005 Deutschland von außen – Wie andere uns sehen

2/2005 Die Macht der Moral – Religion und Politik im 21. Jahrhundert 56. Jahrgang | 6 Euro

Herausgegeben vom Institut für Auslandsbeziehungen

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In dieser Ausgabe Rem Koolhaas: Ckj pkh B Ya[ Klaus Töpfer: :[h 9^WeifbWd[j Faisal Hamid: Feij#E_b#9_jo Sheela Patel: MWhkc m_h Ibkci XhWkY^[d Hartmut Häußermann: :_[ _Z[Wb[ Aecckd[

1/2005 Besser werden – Welchen Fortschritt wollen wir?

4/2004 Wissensgesellschaft – Kampf um kluge Köpfe

Minh-Khai Phan-Thi: ;ii[d c_j Z[d 7^d[d Roger Willemsen: <Wdi Z[h <W^d[ Claudia Schmölders: 8_bZ[h" Z_[ [heX[hd

3/2004 Die heimlichen Herrscher – Politik mit nationalen Bildern

und Stereotypen 2/2004

City

Weltsprache Musik – Wie global klingt die Welt?

Die Zukunft der Stadt ;nfbeZ_[h[d IY^hkcf\[d Aedakhh_[h[d

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Forum: Festung Europa

„Was sollt ihr nur tuuuun?“ Von Binyavanga Wainaina

Beziehungen. Ich hatte große Angst davor, in Kenia schaulichen Strand in Spanien an Land, wird nicht einen Neuanfang machen zu müssen. Meine durch von einem russischen Schiff auf dem Meer vor der Sozialhilfe abgefederte Armut in Südafrika war eine ghanaischen Küste über Bord geworfen, erstickt nicht sichere Sache. Ich kam nur deswegen nach Hause, weil auf dem Weg nach Frankfurt im Fahrwerk einer meine Mutter gestorben war. Boeing 747. Sie erreicht auch London nicht per FirstIch kann verstehen, dass viele sich vom Leben in Class-Flug aus Lagos, mit der Hälfte der Devisenbeeiner gedankenlosen europäischen Welt angezogen stände des eigenen Landes im Lederkoffer und einem fühlen, in der man Geschirr spült und Toiletten Termin bei einem plastischen Chirurgen. Wenn ich sauber macht und Angst hat, den Zug zu verpassen. Binyavanga Wainaina, geauf die Karte schaue, sehe ich 905 Millionen AfriEines der Versprechen Europas lautet schließlich, boren 1971, erhielt 2002 den kaner in 54 Staaten. Sie sind in den meisten Fällen man brauche sich nicht davor fürchten, durch eine Caine-Preis. Der kenianische Schwarzafrikaner wie ich. Für uns ist das nichts Be- Autor gründete das Literatur- winzige Gedankenlücke in die Tiefe gezogen zu wersonderes – aber für Europa und vor allem für Ame- magazin Kwani. Derzeit ist er den. Es könnte sein, dass sich viele gut ausgebildete rika schon. Dieses Besondere hat seine Wurzeln in Gastautor am Union College in Menschen aus irgendeinem Grund außerstande sehen, Schenectady, NY. der vielleicht einzigen Sache, die die meisten von uns in diesen gasförmigen afrikanischen Nationen zu leben. Warum die einen bleiben und andere fortgehen, Afrikanern gemeinsam haben: Es gab Zeiten, da wir alle eine spezifische Ware für die Neue Welt waren, ein Produkt lässt sich nicht anhand von Statistiken erklären: Ich kenne Leute, und keine Person, ein Markenname, der Muskeln, Durchhaltever- die in Kenia ein auskömmliches Leben haben, aber fest zu einem mögen und Fügsamkeit versprach. Später wurden der Erdteil, den Leben in vornehmer europäischer Armut entschlossen sind, sowie wir bewohnen, sowie sein gesamter Ressourcenvorrat und seine arme Leute, für die eine Auswanderung niemals infrage käme. Die ganze Bevölkerung auf überhasteten Konferenzen in Europa im meisten Entscheidungen gründen sich auf Träume, Hoffnungen und Jahr 1815 in Stücke aufgeteilt. Wünsche, gefühlte Ängste und erlebte Bedrohungen. Sie stammen Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man, eine die ganze Welt aus Gegenden des Herzens und des Denkens, in die die Stimme umspannende Nationengemeinschaft zu schaffen. Dazu steckte man der politischen Entscheidungsträger oder des Stacheldrahts nicht alle afrikanischen Länder, die nicht in Nationen lebten, kurzerhand vordringt. Und die gesamte Bevölkerung Afrikas steckt in einem in schlecht sitzende Nationalverkleidungen: 20-jährige Minister Possenspiel fest und schaut und hört sich possenhafte Diskussionen und Präsidenten, blitzgescheit und mit europäischer Ausbildung, eben darüber an, während sie gleichzeitig verzweifelt versucht eine Flagge, ein Parlament, ein bisschen Wechselgeld in US-Dollar, herumzurudern, zu verkaufen, zu graben, zu beten und sich einen ein Entwicklungsplan sowie eine verblüffte und skeptische neue kleinen und übersichtlichen Raum aufzubauen, in dem sich ein stetes Bürgerschaft. Dazu Europäer, die sich fürsorglich betätigten und und berechenbares Leben führen lässt. Wenn es einem gut geht, noch betätigen, und die den größten Teil der Hilfsgelder, die Afrika dann deshalb, weil er nach mehreren Anläufen an eine glückliche „empfängt“, auf ihre Bankkonten in Düsseldorf zurücküberweisen. Unternehmung geraten ist. Heute erleben wir das Aufkommen einer massiven Industrie des Der jüngste Schachzug der Europäischen Union, die Nach„Was sollen wir nur tuuuun?“. Sie unterstellt, es gebe eine gleich- kömmlinge jener glanzvollen 20-jährigen Minister mit einer Exberechtigte Diskussion zwischen souveränen Nationen und eine tra-„Hilfe“ zur „Nachhaltigen Entwicklung“ zu bestechen, um der erfolgreiche Verständigung über Entwicklung und internationale Migration nach Europa „entgegenzuwirken“, ist eine Lüge, die den Angelegenheiten. Eindruck erwecken soll, als könnte es so etwas wie einen „normaIch kann nur für mich selbst sprechen: Ich bin Kenianer, aber len“ Aktionsplan geben. In Wahrheit sorgt dieses Geld dafür, dass habe zehn Jahre in Südafrika gelebt, die längste Zeit illegal. Wer in diese Klasse an der Macht bleibt, und als Gegenleistung wird die Kenia bequem leben will, muss unablässig eine Reihe von Netzwer- führende Klasse dieser Nationen den Sicherheitskräften Europas ken am Laufen halten, denn die dortige Infrastruktur besteht nicht künftig dabei behilflich sein, die „illegale Einwanderung“ nach aus Banken, Straßen oder pünktlichen Eisenbahnen, sondern aus Europa zu stoppen. 72

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Foto: Jerry Riley

Die Mehrheit der Afrikaner geht nicht an einem be-

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Forum: Festung Europa

„Eine Mauer wird nicht funktionieren“ Von Saskia Sassen

Foto: Alan Rusbridger

Es war ein Novum: Am 10. Juli 2006 kamen führen-

die sambische Regierung an Schulden zurückzahlte, de Vertreter der über 50 Länder, die in die Eurostehen lediglich 37 Millionen Dollar für das Grundschulwesen gegenüber. Ghana brachte 75 Millionen päische Union Migranten entsenden oder welche aufnehmen, zusammen. Jahrzehntelang hatten sich Dollar für soziale Belange auf, während das Fünffache Entsendeländer in aller Welt dagegen gesträubt, sich in den Schuldendienst floss. Uganda wendete neun mit den Aufnahmeländern an einen Tisch zu setzen Dollar pro Kopf für Schulden und nur einen Dollar für und sich über Immigrationsfragen zu verständigen. die Gesundheitsversorgung auf. Dies ist das Ergebnis Ihre Grundhaltung basierte darauf, dass sie die Auseiner tief verwurzelten historischen Ungerechtigkeit. wanderung aus den eigenen Ländern ignorierten. Der IWF fordert von den Ländern Afrikas, dass sie Saskia Sassen, geboren 1949 Bemerkenswerterweise war einer der Gründe für das 20 bis 25 Prozent ihrer Exporterlöse für den Schulin Den Haag, ist Professorin dendienst aufwenden. Zum Vergleich: 1953 erließen Treffen die Einsicht der EU-Aufnahmeländer, dass für Soziologie an der Univerdie Alliierten Deutschland 80 Prozent seiner Kriegsmit der gegenwärtigen, nahezu ausschließlich auf die sität Chicago und der London Kontrolle der EU-Außengrenzen zielenden Politik School of Economics. Im Herbst schulden und gaben sich mit einem Schuldendienst in niemandem geholfen ist. Im Mittelpunkt des Tref- erscheint „Territory, Authority Höhe von drei bis fünf Prozent der deutschen Exportand Rights“ bei Suhrkamp. fens standen vor allem die Migrationsbewegungen einkünfte zufrieden. Tragischerweise lässt sich der aus der Subsahara-Region Westafrikas. Die Konfevolkswirtschaftliche, gesellschaftliche und politische renz war kein Weltereignis, sondern ein Arbeitstreffen mit sinn- Schaden – verstärkte Korruption und Gesetzlosigkeit, neue Arten von voller Tagesordnung. Armut, Menschenhandel und die massenhafte Vernichtung staatliHinter den gegenwärtigen Einwandererströmen aus Afrika und cher Ressourcen – in Afrika nicht durch einen bloßen Schuldenerlass hinter der Verzweiflung, die ihnen zugrunde liegt, steht eine kom- beheben. Aus diesem Kontext heraus entstehen alternative „Survival plexe Wirklichkeit. Sie ist das Ergebnis richtungweisender Entschei- Circuits“ – Überlebensschaltkreise, in denen Auswanderung zu einer dungen, die der Norden dieser Welt getroffen hat – mit gewaltigen entscheidenden Option wird. Angesichts hoher Staatsverschuldung Nachteilen für die armen Länder. Kernpunkt dieser Realitäten sind und Arbeitslosigkeit sind nicht nur die einzelnen Menschen, sondie vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und teils auch von dern ganze Regierungen und Unternehmen gezwungen, sich nach der Weltbank initiierten Strukturanpassungsprogramme. In einer Überlebensalternativen umzusehen. Wer auf die Migration aus dem ersten Phase in den 1980er Jahren führten Wirtschaftsreformen subsaharischen Afrika in die EU eine wirksame, rechtmäßige und zum Anstieg der Arbeitslosigkeit. Viele kleine, auf den jeweiligen humane Antwort finden will, muss diese Zusammenhänge in sein Binnenmarkt ausgerichtete Unternehmen trieben in den Ruin. Die Denken einbeziehen. Zu leicht werden diese Realitäten dadurch Staatsverschuldung stieg weiter an und zwang die Regierungen, verdeckt, dass die EU sich über die Maßen auf die Kontrolle ihrer einen Großteil ihrer Staatseinkünfte für den Schuldendienst Außengrenzen konzentriert. Eine Berliner Mauer zwischen Afrika aufzubringen. Aufgrund der Globalisierung der Weltwirtschaft und Europa wird nicht funktionieren – ebenso wenig wie im Falle läutete der IWF in den 1990er Jahren unbeirrt eine zweite Phase der USA, die ihre Grenze zu Mexiko vergeblich militarisieren. Der der Anpassungsprogramme ein. Obwohl die afrikanischen Länder Konferenz in Rabat muss eine Arbeitsgruppe folgen, die Instruvon 1982 bis 1998 alleine durch Zinsrückzahlungen das Vierfache mente entwickelt, mit denen der Übergang von der Kontrolle zur ihrer ursprünglichen Schulden gezahlt hatten, erhöhte sich ihr geregelten Steuerung gelingt. Dies setzt eine Zusammenarbeit mit Schuldenberg im gleichen Zeitraum noch einmal um das Vier- den afrikanischen Ländern voraus und bedeutet, dass eine echte, auf fache. 1998 erreichten die Rückzahlungen afrikanischer Staaten die Menschen hin orientierte Entwicklung zum festen Bestandteil die 5-Billionen-Dollar-Marke. Damit zahlten sie für jeden Dollar der EU-Einwanderungspolitik werden muss. an ausländischer Hilfe 1,40 Dollar für den Schuldendienst an die Beide Texte aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld Banken der nördlichen Hemisphäre. Siehe auch das Interview mit Nadine Gordimer: „Afrikaner im Vorstand“, Seite 62 Die Schuldenlast hat natürlich weit reichende Konsequenzen für die Verteilung der Staatsausgaben. Den 1,3 Milliarden Dollar, die Kulturaustausch 1v/06

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Pressespiegel

Holocaust-Karikaturen

Grass gesteht spät

Terror unter Jugendlichen

Im Museum für zeitgenössische Kunst in Teheran fand vom 14.8. 2006 bis 13.9.2006 eine Ausstellung zu Holocaust-Karikaturen statt.

Günter Grass bricht sein jahrzehntelanges Schweigen über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS.

Am 10. August 2006 wurde am Londoner Flughafen Heathrow ein Terror-Anschlag vereitelt.

Günter Grass [und andere] waren nur [...] winzige Zahnräder im riesigen Fleischwolf des Kriegs. Das ist der Grund, warum die eigentliche Frage, die Kinder von Veteranen stellen sollten, nicht heißen soll „Was hast du im Krieg gemacht, Papa?“, sondern „Was hat der Krieg mit dir gemacht?“.

Großbritannien [droht] von allen westlichen Ländern Europas die größte Gefahr durch den Dschihad. [...] Die islamische Szene ist viel finsterer als in Deutschland, wo viele Muslime Türken sind, die, wenn sie radikal werden, eher zum Marxismus oder zum Nationalismus tendieren. Oder als diejenigen in Frankreich, wo [...] die Gewaltausbrüche von unzufriedenen Jugendlichen [...] dazu geführt haben, dass geistliche Führer sich darum bemüht haben, die Gemeinschaft zu beruhigen.

Martin Komarek in MLADA FRONTA DNES (Prag) am 16. August 2006

In den vier Stunden, während deren sich der Besucher aus Deutschland in den Räumen des Museums aufhielt, kamen nur sechs Leute: drei westliche Journalisten mit ihren drei Übersetzern. Ahmad Taheri in FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG am 23. August 2006.

Und das Eigenartige daran ist, dass sie diese ganze Veranstaltung [...] begonnen haben, ohne den Westen allzu sehr davon wissen zu lassen [...]. Sehr symbolisch für mich war, dass das Veranstaltungsplakat [...] einen Druckfehler hatte. In „Holocaust“ fehlte das „a“. Die Leute wissen nicht mal, wie man es schreibt und haben noch weniger Ahnung davon, was eigentlich der Holocaust ist. [...] Denn in der Schule lernen sie es nicht, es gehört nicht zum gesellschaftlichen Diskurs und wenn sie etwas über den Holocaust erfahren, dann aus der staatlichen Propaganda. Martin Ebbing im DEUTSCHLANDRADIO (Berlin) am 15. August 2006

Technisch ist das keine Ausstellung der Regierung. [...] Aber das Thema [...] passt gut zu den Bemühungen der Regierung, sich selbst als Gegner des Westens und als führender Herausforderer Israels zu definieren. Michael Slackman in THE NEW YORK TIMES am 25. August 2006

Niall Ferguson in L. A. TIMES am 21. August 2006

Für viele Beobachter war das Schwenken der schwarz-rot-goldenen Flagge der Bundesrepublik ein Zeichen, dass Deutschland mit seiner Nazi-Vergangenheit über dem Berg ist. [...] Leider gibt es aus so einer belasteten Vergangenheit keinen einfachen Ausweg. [...] Die Deutschen, die mit sich im Reinen sind, waren die Jungen, behauptet [W. Rogasch, Kurator der Vertriebenenausstellung]: „Diejenigen, die die Flaggen bei der Fußballweltmeisterschaft geschwenkt haben, waren Jungen und Mädchen, die 20 Jahre alt sind. Das ist eine andere Gruppe von Menschen.“ Catherine Field in NEW ZEALAND HERALD (Auckland) am 26. August 2006

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Es war in der Tat sehr viel einfacher und bequemer, gegen so genannte Schurken-Staaten zu kämpfen [...]. Aber das, was uns heute Angst macht, sind die Einzel-Schurken, die Individuum-Schurken, diejenigen, die nicht notwendigerweise reich oder abenteuerlich sind wie Osama Bin Laden, und weder professionelle Guerillakämpfer sind oder Weltenbummler wie dieser. Heute handelt es sich dagegen um eine Art Heimwerker-Terrorist. LA REPUBBLICA (Rom) am 10. August 2006

In diesem August fehlten Neuigkeiten, die nichts mit den aktuellen Kriegen zu tun hatten. Dieser Engpass und das Hakenkreuz als ewiger Köder, können erklären, warum Günther Grass’ jugendliches Liebesabenteuer mit der Waffen-SS 1944 mehr Mainstream-Interesse für einen deutschen Schriftsteller in den englischen Medien fand, als man je gesehen hat – nein, seit dem Fiasko der Hitler-Tagebücher. Der Autor der „Blechtrommel“ bleibt fast der einzige deutsche Nachkriegsautor, neben Bernhard Schlink und Patrick Süskind, den viele englische Leser kennen werden. Boyd Tonkin in THE INDEPENDENT (London) am 25. August 2006

Die meisten Deutschen fühlen sich [...] wieder von einem Mann mit einem Schnauzbart betrogen. Daniel Johnson in THE TIMES (London) am 15. August 2006

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Stephan Schwartz in THE SPECTATOR (London) am 24. August 2006

Der lange Marsch, um die unzufriedene muslimische Jugend zurückzugewinnen, muss zu Hause [...] beginnen. Das ist kein Problem, für das es eine Lösung von oben gibt. Man muss ganz unten ansetzen – mit der Erkenntnis, dass Väter und Mütter, Brüder und Schwestern [...] die Leute sind, die eine Radikalisierung am wahrscheinlichsten erkennen und [...] in der Lage sind, sie zu stoppen. THE DAILY TELEGRAPH (London) am 10. August 2006

Wir haben jetzt einen Beweis dafür, dass Tony Blairs Außenpolitik und insbesondere die Rolle der britischen Truppen in Afghanistan und im Irak entscheidend zur Entfremdung vieler britischer Muslime beigetragen haben. Timothy Garton Ash in THE GUARDIAN (London) am 10. August 2006

Foto: Bilderbox

„Warum darf man bei euch im zivilisierten Westen den Holocaust nicht anzweifeln? Wo ist denn eure so genannte Meinungsfreiheit?“ Natürlich kommt sofort das Argument auf, dass es doch etwas anderes ist, sich über das unglaubliche Leid von Millionen von Menschen lustig zu machen, als einen harmlosen Witz über ein religiöses Symbol zu machen. Aber dieses Argument zieht nicht. Entweder es gibt Meinungsfreiheit oder nicht [...].

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Impressum

KULTURAUSTAUSCH – Zeitschrift für internationale Perspektiven erscheint vierteljährlich mit dem Ziel, aktuelle Themen der internationalen Kulturbeziehungen aus ungewohnten Blickwinkeln darzustellen. Autoren aus aller Welt tauschen sich über Wechselwirkungen zwischen Politik, Kultur und Gesellschaft aus. Die Zeitschrift erreicht Leser in 146 Ländern. Ein Schwerpunktthema in jeder Ausgabe fokussiert die wachsende Bedeutung kultureller Prozesse in der globalisierten Welt. KULTURAUSTAUSCH wird vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) herausgegeben, durch das Auswärtige Amt finanziell unterstützt, und in einer Public Private Partnership mit dem Conbrio Verlag vertrieben. Das Institut für Auslandsbeziehungen engagiert sich weltweit für Kulturaustausch, den Dialog der Zivilgesellschaften und die Vermittlung außenkulturpolitischer Informationen. Als führende deutsche Institution im internationalen Kunstaustausch konzipiert und organisiert das ifa weltweit Ausstellungen deutscher Kunst, fördert Ausstellungsprojekte und vergibt Stipendien. Das Institut für Auslandsbeziehungen bringt Menschen aus unterschiedlichen Kulturen in internationalen Konferenzen und Austauschprogrammen zusammen und unterstützt die zivile Konfliktbearbeitung. Es engagiert sich in vielfältigen Projekten mit nationalen und internationalen Partnern wie Stiftungen und internationalen Organisationen. Die ifa-Fachbibliothek in Stuttgart, das Internetportal www.ifa.de und die Zeitschrift KULTURAUSTAUSCH gehören zu den wichtigsten Informationsforen zur Außenkulturpolitik in Deutschland.

Wir trauern mit unserem Autor Abbas Khider um seine Schwester Kadhema und ihre Söhne Zouheir und Baha sowie ihre Tochter Zeineb, die am 23. August 2006 in Bagdad bei einem gezielten Attentat ums Leben kamen. Die Täter hatten vor die Haustür der Familie zwei bis drei Bomben gelegt, die um 6 Uhr morgens explodierten und einen mit Butangasflaschen beladenen Lastwagen, der vor dem Haus parkte, mit in die Luft sprengten. Der jüngste Sohn der Familie überlebte leicht verletzt. Der Vater, der irakische Kritiker und Professor Salih Zamil, liegt schwer verletzt in einem Bagdader Krankenhaus. Die irakischen Behörden machen zu den Tätern bisher keine Angaben. Abbas Khider, 1973 in Bagdad geboren, lebt seit 2000 als Schriftsteller in Deutschland. Er glaubt, der Anschlag gehöre in eine neue Serie von Attentaten auf irakische Intellektuelle.

Impressum Herausgeber: Institut für Auslandsbeziehungen Generalsekretär Prof. Dr. Kurt-Jürgen Maaß

Chefredaktion: Jenny Friedrich-Freksa Redaktion: Nikola Richter, Lisa Schreiber Mitarbeit: William Billows, Julia Brockmeier, Naomi Buck, Nicole Graaf, Valentina Heck, Marieke Kraft, Nadja Reusch Redaktionsassistenz: Birgit Hoherz, Christine Müller Gestaltung: Heike Reinsch Schlussredaktion: Gabi Banas Redaktionsbeirat: Theo Geißler, Verleger, Mitglied des Deutsch-Französischen Kulturrates, Regensburg Michael Häusler, Auswärtiges Amt, Berlin Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun, Redaktionsleiter SWR International, Stuttgart Dr. Hazel Rosenstrauch, Chefredakteurin Gegenworte, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin Dr. Claudia Schmölders, Kulturwissenschaftlerin, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Olaf Schwencke, Präsident der Deutschen Vereinigung der Europäischen Kulturstiftung für kulturelle Zusammenarbeit in Europa, Berlin

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Redaktionsadresse: Linienstr. 155 10115 Berlin Telefon: (030) 284491-12 Fax: (030) 284491-20 Email: kulturaustausch@ifa.de http://www.ifa.de Leserbriefe: leserbrief@ifa.de Objektleitung: Sebastian Körber Institut für Auslandsbeziehungen Charlottenplatz 17 70173 Stuttgart Telefon: (0711) 2225-0 Fax: (0711) 2264346 Email: info@ifa.de Verlag: ConBrio Verlagsgesellschaft mbH Brunnstr. 23 93053 Regensburg Telefon: (0941) 945 93-0 Fax: (0941) 945 93-50 Email: info@conbrio.de Anzeigenakquise: Elke Allenstein Telefon: 0163/2693443 Email: allenstein@conbrio.de Abonnement und Vertrieb: PressUp GmbH Telefon: (040) 41448466 Email: conbrio@pressup.de Postvertriebszeichen: E 7225 F ISSN 0044-2976 KULTURAUSTAUSCH erscheint vierteljährlich. Bezugspreis pro Jahr (4 Hefte): 20 Euro und Zustellgebühr. Preis Einzelheft: 6 Euro. Bestellungen über den Verlag oder den Buchhandel. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Gewähr geleistet.

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Köpfe

Der Saubermann

Bücher rein nach Nicaragua

Fotos: Timo Vogt (1), Hope for Children Library Picture (2), privat (3), privat (4,5)

In Georgien wird die Ersatzdroge „Subutex“ bei Jugendlichen immer beliebter: Koka Labortkwawa hat den Absprung geschafft und hilft jetzt seinen Freunden

Mit 15 Jahren begann Koka Labortkwawas Drogenkarriere mit Alkohol und Haschisch, schnell entdeckte er etwas Neues: Subutex. Er war einer von vielen: Eine Viertelmillion Georgier nehmen Drogen – in einem Land mit 4,7 Millionen Einwohnern. Tendenz steigend. Das von den Vereinten Nationen gegründete International Narcotics Board verzeichnete im Jahresbericht 2006 eine Zunahme an Drogenabhängigen von 80 Prozent gegenüber 2003. Der südliche Kaukasus sei zudem ein wichtiger Transitkorridor für den internationalen Drogenhandel. Auch für den Handel mit Subutex. Das Medikament ist ein synthetisches Opioid, das in Westeuropa und den USA zur Behandlung von Heroinabhängigen eingesetzt wird. Seine Wirkung hält über mehrere Tage an, ohne dass Entzugserscheinungen auftreten. In Deutschland erhalten derzeit rund 80.000 Menschen diese Ersatzdroge. Im Kaukasus entwickelt sich die Tablette, die eigentlich oral eingenommen wird, in gespritzter Form zur Jedermann-Droge. Die geschmuggelte Pille wird zerstückelt und anschließend in Flüssigkeit gelöst, um eine Spritze damit aufzuziehen. Koka Labortkwawa schaffte den Absprung von der Droge, als er sich vor zwei Jahren an „Achali Gsa“ (Neuer Weg), eine Hilfsorganisation in

Hart aber herzlich Der Sozialarbeiter Gizachew Ayka kam A nfang dieses Jahres nach Hamburg, um zu sehen, wie Obdachlose in Deutschland leben. Der Äthiopier ging auf die Straße, half beim Essensausschank, sprach mit Menschen. „Der Besuch im Mitternachtsbus der Diakonie war eine fantastische Erfahrung!“ so Ayka, „ich hatte ganz andere Erwartungen.“ Tatsächlich war vieles ähnlich wie in Addis Abeba. Häufig wird der Grund für das Dasein auf der Straße auf andere Kulturaustausch 1v/06

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Anstatt sich nach 30 Jahren Berufsleben in den Ruhestand zu begeben, gründete die heute 83-jährige Bibliothekarin Elisabeth Zilz vor 20 Jahren das Projekt „Ein Bücherbus für Nicaragua“. Die rollende Bibliothek „Bertolt Brecht“ versorgt Kinder auf dem Land, Schulen und Gefängnisse mit nationaler und internationaler Literatur. „Der schönste Moment für mich ist, wenn der Bus ein Dorf erreicht und wir von Kindern und Erwachsenen mit Rufen nach ‚Poesia, Poesia‘ empfangen werden,“ fasst Zilz ihre Motivation für das Projekt zusammen.

Gottgegebenes Mundwerk

Tiflis, wandte. Seither ist er clean. Und wechselte die Seiten. Der 28-Jährige engagiert sich bei „Achali Gsa“ als einer von fünf Sozialarbeitern, die 350 Drogenkonsumenten betreuen. Er verteilt kostenlos sterile Spritzen und berät über Krankheiten, Therapien und Aids-Tests. Eine seiner größten Herausforderungen ist es, seine Freunde, die noch an der Nadel hängen, von der Sucht zu befreien. Dafür hat er nun eine weitere Selbsthilfegruppe initiiert. Denn eines ist ihm klar: „Die Drogenabhängigkeit ist in Georgien kein Problem, sondern eine Katastrophe.“

geschoben, wie die Familie, den Partner oder den Chef. Unterschiedlich sei jedoch das Alter: In Äthiopien sind Kinder unter 18 Jahren, in Deutschland Erwachsene obdachlos. Und: In Deutschland entscheiden sich außerdem einige bewusst für dieses Leben. Vor etwa zehn Jahren gründete Ayka mit neun Freunden die Organisation „Hope for Children“ in Addis Abeba, die sich um obdachlose Kinder kümmert. Neben materieller Versorgung ist für Ayka der Kontakt wichtig. Deswegen verbringt er mit den Kindern auch mal die Nacht im Freien. „Obdachlose brauchen nicht nur Essen und Kleidung, sondern jemanden, mit dem sie reden können.“

Eigentlich kam der Kongolese Dieudonné Kabongo mit 20 Jahren nach Belgien, um Mechanik zu studieren. Heute ist er in Brüssel einer der bekanntesten Kabarettisten, der mit schwarzem Humor über Afrika spricht. Kabongo setzt sich auch für Integration ein und kümmert sich um afrikanische Jugendgruppen. Trotz seines Erfolgs sehnt er sich nach Afrika zurück: „Ich bin einer der wenigen Kongolesen, der nicht seine Nationalität ändern will. Denn irgendwann will ich in den Kongo zurückkehren.“

Die Wege der Roma Als erste weibliche Roma engagiert sich die Ungarin Lívia Járóka im Parlament der Europäischen Union für die Verbesserung der Rechte der 12 bis 15 Millionen Roma in Europa. Sie ist zudem die Vizepräsidentin der „European Anti-Racism and Diversity Intergroup“. Die studierte Anthropologin will die zerstreuten Gemeinschaften institutionell vernetzen und ein Bewusstsein für Diskriminierung schaffen. Derzeit versucht die 32-Jährige, ihr Leben zwischen der Diplomatischenwelt Brüssels und den Slums Osteuropas zu gestalten. 77

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Hochschule

Karge Bibliotheken und wenig Geld: Studenten aus ärmeren Ländern nutzen digitale Medien, um sich weiterzubilden und selbst zu organisieren. Ein Beispiel aus Kamerun Von Ludovic Penda

Ausgelagert: Weiterstudieren im Internetcafé Das Internet hat bei afrikanischen Studenten

große Hoffnungen geweckt. In der Tat ist es ein fantastisches Instrument für das wissenschaftliche Arbeiten. Es hat den Vorteil einer einfachen Handhabung, ist recht zuverlässig und voller wertvoller Informationen, die sonst – in einem Land wie Kamerun, wo ich Soziologie und Anthropologie studiere – schwer zugänglich sind. Unsere Bibliotheken sind schlecht bestückt und wissenschaftliche Bücher sind für die Mehrzahl der Studenten zu teuer. Wer Geld hat, findet in den Buchhandlungen nicht unbedingt das Buch, das er sucht. Ich erinnere mich an den Kurs „Soziologie der Religionen“, in dem wir einen wissenschaftlichen Essay über den Rosenkreuzorden und seinen Einfluss auf unsere Gesellschaft ausarbeiten sollten. Ohne das Internet wären wir dazu niemals in der Lage gewesen. Denn über diesen Orden spricht man in Kamerun nur hinter vorgehaltener Hand, gedruckte Dokumente sind nicht erhältlich. In einem Seminar über soziale Ungleichheiten und mögliche gesellschaftliche Lösungsansätze, untersuchte meine Arbeitsgruppe, inwiefern soziale Segregation zu räum78

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licher Trennung führt, und zwar weniger anhand großer Theorien als mit Hilfe konkreter Beispiele. Hierfür ist das Internet optimal. Via Cyberspace untersuchten wir, welche Rolle Immobilienmakler dabei spielen, segregative Mechanismen in einem Pariser Vorort zu schaffen und studierten die vor allem in Nord- und Südamerika verbreiteten umzäunten und kontrollierten Wohngegenden. Doch die hiesige Internetsituation kann auch ernüchternd sein: Die Übertragungsraten sind dürftig, von den Studenten wird der Zugang ins Netz auch „Schneckenverbindung“ genannt. Die Computer sind alte, meist ausrangierte Modelle aus Europa. Das erst seit kurzem erhältliche ADSL kann sich kaum jemand leisten, selbst die meisten InternetCafés nicht. So wird die wissenschaftliche Recherche oft zu einer nervenaufreibenden Geduldsprobe. Die schlechte Ausstattung der InternetCafés ist letztlich eine Folge der generell dürftigen Infrastruktur des Landes. Diese ist überall spürbar und belastet die Gesellschaft enorm. So mancher Traum wird bereits im Keim erstickt. Kürzlich wollte ich mit einigen Freunden ein Diskussionsforum zum wissenschaftlichen Austausch gründen. Keiner von uns hatte einen Computer zu Hause. Die Lösung? Na klar, das Internet-Café! Nach und nach merkten wir jedoch, dass dies nicht der optimale Ort ist, um ein solches Projekt umzusetzen. Oft bleibt nach einem langen Tag in der Universität oder nach Feldforschungen nur die Nacht, um solchen Aktivitäten nachzugehen. Doch kein Internet-Café in erreichbarer Nähe hat dann noch geöffnet, und von uns kann sich keiner einen PC, geschweige denn

einen Laptop leisten. Angesichts der vielen Hindernisse, die in Kamerun und anderen afrikanischen Ländern bestehen, stellen wir uns immer häufiger die Frage, ob das Internet nicht doch nur ein Instrument der reichen Länder des „Nordens“ ist. Besonders bei einer Studie war dies der Fall. Es ging um die in der Hafenstadt Douala lebende Ewondo-Bevölkerung. Sie stammt aus ländlichen Gegenden und ist in den letzten Jahrzehnten auf der Suche nach Arbeit zunehmend in die Städte übergesiedelt. Da man in unseren Bibliotheken schwerlich auf Literatur zu solch spezifischen Themen stößt, noch dazu, wenn es sich um einzelne kamerunische Bevölkerungsgruppen handelt, hofften wir wieder einmal auf das Internet. Leider ließ es uns diesmal im Stich. Wir fanden lediglich oberflächliche, unwissenschaftliche Texte, die uns kaum weiterhalfen. Eine Recherche über einzelne europäische Bevölkerungsgruppen hingegen brachte viele nützliche Ergebnisse. Ist das Internet also wirklich ein Mittel zur Informationsbeschaffung für Afrikaner? Nein, ich denke nicht – noch nicht. Das Internet lässt zu wünschen übrig, sobald man Afrikaspezifische Informationen sucht. Fehlt uns Afrikanern das Knowhow, unsere Informationen online zu stellen? Liegt es an unserer unzulänglichen Infrastruktur? Klar ist nur, dass Wissen und ortspezifische Informationen für Politikplanung und ein gutes, an den Bedürfnissen der Bürger ausgerichtetes Regieren unabdingbar sind. Was im Falle Kameruns wiederum die Frage aufwirft, auf welcher Grundlage bei uns regiert wird. Trotz Schwächen ist das Internet ein wunderbares Fenster in andere Welten. Es lehrt uns jedoch wenig über uns selbst – was für uns junge Afrikaner, die wir mit so vielen Fremd- einflüssen aufwachsen, wertvoll wäre. Aus dem Französischen von Eric Van Grasdorff und Maja Neff Ludovic Penda ist Student der Soziologie und Anthropologie an der Universität Douala (Kamerun) und Mitarbeiter der Stiftung AfricAvenir in Douala. Er wurde 1983 in Douala geboren. Foto: dpa

Netzakademie

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Hochschule

Studieren mit Kalaschnikow Zivilschutz oder Militärausbildung? Jeder russische Student weiß, wie eine Kalaschnikow funktioniert und kann mit ihr umgehen. Das lernt er erst in der Schule, dann an der Uni Von olga sasuhina

Foto: privat

Ein schöner Sommertag in Russland. Auf einem

Schulhof schrillt die Glocke. Die Schüler der neunten Klasse gehen nicht in ihr Klassenzimmer. Sie laufen zum Sportplatz und formieren sich in Reih und Glied. Der Lehrer erscheint in Uniform und begrüßt sie. Die Jugendlichen erwidern den Gruß in militärischer Manier: laut und einstimmig schreiend. So oder ähnlich beginnt das normale Unterrichtsfach „Die Grundprinzipien der Sicherheit öffentlichen Lebens“. Zu Sowjetzeiten hieß es unverblümt „Die Grundkriegsvorbereitung“. Nach dem Fall des Systems und der Demokratisierung des ehemaligen Ostblocks konnte man es in Russland allerdings nicht mehr so nennen. Russische Politiker haben ihren Sprachgebrauch geändert: Sie reden heute lieber von „Konflikten“ oder „Missverständnissen“, selbst wenn es zu kriegerischen Handlungen kommt und Menschen getötet werden. Mit der militärischen Ausbildung geht es indes nach der Schulzeit auch für Studenten weiter. Egal, was studiert wird, jeder Hochschüler muss das Fach belegen. So steht es im staatlichen Bildungsprogramm. Was lernt man da? Wie in der Armee treten die Studenten an, marschieren eine Runde in der Sporthalle, geordnet geht es dann in den Seminarraum zum Büffeln der Waffenkunde. Auf dem Lehrplan stehen verschiedene Waffengattungen: Pistolen, Bomben, Granaten, biologische und chemische Waffen. Wie wird das militärisch anmutende Training für russische Studenten begründet? „Jeder soll wissen, wie man sich schützt, wenn eine Katastrophe passiert“, meint Swetlana Lokotajewa, eine junge Dozentin vom Lehrstuhl „Sicherheit des öffentlichen Lebens“ an der staatlichen Universität im sibirischen Omsk. „Das Fach ist nötig, weil es das Verhältnis unserer Bürger zu Fragen der Sicherheit verändern kann“, ist auch der Lehrstuhlleiter Stanislaw Kulturaustausch 1v/06

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Kowalew überzeugt. Und mit ein wenig Pathos fügt der 56-jährige ehemalige Oberstleutnant hinzu: „Wir zeigen damit, dass Sicherheit eine Sache des Staates und der Gesellschaft ist.“ Ob Atom- oder Chemieunfall, Menschen sollen für den Ernstfall gerüstet sein. In den letzten Jahren ist noch eine weitere Gefahr hinzugekommen: der Terrorismus. Und hier hat Russland eine blutige Bilanz aufzuweisen. In der kleinen russischen Stadt Beslan sind im Jahre 2004 322 Menschen, zumeist Kinder, tragisch gestorben. 2002 nahmen tschetschenische Separatisten das Publikum eines Moskauer Theaters als Geisel. 130 Menschen kamen bei der Befreiung um. Die Terrorgefahr ist also real. Rechtfertigt dies eine spezielle Ausbildung an der Universität? Viele Studenten sind da skeptisch. Für sie passt die Militarisierung des Unilebens nicht in die Zeit. Sie fühlen sich an den Kalten Krieg erinnert, als es hieß, man solle im Falle eines Nuklearangriffs unter

einen Tisch kriechen. Doch die meisten stört, dass das Fach an der Uni obligatorisch ist. Unter ihnen sind überzeugte Pazifisten, die die Übungen nicht mitmachen wollen. Doch wer sich weigert, darf nicht studieren. Und das in Zeiten, in denen junge Männer sogar in Russland Zivildienst statt den Dienst an der Waffe absolvieren können. Diese Studenten fühlen sich in ihren Grundrechten beeinträchtigt. Andere zweifeln schlichtweg am Sinn des Unifachs. „Ich glaube nicht, dass ich die Übungen anwenden werde, wenn es zur Katastrophe kommt“, sagt Larissa Schemetowa, Studentin der Uni Omsk. Sie hat den militärischen Drill schon hinter sich. In ihrer Studienstadt existieren fünf Chemiebetriebe, von denen im Notfall Gefahr ausgeht. „Ich kann die Auswirkung einer potenziellen Katastrophe kalkulieren“, sagt die Studentin. Doch dass ihr dies etwas nützt, glaubt sie nicht. Stimmen werden lauter, die sagen: Sinnvoll wäre es, die zuständigen Behörden für den Notfall besser auszurüsten und vorzubereiten. Die Zivilbevölkerung solle man indes in Ruhe lassen. Dann werden die Kinder friedlich im Klassenzimmer sitzen und schöne Literatur besprechen, anstatt auf dem Sportplatz zu exerzieren. Das, meinen viele, bedeute wahren Frieden. Olga Sasuhina, Jahrgang 1984, studiert an der Universität Omsk Regionalwissenschaften.

Lernen von Professor Müller-Jacquier Deutsche sind pünktlich, so sagt man und meint es gar sprichwörtlich. Doch oft ergeben genauere Analysen interkultureller Situationen ein differenzierteres Bild. Von dem, was als spezifisch für Kulturen angesehen wird, beruht vieles auf rein sprachlichen Konventionen. So ist im Deutschen die Zeitangabe „Wir treffen uns also um 16 Uhr zum Kaffee!“ meist als Zeitpunkt zu verstehen. Ganz anders in anderen Sprachen, wo entsprechende Übersetzungen der Äußerung einen Zeitraum bezeichnen können, in dessen Rahmen – zum Beispiel zwischen 16.05 Uhr und 16.30 Uhr – man pünktlich eintrifft. Miss-

verständnisse sind vorprogrammiert: Ausländer, die um 16.20 Uhr erscheinen, werden ebenso als unpünktlich oder gar als unhöfliche Gäste tituliert wie Deutsche im Ausland, die Punkt 16 Uhr in der Tür stehen. Beide Seiten sprechen von „Mentalität“ und sehen das Problem nicht in kulturspezifischen sprachlichen Konventionen. Daher: Weg mit dem Mythos der Pünktlichkeits(un)kulturen, wie sie auch in interkulturellen Trainings gepredigt werden! Und hin zur Denkaufgabe: Welche Zeitangabe ist wo auf der Welt ein Zeitpunkt und welche ein Zeitraum? Was meint jemand wirklich, der sagt: Eine Sekunde bitte! Just a minute! Hasta mañana! Wir treffen uns wieder in acht Tagen! Bernd Müller-Jacquier lehrt Interkulturelle Germanistik an der Universität Bayreuth.

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Kulturprogramme

Kaum jemand hat so viel von Europa gesehen, wie ein Lastwagenfahrer, der die EU befahren hat. Wie ist dieser Blick auf Europa jenseits von Brüssel? Von Christine Müller

Wie oft er die Strecke Italien – Frankreich – Spanien schon gefahren ist, kann er nicht mehr zählen. Mindestens hundertmal war er in Madrid, aber mit seinem Lastwagen hält er sich vom Zentrum der Stadt fern, so dass es für ihn eigentlich keine Rolle spielt, wo in Europa er unterwegs ist. Die Außenbezirke der Städte mit Industriegebieten, Baumärkten und Einkaufszentren gleichen sich zunehmend. Er will seinen Job machen, der anstrengend genug ist und keine Gedanken über mögliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Europäer zulässt. Svetoslav

Die Fahrer Mischev und Borissov (oben) Der Theater-Laster (unten) 80

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Mischev ist 43 Jahre alt, Lastwagenfahrer und stammt aus Bulgarien. Er tritt bei dem Projekt „Cargo Sofia – Berlin“ des Schweizer Regisseurs Stefan Kaegi auf, das in Kooperation mit dem Theater Hebbel am Ufer in Berlin, dem Pact Zollverein Essen, dem Theater Basel und dem Theater Le Maillon in Straßburg entstanden ist und von verschiedenen Förderprogrammen und Kultureinrichtungen auf nationaler und europäischer Ebene mitfinanziert wird. Für die Begegnung des Theaterpublikums mit der Alltagswelt eines Truckers wurde ein Lkw so umgebaut, dass auf der Laderampe 45 Zuschauer Platz finden. Auf einer Längsseite, dort, wo sich normalerweise Planen befinden, wurden Fensterscheiben eingebaut, so dass bei den zweistündigen Fahrten die Umgebung filmartig am Publikum vorbeizieht. Stationen einer Tour sind Autobahnraststätten, Straßenstrich oder Großmarkthallen – Orte also, die zu den Anlaufpunkten eines Lkw-Fahrers gehören können. Auf dem Plan stehen Führungen durch Transportunternehmen oder Gespräche an Raststätten mit anderen Fahrern. Realität und Fiktion werden dabei beständig vermischt: Kommentare aus dem Fahrerhäuschen deklarieren etwa bei einer Fahrt eine Tankstelle als Grenzübergang nach Slowenien, „Wartezeit fünf Stunden“. Im Lastwagen wird eine Leinwand heruntergelassen und ein Video mit einer Grenzabfertigungsszene darauf projiziert. So entdecken die Zuschauer in ihrer eigenen Stadt ihnen zum Teil unbekannte Orte, gleichzeitig werden bekannte Orte fiktionalisiert. „Wir möchten beim

Zuschauer traumähnliche Zustände hervorrufen. Der Blick aus dem fahrenden Lastwagen unterstützt dies, da die Augenbewegung von einem Punkt zum anderen dem so genannten Rapid-Eye-Movement (REM) in der Tiefschlafphase ähnelt“, erläutert Kaegi seine Intention. Authentisch dagegen sind die bulgarischen Lastwagenfahrer, Svetoslav Mischev und Ventseslav Borissov, die am Steuer sitzen und aus ihrem wirklichen Leben berichten. „Das sind die Menschen, die uns das Klopapier unter den Arsch fahren, und wir wissen überhaupt nichts von ihrem Leben“, so Kaegi. In seinen Theaterkonzepten kommen oft Menschen ohne Schauspielausbildung zum Zug. Der Zuschauer erfährt beispielsweise, dass Mischev seit 1992 Jahren als Lkw-Fahrer unterwegs ist. „Das ist mein Job. Im Winter ist die Fahrerei manchmal sehr gefährlich, wenn Schnee und Eis auf den Straßen liegen. Und im Sommer heizt sich das Fahrerhäuschen bei Wartezeiten an Grenzübergängen schon mal bis zu 50 Grad auf“, erzählt der eher schweigsame Fahrer, der über eine Zeitungsanzeige auf das Projekt aufmerksam wurde. Die Geschichten der Fahrer treffen auf große Resonanz, bisher war jede Aufführung ausverkauft. Vor allem junge Menschen um die dreißig besuchen das mobile Theater. Also gerade die Zielgruppe, die man für Europa begeistern möchte. „Die sind nett und interessieren sich für unsere Arbeit“, so Mischev. Er selbst allerdings würde sich nie eine solche Aufführung anschauen. Vor dreißig Jahren war er zuletzt in Bulgarien im Theater, selten ist er im Kino, denn eigentlich, so bekennt er: „Ich mag Kunst nicht.“ Nach Beendigung des Projekts wird er wohl wieder als Lastwagenfahrer arbeiten, auch wenn er seine Familie kaum sieht und nur 700 Euro im Monat verdient. Dann werden 2000 Kilometer nicht mehr innerhalb von zwei Stunden zu bewältigen sein. Nächste Stationen: 28. September bis 6. Oktober 2006 Goethe-Institut, Sofia. Februar 2007 Le Maillon, Straßburg.

Fotos:Stefan Kaegi

Lasterhafter Alltag

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Kulturprogramme

Trautes Heim

Die Eden-Alternative ist in Deutschland bisher nur ein Konzept. Wie wollen Sie es praktisch umsetzen? Das Leben im Altenheim kann Spaß machen. Das zumindest behauptet die Ende November wird im Seniorenzentrum Gerontologin Irmgard Klamant. Für den Transfer der so genannten Eden-Alternati- in Krefeld ein erstes Mitarbeiterschulungsseve aus den USA nach Deutschland wurde sie von der Körber-Stiftung beim jährlich minar angeboten. In diesem Zentrum ist man ausgeschriebenen „Transatlantischen Ideenwettbewerb USable“ ausgezeichnet. offen für ein solches Konzept, denn ohne ein KULTURAUSTAUSCH sprach mit der Preisträgerin Umdenken seitens des Personals ist eine sinnvolle Umsetzung nicht möglich. Ein Großteil der Gelder wird in die Schulungen fließen. Wichtig ist mir außerdem, dass das PilotproWelche Idee haben Sie aus den USA nach Deutsch- Und, funktioniert die Umsetzung in Europa? land mitgebracht? In der Schweiz wird der Ansatz bereits jekt von Anfang an wissenschaftlich begleitet Es geht um einen neuen Ansatz in der sehr überzeugend angewandt. Nach meinem und dokumentiert wird, da für Deutschland Betreuung von alten Menschen, die Eden- Studium habe ich dort selbst erlebt, dass ein keinerlei Erfahrungswerte vorliegen. Hierfür Alternative. Älteren Menschen in Alten- und flexiblerer Umgang mit den Bewohnern nicht arbeite ich eng mit der Universität Dortmund Pflegeheimen soll ein Leben ermöglicht wer- nur für diese, sondern auch für das Personal zusammen. angenehmer ist. Es gibt seltener Engpässe und den, das sinnvoll ist und auch Spaß macht. die damit einhergehende Hektik. Auffallend Das Gespräch führte Christine Müller Was unterscheidet diesen Ansatz von herkömm- war auch, dass die Bewohner dort sehr viel wacher sind, weil sie nicht mit Medikamenten lichen? Im Gegensatz zu hiesigen Ansätzen, die vollgepumpt werden. nur auf Verwahrung oder Pflege abzielen, steht bei der Eden-Alternative der Mensch Wenn in den Medien von Altenheimen die Rede ist, Termine mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt. Das dann vor allem in Zusammenhang mit Pflegenothört sich relativ simpel an, die Effekte sind stand und Kostenexplosion im Gesundheitssektor. 10. November 2006, Schlachthof, Bremen: jedoch immens. Wenn Sie sich vorstellen, Wie kann ein Eden-Altenheim finanziert werden, Elf Musiker aus neun Nationen haben sich dass Sie beispielsweise ein Leben lang ein und wer kann sich einen Aufenthalt dort leisten? zum Bremer Stadtimmigranten Orchester Nachtmensch waren und nun jeden Abend Der Ansatz ist so angelegt, dass die Kosten zusammengefunden, um unter der Leitung um sieben im Bett liegen sollen, dann ent- nicht unbedingt erhöht werden müssen. In den von Willy Schwarz, Komponist und Musiker italiensch-deutsch-jüdischer Abstammung, spricht das sicherlich nicht Ihren Bedürfnis- USA etwa arbeiten die Heime mit so genannmit Hilfe von Musik zu zeigen, dass Integration sen. Oder denken wir mal an Demenzkranke, ten Lebensassistenten zusammen. Zum einen und Verständigung möglich sind. „Authendie einen großen Bewegungsdrang haben werden Stellen dafür eingerichtet, zum andetisch sind wir im Hier und Jetzt, mit dem, was und oftmals nachts lange wach sind. Für ren wird viel mit Ehrenamtlichen gearbeitet, wir mitbringen. Für mich ist das, was wir hier solche Menschen gibt es in diesem Konzept die zuvor auch geschult wurden – das ist bei machen, das Prinzip Jazz: Wir kombinieren ein Nachtcafé im Heim, das heißt, sie können uns auch vonnöten. Die Studien aus den USA Instrumente, Texte, Melodien und bringen nachts dieses Café aufsuchen, sind nicht al- belegen, dass der Medikamentenverbrauch um etwas Neues hervor“, so Sema Mutlu, Sänlein, müssen aber im Normalfall auch kein 45 Prozent eingeschränkt werden konnte, also gerin mit türkischen Wurzeln. Im September auch dies ein Kostenfaktor, der sinkt. Pflegepersonal rufen. erscheint die CD „home away from home“ des Orchesters.

Wie haben Sie dieses Konzept kennen gelernt? Als eine Bekannte aus den USA hörte, dass ich mich für das Studium der Gerontologie interessiere, hat sie mich auf die Eden-Alternative hingewiesen. Ich kaufte mir das Buch „Life worth living“ von William Thomas, dem Begründer der Eden-Alternative. Thomas fragt, was den Menschen fehlt und wie in Heimen Einsamkeit, Langeweile und Hilflosigkeit entgegengewirkt werden kann. Inzwischen gibt es in den USA um die 220 Heime dieser Art. Zunächst zweifelte ich daran, dass dieses Konzept hier aufgeht. Kulturaustausch 1v/06

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Wie kommt es, dass gerade in den USA, deren soziales System oft kritisiert wird, ein solcher Ansatz entwickelt wurde? Eigeninitiative und Engagement sind in den USA viel stärker ausgeprägt. Manche Probleme kristallisieren sich dort durch die Größe des Landes deutlicher heraus, etwa die Einsamkeit älterer Menschen. Ein Handlungsbedarf wurde so früher deutlich. Zudem reagiert die Forschung in den USA schneller mit neuen pädagogischen Konzepten als dies hierzulande der Fall ist.

Journalistenpreis: Bis zum 3.11. 2006 können Journalisten Beiträge bei der Zeitung politik und kultur (puk) einreichen, mit denen sie kulturpolitische Inhalte in Print- oder Onlinemedien, Hörfunk oder Fernsehen allgemeinverständlich vermittelt haben. Der Sende- oder Erscheinungstermin muss zwischen dem 1.11.2005 und dem 30.10.2006 liegen. puk wird vom Deutschen Kulturrat herausgegeben und schreibt in diesem Jahr zum dritten Mal den undotierten Preis aus, der Anfang 2007 in der Berliner Philharmonie verliehen wird.

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Kulturorte

Foto: (c) Alex Webb / Magnum Photos / Agentur Focus; Text aus dem Englischen von Nikola Richter

Alex Webb über die Blaue Moschee in Istanbul

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Seit den späten 1970er Jahren fühle ich mich zu den Grenzen und Rändern der Gesellschaft hingezogen, zu Orten, an denen verschiedene Kulturen zusammenkommen, an denen sie manchmal zusammenprallen und manchmal verschmelzen. Eine dieser Grenzen, die ich besonders faszinierend finde, ist Istanbul, wo sprichwörtlich der Osten auf den Westen trifft, die einzige große Stadt, die auf zwei Kontinenten gleichzeitig liegt. Dieses eher verträumte Foto nahm ich während der religiösen Feiertage des Ramadan kurz nach der Abenddämmerung auf, wenn fromme Moslems ihr Fasten brechen dürfen. Das Bild entstand vor der Sultan-Ahmet-Moschee, die auch die Blaue Moschee genannt wird. Der kleine Junge, der, abgesehen von seiner rosafarbenen Zuckerwatte, aus einer früheren Zeit zu stammen scheint, genießt wahrscheinlich die erste Mahlzeit seines Tages. Seitdem ich 2001 diese Aufnahme gemacht habe, bin ich wieder und wieder nach Istanbul zurückgekehrt, um durch das Straßenlabyrinth dieser Stadt zu wandern, die bröckelnden Stadtmauern entlangzustreifen, um die Neon-Nachtclubs im Bezirk Taksim aufzusuchen, mit der Fähre zu fahren, den Willkommensschock des Bosporus-Seewindes einzuatmen – und um einmal mehr diese lebendige und melancholische Stadt zu fotografieren. Alex Webb, geboren 1952 in San Francisco, begann seine Karriere als Fotojournalist nach einem Studium der Geschichte und Literatur an der Harvard University. Seine Bilder wurden im New York Times Magazine, in Life, Geo, Stern und National Geographic veröffentlicht. Seit 1976 ist er Mitglied der Fotoagentur Magnum Photos. Seinen bisher fünf veröffentlichten Bildbänden folgt 2007 „Istanbul: City of 100 Names“. Er lebt in Brooklyn, New York.

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Bücher

Ein Gespräch mit dem marokkanischen Schriftsteller Tahar Ben Jelloun über seinen neuen Roman, die Massenflucht aus Nordafrika und das Verhältnis zwischen muslimischer und westlicher Kultur

Herr Ben Jelloun, Sie haben mehrfach geäußert, Sie seien ein glücklicher Europäer. Bezieht sich dieses Gefühl auch auf die europäische Immigrationspolitik? Nein. Ich fühle mich als Europäer und halte die europäische Idee für eine sehr gute Sache. Aber ich bin etwas enttäuscht davon, wie Europa sich entwickelt hat. Es gibt keine gemeinsame Einwanderungspolitik, jedes Land tut, was es will. Spanien und Italien haben in den letzten Jahren vielen Illegalen eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt; Frankreich hat das nicht getan. Zurzeit liest man, dass Italien und auch andere europäische Länder immer weniger Anträge auf ihre Staatsangehörigkeit

Der Schriftsteller Tahar Ben Jelloun, geboren 1944 in Fes/Marokko, lebt seit 1971 in Paris. 84

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bewilligen. Es wird also immer schwieriger, Europäer zu werden.

war eine Zeit, zu der es in Frankreich keine Arbeitslosigkeit gab. Die Probleme begannen erst, als Präsident Giscard d’Estaing 1974 das Gesetz zur Familienzusammenführung erließ, ohne Vorkehrungen für die Aufnahme von Frauen und Kindern zu treffen. Können Sie, da Sie sich heute als Europäer fühlen, das Gefühl der Unsicherheit nachvollziehen, das viele Staaten ihre Grenzen schließen lässt? Dass Europa sich abschirmt, basiert auf einer falschen Analyse. Es sind ja nicht die Einwanderer, die ein Sicherheitsproblem darstellen, Europa braucht sie schließlich als billige Arbeitskräfte. Dieses Unsicherheitsgefühl ist durch die dramatische wirtschaftliche Situation entstanden. Die Leute, die Arbeit suchen, denken, die Immigranten würden ihnen die Arbeit wegnehmen. Das ist meist nicht richtig. Zweitens entstand das Gefühl der Unsicherheit dadurch, dass zu wenig getan wurde, um zwei so unterschiedliche Kulturen wie die muslimische und die westliche aufein-

Ihr neuer Roman „Verlassen“ (im Original „Partir“) spielt zwischen 1995 und 1999 in Tanger und Barcelona. Es geht um meist junge Marokkaner, die alles tun, um nach Europa zu gelangen. Sie selbst kamen 1971 unter ganz anderen Umständen nach Paris. 1971 genügte ein marokkanischer Pass, um nach Frankreich einzureisen. Man brauchte kein Visum wie heute. Ich kam nicht, um zu arbeiten, sondern um meinen Doktor in Psychologie zu ma- chen. Das kann Niemand hat den Muslimen erklärt, man nicht mit der Situation von dass die Pressefreiheit in demokratischen Menschen ver- Ländern ein Heiligtum ist gleichen, die täglich ihr Leben riskieren, um ihr Leben zu retten – und es dabei ander einzustimmen. Man weiß zu wenig vom manchmal schnell verlieren. Die Umstände der anderen. Nur so konnte die Veröffentlichung Auswanderung und die wirtschaftliche und der Mohammed-Karikaturen zum Eklat fühpolitische Lage Marokkos und Frankreichs ren. Niemand hat den Muslimen erklärt, dass waren damals völlig anders. die Meinungs- und Pressefreiheit in einem demokratischen Land ein Heiligtum ist. Und Entsprach Frankreich bei Ihrer Ankunft dem Bild, niemand erklärte den Menschen im Westen, dass die Religion für Immigranten etwas das Sie von Europa hatten? Frankreich – denn Europa war für uns in grundlegend Wichtiges ist, nicht nur aus traerster Linie Frankreich – war das Land der ditionellen Gründen, sondern weil sie sich so Menschenrechte und der Freiheit. Diese Dinge in Europa als Teil einer Gemeinschaft fühlen bedeuteten uns Marokkanern sehr viel. Leider können. Die erste Einwanderergeneration werden diese Werte heute gegenüber Einwan- nimmt oft nicht an der westlichen Kultur teil. derern nicht sehr respektiert. Damals war die Die muslimische Religion ermöglicht ihnen politische Situation in Marokko sehr schwie- eine kulturelle Identität und verschafft ihnen rig. Es hatte zwei Staatsstreiche gegeben, und eine Art innere Sicherheit. die Linken, die Intellektuellen, waren nicht besonders beliebt. Frankreich war für mich ein Wer ist in erster Linie dafür verantwortlich, das Zufluchtsort. Niemand zeigte mit dem Finger Wissen auf beiden Seiten zu mehren? auf Immigranten, es wurde aber auch nicht Ich glaube stark an die Pädagogik. Zuerst über ihre Lebensumstände berichtet. Man muss man wissen, woher man kommt und an interessierte sich schlichtweg nicht für sie. Das was man glaubt, man muss seine Traditionen

Foto: Ekko von Schwichow

Emigration ist nicht die Lösung

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Bücher

und seine Kultur kennen. Dann sollte der Dialog mit der anderen Kultur folgen. Wie soll ein Deutscher, der einen Türken oder einen Marokkaner auf der Straße sieht, wissen, warum dieser sich verhält, wie er sich verhält, wenn der Deutsche sich nicht einmal selbst kennt? Wie könnte eine effektivere Zusammenarbeit auf politischer Ebene zwischen der Europäischen Union und den Maghrebstaaten aussehen? Man sollte den Umgang mit Einwanderung unter den Bedingungen der Globalisierung völlig neu überdenken. Welche Interessen haben die Auswanderungs-, welche die Einwanderungsländer? Europa und Afrika sollten auf einer objektiven, wissenschaftlichen Basis miteinander verhandeln. Weder macht es Sinn, mehr Immigranten nach Europa zu lassen, ohne dort entsprechende Vorkehrungen zu treffen, noch ist es sinnvoll zu hoffen, dass sich das Problem von selbst löst, wenn Europa seine Grenzen noch stärker sichert. Man muss die Immigration organisieren. Die Botschaft, die von meinem Roman „Verlassen“ ausgehen soll, ist die, dass Emigration für mich nicht mehr die Lösung ist. In Ländern wie Marokko sollte genügend Arbeit geschaffen werden, damit die Jungen nicht mehr ihr Leben riskieren, um zu Leuten zu gelangen, die nicht auf sie gewartet haben. Die verantwortlichen Behörden in den Heimatländern müssen etwas gegen diese Hoffnungslosigkeit tun, die sich so oft in Tragödien verwandelt. Viel Übel liegt ja auch in dem Traumbild, das viele Afrikaner von Europa haben. Wie kann man dem entgegenwirken? Das Bild von Europa ist in den letzten Jahren schon sehr viel realistischer geworden. Inzwischen spricht niemand mehr vom Paradies, es geht vor allem ums Überleben. Spätestens seit den Fernsehbildern von überfüllten Booten, von Leichen, die auf dem Wasser treiben, weiß man Bescheid. In Ihrem Roman „Verlassen“ ist Tanger noch zentraler Anlaufpunkt für Afrikaner, die nach Europa wollen. Seit einem Abkommen zwischen Spanien und Marokko zur verstärkten Überwachung der Küsten starten die meisten Flüchtlingsboote von Mauretanien in Richtung Kanarische Kulturaustausch 1v/06

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Inseln. Tanger muss sich in den letzten Jahren stark verändert haben. Ja, heute legen nur noch wenige Boote von hier ab. Und nur noch wenige Afrikaner drücken sich am Hafen herum auf der Suche nach einem Lkw, einem Reisebus oder einem Boot, das sie nach Europa bringt. Inzwischen wagen vor allem Menschen aus Schwarzafrika die gefährliche Reise übers Meer, weil sich ihre Situation noch hoffnungsloser darstellt als die der Marokkaner. Vor zehn, fünfzehn Jahren war das anders. Damals war die wirtschaftliche Situation Marokkos dramatisch. Seit 1999, seitdem Mohammed VI. König ist, hat sich in Marokko jedoch einiges verbessert, was sowohl die wirtschaftliche Lage als auch die Situation der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit angeht. Dennoch ist Auswanderung weiterhin ein großes Thema. Ich habe es bewusst literarisch aufgegriffen, weil die Literatur die Menschen emotional berühren und so nachhaltiger wirken kann als etwa ein Dokument. Ich will weder psychologische noch soziologische Romane schreiben, sondern Menschen für gewisse Probleme sensibilisieren. Wenn sich die Leser mit der Figur des Azel identifizieren, sich in die Situation eines jungen Marokkaners hineinversetzen, der Jura studiert hat und keine Arbeit findet, dann hoffe ich, dass das Wirkung zeigt. Die Schwester Ihres Protagonisten Azel ist die einzige Figur, die als Emigrantin nicht ihre Würde verliert. Kenza kommt in Barcelona viel besser zurecht als Azel, der eine bessere Ausbildung hat und eigentlich leichter Arbeit finden dürfte. Kenza ist stark, weil die Frauen in diesem Land engagierter für ein besseres Leben kämpfen als die Männer. Frauen sind sich eher über die Schwierigkeiten im Klaren, sie haben vielleicht auch mehr Vertrauen in sich und die Welt als die Männer. Kenza will unbedingt ihre Chance auf ein besseres Leben nutzen. Auch als in Spanien ihre große Liebe zerbricht, steht sie wieder auf. Azel dagegen hat in dieser Geschichte seine Seele verloren. Er hat sich der Leichtigkeit, den Illusionen hingegeben. Sie werfen auch die Frage danach auf, wie weit man sich selbst verleugnen muss, um seinen Traum von einem besseren Leben verwirklichen zu können.

Man ist nie stärker als sein Schicksal. Das muss auch Azel erfahren, der glaubt, dass er sich mit der Homosexualität, die ihm den Sprung nach Europa ermöglicht, anfreunden kann, obwohl er überhaupt nicht dafür gemacht ist. Was halten Sie von einer Einstellung, wie sie viele junge Marokkaner in Ihrem Buch haben: Hauptsache nach Europa? Ihre Figur Malika ist schon als Kind von dem Traum besessen, später auszuwandern. Vergessen Sie nicht, dass das Buch im Jahr 1995 spielt. Ein Mädchen wie Malika würde sich heute vermutlich weniger dazu gedrängt fühlen wegzugehen. Ich wollte einfach eine gewisse Anzahl unterschiedlicher Charaktere darstellen, darunter ein kleines Mädchen, das keine Zukunft in seinem Land sieht. Es ist ja durchaus normal, dass man als Kind träumt. Man träumt sogar sehr viel. Mir hat „Verlassen“ mit seiner klaren Sprache und der vielschichtigen Behandlung des Themas Immigration sehr gut gefallen. Das Schlusskapitel wird dann allerdings nebulös, stellenweise fast kitschig. Warum dieser Schluss? Weil eine offene Lösung auf literarischer Ebene interessant ist. Ich mag die Vorstellung, dass die Figuren durch den Schluss nicht eingeengt werden, dass sie vielleicht über ihre klare Definition hinauswachsen. Eine Mischung aus Kräften, Charakteren und Träumen sorgt dafür, dass man nicht weiß, ob etwas geträumt oder wahr ist. Es ist ein literarisches, kein soziologisches oder politisches Ende. Das Gespräch führte Jeanette Villachica Tahar Ben Jelloun hat über dreißig Bücher (Gedichte, Essays, Erzählungen und Romane) veröffentlicht, die vielfach ausgezeichnet und in bis zu 43 Sprachen übersetzt wurden. Ben Jelloun schreibt auf Französisch und gilt als Mittler zwischen dem Maghreb und Europa. Verlassen. Roman. Von Tahar Ben Jelloun. Aus dem Französischen von Christiane Kayser. Berlin Verlag, Berlin 2006. Siehe auch: Binyavanga Wainaina und Saskia Sassen: Festung Europa, Seite 72 und 73 und Wählen in: Mauretanien, Seite 13

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Im Rotlichtviertel Der pakistanische Maler Iqbal Hussain wuchs im Vergnügungsviertel von Lahore auf – „Hira Mandi“ erzählt seine faszinierende Lebensgeschichte

Naseem ist eine der schönsten und begehrtesten Tänzerinnen in Hira Mandi, dem Vergnügungsviertel von Lahore. Nacht für Nacht bleibt ihr Sohn Chanwaz allein im Haus zurück, während sie in seidenem Sari und bunt geschminkt in eine der vielen Tanzbars aufbricht. Im Morgengrauen, das Ohr an die Zimmerwand gepresst, versteht er schon früh, dass Naseem den Männern für deren Rupien mehr bietet als nur für sie zu tanzen. In diesem rein weiblichen Familiengeschäft der Prostitution erfüllt er keine Funktion, fühlt sich als „nutzloser Spielstein auf dem Schachbrett der Randgesellschaft“. Claudine Le Tourneur d‘Isons Debütroman „Hira Mandi“ erzählt, wie Chanwaz versucht, der Langeweile und Perspektivlosigkeit zu entfliehen, um den Sinn und Nutzen seines Daseins zu beweisen. Auch für ihn muss es doch einen Platz geben in der Gesellschaft jenseits der Stadtmauer. Er beschäftigt sich intensiv mit dem Islam, lernt lesen und schreiben und findet schließlich seine Berufung in der Malerei. Porträts der schillernden Tänzerinnen von Hira Mandi sollen der Welt die Augen öffnen für die Stärke und Schönheit der Frauen, die sein Denken und Handeln seit jeher prägen. Nach ersten erotischen Erfahrungen in einer leidenschaftlichen Beziehung zu seiner Schwester wird er bald Liebhaber und Freund der Tänzerinnen, die immer häufiger in seinem kleinen Atelier für ihn Modell sitzen. Den äußeren Rahmen der Geschichte bildet die politische Entwicklung Pakistans, denn jede Etappe in Chanwaz’ Leben ist eng mit dem Schicksal des noch jungen Landes verknüpft. Gerade zehnjährig erlebt er, wie 1947 nach zweihundert Jahren britischer Kolonialgeschichte zwei Staaten entstehen – das hinduistische Indien und das muslimische Pakistan. „Hira Mandi“ beruht auf der wahren Lebensgeschichte des Malers Iqbal Hussain, den die Autorin durch ihre

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Arbeit als Reisereporterin während einer ihrer Reportagen in Lahore kennen lernte. Claudine Le Tourneur d‘Isons Erzählung führt den Leser in eine magisch fremde Welt und konfrontiert ihn gleichzeitig mit großem Leid. Ihr Stilmittel ist dabei der Kontrast: Einer bildreichen, bewegten Beschreibung des bunten Treibens auf dem „Markt der Diamanten“, was Hira Mandi übersetzt bedeutet, folgt beispielsweise die nüchterne Schilderung von blutigen Massakern und Vergewaltigungen. Es wird eine Brutalität spürbar, die manchmal schwer zu ertragen ist. Auch muss sich der Leser früh damit abfinden, Hira Mandi ist ein Bildungsroman, der dass Phasen des G l ü c k s n i c h t zugleich Einblicke in die Geschichte und lange anhalten, Kultur Pakistans ermöglicht sondern sofort w ie d e r d u r c h schwere Schicksalsschläge abgelöst werden. ganz auf den letzten Hauch Mango zu konzentDas Schicksal Chanwaz’ ist bewegt, faszi- rieren, bevor er einschlief.“ Die klaren Bilder, nierend und eben tragisch – das weiß man die Claudine Le Tourneur d‘Ison uns mit allerdings bereits nach fünfzig Seiten. Die ihrem Roman gibt, vermitteln ein sinnliches spannende Frage ist also nicht unbedingt: Pakistan, das berührt und fasziniert. Wie wird es ihm ergehen? Interessanter ist: Wie entwickelt sich die politische Situation des Landes um ihn herum und wie sehr ist Hira Mandi. das Leben der Einzelnen durch die Umbrüche Von Claudine Le Tourneur geprägt? d’Ison. Aus dem Denn Hira Mandi ist ein Bildungsroman, Französischen der dem unwissenden Leser nicht nur die Le- von Nathalie bensgeschichte des wohl berühmtesten Malers Mälzer-Semlinger. Pakistans erzählt, sondern gleichzeitig tiefere Verlag Klaus WaEinblicke in Geschichte und Kultur ermög- genbach, Berlin licht. Aktuelle Themen wie Fundamentalis- 2006. 192 Seiten. Claudine Le Tourneur d‘ Ison mus, politische Repression sowie die Frage ira nach der Vereinbarkeit der Scharia mit westliandi chen Werten werden aufgegriffen und in ihrer Brisanz dargestellt. Da politische Missstände und Fortschritte stets in ihren Auswirkungen auf den Alltag der Bewohner von Hira Mandi Wagenbach

Von Nadja Reusch

geschildert werden, sind diese für den Leser leichter fassbar. Fast immer sind Hintergrundinformationen wunderbar unmerklich in die Erzählung eingewoben. Leider fallen dadurch die wenigen Stellen besonders auf, in denen Figuren in einem unnatürlich anmutenden Dialog einen historischen Abriss präsentieren und etwas plump zu viele Informationen geben. Diese Phasen sind aber kurz und schnell vergessen, da man bald wieder begeistert ist von der Art wie Claudine Le Tourneur d‘Ison mit der Sprache spielt, so dass der Leser die Atmosphäre und Stimmung der jeweiligen Situation genau erfassen und miterleben kann. Chanwaz’ Genuss von frischem Mangoeis beschreibt sie detailliert und bildhaft: „Seeligkeit. Glück. Mit leerem Kopf saß Chanwaz da und hatte alles vergessen, seine Einsamkeit, die nächtlichen Schreie seiner Mutter, die widerwärtigen Gerüche des Hauses; er konzentrierte sich ausschließlich auf das saftige kalte Fruchtmark [...] Dann legte er sich flach auf den Boden und schloss die Augen, um sich

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Roman

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Bücher

Die Symbolkraft des Piercings

Zeugnisse für alle

Der Psychologe Erich Kasten erklärt, warum Menschen ihre Körper drastisch verändern

Was Erika Schuchardt, langjährige Bundestagsabgeordnete, mit Unterstützung des Auswärtigen Amts in diesem Buch zusammengestellt hat, verdient Interesse: Über hundert „Testimonies“, Aussagen vor allem von nicht-weißen Schülerinnen und Schülern, sowie von Lehrern, blicken zurück auf den „Brückenbau“, den so genannte Begegnungsschulen im südli- chen Afrika leisten. Was im Titel wie eine päda- gogische Fachpublikation anmutet, entpuppt sich beim Lesen als ein faszinierender Werkstattbericht darüber, wie deutsche Kultur- arbeit in Südafrika und Namibia zur Überwindung der Apartheid beitrug und beiträgt. Seit 1977 wurden die deutschen Schulen in beiden Ländern, zunächst gegen heftige Widerstände, durch ihre Umwandlung in Begegnungsschulen für nicht-weiße Schülerinnen und Schüler geöffnet. Das war nicht bloß eine politische Symbolhandlung, sondern ein oft für alle Beteiligten schmerzhafter, indes schließlich geradezu befreiender Prozess. Dazu der Präsident der Republik Südafrika, Thabo Mbeki, in seinem Vorwort: „Diesen Schülern wurde die Möglichkeit gegeben, nicht nur zu lernen und ihren Neigungen nachzugehen, sondern auch von der breiteren Diaspora zu lernen und ein Teil von ihr zu werden.“ In einer Reihe begleitender Darstellungen und Analysen wird die Absicht der Herausgeberin deutlich, den „Fall südliches Afrika“ als ein Modell für Konfliktlösung durch Integration und Partizipation zu verstehen, dies durchaus im Sinn der neueren Zielsetzungen der auswärtigen Kulturpolitik. Dass die mit diesem Buch erzählte Geschichte zugleich eine Erfolgsgeschichte ist, macht Hoffnung. Barthold C. Witte

P r of. D r. E r i c h Kasten lehrt Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum in Magdeburg. 1996 erhielt er den Peter-Jacobi-Preis der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie. Sein Buch „ Body Modif ication“ erschien im Juli 2006 im Ernst Reinhardt Verlag.

Foto: privat

In Ihrem Buch „Body Modification“ reicht das Spektrum an Körperveränderungen von Piercings bis zu Selbstverletzungen. Was veranlasst Menschen dazu, ihren Körper so zu verändern? Einige wollen durch Piercings, Tattoos oder Schmucknarben attraktiver wirken, andere rebellieren damit gegen ihre Eltern. In anderen Kulturen dient die Körperveränderung beispielsweise als Initiationsritus. Keinen Schmerz zu spüren und nicht zu bluten gilt als religiöses Zeichen eines göttlichen Schutzes. Auf den Fidschi-Inseln zum Beispiel sind die Teilnehmer bei Ritualen wie dem Durchstechen der Zunge gedanklich auf ein Heiligtum fokussiert. Haben Menschen schon immer Körperveränderungen vorgenommen oder ist dies ein neues Phänomen? Body Modification gab es schon vor über 5000 Jahren. Damals dienten körperliche Veränderungen als Erkennungsmerkmal. Da es keine Uniformen gab, konnte zum Beispiel ein Nasenring die Stammeszugehörigkeit klären. Bei den Inkas wurden sogar Schädelveränderungen durchgeführt: Bei einem Stamm, der in der Nähe eines Vulkans lebte, wurden Kulturaustausch 1v/06

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die Köpfe der Kinder so abgebunden, dass der Schädel spitz nach oben wuchs und damit als Identifikation des „Vulkan-Stammes“ diente. Flache Schädel dagegen hatten diejenigen Stämme, die in der Nähe eines flachen Berges lebten. Wie werden Tattoos oder Piercings, die hierzulande mittlerweile zur Alltagskultur gehören, in anderen Kulturen wahrgenommen? Ich habe von einer gepiercten deutschen Touristin in Indien gehört, die dort angestarrt wurde, obwohl in Indien Piercings normal sind. Das liegt daran, dass beispielsweise Nasenringe bestimmten Kasten vorbehalten sind. Indische Tempeltänzerinnen tragen sie, andere Gruppierungen nicht. Sie haben eine starke Symbolkraft. Ein Europäer hat aber mit dieser Symbolkraft nichts zu tun. Wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung von Body Modification ein? Beim Piercing sehe ich den Höhepunkt bereits als überschritten an. Anders bei den Tattoos: Heute lassen sich 50- bis 60-Jährige tätowieren, um jugendlicher zu wirken. Auch extremere Formen werden zunehmen. Beispielsweise gibt es bereits einen Menschen, der aussieht wie ein Tiger: Er ist von Kopf bis Fuß tätowiert und hat sich echte Schnurrbarthaare implantieren lassen. Auch wenn dies ein Einzelfall ist, werden wir uns in den nächsten Jahren an ausfallende Körpermodifizierungen gewöhnen müssen. Das Interview führte Marieke Kraft

Erika Schuchardt (Hrsg.): Brückenbau. 15 Jahre Begegnungsschulen im südlichen Afrika. Erfolgsmodell deutscher Auswärtiger Kulturpolitik. Die Verarbeitung der Krise „Fremdsein“ im Universal-Krisen-Management-Interaktionsmodell im Spiegel von über 100 Testimonies. IBA – Internationale Buch Agentur, Berlin 2005.

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Neuerscheinungen

Kulturaustausch in Kalifornien

Amerikastudent in Deutschland

Auswärtige Kulturpolitik der Nachkriegszeit

Amerikanisierung und Antiamerikanismus

„ Ein wahres Schloss am Meer,“ so nannte Thomas Mann die Villa Aurora in Los Angeles, die Lion Feuchtwanger zusammen mit seiner Frau 1940 erwarb. Nach dem Tod von Marta Feuchtwanger stand das Haus leer, bis sich eine Berliner Privatinitiative fand, die 1995 einen internationalen Treffpunkt für Künstler daraus machte. Seither bietet die Villa Aurora Schriftstellern, Musikern, Filmemachern und bildenden Künstlern drei Monate lang Arbeitsaufenthalte in Pacific Palisades; sie unterstützt verfolgte Schriftsteller mit ihrem Programm „Writers in Exile“ und fördert den Kulturaustausch zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten. Der vorliegende Jubiläumsband gibt Auskunft über das Leben der Feuchtwangers in Los Angeles; er schildert die Rettungsaktion der Villa, rekapituliert die Geschichte der Feuchtwanger Memorial Library und zieht Bilanz der erfolgreichen Programmarbeit. Den größten Raum nimmt das „Künstlerbuch“ ein, eine von den Künstlern selbst gestaltete Dokumentation ihres Arbeitsaufenthalts in der Villa Aurora. Der Anhang informiert über Finanzierung, Vereinsorgane, Mitglieder des Freundeskreises, Juroren der Auswahljurys und Dokumente zur Gründungsgeschichte. (Cz)

„ R e ne g at e n“ aus der Anglistik, die sich der modernen amerikanischen Literatur zuwandten, Emigranten wie Ernst Fraen- kel und Theodor W. Adorno, die aus Amerika zurückgekehrt waren, und „odd fellows“, die aufgrund ihrer Biografie zu den Amerikastudien gelangten – diese Mischung kennzeichnete die ersten Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien (DgfA). 1953 in Marburg von 53 Mitgliedern gegründet, zählt die DGfA heute über 800 Mitglieder. Während in den Anfangsjahren überwiegend Sozialwissenschaftler die Gesellschaft prägten, haben sich die Gewichte heute zugunsten der Literatur- und Kulturwissenschaftler verschoben. Der vorliegende Sammelband ist anlässlich des 50. Geburtstags der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien erschienen. Die Beiträge rekapitulieren unter anderem die Entwicklung der Amerikastudien in Deutschland und zeichnen die Verbindungen zwischen Frankfurter Schule und den Amerikastudien nach; sie untersuchen die Darstellung der Vereinigten Staaten in deutschen Schulen und Universitäten, gehen auf die Entwicklung der Amerikanistik in der DDR ein und analysieren die Rolle der Vereinigten Staaten in der deutschen Politikwissenschaft. (Cz)

Wie verhielt sich die Auswärtige Ku lt u r pol it i k (AKP) im Nachkriegsdeutschland zu der vom Kalten Krieg ge- prägten Außenpolitik? War sie „restaurativ“ oder ging sie den Reformen der späten 1960er Jahre voran? Diesen Fragen widmet sich der Göttinger Historiker Matthias Bode in seiner Studie. Am Beispiel des Verhältnisses zur UNESCO und Deutschen UNESCO-Kommission (DUK) erläutert Bode die anhaltenden Ressentiments gegenüber den neuen multilateralen Foren, mit denen die bundesdeutsche Auswärtige Kulturpolitik vor der „Amerikanisierung“ geschützt werden sollte. Erst Mitte der 1960er Jahre unterstützten progressivere Abteilungsleiter und die große Koalition die UNESCO und DUK aktiv und ebneten den Weg für Öffnung und Reformen in der Auswärtigen Kulturpolitik. Bodes detailliert recherchierter Arbeit geht es um die Innenlogik der Akteure und Institutionen sowie ihre öffentliche Wahrnehmung. Der Verfasser beleuchtet die Dilemmata, Paradoxien und Konflikte der Auswärtige Kulturpolitik der 1950er und 1960er Jahre und zeigt, dass sich die „Ankunft im Westen“ in diesem Bereich deutlich verspätete. Die Magisterarbeit wurde mit dem Rave-Förderpreis Auswärtige Kulturpolitik 2006 des Instituts für Auslandsbe- ziehungen ausgezeichnet. (Hol)

Welche Rol le spielt die amerikanische public diplomacy in Europa? Wie geschieht der Transfer zwischen amerikanischer und europäischer Hochkultur? Welche Verbreitung findet die amerikanische Pop- und Massenkultur in den Bereichen Film, Fernsehen, Musik und Lifestyle in Europa? Wie gestaltet sich Antiamerikanismus in einzelnen Ländern? Zum ersten Mal untersucht diese Aufsatzsammlung vergleichend, welche Rolle amerikanische Kultur und Antiamerikanismus in unterschiedlichen europäischen Ländern spielen. Die Autoren gelten ausnahmslos als Experten auf ihrem Gebiet und berichten aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Schweden, Dänemark, Österreich, Russland, Polen, Italien, Griechenland und Spanien. Trotz aller länderspezifischen Unterschiede lassen sich gewisse Trends ausmachen: 1945 gilt allgemein als Startpunkt für die amerikanische Dominanz in Europa, ab 1990 öffnete der Zusammenbruch der Sowjetunion die osteuropäischen Länder für amerikanische Kulturimporte, und seit 2001 wird in allen europäischen Ländern ein zunehmender Antiamerikanismus sichtbar. Für die nächsten Jahre fordern die Autoren daher ein neues Nachdenken über kulturelle Unterschiede dies- und jenseits des Atlantiks. (Cz)

Auswärtige Kulturpolitik zwischen Demokratisierung und Internationalisierung. Die frühe Bundesrepublik als Partner der UNESCO. Matthias Bode. Göttingen, Univ., Magisterarbeit, 2005. 152 Seiten.

The Americanization of Europe. Culture, Diplomacy, and AntiAmericanism after 1945. Alexander Stephan (Hrsg.). New York, Oxford: Berghahn Books, 2006. 432 Seiten

10 Jahre Villa Aurora 1995–2005. Mechthild Borries-Knopp (Hrsg.). Ebenhausen: Dölling und Galitz, 2005. 368 Seiten.

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Cultural Interactions. Fifty years of American Studies in Germany. Ulla Haselstein und Berndt Ostendorf (Hrsg.). Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2005. 274 Seiten.

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Neuerscheinungen

Niederländische Auswärtige Kulturpolitik

Interkulturelle Kommunikation

Visualisierungen von Europa

Konfliktprävention und Friedensförderung

Die Auswärtige Ku lt u r pol it i k der Niederlande in den letzten 15 Jahren ist in die Kritik geraten. Kritiker beschreiben sie als bunte Mischung aus internationalen Bestrebungen von Künstlern und Kunsteinrichtungen unterstützt von einer lediglich nachfrageorientierten Regierungspolitik. Reicht das heute noch aus? Sollte die Auswärtige Kulturpolitik der Niederlande nicht ehrgeizigere Ziele verfolgen und ergebnisorientierter sein? Wie weitgehend sollten die politischen Ziele formuliert werden? Sollten wirtschaftliche, soziale und politische Aspekte darin einfließen oder ist es nur die Kultur, die zählt? Auf diese und andere Fragen antworten renommierte nationale und internationale Vertreter aus Kunst, Wissenschaft und Politik, die aus ihrer Sicht zu den Themenbereichen Kulturprofil, Kultur und Politik, Kultur und Wirtschaft sowie internationale Mediation Stellung nehmen. Sie fordern eine Änderung der Mentalität, mehr Offenheit und Pioniergeist. Eine neue niederländische Auswärtige Kulturpolitik sollte darüber hinaus Vielfalt fördern und persönlicher Initiative mehr Raum lassen. (Cz)

Begriffe wie Interkulturalität und interkulturelle Kommunikation hatten in den letzten Jahren Hochkon- junktur. Weniger bekannt ist, dass interkulturelle Kommunikation als wissenschaftliche Disziplin in den 1960er Jahren in den Vereinigten Staaten und Kanada entstand. Seit den 1980er Jahren wird Interkulturelle Kommunikation auch an deutschen Universitäten wie Bayreuth, Chemnitz, Regensburg, Jena und Saarbrücken schwerpunktmäßig gelehrt. Interkulturelle Fragestellungen fließen seitdem in Philosophie und Psychologie, Pädagogik und Medienanalyse, Politik- und Wirtschaftswissenschaft, Literatur- und Kulturwissenschaften ein. Der Autor, Lehrstuhlinhaber für Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation an der Universität Saarbrücken, stellt die Konzepte interkultureller Kommunikation und Kompetenz, Interkulturalität, Hybridität, Multi- und Transkulturalität sowie Kulturstandards vor und führt unter anderem in die Problembereiche Zivilisa- tionskonflikt und Globalisierung ein. Weitere Themen sind die unterschiedlichen Ansätze von Interaktion, interkulturelles Lernen und Trainingsformen, Fremdwahrnehmung in den Medien, Fremdbilder in interkulturellen Interaktionssituationen sowie Konzepte und Dimensionen des Kulturtransfers. (Cz)

„Mit Bildern ist kein Staat zu machen, ohne Bilder aber auch nicht“. Welche Bilder die kollektive Identität Europas geprägt haben, ist Thema des vorliegenden Bands, der auf eine Ringvorlesung an der Universität Wien zurückgeht. Neben Europa auf dem Stier, der sicher bekanntesten Versinnbildlichung unseres Kontinents, analysieren die Autoren EuropaBilder, die bis heute unser Bild von Europa bestimmen. Die Aufsätze untersuchen die verschiedenen Visualisierungen Europas in Form von Emblemen, Allegorien und Briefmarken, gehen auf fotografische und kartografische Darstellungen ein, thematisieren die Stadt als europäisches Symbol und beschreiben die Europa-Bilder der deutschen Liberalen und Demokraten im Vormärz. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit Europa-Bildern in Ungarn, in der Slowakei und in den Vereinigten Staaten und behandeln Europa als Symbol politischer Image-Konstruktionen. (Cz)

Der Band dokumentiert die Vor t r ä ge de r 14. Tagung der Arbeitsgruppe Auslandslehrer/ Auslandslehrerinnen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft vom November 2004. Vertreter des Auswärtigen Amts, der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen, des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und des Bund-Länder-Ausschusses für die schulische Arbeit im Ausland bei der Kultusministerkonferenz stellen den Beitrag der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik zur Konfliktprävention und Friedensförderung heraus; sie untersuchen den Anteil der Bildungshilfe an der Konfliktprävention, berichten über aktuelle Entwicklungen in der Auslandsschularbeit und präsentieren das Grundmodell für ein Deutsches Internationales Abitur. Die Berichte aus der Praxis und die Rückkehrerberichte schildern die Arbeit vor Ort in Ägypten, Afghanistan, Ramallah, Kirgisistan und den Vereinigten Staaten. (Cz)

All that Dutch. International Cultural Policies. Rotterdam: NAi Publishers, 2005. 118 Seiten.

Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. Hans-Jürgen Lüsebrink. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2005. 211 Seiten.

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Europa-Bilder. Wien (u.a.): StudienVerlag, 2005. 204 Seiten. (Querschnitte, 18)

Kultur- und Bildungsarbeit im Ausland. Beiträge zur Konfliktprävention und Friedensförderung. Ländliche Heimvolkshochschule Mariaspring, 2005. 151 Seiten.

Alle Titel sind in der Bibliothek des ifa ausleihbar. www.ifa.de/b/index.htm Auswahl: Institut für Auslandsbeziehungen, Gudrun Czekalla, Christine Steeger-Strobel Annotationen: Gudrun Czekalla (Cz), Dr. Stefan Hollensteiner (Hol)

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Ramadan und die Wunderlampe Diesmal: ägyptische Fanoos

Stellen Sie sich vor, es ist Ramadan und Sie sind gerade in Ägypten. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Ihnen eine von Aladins Wunderlampen begegnen wird. Diese sieht aus wie eine orientalische Teekanne, kann tanzen, arabische Lieder singen und magischen Rauch paffen. Was sie mit dem Ramadan und dem Land der Pharaonen zu tun hat? Die ursprüngliche Wunderlampe heißt Fanoos und besteht aus einem dünnen bunten Schirm aus Glas, ähnlich wie bei einer Petroleumlampe, mit einer Kerze im Inneren. „Heute dienen sie nur noch gelegentlich als Schmuck und Dekoration, gelten aber noch immer als Symbol des Ramadan“, sagt Amal Kenawy, Malerin aus Kairo. Früher spielten ägyptische Kinder damit an den Abenden des Heiligen Monats auf den Straßen. In unserer Zeit des multimedialen Spielzeugs wurde diese Tradition jedoch abgelöst von einer vielseitigen Plastik-lampe in schillernden Farben. Auch dieses Jahr wurde ein neues Modell der „Aladdin’s Magical Lamp“ für den Heiligen Monat (24. September bis 22. Oktober 2006) vom chinesischen Spielzeughersteller Gealex Toys gefertigt und nach Ägypten exportiert. Eine US-amerikanische Website für ägyptische Artikel vertreibt die Lampen unter dem Namen „Kids Fanoos“. Während des Ramadans sind sie ein Muss in jedem ägyptischen Haushalt mit Kindern, egal ob die Familie in Ägypten oder im Ausland lebt. Marieke Kraft Wunderlampen zum Bestellen: http://store.giftsegypt.com

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In Europa

Fokus: Usbekistan

Was vom Krieg übrig bleibt Nicht immer ist Kulturaustausch ein freundlicher Dialog auf Augenhöhe. Oft ist der Kontakt mit fremden Kulturen auch im Kampf erzwungen. Was vom Krieg übrig bleibt: Kriegskinder und Denkmäler, Sprache und Architektur, Rache und Versöhnung.

Gefillte Fisch sucht Fahrrad Lettland ist ein kleines Land. Noch kleiner ist die jüdische Gemeinde. Auf jüdischen Singlepartys in der lettischen Provinz kann der Nachwuchs passende Ehepartner finden.

Bürger in Brüssel „European Citizens’ Consultations“: 200 zufällig ausgewählte Bürger aller 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union diskutieren in Brüssel, welches Europa sie wollen.

Vom Weg abgekommen Die Demokratisierung Usbekistans sollte mit der islamischen Tradition Hand in Hand gehen. Heute leidet das Land nicht nur unter einem autoritären Regime, sondern auch unter religiösem Fanatismus.

Ein Themenschwerpunkt über Kulturaustausch durch Krieg

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Die Ausgabe 1/2007 erscheint am 8. Januar 2007

Foto: Nikola Richter

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