2006/02 China - auf dem Weg nach oben

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PDF-Ausgabe eines vergriffenen Titels der Zeitschrift f端r Kulturaustausch


editorial

Capital International Airport Peking, im vergangenen herbst. In den Warteschlangen des air china-Flugs nach Frankfurt stehen viele Paare mit Babys. Die Kinder wippen in trageschaukeln, weinen, saugen an Fläschchen. Es sind chinesische Kinder – und, so weit erkennbar, Mädchen. Ihre Eltern sind Europäer, englische, französische, spanische, deutsche. später, im Flugzeug: Ein Brite hält seine tochter ans Fenster und sagt: „say bye-bye to china.“ Eine merkwürdige situation: Dutzende kleiner Mädchen verlassen ihr land. um mit anderen sprachen, in anderen Kulturen – solchen mit Demografieproblemen – groß zu werden. haben sie Glück gehabt? Oder hätten sie auch in ihrer heimat chancen auf eine gute Zukunft? Mädchen sind das unbeliebte Geschlecht in china. Die Ein-Kind-Politik bewirkt, dass Eltern söhne bevorzugen, weil die sie im alter besser versorgen können. china muss sein Bevölkerungswachstum in den Griff bekommen. Das wissen wir. Gleichzeitig sehen wir die schlimmen Folgen der Geburtenpolitik, bis hin zu einem prognostizierten Männerüberschuss von 40 Millionen im Jahr 2020. Wenn es um china geht, sind wir vor allem eins: ambivalent. Einerseits sind wir beeindruckt vom gigantischen aufstieg und der einmaligen Kultur. anderseits ist da ein unbehagen: über die radikalität, mit der das land seinen eigenen Weg geht, weitab unserer Vorstellungen von Demokratie. Wir ahnen, dass die künftige Weltmacht uns einige Veränderungen bringen wird. Welche genau, können wir zurzeit noch nicht wirklich fassen. Wie ist china? Wer sind die chinesen? In dieser ausgabe berichten chinesische und internationale autoren über das land hinter dem Wirtschaftsboom. so viel vorweg: Es ist faszinierend – und sehr ambivalent.

Fotos: Gao Brothers, Deutsches Schuhmuseum Offenbach, privat

Jenny Friedrich-Freksa

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Die Bildstrecke im Hauptteil haben die Gao Brothers fotografiert. Zhen (rechts) und Qiang Gao, geboren 1956 und 1962 in der Provinz Shandong, leben in Peking. Derzeit arbeiten sie an dem Projekt „Field of Vision:Bejing“.

Unser Coverfoto zeigt einen chinesischen Stelzschuh aus Seide. Er stammt aus dem 19. Jahrhundert. Der Stelzabsatz bot zwei Vorteile: den Schuh trocken und sauber zu halten – und seinen Träger größer erscheinen zu lassen.

Suming Soun, die 1992 aus Taiwan nach Deutschland kam, hat die chinesischen Texte dieses Heftes übersetzt. Nun wartet bei KULTURAUSTAUSCH eine neue Aufgabe auf sie: Ab sofort bringt Suming Soun der Redaktion Chinesisch bei.


China auf dem Weg nach oben Wirtschaftsboom, neue Weltmacht, neue Weltsprache. Wie sieht es jenseits von china-superlativen aus? Thema: china seite 14 – 65

Operndiva Tian Mansha Die prominente und vielfach ausgezeichnete Opern-Künstlerin tian Mansha im Gespräch Thema: china seite 45

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Inhalt

Die Welt von morgen top ten: Die meistgestohlenen autos in den usa Kulturleben Fokus Israel: Bei anruf Frieden Fokus Bolivien: real existierender rassismus Wählen in: Kongo

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Thema: China Hallo Drache! von Ian Buruma 16 Peking, Hauptstadt der Schwalben von tilman spengler 20 Generation Einzelkind von sun changmin 24 Theoretisch sicher von Ding chun 25 Harmonien in Grün von Pan Yue 28 Krieg den Hütten von Qu Jing und Marcus hackel 2 „Wir alle sind kleine Figuren“ – Interview mit Ma liwen 6 Noraismus von he chengzhou 7 Fachchinesisch von Iwo amelung 8 Kekse für Chongqing von Nereida Flannery 9 Wechselstrom von Nikola richter 42 „Die Regierung achtet auf Tradition“ – Interview mit tian Mansha 45 Geben und Nehmen von Michael Müller-Verweyen 48 Atmen lernen von Wei Jingsheng 50 Menschenrechte made in China von albert chen 51 Demokratie digital – Interview mit Xiao Qiang 5 Der vierte Block von Noam chomsky 56 Bündnisfall von lin Jinbo 58 Shopping in Darfur von leni Wild 62 Karte von China 64

Magazin Frank-Walter Steinmeier im Interview liebe Europäerinnen und Europäer! von Michael Stavaric Gespaltene Zunge von Alois Berger Das kann ich mir sparen von Michael Gahler 4,7 Prozent Europa von Ulrike Guérot Kulturdialog – wonach klingt das? von Thomas Krüger und Susanne Weigelin-Schwiedrzik Pressespiegel leserbriefe Wir werden glücklicher – Interview mit Ruut Veenhoven Meine uni ist die Welt von Karl-Heinz Kloppisch Kirschholzraspeln von Marc Andrae Mit Björk auf du und du von Avi Pitchon Kulturorte: Eugenijus Alisanka über den Kalvajarmarkt in Vilnius Köpfe Bücher Neuerscheinungen Weltmarkt

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Impressum

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Kirschholzraspeln Fotos: Gao Brothers, Dirk Bleicker (links); Bundesregierung (rechts)

Wenn Kultur Politik trifft Interview mit außenminister Frank-Walter steinmeier über die künftige außenkulturpolitik Magazin: seite 66

Was ein deutscher schreiner von japanischen Kollegen gelernt hat Kulturprogramme: seite 86

Wir werden glücklicher Der niederländische Glücksforscher ruut Veenhoven weiß warum: ein Interview Hochschule: seite 82

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Die Welt von morgen

USA: Weniger Brause Aus Angst vor Klagen und auf Druck mehrerer Gesundheitsorganisationen haben sich im Mai die drei großen US-Getränkekonzerne Pepsi, Coca-Cola und Cadbury Schweppes darauf verständigt, weniger Softdrinks in Schulen zu verkaufen. 35 Millionen Schüler werden sich von nun an in der Schule zuckerfrei erfrischen müssen.


Schweden: Ein neuer Buchstabe Das Schwedische ist um einen Buchstaben reicher. In der diesjährigen Ausgabe des schwedischen Wörterbuches wird das W zum ersten Mal als eigenständiger Buchstabe aufgeführt. Vor allem in Lehnwörtern aus anderen Sprachen, wie beispielsweise Whisky oder Wok, kommt das W im Schwedischen vor. Bisher wurden Wörter mit dem Anfangsbuchstaben W dem gleichklingenden V zugeordnet.

Russland: Allzeit erreichbar Russische Handybesitzer sind ab 1. Juli 2006 erreichbar. Weil bislang für eingehende Anrufe bezahlt werden muss, nehmen viele der 126 Millionen Mobilfunkkunden Anrufe nicht entgegen. Nun hat der Kreml das Telekommunikationsgesetz geändert: Die Zahlungen für angenommene Telefonate entfallen. Gespräche aus dem Ausland hingegen bleiben kostenpflichtig.

Turkmenistan: Rente gestrichen Der turkmenische Diktator Nijasow hat die staatliche Altersversorgung weitgehend abgeschafft. Männer müssen mindestens 30, Frauen mindestens 25 Jahre berufstätig gewesen sein, um einen Rentenanspruch geltend machen zu können. Rentner mit erwachsenen Kindern, Schwerbehinderte und ehemalige Kolchosbauern erhalten gar kein Geld mehr. Das Gesetz tritt rückwirkend in Kraft: Wer die neuen Voraussetzungen nicht erfüllt, muss die Zahlungen der letzten zwei Jahre zurückerstatten. Saudi-Arabien: Kampf dem Übergewicht Der saudi- arabischen Regierung macht das Körpergewicht ihrer Landsleute zu schaffen. 51 Prozent der Frauen und 45 Prozent der Männer gelten als fettleibig. Eine Medienkampagne und Telefonseelsorgedienste klären nun über gesünderes Essverhalten und Leibesübungen auf. Bereits 29 Prozent der weiblichen und 36 Prozent der männlichen Teenager leiden an Übergewicht. Der Sportunterricht bleibt für Mädchen jedoch weiterhin untersagt.

Simbabwe: Hexenjagd Simbabwe erweitert das seit 1989 bestehende Gesetz gegen Hexerei. Ab Juli drohen damit bis zu fünfjährige Haftstrafen für die Beteiligung an Hexerei. Bisher war es lediglich strafbar, Personen als Hexe beziehungsweise Hexer zu bezichtigen.


Top Ten Die meistgestohlenen autos in den usa

In den USA werden jährlich 1.237.114 Autos gestohlen 1. 2. . 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

honda civic toyota camry honda accord Dodge caravan chevrolet Full size c/K 1.500 Pick-up Ford F150 series Dodge ram Pick-up accura Integra toyota Pick-up Nissan sentra

Quelle: „2005 hot Wheels“, NIcB National Insurance crime Bureau

1. Ersatzteillager: Honda Civic am begehrtesten bei den Dieben ist der honda civic, Baujahr 1995. Mit 75 Ps und kostengünstiger Wartung ist er ein ideales teenager-auto. spätestens am college legen sich Bastler das „tuner car“ tiefer und bauen eine hi-Fi-anlage mit Bass-Boost ein. autodiebe missbrauchen den honda civic meist als Ersatzteillager: Nachdem sie ihn auseinander genommen haben, verkaufen sie ihn in Einzelteilen auf dem schwarzmarkt. In Kalifornien scheint der handel besonders gut zu laufen, denn hier verschwinden us-weit die meisten hondas.

4. Soccer Moms Liebling: Dodge Caravan Den Dodge caravan fahren bevorzugt „soccer Moms“: weiße Mütter der gehobenen Mittelschicht, die mit Ehemann und zwei Kindern in einem Vorort leben und ihre Zeit damit verbringen, die söhne zum Fußball zu kutschieren. Der Dodge caravan bietet ausreichend stauraum für Ersatztrikots, turnschuhe, Getränke-cooler und einen Klappstuhl. Vor allem in Washington, D.c. passiert es häufiger, dass die „soccer Moms“ ihre autos nach dem 90-Minuten-spiel vergeblich suchen. Mini-Vans und familiengerechte Geländewagen werden hier am häufigsten gestohlen.

Der Pick-up ist mit seiner großen ladefläche unentbehrlich für alle arbeiten rund um die Farm. sein Image ist das eines „tough guy“. Deshalb lässt sich mit ihm beim ersten Date ebenso Eindruck schinden wie bei Freunden, mit denen man über staubpisten und Geröllhalden zum Wildcampen donnert. Vor allem texaner wissen das zu schätzen. an der Grenze zu Mexiko sollten man seinen 1.500er chevrolet nicht unbeaufsichtigt lassen, denn dort wird er am häufigsten geknackt.

Zusammengestellt von Eileen Stiller

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Fotos: Honda (1), istockphoto (2), Free Lens Pool (3)

5. Texaner Favorit: Chevrolet Full Size C/K 1.500 Pick-up


Kulturleben was anderswo ganz anders ist

Fotos: privat (1), Klaus Lefebvre (2)

GElB Wann Sie auf den Bermudas Was die Farbe Gelb in Shorts tragen sollten Indien bedeutet

Warum man in Australien im Juli Weihnachten feiert

Wer glaubt, Bermuda-shorts zu kennen, aber noch nie auf Bermuda war, der irrt. sie sind nämlich mitnichten eine Modeerscheinung. richtige Bermuda-shorts sind wie anzughosen gearbeitet, nur kürzer. Genau genommen enden sie inches, also 7,62 cm, oberhalb des männlichen Knies. sie sind mit einer Bundfalte versehen und, es gibt sie in allen Farben, von dezentem Grau bis gewagtem schweinchenrosa. Kreiert wurden sie um die Jahrhundertwende in london von der britischen armee für ihre in heißen Gefilden stationierten soldaten. Nach Bermuda fanden die shorts erst um 1920. rasch begann die Zivilbevölkerung, sie von der auf Bermuda stationierten royal Navy zu übernehmen. Mittlerweile stellen die shorts – mit kleineren Mutationen in Farbe und stil – zusammen mit hemd, Krawatte, sakko und natürlich den unverwechselbaren Kniestrümpfen das nationale Business-Outfit schlechthin dar. Der Neuankömmling auf Bermuda wagt sich meist eher zaghaft an das ungewohnte Beinkleid heran. Bald aber erkennt er die Vorzüge: luftig, praktisch, gut. außerdem bemerkt er, dass in jeder Bank, jedem restaurant und jedem Business-Meeting Mann gerne Bein zeigt. Denn: Wer kann in den heißen sommermonaten schon der Verlockung widerstehen, im schutze des schreibtisches einfach mal schnell seine Kniestrümpfe herunterzurollen?

Weihnachten wird an Weihnachten gefeiert, auch in australien. Da aber Glühwein, truthahn und Pudding noch nie so recht zu den fast 40 Grad gepasst haben, die im Dezember in weiten teilen australiens herrschen, ist man vermehrt dazu übergegangen, am traditionellen Weihnachtstag kalte Meeresfrüchte zu verzehren und das klassische Festmahl stattdessen im Juli, an „christmas in July“, aufzutischen. Die Idee eines zweiten Weihnachten entstammt eigentlich der Werbekampagne einiger restaurants und hotels, die versuchten, mehr touristen in die skigebiete zu locken. Die Vorstellung, auch einmal in den Genuss einer „echten“ Weihnachtsstimmung zu kommen, fand jedoch schnell großen anklang. richtig ernst nimmt „christmas in July“ nach wie vor niemand. Es ist eher eine nette Gelegenheit, mit Freunden oder Familie ein erholsames Wochenende in den verschneiten Bergen zu verbringen. Dafür ist es aber typisch australisch, so selbstironisch zu sein, sich so etwas überhaupt auszudenken.

Gelb, genauer gesagt, safrangelb gilt in Indien als „Glück versprechende“ Farbe. so lautet einer ihrer vielen Namen auch „suvarna“„gute Farbe“. Gelb ist zudem die „heilige“ Farbe vieler indischer Glaubensrichtungen. Mönche des Jainismus und Buddhismus kleiden sich in safranfarbene Gewänder. auf den Dächern der hindu- und sikhstätten wehen dreieckige gelbe Fahnen. Die Farbe begegnet einem außerdem auf der stirn der hindus, wo sie einen safrangelben Punkt markiert. hinduistische Gottesstatuen reibt man mit einer safranfarbenen Paste ein, um ihnen zu huldigen. Von Gelb geht damit eine vereinigende Wirkung aus: Im hinduismus ist es eines der wenigen Elemente, das von allen Gläubigen akzeptiert wird. aus dem religiösen Kontext ist seine Bedeutung mittlerweile in die Politik übergegangen. Dort ist mit dem Erstarken der rechtsgerichteten hindupartei BJP („Partei des Indischen Volkes“) in den neunziger Jahren der Begriff des „safranisierens“ entstanden. Er steht für den Versuch des „Einfärbens“ verschiedener gesellschaftlicher Bereiche mit der Parteiideologie und den religiösen Werten des hinduismus.

Simone Young ist Intendantin der Staatsoper Hamburg sowie Generalmusikdirektorin der Philharmoniker Hamburg. Geboren und aufgewachsen ist sie in Sydney.

Dr. Kulwant Singh ist Chefberater des „Water for Asian Cities Programme” der UNO in NeuDelhi, Indien.

Petra Heinz-Prugger lebt seit drei Jahren auf Bermuda und ist bei einem Trust-Unternehmen tätig.

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Bei Anruf Frieden Kaum ein land hat so viel Erfahrungen im umgang mit terror. Wie Israel den Nahostkonflikt erfolgreich und friedlich bekämpft Von ute hempelmann

Mit „schalom“ und „salam“ begrüßt man sich in Israel. „Frieden“ bedeutet das. Frieden? In Israel? „schalom“ und „salam“, sagen die beiden Gesprächspartner. Der Jude und der Palästinenser kennen sich bisher nicht. sie telefonieren miteinander, weil sie sich austauschen möchten mit „der anderen seite“. am telefon muss man dem anderen nicht in die augen schauen. Zuweilen hat das Vorteile. Der 20-jährige Palästinenser sammy Waed lebt in ramallah, einer stadt, in der die israelische armee seit Jahren präsent ist – je nach politischer situation. sein Gesprächspartner, der 2 -jährige arik aus tel aviv, dient in eben jener armee, der Zahal. Für sammy, den Palästinenser, ist arik, der Jude, ein Besatzer. Für arik ist sammy einer, der sich mit einem sprengstoffgürtel in die luft jagen könnte. sie reden miteinander, weil „Parents circle“, eine jüdisch-palästinensische Organisation, eine telefonhotline für Gespräche zwischen Juden und Palästinenern eingerichtet hat, einen direkter Draht zwischen den Fronten gewissermaßen. „Parents circle“ hat rund 500 Mitglieder, und alle hätten eigentlich gute Gründe, aufeinander zu schießen, statt zu reden. sie alle haben im Konflikt ein Familienmitglied verloren, oft das eigene Kind. Zum Beispiel Yitzak Frankenthal. 1994 wurde sein 19-jähriger sohn von der hamas entführt und ermordet. Der Wut und trauer zum trotz gründete der Vater mit anderen Familien „Parents circle“. 8 0.000 telefonate hat die Organisation in den letzten 18 Monaten gezählt. auf beiden seiten gibt es Menschen, die sich Frieden wünschen. sammy erfährt Wertvolles in seinem telefonat mit arik. Der soldat ist keineswegs stolz auf das, was er tut – er hasst den Militärdienst, wie er sammy gesteht. und langsam verändert sich das Bild, das der Palästinenser im Kopf hatte: aus „dem 10

Juden“, dem träger der uniform, dem „täter“ wird plötzlich ein Mensch mit Gefühlen. Ein großer schritt in sammys Kopf, ein kleiner schritt für den Frieden. so sieht es auch die Europäische Kommission, die die hotline finanziell unterstützt. Diese „Friedenskultur“ in Israel blüht weitgehend im Verborgenen, weil die Dialogbereiten im eigenen lager oft als „Verräter“

beschimpft werden. aber auch im ausland erfährt man wenig von den „kleinen Wundern“, die täglich geschehen in Israel. Fast klischeehaft mutet die übliche Berichterstattung der Medien an. Es ist, als ob sich alle abgesprochen hätten nur aus dem land zu berichten, wenn es wieder tote gegeben hat. Jenseits des rampenlichtes hat sich – ausgerechnet in Israel – eine Friedenskultur entwickelt, die – zum teil seit Jahrzehnten – nach auswegen sucht. Gerade weil der Konflikt so ausweglos scheint. Das führt dazu, dass viele Israelis und Palästinenser genauer hinschauen, um Wege zum Frieden zu finden. Den politischen stolpersteinen zum trotz („Was passiert mit dem tempelberg?“ „Was passiert mit den Millionen palästinensischer Flüchtlinge?“) gibt es die Erkenntnis, dass man bei

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Fotos: W.M.Weber/TV-yesterday (Wählscheibe), istockphoto (Taube)

Fokus: Israel


Fokus: Israel

aller Wut letztlich doch keine alternative hat, als wieder aufeinander zuzugehen. In „Givat haviva“ weiß man das seit 1949. Das israelische Bildungsinstitut ist aus der Kibbuzbewegung hervorgegangen, unter anderem, um zum Verständnis der mehr als hundert Ethnien, Nationalitäten und religionen in Israel beizutragen. auch dem Verständnis zwischen Juden und Palästinensern, die rund 17 Prozent der Bevölkerung in Israel ausmachen. Dementsprechend hat „Givat haviva“ ein mehr als 50-jähriges Know-how in sachen „Friedenserziehung“. Von dem sollten auch Menschen außerhalb Israel profitieren, fanden die Organisatoren, eine art Konfliktlösungs-transfer. Das im Nahostkonflikt gewonnene Wissen sei auch in anderen Krisenregionen verwertbar, zum Beispiel in Bosnien. auch dort: Konflikte zwischen Ethnien, religionen. Die Idee, „Friedenserziehung“ als eine art Ware zu exportieren löst hierzulande oft unverständnis aus. und doch macht es für israelische Organisationen absolut sinn.

Friedenshotline: In Israel wurde eine Telefonhotline für Gespräche zwischen Juden und Palästinensern eingerichtet. Sie ist sehr erfolgreich.

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Zum einen, weil sie am tropf des auslands hängen. Je nach regierungskonstellationen in Israel werden die Zuwendungen für jüdischisraelische Dialogprogramme nämlich locker gemacht oder eingefroren. Ohne unterstützung der Eu oder einzelner Mitgliedstaaten wären Friedensinitiativen in Israel gar nicht denkbar. Mitglieder vom „Parents circle“, „Givat haviva“ oder anderen Organisationen sind regelmäßig zu Gast im ausland, um bei befreundeten Gruppen, kirchlichen Organisationen oder politischen Parteien für ihre Projekte zu werben. als „Gegenleistung“ können sich die anderen ein wenig abschauen von den oft ungewöhnlichen ansätzen zur Friedenserziehung. aber nur abschauen und gar nichts zahlen? Dagegen hatten einige Organisationen was. so gab es theoretische anleitungen erfolgreicher Modelle aus Israel und unterrichtsmaterialien zeitweise beim Bertelsmann Verlag zu kaufen. seminare und Workshops für Pädagogen in Deutschland konnte man dazu gesondert buchen. sie kosten – wie andere pädagogischpsychologische seminare in Deutschland auch – von mehreren 100 Mark seinerzeit bis zu mehr als 1.000 Euro. auf techniken, die vermittelt wurden, gab es eine art „Patentschutz“. aber letztlich mussten diese Versuche des „copyrights“ auf Friedenserziehung aus Israel scheitern. Know-how ist keine Ware – und „geistiger Klau“ üblich im pädagogischpsychologischen Gewerbe. Was man allerdings nicht nachmachen kann, ist die Erfahrung, die in der israelischen Friedenserziehung steckt. sie ist erfolgversprechend wie aus kaum einem anderen land, gerade weil sie unter härtesten Bedingungen entsteht und sich an ihnen messen lassen muss. so betrachtet, war es kein Zufall, dass „Givat haviva“ im Jahre 2001 den Friedenspreis der unesco für sein jüdisch-palästinensisches Begegnungsprogramm: „Kinder lehren Kinder“ bekam. Wenige Monate zuvor, im Oktober 2000, hatte ariel sharon den tempelberg besucht, die spannungen eskalierten: Beginn der al- axa-Intifada. Ideologisch hat „Kinder lehren Kinder“ viele Väter. Martin Buber („Der Mensch wird am Du zum Ich“) zum Beispiel. Oder Paolo Freire („Dialog kann nur entstehen zwischen Menschen, die einen Dialog auch wollen“). Der Kernsatz kommt weiß Gott woher: „Wenn Du in Kontakt mit

dem anderen gehen willst, solltest Du erst mal wissen, wer Du selber bist.“ Folglich steht auf dem stundenplan der jüdischen und palästinensischen schulklassen, die freiwillig an dem mehrjährigen Programm teilnehmen, zunächst: „Identitätskunde.“ Nicht nur für Kinder. Es ist ein Prinzip des Programms, dass lehrer und schulleiter den gesamten Prozess mitmachen. rund ein Jahr lang arbeiten beide seiten an brennenden Fragen: Bin ich Opfer? Bin ich täter? Wer bin ich als Moslem in einem land, in dem „das Einende“ das Judentum ist, und nicht etwa die staatsbürgerschaft? Mal spielerisch, mal tiefschürfend kreist der unterricht der 14- bis 16-jährigen schüler um diese Fragen. Erst nach dieser „Besinnungsphase auf sich selbst“ finden die treffen statt: erst das der schulleiter, dann die lehrer, zuletzt die schüler. Dabei geht es nicht immer freundlich zu. Vor allem, wenn sich kurz vorher mal wieder ein attentäter in die luft gesprengt hat. Oder die israelische seite wieder erwägt, den Gazastreifen zu besetzen. Dann geraten die Begegnungen zu einer Verbal-schlacht gegenseitiger anschuldigungen. „Ihr bringt uns alle noch um.“ Wenn dieser satz fällt und die Gegenseite reflexhaft antwortet: „Ihr uns auch“, dann kann er umformuliert werden: „Wir werden uns alle gegenseitig umbringen.“ Das trifft den Kern des Konf liktes. Er eskaliert, sofern nicht einer „stopp“ sagt. Wenn beide seiten sich beschuldigen, statt die eigene Verantwortung und Mittäterschaft zu erkennen. Darum kracht und knallt es in Israel – auch in der Friedenserziehung. In Einzelfällen wird der Kontakt zwischen den Gruppen sogar abgebrochen. Das ist traurig, aber so ist das, wenn man nicht zwanghaft versucht, nett zu sein zu Menschen anderer Ethnien oder religionszugehörigkeit. Diese authentizität ist spürbar bei fast allen israelischen „Konfliktlösungs-strategen“. Darum sind sie für viele anziehend. Denn eben das – nicht mehr und nicht weniger – bedeutet: Frieden. „hallo schalom, hallo salam.“ Made in Israel. Ute Hempelmann hat als freie Journalistin und Pädagogin eineinhalb Jahre in Israel gearbeitet. Heute lebt sie Hamburg.

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Fokus: Bolivien

Real existierender Rassismus Evo Morales ist der erste indigene Präsident Boliviens. Die Diskriminierungen im alltag haben damit aber noch lange kein Ende genommen Von Fernando Barrientos

In dem Roman „ De cuando en cuando saturni-

na“ („Von Zeit zu Zeit, saturnia“) der Engländerin alison spedding, existiert Bolivien im Jahr 2022 nicht mehr. Nach mehreren rassenkriegen ist es zu Kollasuyo Marka geworden, einem land, in dem es keine Kommunikationsmedien gibt, dessen Grenzen geschlossen sind und aus dem die „Weißen“ in andere länder geflohen sind. Der roman erzählt von der Zeit zwischen den Jahren 2070 und 2086. Wir lesen den mündlichen Bericht mehrerer indigener Frauen. Die hauptfigur ist saturnina Mamani, die den Inkatempel von coricancha zerstört und den anführer der rebellengruppe Flora tristán getötet hat. saturnina ist raumschiffexpertin und spricht spanglish, aymara und handelsjapanisch. Bei dem Buch handelt es sich ohne Zweifel um den besten bolivianischen roman der vergangenen fünfzehn Jahre. Das 2004 veröffentlichte Buch hat nicht nur durch seine gewagte struktur und thematik überrascht, sondern auch aufgrund seiner prophetischenProphezeihungen. Doch der real existierende rassismus Boliviens zeichnet sich gerade durch ein Fehlen von Fiktion aus. Im Jahr 200 erschienen rassistische leitartikel in den lokalzeitungen von tarija, einer rohstoffreichen stadt im süden des landes. Die angriffe richteten sich vor allem gegen den heutigen Präsidenten Evo Morales. In einer antwort auf diese artikel verglich der argentinische Journalist Franco sampietro die Verfasser mit hitler. Diese wiederum antworteten, sie seien stolz auf einen solchen Vergleich, schließlich habe hitler für das Wohlergehen seines Volkes gekämpft. Die Polemik tobte in den Zeitungen weiter, sampietro wurde plötzlich von der Zeitung, für die er arbeitete, entlassen, eine Erneuerung seines Visums (zuvor mehrmals problemlos verlängert) wurde abgelehnt und er wurde „eingeladen“, das land binnen 24 stunden zu verlassen. 12

„Warm, weiß und reich statt arm und indigen“ – Gabriela Oviedo, Miss Bolivia 2004, kämpft für ein neues BolivienBild im Ausland

Ebenfalls 2004 tauchten zum Jahresende Graffitis in der Innenstadt auf, in denen das vor Ort geförderte Gas allein für die stadt tarija beansprucht wurde. Die Parolen an den hauswänden enthielten scharfe angriffe auf die aus dem Norden des landes eingewanderte Bevölkerung. Für den soziologen alfonso hinojosa sind der ausdruck von rassismus in tarija und die Frage der natürlichen ressourcen


Foto: Promocines Gloria

Fokus: Bolivien

verbunden: „Man tut so, als ob man über die Bodenschätze und ihre aneignung diskutiert, spricht aber eigentlich gleichzeitig von einem ‚weißen’ tarija (dessen Elite entscheidet, wie mit dem rohstoff Gas verfahren werden soll). Dabei stützt man sich auf rassische abgrenzungen zu anderen traditionellen ‚ethnischen’ sektoren (Quechuas und aymara).“ Bekannt ist auch eine Erklärung der Miss Bolivia aus dem Jahr 2004, Gabriela Oviedo, die sagte, ihr größtes Ziel sei es, das Bild Boliviens im ausland zu verändern: statt kaltem Klima und armen Indigenen von kleiner statur wollte sie ihren heimatort santa cruz vertreten, wo es warm sei und es große, weiße, englischsprechende Menschen gebe. Der rassismus begegnet uns alltäglich in der sprache. Das Wort „Indio“ wird auch als Beleidigung gebraucht. Für gewöhnlich benutzt man abschätzige ausdrücke und spricht die Indigenen so an, als wären sie jünger. Man ruft sie sohn, tochter, chola, cholo oder duzt sie, auch wenn es sie schon sehr alt sind. außerdem erkennt man an der aussprache des spanischen, welcher sozialen stellung der sprecher angehört. Wenn eine Zeitungsanzeige jemand mit „guter Erscheinung“ sucht, bedeutet dies für die Bewerber, dass sie „weiß” sein müssen. In Institutionen wie der Polizei und den streitkräften gelten weiterhin rassische Kriterien, wenn es darum geht, jemanden einzustellen oder zu befördern. Noch bevor Evo Morales Präsident wurde, als er um die Welt reiste und ihm wohlgesonnene regierungschefs besuchte, riefen ihn Journalisten einer spanischen Medienanstalt an und ließen ihn glauben, er würde mit dem spanischen Präsidenten rodriguez Zapatero sprechen. Ein Mitschnitt des Gespräches wurde später im Fernsehen ausgestrahlt. Zwar führte dieser „Witz“ zum ausschluss der redakteure aus dem Verband der spanischen Journalisten, in Mexiko machte man sich dennoch über den strickpullover lustig, den Morales bei seinen Begegnungen mit den internationalen Politikern trug. und das, obwohl inzwischen eine textilfirma in Bolivien eine reproduktion des Pullovers auf den Markt gebracht hat, die sich erfolgreich verkauft. als Präsident macht Morales manchmal polemische Äußerungen (gegen die usa, gegen die mulinationalen Konzerne, und andere) genau Kulturaustausch 11/06

Wählen in: Kongo Die Wahlen im Juli 2006 in der Demokratischen Republik Kongo, ehemals Zaire, sind erst die dritten seit der Unabhängigkeit Belgisch-Kongos am 30. Juni 1960. Die in den beiden Wahlen von 1960 und 1965 gewählten Personen regierten faktisch nie, und das Vorhaben einer demokratischen Gesellschaft, getragen durch die neue Verfassung und neue Institutionen, kam nicht voran. Zwischen 1965 und 1992, dem Jahr der souveränen Nationalkonferenz und dem Beginn der so genannten Übergangszeit, wurden stattdessen mehrere Plebiszite organisiert. Polizei und Armee standen dabei hinter der Einheitspartei MPR (Volksbewegung der Revolution), um die Diktatur Mobutus (1965 bis 1997) zu legitimieren. Während der kurzen Regierungszeit LaurantDésiré Kabilas (1997 bis 2001) gab es schlicht gar keine Wahlen. Seither fällt es nicht leicht, das gesellschaftliche Gewicht der über 200 Parteien, die den aktuellen Wahlkampf bestreiten, einzuschätzen und vorauszusagen, welche Partei ihn auch gewinnen könnte. So hat sich die größte Oppositionspartei mit nationaler Spannweite, die UDPS (Union für Demokratie und sozialen Fortschritt) unter Parteichef Etienne Tshisekedis, zum Wahlboykott entschieden. Sie betrachtet die Wahlen als von der internationalen Gemeinschaft von vornhinein verfälscht. Auch die einstmaligen Kriegsherren haben nun eigene Parteien. Diese heißen PPRD (Volkspartei für Erneuerung und Demokratie, Joseph Kabila), MLC (Befreiungsbewegung des Kongo, Jean-Pierre Bemba) oder auch RCD (Kongolesischer Zusammenschluss für Demokratie, Azarias Ruberwa). Berücksichtigt man die finanziellen und die medialen Möglichkeiten, so sind

wie sein außenminister oder einige andere Mitglieder seiner regierung. Normalerweise wendet sich danach sein Vizekanzler an die Öffentlichkeit und erklärt, was der Präsident eigentlich sagen wollte. In Bolivien sind immer noch 90 Prozent der Menschen, die in extremer armut leben, Indigene. 67 Prozent der geringqualifizierten und am schlechtesten bezahlten arbeiten werden von Indigenen verrichtet. Doch bislang hat der staat keine Gesetze gegen die ausgrenzung und den rassismus erlassen. Vielmehr hat

Jean-Pierre Bemba und Joseph Kabila im Vorteil. Um die ideologische Leere zu überbrücken, ist das persönliche Kalkül eines jeden Präsidentschaftskandidaten zum strukturierenden Faktor der seit einigen Monaten in Kinshasa immer wieder gebildeten und dann wieder gelösten politischen Allianzen geworden. Doch der eigentlich entscheidende Faktor, der den Wahlausgang bestimmt, ist die ethnische und regionale Identität der Kandidaten. So werden alle Kandidaten mangels ausreichender Finanz- und Kommunikationsmittel, die das Gebiet des ethnisch höchst heterogenen Kongo vom Ausmaß eines Subkontinents (2.345.000 Quadratkilometer) abdecken könnten, ihre Wahlstimmen aus ihren eigenen Ethnien und Heimatregionen schöpfen. Was die Forderung des Volks nach wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Wohlergehen, nach der Einhaltung der Grund- und Menschenrechte, nach Zugang zu Schulbildung, zum Arbeitsmarkt, zur Gesundheitsversorgung, zu Wohnraum und zu Kulturgütern anbetrifft, so weiß heute niemand, ob sie von den Kandidaten, die Aussicht auf den Wahlerfolg haben, erfüllt werden könnte. Nichtsdestotrotz scheint Joseph Kabila angesichts des Wahlboykotts Etienne Tshisekedis die besten Wahlchancen zu haben. Zu viel erwarten darf man von diesen Wahlen aber ohnehin nicht, denn sie sind lediglich ein Testlauf im demokratischen Lernprozess des Kongo. Prof. Mwayila Tshiyembe ist Direktor des Panafrikanischen Instituts für Geopolitik in Nancy, Frankreich Aus dem Französischen von Susan Javad

der Präsident Morales auf dem Weg zu einer verfassungsgebenden Versammlung den Pakt mit einem teil der indigenen Bewegung aufgekündigt, indem er keinen ihrer Kandidaten zu dem Konvent eingeladen hat. Aus dem Spanischen von Timo Berger Fernando Barrientos, geboren 1976, promoviert derzeit an der Universität von La Paz in Soziologie über die bolivianische Regenbogenpresse.

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China ist wieder wer. Und erinnert sich daran, dass es über lange Zeiten, bis ins 16. Jahrhundert hinein, die fortgeschrittenste Zivilisation der Welt war. Es beherrschte die Meere und trieb weltweltweiten Handel. Nach den Krisen im 19. und 20. Jahrhundert knüpft China nun an alte Erfolge an. Mit eigenen wirtschaftlichen Spielregeln, mit eigenen politischen Vorstellungen, jenseits unseres Demokratieverständnisses – und auf Kosten einer armen Landbevölkerung und der Umwelt. Chinas Probleme sind ebenso bekannt wie seine Erfolge. In wenigen Jahren könnte die chinesische die amerikanische Wirtschaft überholt haben. Was ist das für ein Land, das sich anschickt, die Welt grundlegend zu ändern? Ein Thementeil über Chinas kulturelle, gesellschaftliche und politische Entwicklungen.

China – auf dem Weg nach oben

Alle Bilder im Thementeil: Gao Brothers


China

Hallo Drache! Von Ian Buruma

Ian Buruma, geboren 1951 in Den Haag, studierte chinesische Literatur und Geschichte. Er arbeitete als Übersetzer, Dokumentarfilmer und Schauspieler, von 1983 bis 1986 war er Kulturredakteur bei der Far Eastern Economic Review in Hongkong. Seit 2003 ist Buruma Professor für Demokratie, Menschenrechte und Journalismus am Bard College in New York. Außerdem ist er als Schriftsteller, Kommentator und Journalist tätig, unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“ und die „New York Review of Books“. Buruma lebt in London.

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Einige heiße Themen kommen und gehen: das Ende der Geschichte, „imperial overstretch“, Europa als Venus, die USa als Mars. Und andere tauchen immer wieder auf, manchmal nach langen Pausen. Der aufstieg Chinas ist zurück, mit aller Macht, in den Zeitungen, im Fernsehen, in Magazinen, Konferenzen, Seminaren und so weiter. Es ist, als ob sich die Menschen schlagartig der Tatsache bewusst geworden sind, dass China wieder eine Großmacht ist, und es könnte sein, dass sowohl die Vorzüge als auch die Gefahren dieses Phänomens übertrieben werden. Eine solche reaktion ist immer dann naheliegend, wenn der Westen sich von einem Volk des Nicht-Westens herausgefordert sieht. Es könnte auch sein, dass die Ängste des Westens nicht übertrieben, sondern einfach unangebracht sind. Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte war China entweder ein „schlafender Drache“ oder im aufstieg begriffen. Viele Menschen mögen den Schlafmodus bevorzugen. So oder so wird der chinesische Drache als Furcht erregendes Biest gesehen, das bei vielen Generationen von Europäern und amerikanern Gier, Neid, Horror und Faszination erregt hat. Vieles in der Berichterstattung des Westens über Chinas außergewöhnliches ökonomisches Wachstum – Wolkenkratzer-Städte sprießen wie Betonwälder, ganze Industriezweige werden übernommen, gewaltige Märkte öffnen sich – klingt nach Ehrfurcht, zuweilen gemildert durch ökologische Sorgen und gelegentliche Vorbehalte bezüglich der Menschenrechte. „Neun Prozent Wachstum“, sagte ein amerikanischer Beobachter, „sind kein Boom, das ist eine Transformation.“ aber es gibt auch eine starke Spur von angst: Wird China die Welt beherrschen? Was kann der Westen tun, um mit dieser eigenartigen und altertümlichen Zivilisation von arbeitsbienen und autokraten zu konkurrieren? Die angst vor dem Fernen Osten führt mindestens in das fünfte Jahrhundert zurück, als attila, der Hunnenkönig, einen langen Pfad der Vernichtung zwischen dem östlichen römischen reich und dem heutigen Frankreich zurückließ. Dann kamen Dschingis Khan und seine mongolischen Horden, die den Stadtrand von Wien 1241 erreichten. aber die moderne Idee der „gelben Gefahr“ wird gemeinhin den amerikanern zugeschrieben. Der Zustrom chinesischer

Immigranten im späten 19. Jahrhundert erregte angst vor wirtschaftlichem Konkurrenzkampf (arbeitsbienen), Heidentum und rassenverunreinigung. Um seine reinheit und seine Existenz zu sichern, musste der weiße Mann die Zivilisation vor der orientalischen Bedrohung schützen. Sax rohmers romane um Dr. Fu Manchu aus den 1920er Jahren spiegeln diese Bedrohungsfantasien wider. Tatsächlich, und wie häufig der Fall bei Vorurteilen aus der Neuen Welt, hat die „gelbe Gefahr“ jedoch auch einen europäischen Ursprung. Kaiser Wilhelm II. war von ihr besessen. Er sandte grimmige Nachrichten an seinen Cousin Nicky, den russischen Zaren, in denen er ihn drängte, die Grenzen der Zivilisation gegen die „gelbe Gefahr“ zu verteidigen. Oft illustrierte der Kaiser diese Schreiben selbst: mit Zeichnungen, in denen fliegende Buddhas aus Gewitterwolken hinabstießen, um die westliche Welt zu zerstören. Hervorgerufen wurden diese ausbrüche des Kaisers meist durch Morde an christlichen Missionaren in China. als die „Boxer“ im Jahr 1900 Missionsstützpunkte attackierten, schickte er deutsche Truppen nach China – als Teil westlicher (und japanischer) Bemühungen, die rebellion zu beenden. Bei der Verabschiedung der Soldaten in Bremerhaven fasste er die Expedition in seltsam religiöse Worte: „Zeigt euch als Christen“ rief er, „im freundlichen Ertragen der Leiden im angesicht der Heiden! ... Gebt an Manneszucht und Disziplin aller Welt ein Beispiel ... Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“ Die Hunnen waren natürlich selten Christen, aber egal. Tatsächlich ist der christliche Einflussfaktor immer noch vorhanden. Insbesondere die amerikaner haben großen Missionarseifer in China bewiesen. Das gewaltige Kaiserreich von Heiden war immer eine große Versuchung für religiöse Unternehmungen, die diese Hunderte von Millionen Seelen in den Schoß Gottes führen wollten. als George Bush vor kurzem China besuchte, sagte er wenig zu den Menschenrechten. aber das Wenige, was er sagte, betraf vornehmlich die rechte von Christen. „Möge Gott die Christen von China segnen“ schrieb er in einer Kirche in Peking. Dies stand in völliger Übereinstimmung mit einer gewissen Tradition von Ost-West-Beziehungen. Die westliche Faszination mit China war jedoch nicht immer ablehnend, durch religiösen Eifer beflügelt oder gar KULTUraUSTaUSCH 11/06

Foto: Hanser Verlag

Chinas aufstieg hält die Wirtschaft in Schach und macht sie zum Feind der Demokratie


China – Fakten und Zahlen:

ängstlich. In der europäischen Geschichte war China die meiste Zeit weit genug entfernt, um abstrakt zu bleiben, eine Art Fantasiereich, eine exotische Utopie, in der alles anders war oder umgedreht. Dies galt bis zum 18. Jahrhundert, der großen Ära der literarischen und künstlerischen Chinoiserie, obwohl es bereits vorher ausreichend viele und genaue Berichte über China gab, anhand derer man sich ein realistischeres Bild hätte machen können. Aber Exotismus hat seine eigenen Vorzüge. Er erlaubt es, sich ein Ideal zu erträumen, das man der Unzufriedenheit und den Unzulänglichkeiten im eigenen Teil der Welt entgegenstellen kann. Ein wahrer Romantiker wird auf der Verschiedenheit der Dinge bestehen und jedes Zeichen von westlichem Einfluss mit Abscheu betrachten. Einer der großen literarischen Erträumer Chinas, der das Land im Übrigen sehr gut kannte, war der französische Autor Victor Segalen (1878–1919). In einer Welt, die literarisch unzugänglich war, beharrte er auf dem Unterschied, dem Mysterium. Die sich einschleichende Uniformität der modernen Welt, angetrieben von Kommerz und Tourismus, und alles, was die Leute damals als „Fortschritt“ bezeichneten und heute „Globalisierung“ nennen, war ihm unerträglich. China war der letzte Hort des Exotischen, obwohl es in Segalens Augen bereits damals, um 1910, verdorben war. In einem Brief an einen Freund, der kurz davor stand, China erstmals zu bereisen, schrieb er: „Vertrau mir: verschmähe die Küste. Vergiss Shanghai und die Häfen entlang des unteren Flusslaufes. Der Rand von China hat sich ‚abgelöst‘ wie die verletzte Oberfläche einer Frucht. Im Inneren des Fruchtfleisches ist es noch immer köstlich.“ Für Segalen war dieser matschige Traum von chinesischer Authentizität vorrangig ästhetisch: altertümliche Inschriften in Steinmonumenten, die blumigen Umgangsformen innerhalb des kaiserlichen Hofes, die stilisierten Konventionen der Pekinger Oper, Dinge dieser Art. China, oder vielmehr die Idee von China, war jedoch nicht immer so altmodisch hübsch, insbesondere im 18. Jahrhundert. Für Voltaire und andere Philosophen der Aufklärung war China ein Modell für Rationalismus. Sie betrachteten China als eine an Weisheit überlegene Gesellschaft, geführt von Ehrenmännern, die einzig aufgrund ihrer wissenschaftlichen Verdienste ausgewählt worden waren. Anders als beispielsweise Frankreich, das noch immer unter dem Joch eines absoluten Monarchen stand, umgeben von obskurantistischen Priestern. Voltaire fand „die Religion der chinesischen Gelehrten ... bewundernswert. Kein Aberglauben, keine absurden Legenden, keine dieser Dogmen, die Vernunft und Natur beleidigen ...“ Es war egal, dass China von einer Monarchie beherrscht wurde, die nicht weniger tyrannisch war als der Hof von Louis XIV. Und Voltaire war auch nicht blind gegenüber Kulturaustausch 11/06

Einwohner: 1,3 Milliarden Hauptstadt: Peking Staatsoberhaupt: Hu Jintao (seit März 2003) Regierungschef: Wen Jiabao (seit März 2003) Außenminister: Li Zhaoxing Verfassung: Sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht. Parteien: Kommunistische Partei Chinas (gegründet 1921) 66 Millionen Mitglieder; weitere acht so genannte demokratische Parteien Gründung: am 1. Oktober 1949 wurde die Volkrepublik China proklamiert Die größten Städte: Shanghai (12, 8 Millionen Einwohner), Peking (10,8 Millionen), Tianjin (9,3 Millionen), Hongkong 6,8 (Millionen), Wuhan (5,7 Millionen), Shenyang (4, 8 Millionen) unter 15 Jahren sind 24 Prozent der Bevölkerung Bevölkerungsdichte: 138 Einwohner/Quadratkilometer; 39 Prozent aller Chinesen leben in Städten; 24 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 15 Jahre Fruchtbarkeitsrate: 1,9 Geburten/Frau Landessprachen: Standard-Hochchinesisch (Putonghua), diverse chinesische Dialekte (Fujian, Hakka und weitere), 55 Minderheitensprachen Religion: 100 Millionen Buddhisten, 30 Millionen Daoisten, 20 Millionen Muslime, 10 Millionen Protestanten, 4 Millionen Katholiken, 1,3 Millionen Lamaisten, religiöse Minderheiten: Konfuzianer Längster Fluss: Yangtsekiang (6.300 km), längster Fluss Ostasiens, nach dem Nil und dem Amazonas der drittlängste Fluss der Welt Grenzländer: mit seinen 14 Nachbarländern ist China das Land mit den meisten angrenzenden Ländern der Welt: Mongolei, Russland, Indien, Myanmar, Kasachstan, Nordkorea, Nepal, Vietnam, Kirgisien, Pakistan, Bhutan, Laos, Tadschikistan und Afghanistan Verwaltung: 22 Provinzen, 4 regierungsunmittelbare Städte, 5 autonome Regionen. Hongkong (ehemals britische Kronkolonie, chinesisches Hoheitsgebiet seit 1997, Status einer Sonderverwaltungsregion) und Macao (Rückgabe von Portugal an China am 20. Dezember 1999) sind Sonderwirtschaftszonen. Die Republik China (Taiwan) wird von Peking als Bestandteil der Volksrepublik betrachtet. Per Gesetz von 1992 erhebt China Anspruch auf die Spratly-, Paracel- und Diaoyu-Inseln. Die Spratly-Inseln werden wegen der dortigen Erdölreserven auch von Malaysia, Taiwan, Vietnam, Brunei und den Philippinen beansprucht. Kinderunterernährung: 10 Prozent Kinderarbeit: 6 Prozent Frauenanteil an den Beschäftigten: 45,0 Prozent Lebenserwartung: Männer 69 Jahre, Frauen 73 Jahre Schulpflicht: neunjährige Grundschule Einschulungsquote: 95 Prozent Analphabetenrate: Männer 5 Prozent , Frauen 13 Prozent Währung: 1 Renminbi Yuan Wachstumsrate des BIP: 9,3 Prozent BSP/Kopf: 1.290 US$ Arbeitslosenquote: 4,0 Prozent Inflationsrate: 1,2 Prozent Rohstoffe: Kohle, Graphit, Wolfram, Antimon, Eisenerz, Zink, Molybdän, Zinn, Blei, Bauxit, Phosphat, Diamanten, Gold, Erdöl, Erdgas Wichtige Industriezweige: Bergbau, Stahl- und Zementproduktion, Textilverarbeitung, Automobil- und Maschinenbau, Elektrogeräte- und Konsumgüterindustrie, Düngemittelproduktion Export: Maschinen u. Transportausrüstung 38,9 Prozent, Fertigwaren 30,9 Prozent, industrielle Vorprodukte 16,5 Prozent (2002) Hauptausfuhrländer: USA (21,1 Prozent), Japan (13,6 Prozent), Südkorea (4,6 Prozent) (2003) Hauptlieferländer: Japan (18,0 Prozent), Taiwan (11,9 Prozent), Südkorea (10,4 Prozent), USA (8,2 Prozent) (2003) Medien: auf 1.000 Einwohner kommen 339 Radios, 350 Fernsehgeräte, 209 Telefonanschlüsse, 215 Mobiltelefone 27,6 PCs und 63 Internet-Nutzer; die größten Tageszeitungen und ihre Auflagen: Sichuan Ribao 8,0 Millionen, Beijing Youth Daily 3,0 Millionen, Gongren Ribao 2,5 Millionen, Renmin Ribao 2,15 Millionen, Dazhong Ribao 2,1 Millionen, Xin Min Wan Bao 1,8 Millionen Quellen: Spiegel Online; Stefan Loose Trawl Handbücher; Auswärtiges Amt

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China

Bücher von Ian Buruma: Okzidentalismus.

Der Westen in den Augen seiner Feinde. München, Hanser Verlag 2005. Chinas Rebellen.

Die Dissidenten und der Aufbruch in eine neue Gesellschaft. München, Hanser Verlag 2004. Anglomania.

Europas englischer Traum. München, Hanser Verlag 2002.

dem Aberglauben chinesischer Kleriker. Aber die Idee einer großen Gesellschaft, geführt von Gelehrten, übte auf Intellektuelle zwangsläufig einen Reiz aus. Und der tyrannische Aspekt kaiserlicher Politik, alles andere als ein schwarzer Fleck, verstärkte Chinas geheimnisvollen Nimbus. Intellektuelle haben oft eine Schwäche für starke Männer, weil diese Ideen aufgreifen und sie auch wirklich in die Tat umsetzen können, frei von den faulen Kompromissen freiheitlicherer Regime. Diktatoren sind „Machertypen“. Das war einer der Gründe, warum Präsident Mao unter westlichen Intellektuellen wie Jean-Paul Sartre, Raymond Williams und André Malraux so große Anerkennung fand. Mao, oft als Inbegriff des orientalischen Philosophen-Königs dargestellt, der klassische Gedichte in seiner eigenen Kalligrafie schrieb, konnte, ganz im Stile eines wahren Imperators, eine rückständige Gesellschaft transformieren. Und gesegnet mit der Weisheit und der Feinsinnigkeit seiner alten Zivilisation, konnte er sogar helfen, die Welt zu verändern. Diese Art von Mao-Verehrung weckt Reminiszenzen an Voltaire: China als Vorbild der Vernunft, geführt von Männern mit Ideen, die ihr Bestes gaben, um religiösen Aberglauben und andere Spinnweben der dunklen, feudalen Vergangenheit wegzufegen. Wenige der Verehrer waren sonderlich interessiert am tatsächlichen Leben in China. Für sie, genauso wie für die Philosophen zweihundert Jahre vorher, war China eine Abstraktion, mit der es gegen die herrschenden Zustände zu Hause zu protestieren galt. Tatsächlich brauchte man noch nicht einmal Maoist oder gar Linker zu sein, um vom Zauber der chinesischen Kraft vor Ehrfurcht ergriffen zu sein. Henry Kissinger war sehr beeindruckt von Mao und insbesondere von seinem loyalen Beschützer Zhou Enlai.

Wer würde nicht gerne Geschäfte machen in einem Land ohne Gewerkschaften? Sein Verhalten erinnerte stark an das eines kriecherischen Lakaien am kaiserlichen Hof. Und die Ansicht, dass Chinas Autoritarismus vielleicht etwas hart sein mag, aber immerhin die Dinge in Gang bringt und erledigt, ist in den westlichen Schreibereien zum Lobe Chinas noch immer weit verbreitet. Mancher rechte Bonze wird erzählen, dass die chinesische kapitalistische Umwälzung nur unter der strengen Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas stattfinden konnte. Rupert Murdoch etwa ist dieser Überzeugung, genauso wie einige Leute, die früher ergebene Maoisten waren. Womöglich mag diese Ansicht sogar stimmen, aber was sagt uns das über das Wesen von Chinas 18

politischer Ökonomie, dieser unheimlichen Verbindung von Kapitalismus und politischer Diktatur? Hier kommt der Neid ins Spiel. Von allen potenziellen Märkten der Welt galt China bei den westlichen Händlern lange als Hauptpreis. Allein die Größe seiner Bevölkerung ist ein Grund dafür. Auch haben die Chinesen seit langem den Ruf, geborene Kaufmänner zu sein. In der Vergangenheit stützte sich diese Ansicht weniger auf tatsächliche Geschäftserfahrungen in China als vielmehr auf Begegnungen mit chinesischen Händlern in südostasiatischen Hafenstädten. Und doch, aus dem einen oder anderen Grund ist China bekannt dafür, dass es sich weigert, ausländische Händler seine süßesten Früchte pflücken zu lassen. Im 19. Jahrhundert öffneten die Waffen der Royal Navy Chinas Märkte für den Handel, damals vorrangig mit Opium. Die größte Hürde für den Handel in China war schon immer die traditionelle Rolle der Regierung. Mit Bedacht auf den Erhalt ihrer Privilegien haben chinesische Offizielle stets versucht, die Klasse der Händler unter strenger bürokratischer Kontrolle zu halten. Um mit China Handel zu treiben, war es notwenig, den Kotau am kaiserlichen Hof zu pflegen und ausreichend Geschenke zu präsentieren. Als Lord Macartney 1793 zu einer Handelsmission zum chinesischen Kaiser aufbrach, folgten ihm 600 Geschenkpakete, getragen von 3.000 Kulis. Aber seine Weigerung, sich auf beiden Knien vor dem chinesischen Herrscher zu verbeugen, bedeutete, dass sein Ersuchen auf Öffnung der chinesischen Häfen für den britischen Handel abgelehnt wurde. „Unser Kaiserreich“, wurde er informiert, „besitzt alle Dinge in ausreichender Fülle.“ Natürlich haben sich die Dinge geändert, aber nicht ganz. Die Art und Weise, wie einige westliche Kapitalisten Offizielle der chinesischen Kommunistischen Partei durch Komplimente und Ehrenbekundungen verhätscheln, Brüskierungen und andere Demütigungen hinnehmen, die sie in ihren eigenen Ländern nie tolerieren würden, erinnert stark an die unglückliche Macartney-Mission. Und genauso wie in den Handelshäfen vor dem Opiumkrieg verschwören sich chinesische Offizielle noch immer gerne mit örtlichen Geschäftsleuten, um unerwünschte Konkurrenz aus dem Ausland in Grenzen zu halten. Aber die Gier nach dem großen chinesischen Markt ist für die Ausländer nach wie vor Anreiz genug, es weiterhin zu versuchen. Die Aussicht auf Reichtum ist sicher der Hauptgrund dafür, dass demokratische Regierungen ihre Versuche fast aufgegeben haben, die chinesische Führung zu einer Verbesserung der Menschenrechte und einer Liberalisierung ihrer Politik zu zwingen. Der potenzielle Gewinn ist zu groß, um sich durch solche Bagatellen wie Zwangsarbeitslager, den Mangel an Redefreiheit, die Folter religiöser Menschen, die Unterdrückung von Minderheiten oder Kulturaustausch 11/06


China

die Nichtexistenz von unabhängigen Gewerkschaften ablenken zu lassen. Westliche Politiker und einige Geschäftsleute behaupten, dass die Wirtschaft sogar der sicherste Weg zu politischer Freiheit ist. Sie wiederholen das alte Mantra vom Kapitalismus, der die Mittelklasse ausbaut, und der Mittelklasse, die Demokratie fordert. Aber der Aufstieg Chinas könnte diesem Schema widersprechen. Die chinesische Mittelklasse expandiert tatsächlich, ganz so wie in Japan vor mehr als 100 Jahren. Aber China wird nicht demokratischer. Es scheint, als ob die chinesische Kommunistische Partei einen Pakt mit der urbanen Bildungselite geschlossen hat, genau jenen Leuten, deren Kinder 1989 auf Pekings Tiananmen-Platz und in anderen Städten in ganz China demonstrierten. Als Entschädigung für politischen Gehorsam, das Aufgeben demokratischer Rechte werden der Mittelklasse Stabilität, Ordnung und stetig wachsender Wohlstand versprochen. In mancherlei Hinsicht ist dies ein traditionelles ostasiatisches Tauschgeschäft, basierend auf einer bestimmten Auslegung des Konfuzianismus. Die Singapurer haben es akzeptiert und bis zu einem gewissen Grad auch die Japaner. Es ist eine autoritäre kapitalistische Alternative zur liberalen Demokratie, und ihr Erfolg sollte Anlass zur Sorge sein, zumindest für jene inner- und außerhalb von China, denen die Demokratie am Herzen liegt. Sollte China ökonomisch weiter wachsen, ohne sich politisch

zu öffnen, wird das asiatische Modell ein Segen für all jene, die glauben, dass demokratische Politik redundant ist oder gar eine schädliche Bedrohung für die Stabilität. All jene, die glauben, dass Gesellschaften von Autokraten und Technokraten geführt werden sollen, von Medienmogulen und diktatorischen Managern, die wissen, was das Beste ist, werden durch das chinesische Vorbild ermutigt werden. Wir können diese Tendenz bereits in Thailand sehen, das vom Medientycoon Thaksin Shinawatra beherrscht wird. Plumpe Andeutungen davon haben wir in Berlusconis Italien gesehen. Sogar in Amerika zeichnet sie sich ab; man denke nur an die Art und Weise, in der Bush jeden Widerspruch gegen seine Verfahrensweisen als „just playing politics“ abtut, so als ob es eine Form von Sabotage wäre und nicht ein Bestandteil von Demokratie. Es wird zuweilen behauptet, dass Geschäftsleute eine der Säulen der Demokratie bilden. Aber die Popularität von Pinochet in Wirtschaftskreisen und unter bestimmten Tory-Politikern zeigte, dass Autokratie gleichermaßen sympathisch sein kann, wenn nicht gar noch mehr. Wer würde nicht gerne Geschäfte in einem Land ohne Gewerkschaften machen? Für viele Geschäftsleute ist der Aufstieg Chinas alles andere als eine Bedrohung, er ist eine Gelegenheit. Aber wenn der Erfolg des chinesischen Kulturaustausch 11/06

Modells bei Demokraten Besorgnis erregt, so mag sein Scheitern sich als eine nicht geringere Gefahr erweisen. Das Beunruhigendste am autokratischen Kapitalismus könnte sogar nicht seine behauptete Stabilität sein, sondern seine inhärente Instabilität. Jahrhunderte von ängstlicher, faszinierender oder neidischer Mythologie haben uns zu der Annahme gebracht, dass China einzigartig ist. Aber das ist es nicht. Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., dem Vater der „gelben Gefahr“, hatte ein ähnliches Abkommen mit seiner sich ausbreitenden Mittelklasse geschlossen: Ordnung und industrielles Wachstum im Austausch gegen einen Rückzug aus der Politik. Das Problem mit einem solchen System ist, dass ein plötzlicher Rückgang des ökonomischen Wohlstands eine starke Unordnung verursacht und es keine unabhängigen politischen Institutionen gibt, um diesen Schock aufzufangen. Dies kann schnell zu Revolution und Kriegen führen und hat es bereits getan. Chinas Aufstieg mag durchaus noch viele Jahre anhalten, und der Rückgang des Wohlstandes mag nicht in naher Zukunft anstehen. Doch wenn er kommt, wäre es für China und den Rest der Welt sicherer, wenn die Chinesen die Freiheit hätten, kritische Meinungen zu äußern, Schurken abzuwählen und Wege zum Umgang mit der Krise zu finden, die auf einer mehrheitlichen Zustimmung der Bevölkerung basieren. Das bedeutet, dass der Handel mit China weitergehen soll, jedoch nicht um den Preis politischer Duldung, dem Verschweigen der Menschenrechte und bürgerlicher Freiheiten. Die chinesische Mittelklasse mag im Moment keine andere Wahl haben. Westliche Regierungen haben sie. Aus dem Englischen von Anja Wedell

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China

Peking, Hauptstadt der Schwalben Von Tilman Spengler

Ist doch klar, dass hier alle Taxis mit GPS ausgerüstet

Tilman Spengler, geboren 1947, ist Sinologe und Herausgeber des „Kursbuch“. Seine letzten beiden Bände über China sind „Der Maler von Peking“ (Berliner Taschenbuch Verlag 2006) und „Das Glück wartet draußen vor der Stadt“ (Berliner Taschenbuch Verlag 2002).

sind”, sagt mein Freund, der lange in Peking gearbeitet hat und jetzt nach einer Unterbrechung von fünf Monaten zurückkehrt. „Kein Gebäude steht mehr da, wo es noch vor einem halben Jahr gestanden hat. Nicht mal die Nudelbude mit Mao auf dem Zeltdach. An was soll sich da ein Fahrer orientieren?“ Wir bewegen uns durch einen Stadtteil, der früher „das Dorf auf dem Weg zum Flughafen“ gerufen wurde, dann das „Quartier der Botschaften“, seit wenigen Jahren „das Kneipenviertel von Sanlitun“. Es gibt Ausländer, die diesen Teil der Stadt für die chinesische Hauptstadt halten, weil sie ihn nie verlassen haben. Mein Freund hustet. An die mit dem lokalen Wirtschaftswachstum steigenden Bestandteile von Säure und Schwermetalle in der Luft muss sich der Besucher erst wieder gewöhnen. „Bestimmt haben sie auch schon den Bierkrug abgerissen oder das Paulaner-Restaurant“, ruft der Freund, „als nächstes ist dann die Verbotene Stadt dran.“ Mehr als 500 Jahre herrschte hoheitsvolle Ruhe in Peking.

Es war die glückliche Zeit, in der sich die Bewohner den Ruf als Langweiler verdienten. Scharfe Zunge, gewiss, doch ganz selten ein Aufmucken. Der dritte Kaiser der Ming hatte Anfang des 15. Jahrhunderts die Verbotene Stadt mit ihren Palästen in Auftrag gegeben. Als 1644 die Dynastie zusammenbrach, blieb wenigstens die Architektur erhalten. Gut, es entstanden neue Hallen, Bögen und Pavillons innerhalb, neue Stadtviertel und Befestigungen außerhalb der Palastmauern. Jeder Herrscher legt Wert darauf, dass sich sein Volk an ihn als strengen und väterlichen Baumeister erinnert, dass Bäume gefällt, Steine geschnitten, Mauern bemalt werden. All das war in Peking genauso der Fall wie bei uns unter den Hohenstaufern oder den weitaus weniger geschmackssicheren Hohenzollern. Es fehlte in Peking auch nicht an grässlichen Feuersbrünsten, die das Bild der Stadt in bestimmten Distrikten für Jahre entstellten. Doch eine Schwalbe aus der Ming-Zeit, behauptet der schrullige Historiker Shi Diman, hätte keine Schwierigkeiten gehabt, ihr Nest auch an der Schwelle des 20. Jahrhunderts zu finden. Auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert findet der Besu20

cher allerdings kaum noch Schwalben in Peking. Dabei lautet einer der klassischen Namen für die chinesische Metropole „Yenqing“ – Hauptstadt der Schwalben. Die Architekten des künftigen Olympiastadions haben sich für ihren Bau ein Schwalbennest zum Vorbild genommen. Diese Architekten kommen allerdings aus der Schweiz, dort, wo es den Vogel noch in ausreichender Zahl gibt und manchmal auch ein Gefühl für den Wert von Baukunst. Mit den Anlagen für die Olympischen Spiele wird, so hoffen manche Freunde der Stadt, auch wieder ein Gespür für ästhetische Konfigurationen nach Peking zurückkehren. Bislang war dieses Gespür so wenig form- und farbenfroh wie das Gewand der Bewohner der Stadt in den Zeiten des Sozialismus. „In der Frage der Bekleidung gibt es vier Typen, dick und dünn, lang und kurz. Und es gibt zwei Farben, Blau und Schwarz. Dazu noch Grün, wenn es um das Militär geht. Mehr Farben sieht der Plan nicht vor. Mehr Größen auch nicht. Sehen wir einmal von der Unterwäsche ab. Entsprechendes gilt für das Bauwesen.“ Das erklärte mir ein chinesischer Freund, der Architektur studierte und den wir damals „Frühlingsrolle“ nannten, weil sein chinesischer Name fast so klang. „Damals“ war zu Beginn der achtziger Jahre, als die Stadt noch durch den Mehltau von Armut und Planungsvorschriften in vielen Teilen so aussah, wie sie es seit mehr als hundert Jahren getan hatte, wenn auch unter verschiedenen Bestimmungen. „Hügel der Acht Glückseligkeiten“, pflegte Frühlingsrolle zu sagen, „früher: Ort der Wallfahrt, dann Golfplatz, heute Zentralfriedhof.“ Oder: „Brücke von Marco Polo. Früher: Bester Platz für Exekutionen, dann kleiner Sitz der Jesuiten-Missionare, später Anfang der Schießerei zwischen Chinesen und Japanern, heute praktisch ohne Nutzen.“ Jenes Peking, das sich heute dem Betrachter in breiten Straßen mit unauflösbarem Staus präsentiert, kann Ernst und ans Herz genommen werden nur als Vorlage für all die Geschichten, die sich hier einmal zutrugen. Man darf es nicht messen an den Kubikmilliarden versenkten und hochgeschossenen Betons. Messen kann man es allenfalls an Gestalten wie unserem Freund Frühlingsrolle, an Erzählungen, die jedem Ort, jeder Kreuzung, jedem Autobahnring wieder ihre Würde geben. Berichte, die festhalten, was an dieser Stelle entscheidend der Fall war. Also: Die Apotheke an der Ausfallstraße zu den Westbergen, in welcher „in der späten Dämmerung eines Sommerabends“ der Kunde den Lehrling zu Tode erschreckte, weil Kulturaustausch 11/06

Foto: Lichtblick

Porträt einer sich wandelnden Stadt


China

er bei seiner Bitte um ein blutstillendes Mittel den Kopf unter dem Arm trug. Der buddhistische Mönch, der Nacht für Nacht die erwürgten Liebhaber der Kaiserinwitwe aus dem Graben um den Kaiserpalast zog. Kräftige Kerle in festen Säcken. Die Fuchsgeister um den Trommelturm, die sich in der Gestalt schöner jungen Frauen mit Vorliebe auf junge Akademiker stürzten, um ihnen den Verstand zu rauben. „In der Nähe lag auch lange die Hochschule für Parteikader“, berichtete Frühlingsrolle, „manche behaupten da einen Zusammenhang.“ Die chinesische Sprache tut sich mit grammatischen Formen,

welche die Zukunft bezeichnen, einigermaßen schwer. Die Tochter von Frühlingsrolle ist Sportstudentin und verdient sich am Wochenende in der Fußgängerzone neben dem Kaiserpalast Geld als Rikscha-Fahrerin. Dazu trägt sie gefälschte Sandalen von Gucci und erfindet für fremde Besucher Orte, die es einmal geben wird, sobald die jetzigen Orte verschwunden sind. Mit Vorliebe erfindet sie Parkanlagen, für die Häuserzeilen, die jetzt die Straße des Ewigen Friedens säumen. „Wenn hier alles wieder flach liegt ...“, beginnt die Tochter von Frühlingsrolle, und ihre Wangen werden bei der Vorstellung zu leuchtenden Äpfeln. Fast nur in den Parks noch, etwa um den Himmels-, den

Sonnen- oder den Mondaltar findet der Besucher aus dem fernen Ausland etwas von jenem Anderen, das er am Ende einer vielstündigen Reise in den Osten erwartet. Der Besucher muss allerdings früh aufstehen. Denn schon kurz vor Sonnenaufgang regt sich zwischen dem Laubwerk und auf kleinen Lichtungen das wundersamste Leben. Rentnerinnen in kühn gefärbten Trainingsanzügen formieren sich zu Schwerttanzgruppen, die Halter von Singvögeln führen ihre Tiere auf einen Spaziergang und zum Treffen mit anderen Singvögeln, Freunde des Gesellschaftstanzes üben eine anmutige neue Figur im Foxtrott, hier spielt ein Student Trompete, dort deklamiert eine Schauspielerin Verse von Racine, auf dem Spazierwerk vollführt eine Riege aus dem Blindenheim geschmeidige Bewegungen, die Energien freisetzen und auf Chinesisch „Wildenten schöpfen Kraft“ heißen. Schwerter blitzen, blutrote Troddeln tanzen, hier und dort steigt ein wilder Drache, ein Leierkastenmann probt einen neuen Text. So recht privat sein kann man in Peking nur im Park. Es liegt ein Zauber über der Szene, und wie jeder gute Zauber verschwindet er, je stärker sich das Licht des Tages durchsetzt.

den Yüanmingyüan im Nordwesten der Stadt. Die herrschaftliche Anlage wurde um die Mitte des 18. Jahrhunderts entworfen, chinesische Baumeister zählten zu den Architekten, doch genauso französische und italienische Jesuiten-Missionare, die dem Kaiser eine Vorstellung von Versailles und dessen Gärten vermitteln wollten. In jener Zeit gab es zwischen Orient und Okzident nur geringfügige Unterschiede im guten Geschmack. Seit 1860 stehen hier nur noch Ruinen. Englische und französische Kolonialtruppen haben damals mit sicherem Gespür alles niedergerissen und abgebrannt, was an eine mögliche Harmonie von westlicher und östlicher Ästhetik hätte erinnern können. Nachdem die ausländischen Soldaten ihr Werk verrichtet hatten, bedienten sich auch die Bauern der Umgebung der zerbrochenen Steine. So entstanden Katen, deren Feuerstelle aus Marmor war, fanden Ziegel einen neuen Platz, die zuvor auf Rosenhecken geblickt hatten. Unter den wenigen Einheimischen hatte die Gegend wegen der vielen Opfer keinen guten Ruf, den Künstlern war das egal. Auch ihr Kosmos war wieder von Planeten bestimmt, die von überallher kamen, aus dem eigenen Reich und aus fremden Regionen, Musik aus den USA, Bilder aus Deutschland, Mode aus Japan. Mein Freund Frühlingsrolle, der ein paar Jahr dort verbrachte, hat sich für sein neues Haus ein paar von den alten Steinen mitgenommen. Dieses neue Haus liegt in einem Dorf nordöstlich der Hauptstadt, eine Art Worpswede mit scharfen Hunden und vorbildlicher elektronischer Ausrüstung. „Peking haben wir im Blick“, sagt Frühlingsrolle und streicht seinem Hund über die Schnauze, jedenfalls

Die chinesische Sprache tut sich mit grammatischen Formen, welche die Zukunft bezeichnen, schwer metaphorisch, „es handelt sich nicht um einen Fall von direkter Nähe, so dass man die Stadt auch nicht riechen kann, so bleibt der Respekt erhalten. Und die übrige Welt liegt in unseren Schüsseln.“ Dieses Jahr ist das Jahr des Hundes.

Noch vor zwanzig Jahren lebten die wildesten Künstler der Stadt in einer Enklave um den alten Sommerpalast, Kulturaustausch 11/06

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China

Generation Einzelkind Die Ein-Kind-Politik führt zu einer überalterten Gesellschaft mit zu vielen Männern Von Sun Changmin Prof. Dr. Sun Changmin arbeitet für die „Shanghai Regional Commission of Population and Family Planning“.

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Seit den 1950er Jahren wächst die chinesische Bevölkerung

stark an. Lebten 1959 noch 550 Millionen Chinesen in China, waren es 1970 bereits 930 Millionen. Da sich dieses rasche Wachstum zu einer Belastung für die gesamte Volkswirtschaft entwickelte, begann man ab den 1970er Jahren mit der Einführung von Maßnahmen zur Geburtenplanung. Trotz der Erfolge der Geburtenpolitik wird Chinas Bevölkerung aufgrund der enormen Ausgangszahl von heute 1,37 Milliarden Menschen jedoch auch mittelfristig weiter anwachsen. Die ersten Maßnahmen zur Geburtenkontrolle wurden zunächst in den großen Städten wie Peking und Shanghai eingeführt. Dann dehnte man sie auf einige ländliche Gebiete aus, und schrittweise wurden sie dann auch auf andere Städte und Gebiete ausgeweitet. Ein Beispiel für die konsequente Umsetzung der Geburtenplanung ist Shanghai. Seit 1975 liegt die Geburtenrate unter 1,95 Kinder pro Frau und heute sogar nur noch bei 0,64. Die Kernpunkte der Geburtenplanungspolitik sind die Förderung späten Gebärens, die Anhebung des Mindestalters bei der Heirat, die Begrenzung der Kinderzahl, Familienplanung, Verhütungsmaßnahmen für Paare und Bestimmungen zur Belohnung bei regelkonformem oder Sanktionen bei nichtkonformem Verhalten. Dabei werden jedoch nicht die unterschiedlichen Lebenssituationen der Menschen außer Acht gelassen. Für Großstädter gilt die Regel: ein Kind pro Paar. Wenn eine Familie in kleineren Städten und auf dem Land erstes Kind eine Tochter bekommen hat, so darf sie ein zweites Kind bekommen. Denn männliche Nachkommen müssen im bäuerlichen Umfeld noch immer die Altersversorgung der Eltern übernehmen. Die ethnischen Minderheiten in den wirtschaftlich unterentwickelten westlichen Landesteilen dürfen drei Kinder haben. Für Regionen wie Xinjiang im Nordwesten oder auch Tibet sowie einige Minderheiten mit geringer Bevölkerungszahl gibt es gar keine Beschränkung der Kinderanzahl. Ein unmittelbarer Negativeffekt der Senkung der Geburtenrate ist jedoch die zunehmende Überalterung der chinesischen Gesellschaft. Die Städte wird es dabei besonders hart treffen, weil anders als auf dem Land aufgrund der Ein-Kind-Politik nur ein Kind für die Versorgung seiner Eltern aufkommen muss und das Versorgungssystem der Großfamilien hier kaum

mehr existiert. Dieser Effekt der Ein-Kind-Politik wird durch einen generellen Wertewandel im städtischen Milieu verstärkt, denn immer mehr Paare wollen überhaupt keine Kinder. So zeigen die in vier Großstädten 2005 erhobenen Daten, dass 6,1 Prozent der Befragten zwischen 18 und 35 Jahren entweder erst gar nicht heiraten oder auch nach der Heirat kinderlos leben wollen. Acht Jahre zuvor hatten sich nur 3,9 Prozent in dieser Form geäußert. Außerdem birgt die Ein-Kind-Politik hohe Risiken. Stirbt das einzige Kind einer Familie oder kann es aus anderen Gründen nicht für die Versorgung seiner Eltern im Alter aufkommen, bleiben diese ohne Unterstützung. Beim Tod oder schwerer Krankheit des einzigen Kindes kommt der seelische Schmerz der Eltern noch hinzu. Die Frage der Altersversorgung wird also immer zentraler für die chinesische Gesellschaft. Das Modell, das zur Zeit im ganzen Lande eingeführt wird, ist eine Kombination aus familiärer Versorgung und einem ergänzenden öffentlichen Versorgungsangebot. Außerdem bemüht sich die chinesische Regierung um den Aufbau eines sozialen Sicherungssystems, das die Lasten der Altersversorgung gerecht auf die Gesamtgesellschaft verteilt. Ein weiteres problematisches Phänomen der Ein-KindPolitik ist, dass seit den achtziger Jahren zunehmend weniger Mädchen geboren werden. Kamen 1982 noch circa 107 männliche auf 100 weibliche Säuglinge, waren es im Jahr 2000 bereits rund 117 Jungen auf 100 Mädchen. Der Hauptgrund dafür ist, dass männliche Nachkommen in der chinesischen Kultur bevorzugt werden. Denn Söhne stellen in der traditionellen Sicht die Altersversorgung ihrer Eltern dar und führen den Familiennamen fort. Heute, da es technisch möglich ist, das Geschlecht eines Kindes bereits früh festzustellen oder bei einer künstlichen Zeugung gar festzulegen, entscheiden sich viele Eltern gegen die Geburt einer Tochter. Aufgrund der strikten Durchsetzung der Ein-Kind-Politik in den Städten wächst der Anteil der Landbevölkerung, mit mehreren Kindern sehr viel stärker als der der Städter. Was den Bildungsgrad als auch die Gesundheitsversorgung angeht, ist die städtische Bevölkerung jedoch im Vorteil. Daraus ergeben sich Nachteile für die Bauern, denn die knappen Ressourcen müssen prozentual unter mehr Kindern aufgeteilt werden. Eine Priorität der chinesischen Politik muss deswegen die Anhebung des Bildungsniveaus der bäuerlichen Bevölkerung und deren verbesserter Zugang zur Gesundheitsversorgung sein. Nur so können negative Effekte für die chinesische Gesellschaft eingedämmt werden. Aus dem Chinesischen von Suming Soun Kulturaustausch 11/06


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Theoretisch sicher Wie die modernisierten sozialen Sicherungssysteme funktionieren sollten Von Ding Chun Prof. Dr. Ding Chun ist der stellvertretende Direktor am Forschungszentrum für Europastudien an der Fudan Universität in Shanghai.

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China befindet sich auf allen Ebenen in einem rapiden

Transformationsprozess. Die wirtschaftliche Öffnung des Landes, der Wandel von Denk- und Handlungsmustern und der soziale Fortschritt stellen China vor große Herausforderungen. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Land weg von der Planwirtschaft und hin zu marktwirtschaftlichen Strukturen entwickelt. Das Wirtschaftswachstum beträgt nunmehr im jährlichen Durchschnitt 9,4 Prozent. Dabei sind sich aber sowohl die chinesische Bevölkerung als auch die Regierung bewusst, dass in den kommenden Jahren der Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme Priorität zukommen muss, möchte man das Projekt „des Aufbaus einer harmonischen Gesellschaft mit chinesischer Prägung“ verwirklichen. Damit wird der bisherige Leitgedanke der Wirtschafts- und Sozialreformen „Priorität für Wirtschaftsleistung mit Rücksicht auf die soziale Gerechtigkeit“ abgelöst. Im März 2004 wurde daher ein Zusatz in die chinesische Verfassung aufgenommen, der die Errichtung und Vervollständigung eines dem wirtschaftlichen Stande Chinas angemessenen sozialen Sicherungssystems betrifft. Vor 1978 basierten die sozialen Sicherungssysteme Chinas auf den Prinzipien der Verstaatlichung der Produktionsmittel und der damit einhergehenden Vollbeschäftigung der Bevölkerung. Das soziale Sicherungssystem war damit in die planwirtschaftlichen Strukturen der chinesischen Volkswirtschaft eingebettet. Der Staat war als Eigentümer aller Betriebe Garant für den Fortbestand derselben sowie verantwortlich für alle öffentlichen Einrichtungen und damit letztendlich verantwortlich für die Absicherung der Bevölkerung. Doch es waren die staatseigenen Betriebe und Kollektive, die die komplette Palette an sozialen Leistungen zur Verfügung stellen mussten. So ging die Finanzierung aller Sozialleistungen, angefangen bei der Subventionierung des Kantinenessens bis hin zur Rente im Alter, über das Umlageverfahren vonstatten. Diese Art der sozialen Sicherung hatte jedoch zwei deutliche Nachteile. So waren zum einen die Bauern und Nichterwerbstätige von diesen Leistungen ausgeschlossen. Zum anderen wurden die Leistungen aber auch überstrapaziert, denn da der Einzelne für Sozialleistungen nicht

aufzukommen hatte, ging er oft verantwortungslos mit ihnen um. Als dann die Transformationsphase von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft eingeleitet wurde, geriet das eben geschilderte Modell der sozialen Sicherung völlig aus dem Lot. Im Zuge des Bankrotts einer großen Zahl von Staatsunternehmen standen auf einmal deren Mitarbeiter und ehemaligen Mitarbeiter vor dem Nichts. Und auch die Angestellten der nun mit ausländischer Beteiligung operierenden Unternehmen konnten nicht mehr auf das traditionelle Versorgungsmodell bauen. Ebenso war der Mobilität der Arbeitnehmer im traditionellen Sicherungssystem enge Grenzen gesetzt. In diesem Kontext wurden in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen, um ein neues Sozialsicherungssystem auf den Weg zu bringen. Die wichtigsten Kernpunkte hierbei sind die gemeinsame Beteiligung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bei der Beitragserbringung und die zusätzliche Absicherung des einzelnen Versicherten in Form individueller Sparleistungen. So werden die sozialen Sicherungssysteme in China heute durch eine Kombination aus Umlageverfahren und Kapitaldeckung gewährleistet, und es sind sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber und der Staat in die Finanzierung eingebunden. Nehmen wir beispielsweise die Rentenversicherung: Hierfür zahlen die Arbeitgeber 20 Prozent der gesamten Lohnsumme des Unternehmens in einen gemeinschaftlichen Umlagefonds ein. Der Arbeitnehmer wiederum führt acht Prozent seines Lohnes auf ein privates, kapitalgedecktes „Rentenkonto“ ab. Das Mischsystem aus Kapitaldeckung und Umlageverfahren ist in der Praxis heute jedoch eher zum heimlichen Umlagemodell verkommen. So hatte man zu Beginn den Finanzbedarf für diese neue Form der sozialen Sicherung falsch eingeschätzt, was dann zu einer Unterfinanzierung des gemeinschaftlichen Sozialfonds führte. Um die so entstandenen Löcher im Sozialfonds zu stopfen, hat man kurzerhand Gelder der kapitalgedeckten „Rentenkonten“ in den Umlagefonds umgeleitet. Außerdem kam es in den letzten Jahren zu einer Kostenexplosion im Gesundheitssektor, was ebenfalls zu einer für das ganze Finanzierungssystem bedrohlichen Situation führte. Auch ist es bis heute nicht gelungen, die gesamte arbeitende Bevölkerung in die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme einzubinden. So tragen lediglich Angestellte von staatseigenen Betrieben und Beamte zur Finanzierung bei. Der Großteil der ländlichen Bevölkerung und auch Angestellte von nichtstaatlichen Unternehmen zahlen bisher nicht in das soziale Sicherungssystem ein. 25


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Die chinesische Gesellschaft sieht sich zudem einer zunehmenden Überalterung der Bevölkerung gegenüber. Die Zahl der Rentner steigt jährlich um drei Millionen. Im Jahr 2030 wird es in China 150 Millionen Rentner geben. Das Verhältnis von einzahlenden Versicherten und Rentnern wird drei zu eins erreichen im Vergleich zum Verhältnis zehn zu eins im Jahr 1990. Die Belastung für die Rentenund Krankenkassen wird wegen der Zunahme der Alten und Rentner rasch steigen. Dazu kommt die Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte: Die Urbanisierungsquote steigt in China jährlich um ein Prozent. Das bedeutet eine zunehmend unsichere Altersversicherung der Landbevölkerung,

da die Kinder der Bauern in die Städte abwandern. Der wachsende demografische Druck auf den Arbeitsmarkt belastet die sozialen Sicherungssysteme zusätzlich. Jährlich drängen etwa zehn Millionen Arbeitssuchende auf den Arbeitsmarkt, und hierzu kommen noch 150 Millionen Wanderarbeiter ohne feste Arbeitsverhältnisse. So ist davon auszugehen, dass die Arbeitslosenquote in China in den kommenden Jahren steigen wird und immer mehr Menschen auf Sozialleistungen angewiesen sein werden. Die Frage, wie die angemessene Finanzierung der Sozialsysteme in Zukunft geregelt werden kann, stellt sich damit in aller Dringlichkeit. Eine Antwort auf diese Frage scheint heute jedoch noch nicht möglich.

Das politisch-administrative System der VR China

PARTEI

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STAAT

In kommunistischen Regierungssystemen sind Partei und Staat gewöhnlich kaum zu unterscheiden: die Kommunistische Partei Chinas stellt nicht nur beinahe ausnahmslos das Personal für die Führungspositionen in Regierungs- und Verwaltungsorganen. Die Regierungsorgane sind darüber hinaus in ihren Entscheidungskompetenzen den Parteikomitees grundsätzlich untergeordnet. Quelle: Sebastian Heilmann: Das politische System der Volksrepublik China. 2. Aktualisierte Auflage VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, S. 90. 26

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Forschung & Lehre


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Harmonien in Grün Bisher tauschten wir Wirtschaftswachstum gegen Naturzerstörung. Das muss sich ändern Von Pan Yue Pan Yue ist seit März 2003 stellvertretender Leiter der zentralen staatlichen Umweltschutzbehörde. Er ist Mitglied in der Führungsgruppe der Partei, hat in Geschichte promoviert und wurde 1960 in Nanjing in der Provinz Jiangsu geboren.

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Aufgrund der großen Veränderung von Herstellungstechniken und Gesellschaftsorganisation haben sich die Beziehungen zwischen Mensch und Natur, zwischen den Menschen und den jeweiligen kulturellen Wertesystemen radikal verändert. Wenn wir die Geschichte betrachten, wurde jede Transformation in der menschlichen Zivilisation von Konflikten zwischen der Bevölkerungszahl und den Umweltressourcen herbeigeführt – sei es die Transformation von Fischer- und Jagdgesellschaften zu einer Agrargesellschaft oder von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft. Die Entwicklungsmöglichkeiten der klassischen Industriegesellschaft sind größer als die der Agrargesellschaft, aber es fehlt ihr an Beständigkeit. Im Augenblick etwa macht der Rest der Ölvorräte der Erde nur noch etwas mehr als 140 Milliarden Tonnen aus. Auf die gegenwärtige Produktion umgelegt, reicht das nur noch 40 Jahre. Die Erdgasreserven machen 15 Milliarden Kubikmeter aus, das ergibt im besten Fall 60 Jahre garantierter Versorgung. Gleichzeitig wird das Ökosystem weiter zerstört. Die Wälder schrumpfen, Arten sterben aus, die Wüsten wachsen, Naturkatastrophen häufen sich. Der gesamten Menschheit steht eine umfassende Krise bevor. Diese Krise ruft eine neue Transformation der Zivilisation hervor: Wir werden auf das tausendjährige traditionelle Entwicklungsmodell verzichten müssen, das gewohnt war, Wirtschaftswachstum gegen Naturzerstörung einzutauschen. Wir werden gezwungen, die Beziehungen zwischen Mensch und Natur und auch den Menschen untereinander neu zu justieren. Und wir sollten auf dieser Grundlage einen revolutionären Durchbruch in neuen Techniken anstreben und die Ressourcen dieser Welt neu verteilen. Sollte dies nicht geschehen, werden sich die Konflikte zwischen Mensch und Natur und unter den Menschen selbst rasch verschärfen. Wenn es der Menschheit jedoch gelingt, die Schwelle zu einer transformierten Zivilisation zu überschreiten, wird die wichtigste Aufgabe sein, möglichst rasch, nach den Prinzipien einer Ökozivilisation, eine allgemein akzeptierte Umweltkultur aufzubauen. Wo immer man sich um ausgeglichene Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur und auch den Menschen untereinander bemüht, wo immer man sich

um eine Kulturform bemüht, der es möglich ist, sich kontinuierlich zu entwickeln, ist dies eine Umweltkultur. Die Umweltkultur ist eine neue Kulturbewegung der Menschheit, eine tiefe Reform auf dem Gebiet des menschlichen Denkens. Sie bedeutet das Überdenken der traditionellen Industriegesellschaft und deren Überwindung und meint den Respekt gegenüber den Naturgesetzen und die Rückkehr dahin von einer höheren Stufe aus. Seit mehreren Jahrzehnten ist die Idee einer Umweltkultur in Bereiche der Wirtschaft, Technologie, des Rechts, der Ethik und der Politik eingedrungen. Hieran lässt sich erkennen, dass sich die Menschheit Schritt für Schritt in eine Ökoindustrie verwandelt und die Produktionsweisen der Menschheit und ihre Lebensweisen nach den Naturgesetzen reformieren wird. Vor mehr als dreihundert Jahren verwandelte sich die traditionelle Agrargesellschaft im Westen in eine traditionelle Industriezivilisation. Unter dieser Prämisse wurden Weltwirtschaft und Politik eingerichtet. Die rasche Entwicklung von Technologie und Wirtschaft brachte eine extreme Anhebung des Lebensstandards der Menschheit mit sich. Doch die Nachwirkungen werden auch immer sichtbarer. Die Weltressourcen werden mit erschreckender Geschwindigkeit verbraucht. Die Natur kann die Abfälle nicht verdauen. Die Umweltkrise verschlimmert sich Tag für Tag, und die Entwicklung des menschlichen Lebens ist bedroht. Man fängt an, sich über die Nachteile der Industriegesellschaft Gedanken zu machen, um sich aus der Krise zu befreien. Das Schwarz soll durch Grün ersetzt werden. Man kann sagen, die Ökokrise erzeugt eine Umweltkultur, der Kern der Umweltkultur ist eine Ökozivilisation. Der großartigen Renaissance des chinesischen Volkes gilt seit hundert Jahren der Traum und das unermüdliche Streben von Chinesen in aller Welt. Eine wichtige Grundlage für diese Renaissance Chinas ist die Renaissance seiner Kultur. Das Aufkommen einer weltweiten Umweltkultur birgt eine gewaltige Chance hierfür. Um eine sozialistische Umweltkultur von chinesischer Färbung zu entwickeln, muss man aus der traditionellen chinesischen Kultur die Idee eines weltweiten Umweltschutzes erneuern. Die Entwicklung des chinesischen Volkes ist nicht zu trennen von einem ständigen Wirtschaftswachstum, einer langfristigen Stabilität in der Politik, einer Schritt für Schritt sich vervollkommnenden Regierung durch Recht und Moral, von einer geregelten Entwicklung einer sozialistischen demokratischen Politik, einer energischen Verbreitung des Geistes des chinesischen Volkes. All dies hat unmittelbar mit der Umweltkultur zu tun. Wenn man Kulturaustausch 11/06


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eine chinesische Umweltkultur entwickeln will, muss man diese fünf Punkte angemessen behandeln. Am Ende wird man Harmonie in der Gesellschaft verwirklichen. Harmonie zwischen Mensch und Natur ist der Kernbegriff des Bewertungssystems einer zukünftigen Gesellschaft. Sie wird den Anthropozentrismus überwinden und die Menschheit veranlassen, die Geschichte erneut zu bewerten und ihr Glück zu definieren. Harmonie zwischen Mensch und Natur fördert selbstverständlich die Harmonie unter den Menschen. Harmonie in der Gesellschaft ist ein humanitärer Sozialismus, einschließlich des Gebotes, die Natur zu respektieren. Harmonie in der Gesellschaft ist eine gründliche Korrektur an der Wettbewerbstheorie des Kapitalismus, sie liegt auf einer Linie mit dem Streben nach dem Wert eines marxistischen Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft. Harmonie wird notwendigerweise zu Gerechtigkeit führen. Wenn eine Gesellschaft fair ist, heißt es, dass alle Menschen gleiche Chancen und Rechte genießen, so dass schließlich eine gerechte Aufteilung der Ressourcen verwirklicht werden kann. Aus politischer Perspektive gilt es, die grundlegenden Menschenrechte des Volkes zu schützen, die Pluralität in der Gesellschaft zu garantieren und ihre Spaltung zu verhindern. Aus soziologischer Perspektive gilt es, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen der Gesellschaft auszugleichen und die Schere zwischen Arm und Reich zu verkleinern. Aus der Perspektive der Wirtschaftswissenschaft gilt es, eine Balance zwischen dem Wirtschaftswachstum, der Gleichberechtigung und der Effizienz zu finden. Gerechtigkeit ist auch schon immer das Kernziel einer internationalen Gemeinschaft. 1992 wurde „die Tagesordnung für das 21. Jahrhundert“ auf der Weltkonferenz für Umweltentwicklung verabschiedet. 2002 wurde auf einer Weltkonferenz der Staatsoberhäupter noch weitergehend die Suche nach einer Lösung für das Problem der Gerechtigkeit in der Welt zum wichtigen Ziel einer nachhaltigen Entwicklung gemacht. Die Möglichkeit hierzu kommt aus dem Schutz der Umwelt, und der Umweltschutz treibt die gesellschaftliche Gerechtigkeit in einem noch größeren Umfang voran. Die Reform und die Öffnung Chinas waren eine gigantische Leistung. China behält das Tempo der weltweit schnellsten Wirtschaftsentwicklung bei. China ist zur Fabrik der Welt geworden. Aber China setzt gleichzeitig auch das grobe Modell des Wirtschaftswachstums fort. Der Gesamtwert der inländischen Produktion liegt nur bei vier Prozent der Welt, aber der Verbrauch an Metallen, Kohle und Beton liegt jeweils bei 30, 31 und 40 Prozent des weltweiten Verbrauchs. Während das durchschnittliche Bruttosozialprodukt pro Kopf bei 400 bis 1.000 US-Dollar Kulturaustausch 11/06

liegt, zeigt China eine genauso starke Umweltverschmutzung, wie sie die entwickelten Länder zu dem Zeitpunkt zeigten, da sie ein Bruttosozialprodukt von 3.000 bis 10.000 US-Dollar erwirtschafteten. Die Zerstörung des Ökosystems, die Verstädterung, der Druck für Berufsabgänger, der Mangel an Ressourcen, die Kluft zwischen Arm und Reich könnten sich zu einem ernsten gesellschaftlichen Problem für China steigern. Marx zufolge gilt: „Hinter den Beziehungen zwischen Gegenständen stehen immer Beziehungen zwischen Menschen.“ Dem vorzeitigen Reichtum einiger Regionen wird die Umwelt von anderen Regionen zum Opfer gebracht. Ungerechtigkeiten in Sachen Umwelt haben gesellschaftliche Ungerechtigkeiten verstärkt. Der Kern der Gerechtigkeit einer Gesellschaft ist die ausgewogene Verteilung der Rechte und Pflichten. Ungerechtigkeit auf dem Land, zwischen Regionen, zwischen Schichten bis hin zur Ungerechtigkeit auf Weltmaßstab – all dies sind Erscheinungen der unausgewogenen Verteilung von Rechten und Pflichten. Wird der Verantwortung ausgewichen und entledigt man sich ihrer, erschwert dies eine Harmonisierung der Gesellschaft in China

Der Umweltschutz treibt die gesellschaftliche Gerechtigkeit voran und den Frieden in der Welt. China ist das größte Entwicklungsland der Welt, doch die Entwicklungsländer haben sich noch nicht aus dem Rahmen der traditionellen Industriegesellschaften befreit. Sie stützen ihren Systemvorteil auf „die Strategie des Überholens“, auf ein rasches Wirtschaftswachstum und haben die Frage nach den „Möglichkeiten einer nachhaltigen Entwicklung“ und die Ökoumwelt ignoriert. China bildet keine Ausnahme. Mit einer Reihe von schlimmen Umweltkatastrophen sind die Umweltprobleme allmählich in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Die Umweltprobleme in China haben eine besondere Bedeutung für die Zukunft der ganzen Welt. Darum muss man realistisch sein und die unvermeidliche Wahl treffen, das Problem der Ungerechtigkeit in der chinesischen Gesellschaft von der Seite der Umweltgerechtigkeit her zu lösen. Aus dem Chinesischen von Suming Soun

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Krieg den Hütten chinesische Bauminister Wang Guangtao in seiner Rede am 21. April 2005 vor den Vereinten Nationen. Um den dargestellten Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, hat das „Ministry of Science and Technology“ der VR China ein Forschungsprogramm für „Green Buildings Von Qu Jing und Marcus Hackel in Cities and Small Towns“ in Auftrag gegeben. Im Zusammenhang mit diesem Forschungsansatz vereinbarten Qu Jing, geboren 1981 Durch seine rasant fortschreitende wirtschaftliche Entwick- die School of Architecture der Tianjin University und in Harbin/VR China, lung ist die VR China innerhalb weniger Jahre zum zweit- das Institut für Architektur der Technischen Universität studierte Architektur größten Erdölverbraucher der Welt herangewachsen. Wenn Berlin Anfang 2005 eine Kooperation in den Bereichen an der Universität der aktuelle Trend anhält, wird China die USA (mit einem Forschung, Wissenschaftsaustausch und Lehre. Tianjin. Dort und an Anteil von 21 Prozent des weltweiten Ausstoßes) als größten Unter dem Titel „Development of Affordable and Sustaider TU Berlin proProduzenten von Treibhausgasen bis 2025 überholen und nable Low Cost and Low Scale Housing Prototypes“ geht moviert er seit 2005 so wesentlich zur globalen Erwärmung beitragen. das Nachhaltigkeitskonzept über den „Green Building“über „Development Innerhalb der nächsten zehn Jahre werden voraussichtlich Ansatz der chinesischen Regierung hinaus. Diese definiert of Affordable and 100 Millionen Menschen von den weniger entwickelten „Green Buildings“ als „gesunde und komfortable Gebäude, Sustainable Low westlichen Provinzen in die Entwicklungszentren an der die über den ganzen Lebenszyklus Ressourcen sparend Cost and Low Scale Ost- und Südküste abwandern. Die somit kontinuierlich ausgelegt sind und somit die Beeinträchtigung der Umwelt Housing Prototypes“. weiter wachsenden Mega-Städte werden mit zunehmenden reduzieren“. Das Projekt betrachtet drei Themenkomplexe Umwelt- und Infrastrukturproblemen konfrontiert. Bal- der Nachhaltigkeit: Erstens die Schaffung von ProblembeMarcus Hackel, gebolungsräume wie das Jangtse-Delta mit Shanghai als Zen- wusstsein, zweitens die soziale und kulturelle Nachhaltigren 1963 in Berlin, ist trum oder das Perlflussdelta mit Hongkong und Kanton keit und drittens die ökologische Nachhaltigkeit. Architekt und wissenals Zentren haben jetzt schon jeweils rund 100 Millionen Prototypisch für die Volksrepublik China werden Ansätze schaftlicher Mitarbeiter Einwohner. Der Anteil der Bevölkerung Chinas in Städ- entwickelt, die die Abwanderung vom Land in die Wachsan der TU Berlin. ten betrug 2003 40,53 Prozent und wird bis zum Jahre tumsmetropolen reduzieren und die Dezentralisierung Sein Projektschwer2020 auf 60 Prozent steigen. Schon jetzt gibt es in der VR durch die Stärkung lokaler Strukturen und Traditionen punkt ist seit 2003 China 33 Metropolen mit jeweils mehr als zwei Millionen fördern. Die Architektur baut auf lokalen Erfahrungen die VR China. Einwohnern. auf, beschreitet jedoch zeitgemäße nachhaltige Wege. Mit dem drastischen Wirtschaftswachstum der letzten Dabei fließen einerseits die Erfahrungen des chinesischen Jahre hat sich auch ein noch nie da gewesener Bauboom Projektpartners über traditionelle Bautechniken und entwickelt. Die Weltbank prognostiziert, dass bis zum die bereits von ihm erstellten Analysen zu nachhaltiger Jahre 2015 die Hälfte der weltweiten Bautätigkeit in Chi- regionaler Entwicklungsplanung und Architektur in na stattfinden wird. Untersuchungen der chinesischen das Projekt ein. Andererseits wird auch der ForschungsRegierung zeigen, dass 50 Prozent des Gesamtenergiever- und Erkenntnishintergrund der TU Berlin eingebracht. brauches für die Erstellung und Nutzung von Gebäuden Zudem erlangen die Teilnehmer des Projektes durch die verbraucht wird. Bis zu 40 Prozent des Abfalls, der auf gemeinsame Arbeit Erkenntnisse über die besonderen der Welt produziert wird, entsteht durch den Bau und soziokulturellen Anforderungen der deutsch-chinesischen die Nutzung von Gebäuden. Setzt man voraus, dass der Zusammenarbeit. Prozess der Industrialisierung und Verstädterung weiter Das Areal für das Projekt wurde während eines Aufentanhält, wird China kurzfristig mit Ressourcen-Engpässen haltes in der im Südwesten Chinas gelegenen Provinz und den Folgen einer zunehmenden Umweltzerstörung Guizhou im April 2005 mit den lokalen Behörden und konfrontiert werden. der Universität Tianjin festgelegt: Es liegt ungefähr eine Es ist offensichtlich, dass die Regierung in Peking einen Stunde Fahrzeit südlich der Provinzhauptstadt Guiyang im ausgewogenen Weg des wirtschaftlichen Wachstums und Distrikt Huaxi, abseits jeglicher Bebauung, in der Umgeder nachhaltigen Entwicklung verfolgen muss. Zugleich bung des Dorfes Zhen Shan. Zhen Shan ist ein sehr tradimuss die Balance gefunden werden zwischen städtischer tionelles Dorf der Buyi-Minorität mit 1000 Einwohnern und ländlicher Entwicklung, zwischen wirtschaftlicher und liegt, dreiseitig von einem See begrenzt, in den Bergen. und sozialer Entwicklung, zwischen Wachstum und dem Wegen der anwachsenden Zahl der Einwohner muss nun, Verbrauch natürlicher Ressourcen. Dies betonte auch der will man die Abwanderung vermeiden, neuer Wohnraum 32

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Foto: Jing/Hackel

Die Landflucht nimmt ständig zu: Studenten aus Tianjin und Berlin planen deshalb ein Dorf, in dem die Bewohner bleiben wollen


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geschaffen werden. Da dies ohne eine Zerstörung der Dorfstruktur innerhalb des bereits dicht bebauten alten Dorfes nicht möglich wäre, ist die Entscheidung gefallen, in der Nachbarschaft das Dorf Neu Zhen Shan zu gründen. Die lokale Baubehörde unterstützt den Projektansatz inhaltlich und logistisch. Der erste rohbau wurde für die Familie von Li Wenfeng errichtet, eine alt eingesessene Buyi-Familie in Zhen Shan. Die Familie lebt bäuerlich und wurde von den Dorfältesten vorgeschlagen. Von den vier Geschwistern mit ihren Familien werden drei in das neue Dorf umziehen. Eine Schwester wird mit ihrer Familie weiterhin das 150 Jahre alte Haus am Dorftempel bewohnen. Beim Bau werden sowohl die bestehenden Traditionen als auch gesellschaftliche Veränderungen und der Wertewandel berücksichtigt. Moderne Hohlblocksteine sollen die Dämmeigenschaften verbessern. Sie werden in kleinen Manufakturen in der unmittelbaren Umgebung produziert. Der Dachstuhl nimmt die bestehenden Bautraditionen der Buyi auf und wird im alten Dorf durch lokale Zimmerleute traditionell ohne Verwendung von Eisenelementen hergestellt. Die architektur wird wie im alten Dorf Zhen Shan durch örtlichen Schiefer geprägt. Ein möglichst hoch verdichteter Bau schafft räu m l iche Qua l itäten und verhindert gleichzeitig übermäßigen Verbrauch an ackerland. So soll ein Dorf der BuyiMinderheit neu entstehen, das kulturell identifizierbar und als Ergänzung des alten Dorfes unverwechselba r w i rd . Erste ansätze des Tourismus in Zhen Shan können mit der Schaffung von Gastronomie und Unterkunftsmöglichkeiten im kleinen Stil als Der Dachstuhl nimmt die Einkommensquelle bestehenden Bautraditionen der und arbeitgeber geBuyi auf und wird im alten Dorf fördert werden. durch lokale Zimmerleute Obwohl die Möglichtraditionell ohne Verwendung keit eines späteren von Eisenelementen hergestellt. KULTUraUSTaUSCH 11/06

ausbaus mit konventionellem Bad und WC planerisch ermöglicht wird, wird prototypisch eine ZweikammerKomposttoilette errichtet. Nährstoffe werden so nicht unter Verbrauch von wertvollem Nutzwasser abgeführt, sondern dem Kreislauf als Dünger hygienisch unbedenklich wieder zugeführt. Da somit nur Grauwasser als abwasser entsteht, kann die Klärung im Umfeld des Dorfes in einem Klärteich stattfinden.Zwei weitere, bereits im alten Dorf eingeführte Techniken zur ressourcen-Nachhaltigkeit werden erneut angewandt: regenwasser wird in Zisternen gesammelt, und

Bis 2015 wird die Hälfte aller Baustellen weltweit in China liegen Biogas wird als Energiequelle zum Kochen verwendet. alle diese Neuerungen durchzusetzen war nicht immer einfach. Das Innovationsverständis von universitärer Seite stand dem bäuerlichen, ländlichen Verständnis von Tradition oft entgegen. Selbst die Verwendung einer anderen Steinsorte als üblich, stieß auf Befremden. Solche Veränderungen einzuführen erforderte behutsames Vorgehen. Nun ist die Familie von Li Wenfeng aber stolz auf ihr neues Haus. Es wurde im März und april 2006 gemeinsam von Studierenden aus China und Deutschland unter Mithilfe der späteren Nutzer gebaut. Die Inneneinrichtung nimmt die Familie nun selbst vor. Das gemeinsame Projekt wird weitere drei Jahre ausgewertet, um zu überprüfen, welche Ideen vor Ort akzeptiert und sogar übernommen werden. Das Hand-in-Hand-arbeiten auf der Baustelle hat vor allem das gegenseitige Verständnis verbessert: Während die deutschen Studierenden zu anfang sehr projektbezogen und nüchtern kommuniziert haben, ist der rücklauf aus China niemals geradlinig problematisierend gewesen. Dies führte im Verlauf des Projektes zunehmend zu Missverständnissen. Nach der analyse der Kommunikationsprobleme während eines daraufhin kurzfristig angesetzten Treffens in China waren jedoch die inhaltlichen Probleme ausgeräumt, die Planung eindeutig abgestimmt und die persönlichen Beziehungen freundschaftlich vertieft worden. Die Kommunikation lief seitdem von deutscher Seite diplomatischer und von chinesischer Seite deutlich direkter. Hoffentlich der anfang von vielen lang anhaltenden Freundschaften.

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„Wir alle sind kleine Figuren“

Ma Liwen, geboren 1971, ist Filmregisseurin. Ihr zweiter Spielfilm „Women Liang“ (You and Me) hat die „14plus“-Sektion der diesjährigen Berlinale eröffnet.

Ihr Film „You and Me“ erzählt die Geschichte einer jungen zielstrebigen Studentin, die während ihres Studiums bei einer alten verbitterten Frau in einem verkommenen Haus wohnt. Ist das Ihre eigene Geschichte? Ma Liwen: Ich bin 1994 aus meiner Heimat Harbin nach Peking gekommen und wohnte dort bei einer alten Frau. an der Uni teilen sich sechs Personen ein Zimmer. aber ich war an viel Platz gewöhnt. Deshalb bin ich in einen traditionellen chinesischen Wohnhof in der Nähe der Uni gezogen. Ihr Film stellt die Beziehung der beiden dar. Die jüngere ist ehrgeizig und dynamisch, die ältere ist bitter, sparsam, lebensmüde. Was wollten Sie damit über Frauen in China erzählen? Die jüngere Generation schert sich überhaupt nicht um die Älteren. Was die alten sagen und wollen, ist ihnen egal – es sei denn, sie stehen in einer Hierarchie direkt über ihnen wie etwa die Eltern oder der Boss. Die ältere Frau im Film schaut ständig nach dem Strom, dem Gaszähler. Sind die Kosten der Energieversorgung ein Thema? Nein, ich wollte damit zeigen, dass die alte Frau eine randfigur in der Gesellschaft ist, sie hat wenig mit ihrer Umgebung zu tun, und deswegen beachtet sie nur Kleinigkeiten. Die Studentin ist ebenfalls eine kleine Figur in der Gesellschaft. Deswegen sind diese Elemente – Wasser, Strom, rechnungen – wichtig für beide. alle wollen irgendwo sparen. Wir alle sind kleine Figuren. Ich weiß nicht, wann, aber mit dem reichtum wird auch der Geist sich öffnen, dann wird man großzügiger werden in China. Sehen Sie sich als eine Außenseiterin der chinesischen Filmindustrie? Die bekannteren chinesischen Regisseure machen eher teure, effektreiche Kampfsportfilme. Die jüngeren regisseure meiner Generation denken nichts Gutes über diese Filme. Sie sind keine Kunst, aber sie haben weltweit Erfolg. Wir wollen natürlich auch nicht, dass China nur kleine Filme macht.

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„Wuji“ – „Die Reiter der Winde“ – der letzte Film von Chen Kaige und der bislang teuerste chinesische Film überhaupt war in China ein riesiger Publikumserfolg. Die realität ist: Chinesen gehen nur in die Filme dieser drei großen Namen: Zhang Yimou, Chen Kaige, Feng Xiaogang. Die jüngeren Filmemacher machen Kunstfilme, aber sie haben kein Geld für Propaganda – und nach der richten sich die Chinesen. Was meinen Sie mit Propaganda? Kommerzielle Werbung. Ein Drittel des Budgets solcher Filme wird dafür ausgegeben. Im Fernsehen wird pro Sekunde gerechnet. Ich gehöre zur siebten Generation der Filmemacher. Die großen regisseure der fünften Generation verdienen gutes Geld. Die jüngere Generation braucht sehr viel Kraft, um Geld aufzutreiben. Langsam, von Festival zu Festival, sammeln wir unser Publikum. Stimmt es, dass Kinokarten immer teurer werden? Ja, gerade für Familien ist es sehr teuer. Vor allem die jungen Leute gehen mit dem Trend, sie sparen Geld, um diese großen Filme zu sehen, um mitreden zu können. Sie haben die Folgen der Kulturrevolution und große Änderungen in China erlebt ... Nein, ich habe die Kulturrevolution nicht miterlebt. Das hat mit mir nichts zu tun. Meine Mutter hat ständig über die Kulturrevolution gesprochen – wie schlimm das alles war. Ich schaue nach vorne, mache Pläne, überlege, was für mich heute wichtig ist. Meine Mutter war alleinerziehend. Ich will Karriere machen, um sie glücklicher zu machen. Ich bin im Jahr des Schweines geboren, das heißt, ich habe Glück. Ich muss nicht viel dafür tun. Die guten Sachen kommen zu mir. Was ist Ihr Traum als Regisseurin? Dass meine Filme mehr Zuschauer erreichen. China ist sehr groß, aber mein erster Film ist nur in vier Städten gezeigt worden. Das Problem ist die Vermarktung. Und es gibt wenig Firmen, die das gut machen. Da ist China sehr zurückgeblieben. Sie haben jetzt zum ersten Mal Europa besucht. Was ist Ihr Eindruck? Ich finde es toll, so viele Zuschauer zu haben. Die Menschen achten auf meinen geistigen Horizont. Aus dem Chinesischen von Suming Soun Das Interview führte Naomi Buck KULTUraUSTaUSCH 11/06

Foto: Deng Meng

Die chinesische regisseurin Ma Liwen über ihren Film „You and Me“


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Noraismus Der 100. Todestag Ibsens wird in China umfangreich gefeiert. Denn sein Stück „Nora“ steht für Individualismus und den Aufbruch der Frau Von He Chengzhou Ibsen gehört zu den einflussreichsten literarischen Per-

He Chengzhou, geboren 1967, ist Professor für Literatur und stellvertretender Vorsitzender des Zentrums für Europäische Studien an der Nanjing Universität in China.

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sönlichkeiten im China des 20. Jahrhunderts. „Nora oder ein Puppenheim“ war das in China am häufigsten gespielte ausländische Theaterstück in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Mindestens neun verschiedene Übersetzungen des Stückes sind in China erschienen. Die Protagonistin Nora galt und gilt als Symbol für Individualismus und die Befreiung der Frau. Kein Held und keine Heldin eines ausländischen Autors hat in China eine vergleichbare Aufmerksamkeit erregt. Manche sagen, dass Ibsen in China bekannter ist als in Norwegen und Nora bekannter als Ibsen. Als Ibsens Werk 1918 in China eingeführt wurde, schrieb Hu Shi, eine führende Persönlichkeit des kulturellen Lebens, einen Artikel mit dem Titel „Yibusheng zhuyi“ (Ibsenismus), der einen gewaltigen Einfluss auf die chinesische Rezeption von Ibsen in den kommenden Jahrzehnten hatte. Bald darauf nahm das anerkannteste chinesische Wörterbuch Ci Hai (wörtlich „das Meer der Worte“) den Begriff Ibsenismus auf als „glühenden Individualismus“. Hu Shi, der in den Vereinigten Staaten studiert hatte, war von Chinas sozialer Realität enttäuscht und schrieb dessen Rückständigkeit den beengenden Zwängen der Tradition zu. Da er keinen direkten Weg sah, das Land zu retten, wurde er zu einem der Befürworter des Individualismus und propagierte gegenüber seinen Anhängern, „sich selbst zu retten“. Hu Shi war auch der Erste, der „Nora“ ins Chinesische übersetzte. Seine Übersetzung mit dem Titel „Nala“ (chinesisch für Nora) wurde 1918 in „Xin Quingian“ (Neue Jugend) veröffentlicht. Im folgenden Jahr schrieb Hu Shi das Theaterstück „Zhongshen Dashi“ (Das größte Ereignis im Leben), eine Reaktion auf „Nora“ und das erste moderne Stück in der chinesischen Umgangssprache. Die Geburt des modernen chinesischen Dramas beendete die Dominanz des traditionellen chinesischen Theaters, das vorrangig der Unterhaltung seines Publikums diente. Hu Shis Stück handelt von einem chinesischen Mädchen, Fräulein Tian, die einen Mann heiraten möchte, den sie selbst gewählt hat. Dieses Stück ist noch immer eine große Inspiration für chinesische Jugendliche, die sich gegen das Patriarchat in der Familie und soziale Unterdrü-

ckung auflehnen wollen. Es folgte eine Anzahl weiterer moderner Theaterstücke, in denen eine rebellische NoraFigur sich entscheidet, ihre Unabhängigkeit zu erlangen. In den meisten dieser Stücke verlässt die chinesische Nora ihr Vaterhaus, nicht Mann und Kinder. Der Fokus liegt auf dem Aufbruch der weiblichen Protagonistin, weniger auf ihrem inneren psychologischen Konflikt. Die erste Aufführung von „Nora“ in China fand 1914 in Shanghai statt. 1934 wurde das Stück so häufig in chinesischen Großstädten aufgeführt, dass dieses Jahr als das „Nora Jahr“ bezeichnet wird. Die Shanghaier Produktion war ein Höhepunkt der Theatergeschichte. Lan Ping spielte die Rolle der Nora. Lan Ping war der Künstlername von Jiang Quing, der späteren Ehefrau von Mao Tse-tung. Während der chinesischen Kulturrevolution war Madam Jiang, Chinas First Lady, als eines der Kernmitglieder der berüchtigten „Viererbande“ mitverantwortlich für die umfangreichen Vernichtungsprozesse in der chinesischen Gesellschaft, Politik und Kultur. Das Thema der weiblichen Befreiung beschäftigte fast jeden chinesischen Autor in den 1920er und 1930er Jahren. Bald taucht eine neue und revolutionäre Nora auf. In Mao Duns berühmter Geschichte „Hong“ (Regenbogen, 1930) hatte Mei, die Hauptperson, die Rolle der Frau Linde in einer Schulaufführung von „Nora“ gespielt. Nach dem Scheitern ihrer arrangierten Ehe flieht sie von zu Hause und schließt sich revolutionären Kreisen an und widmet ihr Leben dem Kampf für die nationale Befreiung. Als Sinnbild für Individualismus, Feminismus und Sozialismus ist die chinesische Nora eine revolutionäre, nationalistische Kämpferin geworden. Aus Ibsens „Nora“ entstand der chinesische Noraismus. Auch nach 1949 gab es in China etliche Inszenierungen, in den 1980er Jahren wurde „Nora“ Lehrstoff für Mittelschüler. 1998 wurde das Stück in Peking experimentell inszeniert: Die norwegische Schauspielerin Agnete Haarland spielte die Nora – in Englisch mit ein paar eingestreuten chinesischen Wörtern. Der Rest der Schauspieler sprach Chinesisch mit ein paar englischen Sätzen dazwischen. Diese Aufführung gehört zu den wenigen zweisprachigen Performances im chinesischen Theater. Zuletzt hat im April 2006, im Rahmen des Ibsen-Jahres zu dessen 100. Todestag, der bekannte chinesische Regisseur Lin Zhaohua „Noras Kinder“ von Jesper Halle in Peking aufgeführt. Es zeigt das „Puppenheim“ aus der Perspektive von Noras Kindern. Aus dem Englischen von Anja Wedell

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China

Fachchinesisch Über die Entstehung der modernen chinesischen Wissenschaftssprache Von Iwo Amelung

Iwo Amelung, geboren 1962, ist Privatdozent an der Universität Erlangen-Nürnberg und Managing Direktor des European Centre for Chinese Studies at Beijing University in Peking. Er ist einer der Mitbegründer des Forschungsprojektes „Wissenschaftssprache Chinesisch”.

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Noch vor etwas mehr als hundert Jahren erschien es un-

denkbar, dass Chinesisch eine der wichtigsten Sprachen der wissenschaftlichen Kommunikation werden würde. Fehlte es doch in China an einem im westlichen Sinne modernen System der akademischen Forschung und – noch wichtiger – hatten westliche und chinesische Wissenschaftler ernsthafte Zweifel, ob die chinesische Sprache wissenschaftliche Tatbestände kommunizieren könne. Da die westlichen Wissenschaften im 19. Jahrhundert für China ein neues Feld darstellten, gab es keine Wörter für die Begrifflichkeiten. Das galt nicht nur für Begriffe wie „Lichtgeschwindigkeit“ oder „chemisches Element“, sondern auch für Konzepte wie „Optik“ oder „Wissenschaft“. Da die Vermittlung der westlichen Wissenschaften nach China in dieser Phase in erster Linie durch Übersetzungen – vor allem englischsprachiger Bücher – stattfand, wurden viele Übersetzer notgedrungen zu Terminologieschöpfern. Die umfassendsten Veränderungen des chinesischen Lexikons brachten die geistigen Kontakte Chinas mit anderen Kulturen mit sich, vor allem die Übernahme buddhistischen Gedankenguts seit dem ersten Jahrhundert, aber auch die jesuitische Mission im 17. und 18. Jahrhundert, als viele geographische Bezeichnungen, die bis heute in China verwendet werden, etwa das Wort für „Äquator“ (chidao 赤道) geprägt wurden. Das chinesische Schriftsystem machte graphische Entlehnungen von westlichen wissenschaftlichen Begriffen unmöglich – aber auch lautliche Übernahmen spielten, da sie als wenig elegant angesehen wurden, eine eher untergeordnete Rolle. Wesentlich weiter verbreitet waren deshalb andere Techniken. Bei der „Lehnbedeutung“ wird einem existierenden Wort der Zielsprache eine neue Bedeutung zugewiesen. Diese Technik birgt die Gefahr, dass man diese nicht notwendigerweise erkennt oder gar vermutet, dass es den „neuen“ Tatbestand oder Gegenstand in China schon immer gegeben hat. Bei der „Lehnübersetzung“ ahmt man in der Zielsprache die morphologische Struktur des Ausgangswortes in einem zusammengesetzten Wort nach. Ein Beispiel hierfür ist „zhengqiji“ 蒸汽机, das chinesische Wort für „Dampfmaschine“, das sich aus den Zeichen für „Dampf“ und „Maschine“ zusammensetzt. Als „Lehnschöpfungen“ werden

die Wörter verstanden, die im Chinesischen geschaffen wurden, ohne ein Wort der Ausgangssprache lautlich oder strukturell nachzuahmen. Ein Beispiel dafür ist das Wort „lixue“ 力学, „die Lehre von der Kraft“ als Übersetzung des westlichen Begriffes „Mechanik“. Die Schaffung der chinesischen Wissenschaftssprache ging nicht reibungslos vonstatten. In der Zeit zwischen ungefähr 1850 und 1900 beherrschten nur wenige chinesische Übersetzer die Ausgangssprache – meistens Englisch – ausreichend. Weit verbreitet waren „Übersetzerteams“ aus einem Ausländer und einem Chinesen. Diese Arbeit war ungeheuer mühsam. Das größte Problem stellte jedoch die Standardisierung der neuen Terminologien dar. Wir kennen mehr als 40 unterschiedliche Übersetzungsvorschläge für den westlichen Begriff „Logik“ und mehr als 20 für „Physik“. Erst der Aufbau eines modernen Schul- und Universitätssystems führte dazu, dass die Beschäftigung mit den Wissenschaften – zunehmend auch westlichen Geistes- und Sozialwissenschaften – für chinesische Gelehrte zu einer ernsthaften Option wurde. Es ist nicht frei von Ironie, dass gerade zu dem Zeitpunkt, an dem die Popularität der Wissenschaft in China den entstandenen Wissenschaftssprachen zum Durchbruch hätte verhelfen können, diese Terminologien von einem überlegenen Konkurrenten marginalisiert wurden. Nach dem Chinesischen Krieg 1894/95 gingen viele Chinesen zum Studium nach Japan. Chinesische Studenten und japanische Übersetzer, die nun im großen Maßstabe als Vermittler von Wissenschaften nach China tätig wurden, bevorzugten die besser standardisierte japanische Terminologie – geschrieben in chinesischen Schriftzeichen. Große Teile des heute noch verwendeten Wortschatzes in den Sozial- und Geisteswissenschaften sind daher japanischen Ursprungs – einschließlich von Wörtern wie „geming“ 革 命(jap. „kakumei“) für „Revolution“ und „gongchanzhuyi“ 共产主义 (jap. „kyôsan shugi“) für Kommunismus. Heute in China verwendete Bezeichnungen für wissenschaftliche Disziplinen wie „jingjixue“ 经济学 für Wirtschaftswissenschaften (jap. „keizaigaku“), „zhexue“ 哲学 für Philosophie (jap. „tetsugaku“) und „wulixue“ 物理学 für Physik (jap. „butsurigaku“) sind Prägungen japanischer Gelehrter der Meiji-Zeit (1868–1911). Die Entstehung der modernen chinesischen Wissenschaftssprachen war also ein äußerst komplexer, widersprüchlicher Prozess, der zeigt, wie lange es bereits eine Verbindung von „Globalisierung“ und Wissenschaft gibt. Die Schaffung dieser Wissenschaftssprachen war eine Voraussetzung für die Integration Chinas in die „wissenschaftliche Weltgesellschaft“. Kulturaustausch 11/06


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Kekse für Chongqing Wie man in China Geschäfte macht Von Nereida Flannery

Foto: privat

Nereida Flannery ist geschäftsführende Direktorin einer Unternehmensberatung in Peking und Shanghai. Sie wurde 1970 in Kanada geboren und lebt seit zwölf Jahren in China.

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Wie man in China Geschäfte machen kann, ist eine Frage, die sich inzwischen sehr viele Menschen stellen. In jedem Jahr reisen rund 120 Millionen Menschen nach China, von denen bestimmt fünf Millionen geschäftlich unterwegs sind und auf Handelsabkommen spekulieren. China besitzt mit 60,3 Milliarden US-Dollar den größten Markt für Direktinvestitionen aus dem ausland. Und nahezu jeder Firma vom Mittelstand bis zum Global Player schadet es deshalb nicht, eine gute Strategie für den chinesischen Markt in der Schublade zu haben. Nach den elf Jahren, die ich geschäftlich und privat in China verbracht habe, und während denen ich mindestens 100 Firmen in strategischen Fragen beraten habe, bin ich mir aber nur einer Sache sicher: Ein einfaches Erfolgsrezept gibt es nicht. Leuten, die meinen, China zu kennen, ist nicht zu trauen. Es ist nicht möglich, Land und Leute vollständig kennen zu lernen. Das Land ist zu vielfältig; eine Tatsache, die jeder Chinese sofort bestätigen würde. China ist riesig, von region zu region verschieden, schnelllebig und wandelbar; und es unterliegt einer Vielzahl historischer und sozioökonomischer Einflüsse, die in ihrer Komplexität schwerlich unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Ein Versuch, die verschiedenen aspekte der Kommunikation, der Geschäftsbedingungen und der geschichtlichen Einflüsse zu verstehen, die für Geschäfte mit Chinesen wichtig sind, lässt sich natürlich trotzdem unternehmen. Mein erster ratschlag an Handelsreisende, die eben aus dem Flugzeug gestiegen sind und sich schon einem Gewimmel von Menschen ausgesetzt sehen, die von Meeting zu Meeting eilen, lautet: „Lassen Sie sich nicht beeindrucken. Machen Sie Ihre Geschäfte so, wie Sie sie immer machen.“ Wie viele Geschäftsführer kleiner bis großer Firmen aus aller Herren Länder sind in den letzten Jahren schon in China gelandet und haben ihren Verstand sprichwörtlich beim Zoll gelassen! Berauscht von der Idee, ein x-beliebiges Produkt an 1,2 Milliarden Menschen (oder auch nur an ein Prozent von ihnen) verkaufen zu können. Denn natürlich bietet China gigantische Möglichkeiten. Diese zu nutzen ist allerdings nicht so einfach. Produkte wie Kunden unterliegen vielen unterschiedlichen Einflüssen – von Klassenunterschieden, historischen

Gegebenheiten, regionalen Unterschieden in Sachen Nachfrage und Geschmack bis zu Faktoren wie ausgabekapazitäten oder der örtlichen Leih- und Kreditmentalität ist einiges von Belang. Zum Beispiel: Ein internationaler Marktführer im Keks-Segment eröffnete anfang der neunziger Jahre eine Fabrik in Chongqing, der mit etwa 31 Millionen Einwohnern größten Stadt Chinas – mit Umgebung. allerlei Stadtoffizielle hatten große Umsatzmöglichkeiten bei Millionen Kunden in aussicht gestellt und Unterstützung versprochen. Leider versäumte es die Firma, in Sachen Kekse, wie gesagt, absolute Weltspitze, drei elementare Dinge in Betracht zu ziehen: erstens die Frage nach regionalen Vorlieben (die region ist für würzige Speisen bekannt, Süßes ist selten), zweitens die ausgabekapazitäten und drittens das Prüfen von möglichen anfallenden Kosten. So stellte sich schnell heraus, dass die Chinesen dieser binnenländischen region nicht von den Keksen zu überzeugen waren und das Produkt für die meisten auch schlicht zu teuer war. Darüber hinaus hatte die Firma die örtlichen Steuern, das Fernmanagement, dazu die recht spärlichen Vertriebswege fahrlässig unterschätzt. Innerhalb weniger Jahre musste die Fabrik schließen. Ein trauriger, in den frühen neunziger Jahren leider aber auch typischer Fall. Geschäfte sollte man in China so führen, wie man es andernorts auch tun würde. Das heißt, Marktforschung, die Expertise von Geschäftspartnern, die analyse der Kostenstrukturen und Ähnliches sollten hier mit der gleichen gebührlichen Sorgfalt erledigt werden wie an jedem anderen Ort. Im internationalen Geschäft stellt Kommunikation eine besondere Herausforderung dar. China bildet da keine ausnahme, im Gegenteil. Trotz der besonderen geschichtlichen Umstände besteht das Land aus einer Konsensgesellschaft. Sogar die großen Bosse brauchen Zusagen und Kooperationen untereinander, um in ihrem Bereich mit der Unterstützung der Kollegen rechnen zu können. In Verhandlungen ist die chinesische Seite geschickt. Meist werden Zwischenhändler verschiedener Geschäftsebenen gesandt, die alle darauf geeicht sind, die Teilergebnisse immer wieder zu überprüfen und so ihre Bedingungen zu optimieren. Es kann passieren, dass nach wochenlanger Feinarbeit an einzelnen Vertragspunkten weitere Verhandlungen kurzerhand abgesagt werden, weil „der Chef nicht einverstanden“ ist. Während die andere Seite denkt, das Geschäft stünde kurz vor dem abschluss. Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entweder hatte es der untergebene Verhandlungsführer versäumt, seine Chefs angemessen zu informieren, um sie nicht weiter 39


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zu belästigen. Es könnte aber genauso gut sein, dass die chinesische Seite eine alte Taktik eingeschlagen hat, um weiteren Boden gutzumachen. Ein weiterer ratschlag an meine Kunden lautet: In China zählen absichtserklärungen und Verträge weniger als anderswo – auch wenn Letztere zunehmend vor Gericht eingeklagt werden können. absichtserklärungen hingegen werden nur als erster, unverbindlicher Schritt betrachtet. Wichtige Erkenntnis außerdem: Die kulturellen Unter-

Entschuldigen Sie bitte den Strafzettel Der chinesischen Entschuldigung „duibuqi“ begegnet man überall. Um höflich zu sein, formuliert man sogar einen Vorwurf als Entschuldigung. Ein taiwanesischer Strafzettel klingt beispielsweise so: „Liebe/r Herr/Dame: Sie haben beim Parken gegen folgende der links aufgeführten Regeln verstoßen: [es folgt eine Liste]. Wir bitten Sie vielmals um Entschuldigung, dass wir zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit des Verkehrs von Gesetzes wegen Gebühren erheben müssen. Wir hoffen, Sie verstehen und verzeihen das und möchten in Zukunft darauf achten, die Verkehrsregeln einzuhalten. Wir wünschen Ihnen Gesundheit und Frieden. Die Benachrichtigungseinheit.“ (Quelle: Hanne Chen: Kultur Schock VR China/ Taiwan. Bielefeld, Reise Know-How Verlag 2004).

schiede werden oft überschätzt. Von beiden Seiten. Der abschluss eines Geschäfts wird kaum daran scheitern, dass man den Verzehr einer schleimigen Seeschnecke abgelehnt hat. andererseits ist bei grobschlächtigem oder prahlerischem Verhalten ein Scheitern nahezu vorprogrammiert. Ein von respekt und anstand geprägtes auftreten gegenüber dem Vorsitzenden der Gegenseite sollte mehr beinhalten, als nur mit ihm auszugehen. Oberstes Prinzip des kulturellen Umgangs ist es, stets „das Gesicht zu wahren“, das eigene wie das des Gegenübers. Eine Grundregel lautet also: „Bringen Sie Ihren möglichen Partner niemals in Verlegenheit. Und bevormunden Sie ihn nicht.“ Ein in China unter ausländischen Geschäftsleuten geflügeltes Wort ist „Guanxi“, was so viel wie „Beziehungen“ heißt. Das gängige Vorurteil lautet, dass ohne „Guanxi“ keine Geschäfte zu machen sind. Tatsächlich ist es gar nicht schwierig, diese „Guanxi“ zu ergattern, also Beziehungen zu knüpfen. Das Problem ist eher, die Beziehungen auch auszuspielen. Ein Satz wie „Der Bezirksgouverneur ist ein Verwandter von mir“ fällt relativ häufig; diese art von Beziehung bringt allerdings wenig, solange man sein „Guanxi“ nicht beim richtigen ansprechpartner vorbringt. auf der anderen Seite können „Guanxi“ teuer werden. Besonders wenn jedes Glied dieser Beziehungskette nach finanziellen Beteiligungen verlangt. Im chinesischen Geschäftsgebaren herrscht eine Menge Schein vor, oft mehr Schein als Sein. So sind Extras wie Fernsehauftritte, Karaokenächte und Empfänge nicht mehr als respektsbekundigungen und haben als solche wenig 40

Einfluss auf den tatsächlichen Geschäftsablauf. auch Einladungen zu Banketts weisen keineswegs auf eine besondere Behandlung eines besonderen Partners hin, sondern stellen nicht viel mehr als eine herzliche Begrüßung dar, die eher politisch motiviert ist. Um ein Geschäft abzuschließen, ist es wichtig, über mehr als einen chinesischen Kontakt zu verfügen. Von anbeginn an sollte sichergestellt sein, dass Vertreter der Verwaltungen, der Händler und Lieferanten in die Verhandlungen einbezogen werden können. Nicht ratsam ist es, sich lediglich auf einen Partner oder auf bestimmte Beziehungen („Guanxi“) zu berufen. Besonders die lokalen Vertreter erweisen sich oft als variable Größe. Und: Die Partner von heute können morgen schon der Korruption verdächtig sein. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass es viel Zeit, Verstand und Geld braucht, um die Möglichkeiten des chinesischen Marktes zu erfassen. Das alles bedeutet natürlich nicht, dass ein Produkt den örtlichen Verhältnissen angepasst werden muss. Jedenfalls nicht unbedingt. So gibt es zwei erfolgreiche Unternehmen, die auf eine Produktanpassung an die jeweiligen örtlichen Verhältnisse gänzlich verzichtet haben: Starbuck‘s und Häagen Dazs. Noch vor 15 Jahren hätte bestimmt niemand einer amerikanischen Kaffeehauskette zugetraut, sich in einer Nation von Teetrinkern zu behaupten. Mittlerweile gibt es erfolgreiche Filialen an allen einschlägigen historischen Stätten, einschließlich der Verbotenen Stadt, und das bei Preisen von bis zu drei Euro pro Becher (was einem Vielfachen einer Tasse Tee entspricht). Ebenso unglaublich klingt der Erfolg eines dänischen Unternehmens, das Speiseeis für ungefähr fünf Euro feilbietet, während der örtliche Konkurrent nur rund einen Euro dafür verlangt. Um in China Geschäfte zu machen, sollten Unternehmen auf übliche art verfahren. Eine anpassung des Produkts könnte vonnöten sein; die Integrität sollte jedoch unbedingt gewahrt bleiben. Die spezifischen Voraussetzungen einer bilateralen Kommunikation sollten verstanden sein, was aber nicht dazu führen sollte, dass man eigene Standards untergräbt. Kurzum: Lassen Sie sich nicht von Unterschieden entmutigen, sondern orientieren Sie sich an den Gemeinsamkeiten! Aus dem Englischen von René Hamann

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China

Wechselstrom Von Nikola richter

Nikola Richter wurde 1976 in Bremen geboren und war noch nie in China. Sie arbeitet in der Redaktion von Kulturaustausch. Zuletzt erschien von ihr „Die Lebenspraktikanten“ (Frankfurt a.M., Fischer Taschenbuch 2006).

Im Chinahandel hat sich seit 150 Jahren nicht viel verändert. Zumindest ist das so, wenn man henning Melchers fragt. Der 73-Jährige, der in hongkong und shanghai aufgewachsen ist, gilt unter Kennern des asienhandels als „chinapapst“. In jagdgrünem sakko und weiß-blaukariertem hemd empfängt er in seinem Büro in der Bremer Firmenzentrale von „Melchers & co.“ die Besucher: Blick auf die Weser und an den Wänden holzgerahmte Ölgemälde der Vorfahren und chinesische Kunst. Er hat die Welt gesehen, ihn kann nichts erschüttern. Nur wenn ihm etwas sehr wichtig ist, beugt er sich auf seinem sessel nach vorne und hebt die stimme. Wenn man Frau li Qingshuang von der chinesischen handelskammer in shanghai nach einem deutschen unternehmen fragt, das lange Erfahrungen im chinahandel hat, fällt ihr auf anhieb „Melchers & co.“ ein. Das mittelständische unternehmen macht einen umsatz von 330 Millionen Euro, beschäftigt 1.200 Mitarbeiter, davon 400 in asien, unterhält 22 tochtergesellschaften, einige davon in china. henning Melchers hat die dortigen Firmengeschicke in der fünften Generation gelenkt, spricht fließend Mandarin und war 25 Jahre lang Mitglied der Deutsch-chinesischen Gemischten Kommission, die jährlich mit den nationalen Wirtschaftsministern tagt und über Visafragen, handels-

China-Export-Schlager um 1900: Melchers‘ Handsturmlaterne auf chinesischer Werbeschrift um 1900, das Öl dafür lieferte Rockefeller 42

bilanzen oder Marktzugänge streitet. Früher machte die deutsche Delegation bei Beginn des treffens immer eine Bemerkung zu den Menschenrechten: „Das musste ja gesagt werden.“ so wie henning Melchers dieses Detail anspricht, klingt es eher nach pflichtbewusster Diplomatie-Kür als nach politischer Forderung. lieber beruft sich henning Melchers auf die kollektive Mentalität der „konfuzianischen asiaten“, die eine Demokratisierung im westlichen sinne gar nicht zulassen würden und deren Personalführungsstil man in Europa „Management nach Gutsherrenart“ nennen würde. Ende des themas. Da wird sich seiner Meinung nach nicht viel ändern. Melchers gehört zur alten Garde der chinahändler. Das heutige china, dessen außenhandel sich seit dem Beitritt zur „World trade Organization“ 2001 fast verdreifacht hat, wird ihm daher immer fremder: „shanghai ist jetzt wie New York am Yangtsekiang, die Fastfood-Kultur und die Konsumkultur sind dort eingezogen. china ist heute in ungeheurer Form geldbezogen.“ Von der asiatischen Geschäftigkeit und Geschäftstüchtigkeit profitieren internationale Firmen enorm: 80 Prozent der 500 größten Industrieunternehmen der Welt sind bereits in china vertreten, Europa ist der wichtigste handelspartner chinas und Deutschland steht innerhalb der Europäischen union an erster stelle. „Die atmosphäre ist sehr angenehm für beide seiten“, fasst Frau li zusammen. sanfte Worte für die tatsache, dass ausländische Firmen jährlich etwa 60 Milliarden us-Dollar in china investieren. Dazu kommt der technologie-transfer. Den „größten tafelsilbertransfer aller Zeiten“ nennt ihn der Wirtschaftsjournalist Frank sieren in seinem Buch „Der china code“. Frau li sieht es gelassen: Kapital und technologie seien die stärken der deutschen Wirtschaft, china biete der deutschen Wirtschaft im Gegenzug einen großen Markt und preisgünstige arbeitskräfte – eine „Win-Win-situation“ für beide seiten. Die Geschichte der Firma „Melchers“ beginnt im Jahr 1866. Eine Bremer Familie schickt ihren dritten sohn hermann in die weite Welt, damit er eine Niederlassung von „Melchers & co.“ in hongkong gründet. Da ist das unternehmen schon fünfzig Jahre alt. anton Friedrich carl Melchers hatte 1806 in der norddeutschen hansestadt einen deutsch-englischen handel mit Wein, likör, tabak, Blumenzwiebeln, Baustoffen, Eisenwaren, Kupfer, Pech und teer begonnen, die damalige Kontinentalsperre während des napoleonischen Krieges durch private Kontakte gewieft umgehend. als die französischen Besatzer 1813 Bremen verließen, stürzte sich der Geschäftsmann auf den florierenden tabakhandel und beteiligte sich an

Fotos: Timo Berger, Melchers GmbH

Wie das Bremer unternehmen „Melchers & co.“ seit 150 Jahren erfolgreich mit china handelt

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schiffen. Mitte des 19. Jahrhunderts segelten schon zwölf unter der Flagge mit dem blauen „M“ auf weißem Grund. Die segelschiffsreederei transportierte auswanderer, damals Europas bedeutendstes Exportgut, nach Nordamerika und schipperte auf dem rückweg von dort, von Kuba und Brasilien tabak, rum und Bast über den Ozean. außerdem lag eine eigene Walfangflotte vor hawaii. Das erbeutete Walöl war als lampenöl in Europa heiß begehrt. um 1860 stehen die händler vor einer neuen wirtschaftlichen und politischen Weltlage: Mineralöl und Dampfschiffe machen dem Walöl und den segelschiffen Konkurrenz. Zusätzlich blühen die europäischen Kolonien in südostasien auf: in Indonesien, Malaysia, singapur, Indochina. china, das bis 1830 mit 30 Prozent des Bruttosozialproduktes die führende Wirtschaftsnation weltweit war, wird zu einer „Marionette auf dem schachbrett der Weltpolitik“, erklärt hartmut roder, handelskunde-Experte im Bremer Überseemuseum. Die Briten öffnen während der zwei Opiumkriege Mitte des 19. Jahrhunderts gewaltsam den chinesischen Markt. Nun dürfen sich ausländer nicht nur in hongkong niederlassen. hermann Melchers ist einer von vielen, die damals ihr Glück versuchen und finden. Im Jahr 1864 zählt die „hongkong Government Gazette“ 2.264 Einfahrten europäischer und amerikanischer schiffe, ein Viertel davon deutsche, mit über einer Million tonnen Fracht. Der Bremer Kaufmann fühlt sich gegenüber den Einheimischen als überlegener herr: ein übliches Verhalten in der westlichen Kolonialgesellschaft. Der Firmen-Nachfahre henning Melchers hat dafür wenig Verständnis: „Das war nicht wie heute, dass wir mit einem chinesen gleichwertig verhandeln und den chinesen begreifen. Die Jungs damals hielten sich einen Komprador: Dem sagte man, was man wollte, und der organisierte Einkauf und Verkauf.“ Dass der Europäer damals „vom asiatischen keine ahnung“ gehabt hätte, regt henning Melchers so auf, dass er den satz wiederholt. Die Vorfahren sind in sachen china zwar unbedarft, haben aber eine Nase fürs Geschäftliche. Bis zum Zweiten Weltkrieg exportiert das unternehmen alles, was der chinesische Markt will: Nägel, schrauben, laternen, lampen, uhren, Kameras, Motorräder oder Feuerhandsturmlaternen, betrieben mit rockefeller-Öl. „Melchers“ ist führend im Import chinesischer Produkte, die der europäische Markt will: Kamelhaare aus Nordchina, Ziegenhaare, Eier aus dem Yangtse-Delta, aber auch Bettfedern, Därme, häute und Felle, saaten aller art, Keime. Bauern bringen ihre Ware zu ankaufstellen, von dort kommt sie zu sammellagern, wird sortiert, gereinigt, in säcke gepackt. henning Melchers hat die herstellung von trockenei noch vor augen, da sie nach dem Zweiten Weltkrieg in den ehemals deutschen, vom kommunistischen regime konfiszierten Fabriken in china fortgesetzt wurde: Eier aufschlagen, Kulturaustausch 11/06

trocknen, als Pulver verpacken. Das unternehmen lieferte die Ware bis 1968 an europäische Nudelfabriken – bis die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft agrarsubventionen einführte und sich das Geschäft mit den günstigen Eiern nicht mehr lohnte. auch „riesige Mengen schweinehäute, rinderhäute, Büffelhäute“ importierte man bis in die 1970er Jahre. Wenn henning Melchers davon erzählt, wird deutlich, wie wenig das historische Drumherum einen pfiffigen händler davon abhält, Geschäfte zu machen. Weder in den 1950er Jahren, als westdeutsche unternehmer nach Ost-Berlin „pilgern“, um mit der chinesischen regierung in der dortigen handelsvertretung des chinesischen staates zu verhandeln. Noch in den 1960er Jahren. Da reist henning Melchers „100-mal“ nach Bern, weil die schweiz diplomatische Beziehungen mit china unterhält – die Bundesrepublik Deutschland erst 1972. Die liste europäischer Konsumgüter, die lange Zeit von Europa

nach china importiert wurden, lockt Melchers heute ein trockenes lachen hervor. chinesische Fabriken verarbeiten nun das chinesische leder selbst zu taschen und schuhen und überhäufen westliche Märkte mit günstigen Produkten. Gefragt sind im reich der Mitte vor allem technische anlagen und hochpräzisionsgeräte – china will jetzt vieles selbst machen. Maschinen zum stanzen, hobeln und schneiden waren im letzten Jahr wichtiges deutsches Exportgut. luxusgüter wie edle uhren oder „halbprodukte“ wie etwa rohre laufen ebenfalls noch ganz gut. Der wirtschaftliche Erfolg chinas hängt auch mit Billiglöhnen und Dumpingpreisen zusammen. Diese interessieren jedoch nicht denjenigen in der Kette, der dafür sorgt, dass die Produkte – ob billig, ob teuer – zum Endverbraucher kommen. Denn auch wenn die Produktionskosten sinken, muss der Vertrieb organisiert werden – und daran lässt sich was verdienen. Der Geheimnis liegt also in der anpassungsfähigkeit der Zwischenhändler. „Wir sind

Oben: „Chinapapst“ Henning Melchers Unten: Der Hafen von Hongkong 1908

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China-ImportSchlager 2006: Plüschponies

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Opportunisten“, erklärt Melchers. „Wir gehen dahin, wo man Geld verdienen kann.“ Ein klassischer händler folge bekanntlich den handelsströmen und setze nicht selbst akzente. so einer ist auch torsten rauch, der seit dreißig Jahren bei der Melchers-tochtergesellschaft „happy People“ für den Vertrieb von in china hergestelltem spielzeug nach Europa zuständig ist. Das unternehmen lagert 1.300 verschiedene Produkte – Plüschtiere, Plastikautos, arztkoffer und, ganz aktuell, WM-schminke, WM-tröten oder WM-hüte – in einem alten speicher im Bremer südhafen und vertreibt sie in Europa. Die Existenz der häfen ist der Grundton im china-handel. Denn ohne die schiffe wäre man gar nicht zueinander gekommen. sie sind mit der Zeit nur etwas größer geworden: Die mehrere hundert Meter langen „china-Pötte“ sind heute oft so breit, dass sie statt durch den Panamakanal durch den suezkanal fahren müssen. Mehr als 9.000 container können sie transportieren. auch wenn der deutsche container-Verkehr in den 1960er Jahren in Bremen anfing, ist heute hamburg Europas wichtigster asienhafen. Im containerumschlag hat er weltweit die größte Wachstumsrate nach shanghai. Mehr als 300 chinesische Firmen haben sich schon in hamburg angesiedelt, es gibt einen chinesischen Kindergarten, eine chinesische sonntagsschule, viele deutsch-chinesische Vereine. Von der chinesischen „china shipping agency“ legen wöchentlich drei schiffe allein am Eurogate-terminal im hamburger Waltershofer hafen an. Dort stehen seit april die modernsten container-Entladekräne Europas: fünf chinesische „Brücken“, hergestellt von „Zuan Port Machinery“, 120 Meter hohe Entladekräne, die fertig montiert geliefert wurden. Der asienhandel blüht, heute wie vor 150 Jahren. allerdings hat der hauptstrom mittlerweile die richtung gewechselt: von china nach Europa. Die Importe aus china erhöhten sich 2005 um 20 Prozent, die deutschen Exporte dagegen nur um 1,3 Prozent. Das bedeutet in der realität: Pro schiff

werden derzeit durchschnittlich 1.000 leere container zurück nach china gebracht, weil sonst in china die container fehlen würden. Über dieses „ungleichgewicht“ redet man natürlich nicht gerne: leere container sind kein gutes Bild für einen florierenden deutschen Export. Nur ein paar Mal im Jahr fahren torsten rauchs „happy-People“Einkäufer auf chinesische Messen und schauen sich dort Produkte an, die sie zu günstigsten Bedingungen in auftrag geben. Ein europäischer abteilungsleiter überwacht die Geschäfte vor Ort. „Das ist ganz wichtig“, sagt torsten rauch, „denn chinesen sind zwar sehr fleißig, aber sie müssen ab und zu darauf hingewiesen werden, zügiger zu arbeiten.“ schnell ist das Geschäft geworden – auch wenn ein container 21 bis 25 tage von hongkong nach Bremen braucht. Weil sich derzeit stoffponies besonders gut verkaufen, bestellte torsten rauch im letzten Jahr 100 container plüschiger Vierbeiner – zum Vergleich: rohprodukte lieferte man früher in 100- bis 500-tonnenladungen. Die Kuscheltiere kosten 42 Euro im laden – würden sie in Europa hergestellt, läge der Preis bei 200 Euro. sie sind „made in china“, aber europatauglich: Nirgends fehlt der grüne Punkt, der Barcode, der spruch „Vorsicht beim Verschlucken von Kleinteilen“ in verschiedenen sprachen, der herstellernachweis. Das alles hat mit tradition, Erfahrung und Konfuzius nicht mehr viel zu tun, sondern mit Kosten, Märkten und Globalisierung. Im Gegensatz zu henning Melchers, der fast die hälfte der Zeit in asien verbracht hat, als er noch aktiv im unternehmen gearbeitet hat, war torsten rauch noch nie in china – er will da auch gar nicht hin. Für ihn ist china einfach irgendein Produktionsstandort. „Wenn ich mich entscheiden müsste“, gibt er dann aber zu, „zwischen einem Film über einen chinesischen Fluss oder über das rheinland, würde ich den chinesischen Fluss nehmen.“ henning Melchers erholt sich unterdessen in seinem haus auf Mallorca. Er schaut entspannt in die Zukunft, denn das unternehmen, das seinen Namen trägt, wird sich immer wieder den handelsströmen anpassen. seine Prophezeihung: Europa muss im Dienstleistungssektor stark bleiben und sich auf Nischentechnologie, Modeprodukte und tourismus konzentrieren. Derzeit baut „Melchers“ das höchste riesenrad der Welt in singapur. henning Melchers‘ sohn laurenz, eines seiner drei Kinder, eruiert unterdessen einen anderen asiatischen Markt: Er gründete seine eigene „Melchers“-Firma in der Mongolei und verkaufte dort zunächst autos wie Mercedes und Mitsubishi. Nun beliefert er den expandierenden mongolischen Bergbau mit Maschinen und ausrüstung und kümmert sich um alle anfallenden servicefragen. „Ein außerordentlich erfolgreiches unternehmen“, betont der Vater stolz. und wenn die Mongolei als nächstes Boomland gefeiert wird, war Melchers, wie immer, schon vor allen anderen da. Kulturaustausch 11/06

Foto: Richter

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„Die regierung achtet auf Tradition“ Schauspieler der traditionellen chinesischen Oper müssen singen, sprechen, spielen und kämpfen können. Ein Gespräch mit der regisseurin Tian Mansha

Wie kamen Sie zur Oper? Tian Mansha: Während der Kulturrevolution gab es nur acht Modell-Opern. Danach, in den 1970er Jahren, haben die Theaterschulen wieder angefangen, Studenten aufzunehmen. Ich wollte eigentlich Tänzerin werden, aber die Schule hat nur Theaterstudenten aufgenommen. als ich 1979 angefangen habe zu studieren, wurde das Theater in China gerade neu geboren.

Tian Mansha, 43 Jahre alt, ist Regisseurin, Hochschullehrerin und eine der prominentesten Opernkünstlerinnen Chinas. Bereits zweimal erhielt sie den Pflaumenblütenpreis, die wichtigste chinesische Theaterauszeichnung. Tian Mansha lebt in Shanghai.

Wie hat sich die chinesische Oper seitdem verändert? Die Geschichte des chinesischen Theaters ist über 1000 Jahre alt. Wenn ich jetzt Theater mache, trage ich diese Vergangenheit in die Zukunft. Die regierung achtet sehr auf die Tradition und investiert viel Geld in sie. Sie reden vom chinesischem Theater, ich fragte nach der Oper. Was ist der Unterschied? Chinesisches Theater ist „Xiqu“. Man übersetzt das am ehesten als „traditionelles Chinesisches Musiktheater“. Oper ist eigentlich der falsche Begriff. „Xiqu“ umfasst mehrere Elemente: Singen, Sprechen, Schauspielern und Kampfkunst. Ein Schauspieler muss alle beherrschen. Wie beliebt ist ‚Xiqu’ in China, wer sitzt im Publikum? Die Zuschauer sind meist über 40. Viele „Xiqu“-Schauspieler sind Stars in China. Ihre Groupies sehen alle Vorstellungen. Es ist wie rauchen, Weintrinken oder Teetrinken: eine Sucht. Man spielt seit Jahrenhunderten die gleichen Stücke.

Foto: Dirk Bleicker

Entwickelt sich die Tradition? am anfang waren die Geschichten, die in „Xiqu“ erzählt wurden, ganz einfach. Es ging um einen Mann, der eine Frau heiratet, Happy End. Seit einiger Zeit aber spielt die Gesellschaft eine wichtigere rolle in den Geschichten. KULTUraUSTaUSCH 11/06

Kann „Xiqu“ gesellschaftskritisch sein, wenn es so stark vom Staat gefördert ist? Während der Kulturrevolution wurde ein Stück – es handelte von einem Beamten, der zurücktreten wollte – verboten, weil die regierung eine anspielung auf Mao Zedong vermutete. Danach hat sich keiner getraut, kritisch zu sein. Inzwischen ist man wieder freier geworden und behandelt Themen wie etwa die Korruption. Gibt es westliche Einflüsse auf die „Xiqu“-Tradition? Früher standen Schauspieler im Mittelpunkt von „Xiqu“, „regisseure“ kannte man nicht. Es gab einfach irgendjemanden im Theater, der das Stück inszeniert und den Schauspielern erklärt hat. aber seine aufgabe war auch, das Stück weiterzugeben, von Generation zu Generation. Wie wird „Xiqu“ im Westen rezipiert? Bereits in den 1930er Jahre hat sich der berühmte Schauspieler Mei Lanfang in Moskau mit Brecht, Meyerhold und Stanislawski getroffen. Schon damals stellte man fest, dass alle westlichen Theatertraditionen wie etwa der Verfremdungseffekt in „Xiqu“ enthalten sind. In den 1980ern wurde leider der Fehler gemacht, anzunehmen, dass die westlichen Zuschauer die Sprache nicht verstehen würden. Deshalb waren nur Stücke mit besonders viel Kampfkunst auf Gastspielreise in den Westen. „Xiqu“ wurde oft als Exotismus, nicht als Kunstform wahrgenommen. Wie finden Sie die Zusammenarbeit mit Schauspielern und Regisseuren im Westen? Ich war gerade drei Monate in New York und habe mit Schauspielern gearbeitet. Die Proben sind ganz anders. Die Schauspieler reden viel mit dem regisseur, es gibt auseinandersetzungen, Improvisation. Der regisseur inszeniert ein Stück so, dass der Schauspieler von innen heraus spielt. Das geht nicht in „Xiqu“, wo Bewegungen wie etwa für das Teetrinken oder Grüßen festgelegt sind. Wie wird sich diese Kunstform weiterentwickeln? Heute hat man in China enorm viele Möglichkeiten, sich zu amüsieren. Deswegen erlebt „Xiqu“ zurzeit eine Krise. Die älteren Schauspieler sterben. Die Fragen sind: wie man junge Talente gewinnen kann und wie sich „Xiqu“ mit der Gesellschaft entwickelt. Aus dem Chinesischen von Suming Soun Das Interview führte Naomi Buck

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China

Geben und Nehmen Von Michael Müller-Verweyen

Michael Müller-Verweyen, geboren 1956, arbeitete für das Goethe-Institut in Kyoto, Japan, und Lagos, Nigeria. Seit 2005 ist er Leiter des GoetheInstitutes in Hongkong.

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Wer sich mit Hongkong beschäftigen will, nähert sich am besten über die Grenze im Norden, von Shenzhen. Im Schnitt passieren sie täglich rund 245.700 Personen – mit acht Festnahmen pro Tag wegen versuchten illegalen Grenzübertritts, so verzeichnet es das aktuelle vom Information Services Department der Hongkonger regierung herausgegebene Jahrbuch. Das Procedere ist einfach: Seit Januar 2006 wird eine automatisch lesbare ID-Card in einen apparat eingeschoben, eine Schleuse öffnet sich, und durch einen Daumenabdruck wird der Schleusenausgang aktiviert. Das Ganze ähnelt eher dem Betreten einer U-Bahn. auch wenn jede einzelne Person kontrolliert wird, fordert die Grenze förmlich dazu auf, sie zu durchschreiten, besonders die Hongkonger, für die keine Visumpflicht besteht. Die Bürger von Shenzhen dagegen benötigen ein Visum. Die Grenze ist also, was ein Begriff der Naturwissenschaften sehr genau beschreibt, selektivpermeabel. Die richtung, in der die Durchlässigkeit besteht, ist eindeutig nach Norden. Die auflösung der britischen Kronkolonie Hongkong wurde nicht mit dem Terminus „Wiedervereinigung“ mit dem chinesischen mainland, sondern vielmehr als „handover“ bezeichnet. Das hatte den Beiklang von auslieferung. Man rechnete acht Jahre nach der für Chinas ansehen im ausland verheerenden gewaltsamen Beendigung der Studentenproteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking mit einer ganz anderen art der Einflussnahme des mainlands. China aber ging dann sehr verantwortungsvoll mit dem handover um, indem es den ganzen Vorgang unaufgeregt gestaltete und jede direkte Beeinflussung vermied. Und indem es umgekehrt Hongkong erlaubte und aufforderte, den mit der Öffnung Chinas 1979 einsetzenden Prozess der Entindustrialisierung und des Übergangs von einem Produktionszentrum („made in Hongkong“) beschleunigt fortzusetzen zu einem Dienstleistungshub mit günstigen Produktionskapazitäten im Hinterland („outward processing“). Diese art vertikaler Integration geht natürlich nur mit entsprechend fortentwickelter Kommunikationsstruktur. Sinnlich erfassbar wird diese am skizzierten Übertritt von Shenzhen nach Hongkong: Die Grenze zeigt eine so hohe Durchgangsfrequenz, dass Züge von Hongkong zwischen 6.30 bis 24 Uhr im 10-Minuten-Takt

fahren. Das Passagieraufkommen ist so stark, dass an der Grenze der eingehende Verkehr nach Hongkong mit automatischen Türen zu zwei verschiedenen Bahnsteigen geregelt wird. Kulturpolitisch ist es eine der aufgaben, diese horizontalen Kommunikationsstrukturen auszunutzen, beispielsweise indem man als Goethe-Institut in Hongkong ortsübergreifend tätig ist. Maßnahmen zur Stärkung des intellektuellen Diskurses über die Grenze sind in unserem Interesse. Vertikale Kommunikationsstrukturen, vertiefte auseinandersetzungen mit sich selbst, ergänzen die erwähnten horizontalen Strukturen. „Ein Land – zwei Systeme“ ist die Formel, die Deng Xiaoping für das Verhältnis von China und Hongkong erfand, der eine Teil der Formel Hongkongs politische Identität definierend, der andere seine ökonomische Identität. Für die kulturelle ist dabei etwas anderes entscheidend: seine Peripherie zum britischen Empire sowie zu Peking. Das brachte den Vorteil, sich herausgelöst von traditionellen Bindungen zu verstehen. Hongkonger sind stolz auf ihre Effizienz, auf die Schnelligkeit, in der die Stadt neue Entwicklungen durchläuft. Geschichte und Kultur spielen da zunächst keine rolle. Die Stadt zeigt wenig historisches Bewusstsein. Und das mit gewissem recht: Sicher ist es für die Entwicklung eines historischen Bewusstseins nicht hilfreich, wenn man Teil einer Geschichte ist, die zwar erfolgreich ist, aber aus einer Demütigung entstanden und letztlich ab 1842 fremdbestimmt war. Hier ist man stolz darauf, seinen Geschäften nachgehen zu können, ohne von Kultur gestört zu werden. Das sieht nach einer bequemen Mittellage aus. Hongkonger haben eine Doppelidentität als Hongkonger und als Chinesen, aber, so erklärt es der Soziologe ambrose Y. C. King von der angesehenen Chinese University in Hongkong: „Diese andere Identität erklärt sich eher durch politische Differenzen als durch kulturelle.“ Je mehr nun das referenzsystem China seine reibungsfläche aufgibt, und das ist die neue Situation nach 1997, desto stärker fühlt man sich in Hongkong stolz auf das, worauf auch die anderen Chinesen stolz sind: die Olympischen Spiele 2008 in Peking oder dass es China am 15. Oktober 2003 mit „Shenzhou 5“ erstmals und dann am 12. Oktober 2005 mit „Shenzhou 6“ ein zweites Mal gelang, aus eigener Kraft zwei Taikonauten ins all zu schießen und sicher zur Erde zurückzuholen. „Wenn man von der Gegenwart Hongkongs spricht, muss man auch seine chinesische Vergangenheit in Betracht ziehen” – so Professor King. Wenn man sich von Norden, von der Grenze her Hongkong nähert, wird erfahrbar, dass KULTUraUSTaUSCH 11/06

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Chinas außenkulturpolitik am Beispiel Hongkongs


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das „handover“ eine rückkehr der Geschichte mit sich bringt, die in Teilen erstaunliche Ähnlichkeiten mit der Situation von Deutschland ab 1989 zeigt. Man beschäftigt sich mit dem neuen/alten Nachbarn, man versteht sich als Teil eines Größeren. Obwohl es zu einer aufwertung der region kommt, in der sich Hongkong nun als Teil wiederfindet, nämlich im Perlflussdelta, führt dieses nicht zu einer aufwertung der regionalen Sprache, des Kantonesischen. Vielmehr wird man – auch sprachlich – chinesischer. Die „Sprache des Nachbarn“ zu lernen, etwas, was EU-Förderprogramme angesichts der fallenden Grenzen in Europa immens erfolgreich seit den achtziger Jahren propagierten, ordnet in Hongkong die rangordnung der „Fremd“-Sprachen neu. Das von Peking aus zunächst rein innenpolitischen Gründen geförderte Hochchinesisch (abgeleitet aus dem Nordchinesischen) ist der große Gewinner auch in Hongkong, aber nicht weil Peking das so will, sondern weil Kantonesisch schon im erwähnten Shenzhen seine Brauchbarkeit einbüßt. Handelt es sich doch um eine Stadt, deren Einwohnerzahl durch Zuzug aus ganz China innerhalb von 20 Jahren von 30.000 auf über vier Millionen anwuchs. Um das oben beschriebene Netzwerk zu bespielen, bedarf es einer gemeinsamen Sprache, eben des Hochchinesischen. Deutsch befindet sich nun in Konkurrenz mit Englisch. Ob chinesische Eliten auf längere Sicht Fremdsprachen lernen (oder sich das Lernen einer Fremdsprache aufgrund der weiten Verbreitung vom Chinesischen eher wie in den USa entwickelt), bleibt abzuwarten. Im Kulturbereich setzt man noch auf Import, vor allem

auf Ganzfertigprodukte. Zivilgesellschaften fördert man durch Import nicht. Das Hong Kong arts Festival ist das beste Beispiel für hohe akzeptanz der Bevölkerung: Von insgesamt etwa 120.000 Karten werden etwa 90 Prozent verkauft. Da es die lokalen Kulturschaffenden ausschließt, benachteiligt es die eigene Kunstproduktion geradezu: Warum sollte man zur Hong Kong Sinfonietta gehen, wenn man die Semperoper geboten bekommt? Entscheidend für Hongkong und seine Zukunft im Kulturbereich wird sein, ob es darin verharrt, seine Kulturimporte weiterhin schlicht als Standortvorteil für Unternehmen mit ausländischem Management zu definieren (denn an sie gehen vor allem die Karten des arts Festival). Bisher wird Kulturentwicklung meist als Wirtschaftsentwicklung im Sinn einer Förderung des kreativen Sektors (besonders des Films) begriffen. Man darf gespannt sein, ob in Hongkongs Kulturbereich der Mut entsteht, im Zuge des neuen Bewussteins das eigene kulturelle Profil zu schärfen. Dadurch würden sich auch andere, nichtstaatliche Foren etablieren, etwa so wie in KULTUraUSTaUSCH 11/06

Deutschland die Kunstvereine, freie Schauspielschulen, die eine Konkurrenz zum Monopol (und zum vereinheitlichenden Stil) der academy for the Performing arts bilden könnten. Ein guter Seismograph für solche Entwicklungen ist der chinesische Kunstmarkt: Wann werden die Chinesen ihre eigene zeitgenössische Kunstproduktion so wertschätzen, dass sie diese kaufen? Interessanterweise sind die von China für die nächsten Jahre in aussicht gestellten auslandskulturinstitute nicht

Stratego Chinesische Geschäftsleute laden ihre Verhandlungspartner gerne in Restaurants oder ins Bordell ein. Die Verbindung von Nützlichem und Angenehmem hat System: In entspannter Atmosphäre lässt sich rascher zu „Xietiao“ – „gemeinsamer Harmonie“ finden. In herkömmlicher Umgebung nimmt die Suche nach einem gemeinsamen Nenner viel Zeit in Anspruch, immer wieder enden Gespräche ergebnisoffen. Mancher ausländischer Geschäftsmann verliert da die Geduld. Doch „Xietiao“ ist ein komplexes Strategiespiel, dessen Regeln selbst bei politisch brisanten Verhandlungen zwischen China und Taiwan streng eingehalten werden – möglichst bei einem Geschäftsessen mit mehreren Gängen. (Quelle: Hanne Chen: Kultur Schock VR China/Taiwan, 2004)

benannt nach einem berühmten Schriftsteller, etwa Li Bai oder Lu Xun, sondern nach Konfuzius, erkennbar ein Tribut an eine behauptete moralische Identität Chinas. Nun werden die Verträge zur Gründung dieser Konfuzius-Institute angepasst an das Interesse des jeweiligen Gastlandes und Chinas. Insofern fordert China da auch etwas, was dazu führen wird, dass wir uns im Verhältnis mit China auf für uns ganz neue Formen des Gebens und Nehmens einlassen müssen. Die bisher gegründeten Konfuzius-Institute in Berlin und Nürnberg-Erlangen sind an Universitäten angegliedert. Das mit der Volksrepublik China am 10. November 2005 geschlossene Kulturabkommen sieht die Gründung von selbstständigen Kulturinstituten vor, für die das chinesische Kultusministerium zuständig sein soll – ein ganz anderer Bezugsrahmen. Wie deren arbeit aussehen könnte, zeigt ab 20. Mai das „Museum für Moderne Kunst“ in Frankfurt am Main in der Fotoausstellung „Humanism in China“. Entwickelt wurde die ausstellung von Wang Huangsheng, dem Leiter des Guangdong Museum of art in Guangzhou/Kanton, realisiert 2003/4 in Peking, Shanghai und Guangzhou. Nun ist sie mit geringen Einschränkungen auf Wunsch der chinesischen Seite vom Westen übernommen worden. Vier Kapitel – Existenz, Beziehungen, Sehnsucht, Zeit – dokumentieren ein China, das man so nicht erwartet: individuelles Leben in breiter Vielfalt. Wir fördern vom ausland mehr, indem wir dem Nehmen ein stärkeres augenmerk geben. 49


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atmen lernen Von Wei Jingsheng Geschäftsleute aus dem Westen stellen mir oft die Frage:

Wei Jingsheng, geboren 1950 in Peking, ist einer der bekanntesten politischen Dissidenten Chinas. Er verbrachte 17 Jahre in chinesischen Gefängnissen und Arbeitslagern. Nach seiner Freilassung wurde er in die USA abgeschoben, wo er sich mit der Overseas Chinese Democracy Coalition und der Wei Jingsheng Foundation weiterhin für die Demokratisierung Chinas einsetzt. 1998 wurde ihm zusammen mit Wang Dan der Menschenrechtspreis der Demokratie-Stiftung des US-Kongresses verliehen. Er lebt in den Vereinigten Staaten.

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„Warum lieben die Chinesen Unruhen?“ Meiner Meinung nach sind die Chinesen das gefügigste Volk der Welt. Sie schätzen die Ordnung sogar mehr noch als die Deutschen. Viele Theorien zur Geduld sind in China erfunden worden und sollten den Menschen beibringen, Unrecht zu erdulden und sich nicht dagegen aufzulehnen. Dennoch, die Falun-Gong-Bewegung, die Geduld als eine ihrer Grundtugenden betrachtet, wird von der regierung erbittert verfolgt. Viele ihrer Mitglieder wurden verhaftet und im Gefängnis gefoltert. Der anwalt Guo Zhicheng verteidigte sie vor Gericht, doch ihm wurde schon bald die Lizenz entzogen. aus Protest gegen die regierung trat er daraufhin in Hungerstreik. Viele Menschen, die sich selbst in einer ähnlichen Situation sahen und mit ihm sympathisierten, schlossen sich seinem Hungerstreik an und wurden daraufhin festgenommen. Der hier geschilderte Fall der Falun-Gong-Bewegung war nicht der einzige Fall von zivilem Widerstand. Vor ein paar Monaten kam es auch am Stadtrand von Youtou, einer relativ reichen Stadt in der Provinz Guangdong, zu blutigen auseinandersetzungen. Bauern, denen man entschädigungslos Land weggenommen hatte, sind auf die Straße gegangen und stießen mit der Polizei zusammen. Viele Bauern überlebten dies nicht. Die große Mehrheit der Chinesen versucht ihre anliegen zunächst auf dem rechtsweg zu klären. aber die Gesetze können den meisten Menschen nicht helfen, denn sie werden oft einfach gebeugt: anwälte werden verhaftet oder unter Druck gesetzt, und bei Gericht wird oft rechtswidrig entschieden. Deswegen wählten die Bauern von Youtou einen entschlosseneren Weg, um die Enteignung durch den Staat zu verhindern, und viele unter ihnen bezahlten dies am Ende mit dem Leben. Nach Schätzungen gibt es jährlich mehr als 78.000 Fälle wie diesen. Der eigentliche Grund dafür ist, dass eine neu aufgekommene Schicht der bürokratischen Kapitalisten Macht und Chancen monopolisiert hat. Sie pressen das Volk mit wirtschaftlichen und über das Gebiet der Wirtschaft hinausreichenden Methoden aus. Die Behörden protegieren die bürokratischen Kapitalisten, und das Volk hat dabei das Nachsehen. Ihm bleibt nur der Protest gegen die regierung. auch wenn die regierung alles dafür tut,

die Unzufriedenen mundtot zu machen, so treten doch Jahr für Jahr Menschen hervor, die den Protest weiterführen. Dem anschein nach haben die westlichen Beobachter also recht, wenn sie sagen, die Chinesen liebten die Unruhe. Doch sind es die regierung und die mit ihr verbündete Schicht bürokratischer Kapitalisten, die die chinesische Bevölkerung aufbringen. Wie soll ein Land unter diesen Umständen zu ruhe und Stabilität gelangen? Für die Menschen im Westen ist das Leben in einer demokratisch freiheitlichen Umgebung so natürlich wie das atmen. Sie können die Lage von Menschen, denen sinnbildlich gesprochen die Luft entzogen wird, nicht nachvollziehen. Sie sind vielmehr der Meinung, dass Luft doch nicht so wichtig sei. Erst wenn man in einer Grube festsitzt und das atmen schwierig wird, nimmt man wahr, dass Luft Leben bedeutet. Genau so geht es den Chinesen, denn sie leben in Unfreiheit. Wenn man anderen die Theorie vom Mangel an Luft erläutert, verstehen dies viele nicht. aber ginge es ihnen so wie den Chinesen, so würden auch sie vermutlich anfangen zu kämpfen, und Unruhe wäre die Folge. Die ausbeutung und Unterdrückung der Menschen durch die tyrannische regierung der kommunistischen Partei Chinas wird immer unerträglicher. Die Menschen sind gezwungen, um ihrer Existenz willen zu kämpfen. Die regierung verschärft absichtlich noch den Konflikt zwischen den Klassen und in der Gesellschaft. Wird das derartige politische System und die Herrschaftspraxis nicht geändert, wird China keine Stabilität erlangen können. Statt die chinesische regierung dazu zu bewegen, ihre Herrschaftspraxis zu ändern, gibt die aktuelle China-Politik der Staaten des Westens der chinesischen regierung auch noch rückendeckung für die ausweitung ihrer Herrschaftsmöglichkeiten, auf diese Weise schnürt man den Opfern aber noch zusätzlich Luft ab. Aus dem Chinesischen von Suming Soun

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Warum dem gefügigsten Volk der Welt nur der aufstand bleibt

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Menschenrechte made in China Warum der Konfuzianismus helfen könnte, China zu demokratisieren von albert Chen

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Albert Chen ist Professor an der juristischen Fakultät der Universität Hongkong.

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Die Menschenrechte sind die heiligsten und bestgehüteten Werte der modernen Zivilisation, wie diese sich im Westen entwickelt hat. Die vornehmste absicht der konstitutionellen Verfassung einer liberalen Demokratie ist es, die sozialen und politischen Bedingungen zu sichern, unter denen Menschenrechte gedeihen und Menschen in Würde leben können. Indes existierte das Konzept oder die Theorie von den Menschenrechten in vormodernen Zivilisationen nicht. So mag man Zweifel daran hegen, dass die chinesische Tradition, in der die Lehre des Konfuzianismus dominierend ist, eine vergleichbare Idee der Menschenrechte entwickelt hat. Wenn China auch im ökonomischen Modernisierungsprozess viel erreicht hat, steht es hinsichtlich einer politischen und gesetzlichen Modernisierung weit hinter vielen anderen Ländern zurück. Stellt die chinesische Tradition, im speziellen der Konfuzianismus, ein Hindernis für eine solche Modernisierung dar? Wie in der westlichen Tradition lassen sich auch in der chinesischen Tradition sowohl Strukturen finden, die mit der modernen Konzept der Menschenrechte übereinstimmen oder ihm förderlich sind, wie auch Strukturen, die ihm widersprechen. Zu Ersteren zählen das konfuzianische Prinzip der Mildtätigkeit „ren“, das die grundlegende Norm für zwischenmenschliches Verhalten darstellt, sowie das ethische Prinzip der Mildtätigkeit „renzheng“, welches für die Seite des Herrschenden gilt und besagt, dass dieser seine Tugenden zur vollen Entfaltung bringen und seinen Untergebenen ein moralisches Vorbild sein muss. Weiter zählen hierzu die Bedeutung, die man dem beidseitigen Einvernehmen zwischen Herrscher und Getreuen beimisst wie auch den Wünschen des Volkes und das Bestreben, dessen Herzen zu gewinnen, statt seiner rein äußerlichen Unterwerfung. Darüber hinaus gehören dazu der Glaube an die moralische autonomie und die Perfektionierbarkeit jedes Einzelnen; aber auch die Idee der Gleichheit aller Menschen in ihrer Fähigkeit zu moralischer Besserung und Entfaltung, das humanistische Bild des Menschen als des edelsten Geschöpfes in der natürlichen und kosmischen Ordnung; und schließlich der Glaube an die

metaphysischen Herrscher des Himmels „tianli“, welche das Universum regieren und die Quelle der Prinzipien von Gerechtigkeit und Moral darstellen. Zu den Bestandteilen der chinesischen Tradition, die der modernen Idee der Menschenrechte widersprüchlich gegenüberstehen, gehörte früher die despotische Machtkonzentration in den Händen des Kaisers als himmlischer Sohn. Heute wird dieses patriarchalische Denken von den offiziell Lehrenden weitergegeben. So wird politische Beteiligung von unten verhindert. Diese Mentalität zeigt sich auch in den sozialen Beziehungen, die starke Hierarchien von absoluter autorität und Unterwerfung mit sich bringen. Soziale Harmonie und Unterordnung des Einzelnen innerhalb der Familie sind selbstverständlich; Diese Faktoren tragen dazu bei, dass der Einzelne den anspruch auf seine rechte und seine Individualität schwerlich geltend machen kann. Man denke auch die harsche Bestrafung gegenüber potenziell aufrührerischen Veröffentlichungen. Seit sich die Beziehungen zwischen China und dem Westen im 19. Jahrhundert ausweiteten, haben viele politische und gesetzliche Doktrinen aus dem Westen, einschließlich der Idee der Menschenrechte, festen Boden in der chinesischen Intellektuellenszene gewinnen können. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Diskurs um die Menschenrechte unter chinesischen Denkern wohlwollend aufgenommen und fand anwendung unter politischen aktivisten, besonders jenen, die die herrschenden regierungen für ihre Menschenrechts-Verletzungen kritisierten. Die chinesischen Kommunisten selbst wandten diese Taktik an und benutzten die Menschenrechtsdebatte dazu, gegen die Kuomintang zu polemisieren. Bedauernswerterweise verschwand der Diskurs um die Menschenrechte kurz nach der kommunistischen revolution vom chinesischen Festland, und für fast vier Jahrzehnte war das Thema für chinesische Gelehrte ein Tabu. Grund hierfür war vor allem, dass man die Idee der Menschenrechte als bürgerlich und ideologisch behaftet ansah – und deshalb unvereinbar mit dem sozialistischen Projekt. Erst mit dem Jahr 1991 zeichnete sich eine Wende in der offiziellen Position der chinesischen regierung ab, als diese die Menschenrechtsdoktrin als Klausel einer ihrer Gesetzesvorlagen aufnahm. Seitdem sind in Festland-China viele Texte zum Thema Menschenrechte erschienen, die meisten plädieren enthusiastisch für sie. Seit 1990 hat die chinesische regierung aktiver an den internationalen aktivitäten und dem Dialog zu Menschenrechtsfragen teilgenommen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Unterschrift, die China beim Internationalen 51


China

Konvent zu ökonomischen, sozialen und kulturellen rechten im Jahre 1997 leistete, sowie beim Internationalen Konvent zu Bürger- und politischen rechten 1998 (wenn auch Letzterer von China noch nicht ratifiziert worden ist). China hat zudem an einer reihe internationaler Konventionen teilgenommen, die sich mit spezifischeren Themengebieten beschäftigen. Während China in diesen Dialog eintrat, kam auch eine Debatte um Menschenrechte und asiatische Werte in Gang.

Gesicht wahren Mit „Gesicht wahren“ wird in China die grundlegende Art bezeichnet, mit der man Harmonie erzeugt und bewahrt. Um die eigene Ehre und die des Gegenübers nicht zu verletzen, werden unangenehme Situationen vermieden. Kritik und Unbehagen werden nicht offen geäußert. Wiederholte Ausreden sollten daher als höfliche Absage verstanden werden. „Gesicht wahren“ kann auch bedeuten, die eigene Unwissenheit nicht preiszugeben. Die Frage, wo die nächste Busstation sei, wird man einem Suchenden eher falsch beantworten, als sich und den anderen durch Unkenntnis zu brüskieren. (Quelle: Hanne Chen: Kultur Schock VR China/ Taiwan, 2004)

Die zentrale Frage ist hier, ob es eine universale Doktrin der Menschenrechte geben kann, die von allen Menschen aller Nationen und Kulturen gleichermaßen angenommen werden kann. Ebenso diskutiert wird das ausmaß, in dem eine Kultur das Denken in menschenrechtlichen Kategorien erlernen kann. So stellt sich etwa die Frage, ob es bestimmte Strukturen innerhalb des Diskurses über Menschenrechte geben könnte, die kulturspezifische Eigenheiten des Westens darstellen und von einer Tradition wie der chinesischen schwerer anzunehmen sind. Fragen dieser art bergen die grundsätzliche Schwierigkeit, zu klären, was die chinesische Kultur als solche ausmacht. Wer entscheidet, was sie definiert? Ist die regierung ihr legitimes Sprachrohr? Oder sind es die Menschen, die in dieser Kultur leben? Ich glaube, dass man viel aus den arbeiten der Gelehrten erfahren kann: darüber, wie sich Geschichte, Philosophie und Kultur dieser Tradition gebildet haben. Der wahrscheinlich herausragendste konfuzianische Philosoph des 20. Jahrhunderts ist Mou Zongan, der sein gesamtes Leben der aufarbeitung der philosophischen Tradition Chinas gewidmet hat. Mou war sicherlich kein Liberaler im westlichen Sinne und außerdem ein heftiger Kritiker des Marxismus. Er war dem Konfuzianismus gänzlich verpflichtet und glaubte, dass dieser der Kern und die Hauptströmung der kulturellen, intellektuellen und philosophischen Tradition Chinas sei. Was bemerkenswert ist an Mou, ist die Tatsache, dass er trotz seiner tiefen Hingabe an die konfuzianische Philosophie ein begeisterter und rückhaltloser 52

Verfechter der Übernahme der westlichen auffassung von Demokratie, Menschenrechten und Freiheit sowie von Verfassungs- und rechtsstaat war. Seiner ansicht nach war eine solche Entwicklung nicht nur vereinbar mit der chinesischen Kultur, sondern würde diese zu einer besseren Entfaltung befähigen. Mit anderen Worten: Der aufbau einer konstitutionellen Demokratie und die institutionell verankerte Garantie der Menschenrechte sind in Wirklichkeit Erfordernisse der konfuzianischen Werte selbst und werden deren Verwirklichung stark erleichtern. In anlehnung an das alte Sprichwort, das besagt, das erstrebenswerteste Leben sei ein Leben von „innerer Weisheit und äußerer Königlichkeit“, beschrieb Mou die Herausforderung Chinas und die Herausforderung eines zeitgenössischen Konfuzianismus als die „Öffnung hin zu einer neuen Form äußerlicher Königlichkeit“. Wie viele andere konfuzianische Denker des 20. Jahrhunderts glaubte Mou, dass die Keime der Demokratie und der Menschenrechte innerhalb der kulturellen Tradition Chinas selbst lägen. Er entwickelte ein eigenes philosophisches Vokabular, um diesen aspekt der kulturellen Tradition Chinas und den Mechanismus der Modernisierung zu diskutieren. Bereits in dieser Theorie entfaltete die kulturelle Tradition Chinas, insbesondere der Konfuzianismus, ihre volle rationalität oder Vernunft: sie beinhaltete bereits den Geist der Demokratie und der respektierung der Menschenrechte. Was fehlte, war eine rationalität in der „erweiterten“ Bedeutung, also formelle und institutionelle Strukturen, an denen sich Demokratie und Menschenrechte festmachen ließen. Die Glaubenssätze des Konfuzianismus, die sich mit der Natur des Menschen, seinen Beziehungen und insbesondere den moralischen Verpflichtungen der Herrschenden auseinander setzen, machen den intentionalen aspekt der rationalität exemplarisch deutlich. Dennoch ist es der Westen, in dem der erweiterte Gesichtspunkt der rationalität zuerst heranreifte. Dieser aspekt fasst Elemente wie Demokratie, Verfassungsstaat, Volkssouveränität, parlamentarische Einrichtungen und den rechtsstaat zusammen. Wenn Mou recht hat, dann sind der Konfuzianismus und die humanistischen Werte der kulturellen Tradition Chinas nicht nur keine Hindernisse für die politische und gesetzliche Modernisierung Chinas, sondern tragen im Grunde zu ihnen bei. Zur gleichen Zeit, in der das chinesische Volk von den Leistungen der modernen westlichen Zivilisation lernt, sollte es daher die Moral und die spirituelle Stärke in der eigenen Tradition wiederentdecken und sein Vertrauen und seinen Stolz in ihre Errungenschaften wiederherstellen. Es ist möglich, dass das chinesische Volk die Vorzüge KULTUraUSTaUSCH 11/06


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und Einsichten des Konfuzianismus sowie weitere kostbare Bestandteile seiner reichen kulturellen tradition wiedererstarken lässt und gleichzeitig an der weiteren Demokratisierung und dem besseren schutz der Menschenrechte arbeitet. Dies ist, so glaube ich, der Weg, der china in die Zukunft führt. Dies ist, so glaube ich, die lektion, die man aus dem immensen leid gezogen hat, welches das chinesische Volk in den antagonismen der Moderne im 19. und 20. Jahrhundert ertragen musste. Aus dem Englischen von Valentina Heck

Demokratie digital Was ist das China-Internet-Projekt an der Universität Berkeley, das Sie seit 2003 leiten? Xiao Qiang: Eine virtuelle chinesische Gemeinschaft, ein interaktives Netzwerk, das einen Beitrag zur Demokratisisierung Chinas leisten soll.

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Was ist das Hauptziel des Projekts? Das Projekt arbeiXiao Qiang, Leiter von tet zweigleisig. Die www.chinadigitaltimes.net Forschung verfolgt das Zusammenspiel von Medien und Politik in China, sowohl die Zensur als auch den Journalismus, vor allem in Form des „blogging“. „Blogs“ sind Webseiten, auf denen jeder schnell und einfach Inhalte publizieren kann. Ein weiterer Bestandteil ist der inhaltliche Aufbau der „China Digital Times“, die versucht, ein „Nachrichtenaggregator“ für die Welt zu sein. Wir entwickeln auch Programme für die Ausbildung chinesischer Journalisten und diskutieren über den richtigen Umgang mit der Informationsindustrie. Wer ist Ihre Zielgruppe? Die „China Digital Times“ (CDT) richtet sich an englischsprachige internationale Leser. Wir machen auch Artikel aus dem chinesischen Cyberspace für den Rest der Welt zugänglich. Zudem gibt es in China mehr als 10.000 Leser der CDT– ohne die englischsprechenden Geschäftsleute in Peking.

Kulturaustausch 11/06

Können chinesische Leser die Seite so unzensiert sehen wie wir hier im Westen? Bis vor Kurzem war sie für chinesische Leser zwei Jahre lang zugänglich, dann wurde sie blockiert. Die gesamte URL-Nummer der Journalismusschule Berkeley wurde blockiert. Wir haben den Inhalt der Webseite unter einem anderen Namen an einen anderen Ort exportiert. Was sind, abgesehen von Zensur, die wesentlichen Unterschiede zwischen der westlichen und der chinesischen Medienkultur? Die Medien in China haben einen völlig anderen politischen Ursprung, nämlich die Kommunistische Partei. Noch heute sind die Medien ihr Sprachrohr. Für Chinesen war und ist die Rolle der Medien gleichbedeutend mit der Kontrolle der Gesellschaft. Sie kennen die Alternativen nicht. In den 1920er und 1940er Jahren gab es kurze Perioden der Pressefreiheit, aber all das verschwand wieder. In den letzten 25 Jahren hat sich China gewaltig verändert, ökonomisch und sozial; Informationen und kulturelle Produkte strömen herein, so dass das Paradigma der Medien – als Hilfsmittel der herrschenden Macht zur Kontrolle der Gesellschaft – herausgefordert ist. Das Internet spielt dabei eine große Rolle. Hat sich der Fokus der Zensur verändert? Das Internet, die kommerzielle Globalisierung und eine steigende Professionalität der Medien untergraben mehr und mehr die Kontrolle der Partei. Der Konflikt spitzt sich zu: Mehr Zeitungen werden geschlossen, Leute inhaftiert, Produktionsmittel gehen in die Hände der Partei über, besonders in den letzten zwei Jahren. Welches ist das einflussreichste Medienformat in China? Das urbane Leben, das Internet. Das Fernsehen

ist komplett in staatlicher Hand, also monopolisiert, zumindest was Nachrichten und kulturelle Angelegenheiten betrifft. Print ist etwas anders, da gibt es eine Anzahl von eher kommerziell ausgerichteten Zeitungen, die in den sozialen und Entertainment-Nachrichten progressiver sind, aber auf der politischen Seite nach wie vor der Parteikontrolle unterliegen. Am dynamischsten ist das Internet, wo der Nutzer Inhalte direkt und sofort abrufen kann, ohne seinen richtigen Namen zu benutzen. Trotz aller Seitensperrungen und der Internetpolizei bleibt dies der interessanteste Ort für den Austausch von Ideen und Informationen. Wer hat Zugang zum Internet? China hat den zweitgrößten Anteil an Internetnutzern der Welt. Laut offizieller Statistik sind es etwa 130 Millionen. Dies ist wenig, gemessen an den 1,3 Milliarden Menschen Chinesen. Von ihnen leben allein 70 Prozent auf dem Land, während sich alle ökonomische und politische Macht auf die städtische Bevölkerung konzentriert. Welche Rolle spielen ausländische Internetfirmen in China? Internetfirmen wie Google, Yahoo, Microsoft spielen sicherlich eine große Rolle bei der Bereitstellung von neuen Diensten. Das ist, glaube ich, eine gute Sache, wenn es dabei hilft, China politisch zu öffnen. Natürlich sind sie aus wirtschaftlichen Gründen an China interessiert – für sie ist es ein Markt. Aber da sie an einem so umstrittenen Ort operieren, den Medien, sind sie direkt konfrontiert mit den Internet-Zensoren, der chinesischen Regierung und den progressiveren Nachrichten. Sie hängen mittendrin und können dem nicht ausweichen. Das Gespräch führte Naomi Buck

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Die Weltordnung aus drei Blöcken ist am Ende: Die USA und Europa schauen zu, wie sich China und Indien mit Lateinamerika anfreunden Von Noam Chomsky

Noam Chomsky, geboren 1928 in Philadelphia/Pennsylvania, ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. Sein Buch„Failed States: The Abuse of Power and the Assault on Democracy“ erscheint im August 2006 im Verlag Antje Kunstmann, München.

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Die Aussicht, dass Europa und Asien sich hin zu mehr Unabhängigkeit entwickeln könnten, hat US-amerikanische Entscheidungsträger seit dem Zweiten Weltkrieg beunruhigt. Derartige Sorgen sind noch verstärkt worden, seitdem sich die Vorstellung von einer „dreigliedrigen“ Weltordnung verbreitet hat, die von den drei großen Blöcken Europa, Nordamerika und Asien bestimmt werde. Und nun wird auch noch Lateinamerika mit jedem Tag etwas selbstbewusster. Während Asien und Lateinamerika ihre Beziehungen ausbauen, wirkt die herrschende Supermacht wie ein überzähliger Spieler, der in kein Team mehr passt, und reibt sich in sinnlosen Abenteuern im Nahen Osten auf. Regionale Zusammenschlüsse in Asien und Lateinamerika sind ein wesentlicher und zunehmend wichtiger Punkt – und aus der Sicht Washingtons bezeichnend für eine Welt, die sich den USA widersetzt und außer Kontrolle gerät. Dabei ist die Sorge um Energiequellen ein entscheidender Faktor und wird mehr und mehr zur Streitfrage. Dass sich China anders als Europa von Washington nicht einschüchtern lässt, ist einer der Hauptgründe für die Angst US-amerikanischer Strategen vor der Volksrepublik und verweist auf ein Dilemma: Aufgrund der Wirtschaftsinteressen US-amerikanischer Konzerne, die China als Exportland und wachsenden Markt sichern wollen, und in Anbetracht von Chinas Finanzreserven, die sich einigen Berichten zufolge auf die Größenordnung derer Japans zubewegen, vermeidet man die direkte Konfrontation. Nach dem Besuch von Saudi-Arabiens König Abdullah in Peking im Januar wird ein saudisch-chinesisches Memorandum über „eine intensivierte Zusammenarbeit und wechselseitige Investitionen in den Bereichen Öl, Erdgas und Finanzen“ erwartet, wie es im „Wall Street Journal“ heißt. Schon jetzt fließt viel iranisches Öl nach China, und umgekehrt versorgt China Iran mit Waffen, die beide Länder wohl als Mittel zur Vereitelung US-amerikanischer Pläne sehen. Auch Indien hat Optionen: Es könnte sich verstärkt den USA zuwenden oder sich dem asiatischen Block anschließen, der sich gerade als unabhängige Kraft formiert und zunehmend engere Verbindungen zu den Ölproduzenten im Nahen Osten ausbaut. Siddarth Varadarjan, stellvertre-

tender Chefredakteur von „The Hindu“, meint: „Wenn das 21. Jahrhundert ein ‚asiatisches Jahrhundert‘ werden soll, dann muss Schluss sein mit der passiven Haltung Asiens in Fragen der Energiepolitik.“ Der Schlüssel liegt in der Zusammenarbeit zwischen Indien und China. Im Januar wurde durch die Unterzeichnung eines Abkommens „der Weg für eine Kooperation zwischen Indien und China geebnet, die sich nicht nur allgemein auf Technologie bezieht, sondern im Besonderen auf die Erforschung und Produktion von Wasserstoff; eine Partnerschaft, die“, wie Varadarjan betont, „schließlich die globalen Machtverhältnisse in den Bereichen Öl und Erdgas verändern könnte“. Ein weiterer Schritt, der bereits erwogen wird, wäre die Schaffung eines eigenen asiatischen Ölmarktes, dessen Währung der Euro sein könnte. Die potenziellen Auswirkungen sowohl auf die internationalen Finanzmärkte wie auch das globale Kräftegleichgewicht könnten bedeutend sein. So sollte es niemanden überraschen, dass Präsident Bush kürzlich Indien besuchte, um das Land mit Angeboten zur Zusammenarbeit im Bereich der Atomtechnologie und anderen Anreizen bei der Stange zu halten. In Lateinamerika dominieren inzwischen von Venezuela bis Argentinien die Mitte-Links-Regierungen. Die Bevölkerung indianischer Abstammung ist aktiver geworden und hat an Einfluss gewonnen. Das gilt vor allem für Bolivien und Equador, wo man entweder die nationale Kontrolle über die Öl- und Gasindustrie anstrebt oder teils sogar grundsätzlich gegen die Förderung ist. Weite Teile der Bevölkerung indianischer Abstammung sehen offenbar nicht ein, warum ihr Leben, ihre Gemeinschaften und Kulturen beeinträchtig oder zerstört werden sollen, damit ein paar New Yorker mit ihren „sport utility vehicles“ im Verkehrsstau stehen können. Venezuela, der größte Erdölexporteur in dieser Hemisphäre, hat von allen lateinamerikanischen Ländern wahrscheinlich die engsten Beziehungen zu China aufgebaut. Der Plan, die Öllieferungen an China zu erhöhen, ist Teil seiner Anstrengungen, den Einfluss der offen feindlich eingestellten US-Regierung zu reduzieren. Dass Venezuela Mercosur, dem südamerikanischen Freihandelsabkommen, beigetreten ist, beschreiben der argentinische Präsident Nestor Kirchner als einen „Meilenstein“ in der Entwicklung dieser Gemeinschaft und der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva als „neues Kapitel der Integrationsbestrebungen“. Davon abgesehen, dass Venezuela Argentinien mit Heizöl versorgt, hat das Land 2005 fast ein Drittel von Argentiniens Schuldenlast aufgekauft – ein Schritt in dem Bestreben, die Kontrolle des Internationalen WährungsKulturaustausch 11/06

Foto: Europa Verlag

Der vierte Block


China

fonds (IWF) über die Länder dieser region zu verringern, nachdem die regeln, welche die von den USa dominierten internationalen Finanzinstitute über die letzten zwanzig Jahre diktierten, verheerende auswirkungen hatten. Im Dezember 2005 wurde ein Zusammenrücken der südamerikanischen Länder durch die Wahl von Evo Morales in Bolivien gefördert, dem ersten Präsidenten indianischer abstammung. Morales beeilte sich, eine reihe von Energieabkommen mit Venezuela zu unterzeichnen. Die „Financial Times“ berichtete, man erwarte sich von diesen abkommen „eine Unterstützung radikaler reformen von Boliviens Wirtschafts- und Energiesektor“, zumal das Land über immense Erdgasvorräte verfüge, die zweitgrößten in Südamerika. auch die Beziehungen zwischen Kuba und Venezuela werden zunehmend enger geknüpft, wovon sich jedes der Länder gleichermaßen Vorteile erhofft. Venezuela bietet preiswertes Erdöl, während Kuba im austausch alphabetisierungs- und Gesundheitsprogramme unterstützt, indem es Tausende von gut ausgebildeten Lehrern und Ärzten ins Land schickt, die in den ärmsten und entlegensten Gegenden arbeiten, so wie sie dies in unterschiedlichen Gegenden der Dritten Welt tun. auch anderswo ist medizinische Hilfe aus Kuba willkommen. Eine der schlimmsten Tragödien der vergangenen Jahre war das Erdbeben in Pakistan Oktober

2005. Zu den vielen Todesopfern kam eine unbekannte Zahl von Menschen, die infolge der Katastrophe einem brutalen Winter ohne ausreichenden Schutz gegen die Witterung, ohne ausreichende Nahrungsmittelversorgung oder medizinische Hilfe ausgesetzt waren. „Kuba hat in Pakistan das größte Kontingent an Ärzten und Sanitätern gestellt“ und kam auch für alle Kosten auf (vielleicht mit Hilfe Venezuelas), schreibt John Cherian in der indischen Zeitung „Frontline“ und zitiert dabei „Dawn“, eine der führenden Tageszeitungen Pakistans. Der pakistanische Präsident Pervez Musharraf brachte Fidel Castro gegenüber „tiefe Dankbarkeit“ für das „Engagement und Mitgefühl“ der medizinischen Teams aus Kuba zum ausdruck: Berichten zufolge hatten mehr als 1000 gut ausgebildete Mitarbeiter – davon 44 Prozent Frauen – ihre arbeit in entlegenen Gebirgsgegenden fortgesetzt, „bei niedrigsten Temperaturen und in völlig fremder Umgebung in Zelten ausgeharrt“, nachdem westliche Hilfsteams schon abgereist waren. Wachsende Volksbewegungen, die sich vor allem in Südamerika formieren, aber auch in den reichen Industrienationen Unterstützung finden, dienen als Grundlage für viele dieser Entwicklungen hin zu mehr Unabhängigkeit und Sorge für die Nöte der großen Bevölkerungsmehrheit. Aus dem Englischen von Loel Zwecker

Literaturhinweise

Die deutsch-chinesischen Kulturbeziehungen seit 1990 Auswahlbibliografie. Die kommentierte Literaturliste der ifa-Bibliothek bietet Informationen zu: Konzepten, Maßnahmen und Trägern der Auswärtigen Kulturpolitik | Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen | Deutsche Sprache und Germanistik in der VR China | Chinastudien/Sinologie in Deutschland | Perzeption beider Länder | Selbstverständnis der chinesischen Außenkulturpolitik auf internationaler Ebene Stand: März 2006 http://cms.ifa.de/bibliografien/china Alle Titel sind in der Bibliothek des ifa ausleihbar

Institut für Auslandsbeziehungen Bibliothek Postfach 10 24 63 |D - 70020 Stuttgart | Tel: 0711/22 25 - 147 | Fax: 0711/22 25-131 Email: bibliothek@ifa.de KULTUraUSTaUSCH 11/06

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Nordkorea, Japan, Indien: Wie China die Beziehungen zu seinen asiatischen Nachbarn regulieren will Von Lin Jinbo

Lin Jinbo, geboren 1943, arbeitet als Professor am „China Institute of International Studies“ in Peking.

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Als größtes Land Ostasiens und mit zunehmender Einflussnahme auf die Welt spielt China eine tragende rolle bei der Stabilisierung des Friedens und der Förderung wirtschaftlicher Entwicklung . China hat atom-Gespräche mit sechs Ländern organisiert, die Wirtschaftskooperation zwischen China, Japan, Nordkorea und des „China-aSEaN Expo Summit for International Cooperation“ (CaESIC) sowie den Prozess der Einheit Ostasiens vorangetrieben. Diese Entwicklungen zeigen, dass China angefangen hat, im Bereich der Sicherheit und der Wirtschaft eine konstruktive Funktion auszuüben. Dass der Prozess der Sechs-Länder-atom-Gespräche jedoch ins Stocken geraten ist und die Beziehungen zwischen China und Japan sich offenbar verschlechtern, macht andererseits deutlich, dass China, will es seine Funktion erfolgreich ausüben, sich noch vielen Herausforderungen im Innern wie nach außen zu stellen hat. Um diese zu bewältigen, muss China einerseits auf einer gewissen strategischen Höhe die diplomatischen Beziehungen mit den Nachbarländern regulieren und verbessern. andererseits muss China genug Mut haben, sich in seinem Denken weiter zu öffnen, um auf die anforderungen sich wandelnder internationaler Entwicklungen reagieren zu können. Seit China unter der Führung Deng Xiaopings eine reform- und Öffnungspolitik eingeführt hat und eine außenpolitik verfolgt, die sich über politische Differenzen stellt, erholen sich die Beziehungen zwischen China und seinen Nachbarländern allmählich. Seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat China sein Verhältnis zu den Ländern Südostasiens in der Breite dadurch verbessert, dass es die diplomatischen Beziehungen mit Indonesien wiederhergestellt, die Beziehungen mit Vietnam verbessert und diplomatische Beziehungen zu Singapur aufgenommen hat. China entwickelt durch den aufbau diplomatischer Beziehungen mit Südkorea ausgewogene und freundschaftliche Beziehungen zu beiden Seiten der Halbinsel, dem Norden und dem Süden. Durch die Einrichtung der „Shanghai Cooperation Organization“ hat China mit russland und den Nahostländern eine stabile Beziehung des gegenseitigen Vertrauens und der Zusammenarbeit aufgebaut. Was die Beziehungen zwischen China und Nordkorea betrifft, so wurden diese lange Zeit aufgrund des Kalten Krieges, der chinesischen Beteiligung am Korea-Krieg,

der ideologischen Nähe oder dem 1961 unterschriebenen „Vertrag zur Zusammenarbeit“ als typisches Modell eines politischen und militärischen Sonderbündnisses gesehen. Nach dem Ende des Kalten Krieges, dem 11. September und der zweiten atomkrise um Nordkorea steht die Kontinuität dieses Sonderbündnisses vor neuen Schwierigkeiten. Gleichzeitig bieten die Umstände auch einen realistischen Wendepunkt für eine Neuordnung des Verhältnisses beider Länder. Während China versucht, Nordkorea zu überreden, auf atomwaffen zu verzichten, motiviert es Nordkorea unaufhörlich, sich zu öffnen und zu reformieren. Zugleich entwickelt China mit dem Hilfsangebot von reis- und Energielieferungen intensive Handelsbeziehungen zu Nordkorea. Die neueste Statistik in China zeigt, dass 2005 das Handelsvolumen zwischen China und Nordkorea 1,58 Milliarden US-Dollar erreicht hat. Im Vergleich zu 2004 ist es damit um 14,1 Prozent gestiegen. Die intensivierten Handelsbeziehungen zwischen China und Nordkorea bedeuten jedoch nicht, dass der Einfluss Chinas auf die Politik Nordkoreas weiter wächst. Nordkoreas Staatschef, Kim Jong-il, beobachtet zwar die Öffnung und reformierung Chinas, aber ein Entschluss Nordkoreas, auf das atomwaffenprogramm zu verzichten, sich selbst zu öffnen und zu reformieren, lässt sich nach wie vor nicht feststellen. Wie China diese Beziehungen entwickelt und in welcher richtung es sie steuert, wird auch weiterhin ein Thema der chinesischen außenpolitik sein. Im Vergleich zu den Beziehungen mit Nordkorea fällt China die Zuversicht in den Beziehungen mit Japan schwerer. Seit der aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Japan im Jahre 1972 sind bald 30 Jahre vergangen, und mit den Handelsbeziehungen haben China und Japan ein Verhältnis gegenseitiger abhängigkeit entwickelt. Die chinesische Statistik zeigt, dass 2005 das Handelsaufkommen zwischen China und Japan 184,4 Milliarden US-Dollar erreicht hat. Erwartet werden für 2006 über 200 Milliarden US-Dollar. Japan ist schon lange der wichtigste ausländische Investor in China. aber seit Mitte der 1990er Jahre zeigen die Beziehungen zwischen China und Japan rückgangstendenzen. Nach 2005 haben sie den niedrigsten Punkt seit der aufnahme der diplomatischen Beziehungen erreicht. Im augenblick beeinträchtigen das Problem des Umgangs mit der Geschichte, der Taiwankonflikt, der Konflikt in der Ostchinesischen See, sowie die Feindseligkeit zwischen den Bürgern beider Seiten das Verhältnis beider Länder enorm. außerdem ist die angelegenheit um den Yasukuni-Schrein als das Kernproblem der Geschichtsauslegung in den Fokus der antagonismen gerückt. Nur mit einer langfristigen Zusammenarbeit können China und KULTUraUSTaUSCH 11/06

Foto: privat

Bündnisfall


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Japan den aufkommenden Nationalismus im jeweiligen Land unter Kontrolle bringen und im Umgang mit der Vergangenheit einen Kompromiss erzielen. Die krisenhafte Pattsituation zwischen China und Japan lässt eine instabile Zukunft für die Beziehungen beider Länder prognostizieren. Wenn beide Regierungen es nicht schaffen, in kurzer Zeit die negativen Faktoren zu beseitigen, ist selbst ein militärischer Konflikt nicht ausgeschlossen. Obwohl die Beziehungen zwischen beiden Ländern derzeit unter so ungünstigen Bedingungen stehen, haben die beiden Länder noch immer den Vorsatz, eine freundschaftliche Beziehung zu erhalten und zu entwickeln. Wenn sie Maßnahmen ergreifen, um den beiderseitigen Nutzen und den Raum für Zusammenarbeit zu erweitern, kann die Beziehung zwischen China und Japan immer noch eine relativ optimistische Entwicklungsaussicht haben. Die Verbesserung der Beziehungen mit Indien in den letzten Jahren ist ein großer Erfolg Chinas in der Außenpolitik in Asien. Über 40 Jahre gab es im Grenzkonflikt zwischen China und Indien aufgrund des TibetProblems keine tiefgreifenden Besserungen. Erst als man 2003 den Vertrag der „Ankündigung zu den Prinzipien in den Beziehungen zwischen China und Indien und zu einer umfassenden Zusammenarbeit“ unterschrieben hatte, erkannte Indien Tibet als einen Teil Chinas an. Damit begann in den Beziehungen zwischen China und Indien ein neuer Abschnitt. Nicht nur die politischen Beziehungen entwickeln sich seitdem gut, auch das Handelsvolumen steigt rasch an. Nach einer chinesischen Statistik hat 2005 das Handelsaufkommen mit Indien 18,7 Milliarden US-Dollar erreicht. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Anstieg von 37,4 Prozent. Voraussichtlich wird China bald die USA als größten Handelspartner Indiens ersetzen. Von Indiens Seite wird von Tag zu Tag der Ruf lauter, die Beziehungen zu China zu intensivieren. Während es die Beziehungen zu den USA und zu Japan aufbaut, verneint Indien unmissverständlich, negative Absichten China gegenüber zu haben. Aus der chinesischen Perspektive unterstützt China Indien dabei, ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat zu werden; man befürchtet nicht, dass Indien zu einer Macht werden könne, die gemeinsam mit den USA und Japan versuchen könnte, China auszubremsen. Außerdem bemüht sich China, zwischen Pakistan und Indien eine ausbalancierte diplomatische Beziehung zu entwickeln, um Missverständnisse oder Misstrauen möglichst zu vermeiden. Für das größte Problem, das Grenzproblem, hat man allerdings noch zu keiner Lösung gefunden. Weil beide Länder ungefähr das gleiche wirtschaftliche Niveau haben, entsteht außerdem eine Konkurrenz um Energien und Märkte. 2006 ist jedoch ein freundschaftliches Jahr für China und Indien, beide Staatschefs werden mehr Zeit Kulturaustausch 11/06

und Chancen haben, die Probleme, die die Geschichte hinterlassen hat, zu lösen. Wenn man die Rolle Chinas in Ostasien hinterfragt, stellt sich unvermeidlich das Taiwan-Problem. In den letzten Jahren ist China in seiner Reaktion auf die Herausforderung, die vom Ruf Taiwans nach Unabhängigkeit ausgeht, von einer baldigen Vereinigung auf die strenge Unterdrückung der Unabhängigkeitsbestrebungen Taiwans umgeschwenkt. Im intensiven Dialog mit der Oppositionspartei hat man gewisse positive Resultate erzielt. Doch die Führungsspitze Taiwans hat ihre Schritte hin zur „Legalisierung der Unabhängigkeit“ noch nicht eingestellt. Die Herausforderungen für China haben die Tendenz, größer zu werden. Es gilt, in der Taiwan-Frage zu einer Übereinkunft mit den asiatischen Nachbarländern zu kommen. Seit China den „umfassenden Auf bau einer Wohlstandsgesellschaft“ als Kernpolitik des Staates festgelegt hat, sind „der Dienst am Aufbau der Wirtschaft“ und „das Schaffen eines für den umfassenden Aufbau einer Wohl-

China wird demnächst die USA als größten Handelspartner Indiens ersetzen standsgesellschaft günstigen internationalen Umfeldes“ zu den neuen Leitprinzipien der chinesischen Außenpolitik geworden. Aus der „Einheitsfront“, die die auf der Ideologie und Philosophie von „Revolution“ und „Kampf“ basierende Außenpolitik darstellte, entwickelt sich eine multilaterale, weniger ideologisch getragene, „realistische“ und „kooperative“ Außenpolitik. Seit ein paar Jahren sucht China nach neuen Idealen und treibt eine neue Praxis voran. So propagiert man etwa neue Ansichten zur Sicherheit, die geprägt sind von „gegenseitigem Vertrauen, gegenseitiger Begünstigung, Gleichberechtigung und Kooperation“, einer „Entwicklung in Frieden“, einer „multilateralen Außenpolitik“ und „gemeinsamem Gewinn“. Außerdem bringt China in den Beziehungen zu den asiatischen Nachbarländern diplomatische Prinzipien zum Einsatz, wie die „Begünstigung der Nachbarn und Betrachtung der Nachbarn als Partner“, „freundschaftliche Beziehungen zu den Nachbarn, Beruhigung der Nachbarn und Bereicherung der Nachbarn“. Aber diese Suche kann die Anforderungen der Zeit nicht befriedigen. China muss sich noch weiter öffnen und mit mehr Mut die Erneuerung der diplomatischen Ideen und des Systems einführen, damit es seine Funktion für die Sicherheit und Wirtschaft in Ostasien konstruktiver wahrnehmen kann. Aus dem Chinesischen von Suming Soun 59




China

Warum China und afrika erfolgreich miteinander handeln Von Leni Wild Noch nie wurde afrika so viel politische aufmerksamkeit

Leni Wild, 1981 in London geboren, ist Forschungsstipendiatin im Internationalen Programm des Institute for Public Policy Research (IPPR) in London. Vor kurzem startete das IPPR das Forschungsprojekt „Die Rolle Chinas in Afrika“. Einzelheiten unter www.ippr.org/ international

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zuteil wie im Jahr 2005: durch den afrika-Schwerpunkt, den Tony Blair während der englischen G8-Präsidentschaft setzte. Ein Thema allerdings, das besonders viele Implikationen birgt, fehlte in den internationalen Diskussionen: die rolle, die China in afrika spielt. Welchen Einfluss China mittlerweile als bedeutender akteur in afrika gewonnen hat, wird von Entscheidungsträgern in der internationalen Politik nach wie vor unterschätzt. außerdem hat es die internationale Politik versäumt, China in afrikanische angelegenheiten einzubinden. Während des Kalten Krieges zeigte sich das Engagement Chinas in afrika beispielhaft am Einsatz Tausender chinesischer arbeiter beim Bau der 1.896 Kilometer langen Tazara-Eisenbahnlinie, die die tansanische Hafenstadt Daressalaam mit dem Kupfergürtel Sambias verbindet. Dieses Geschenk Mao Tse-tungs war Teil des Versuchs, den Kommunismus durch Prestigeprojekte in alle Teile afrikas zu tragen. Dreißig Jahre später fällt fast niemandem auf, wie sehr sich die chinesische Investitionstätigkeit seitdem verstärkt hat. Heute sind der Kapitalismus und der Bedarf an natürlichen ressourcen die Kraftquellen für die rolle Chinas. Nach einem neueren Bericht der „Financial Times“ im März 2006 hat sich durch den Vormarsch Chinas die Investitions- und Handelslandschaft in afrika innerhalb weniger Jahre verändert. Mit hohem Tempo hat sich das Land als einer der wichtigsten Handelspartner afrikas etabliert und in dieser Hinsicht Großbritannien bereits hinter sich gelassen, wenngleich es noch hinter den USa und Frankreich liegt. real hat sich das Handelsvolumen zwischen China und afrika seit 2000 nahezu vervierfacht und machte nach chinesischen angaben allein im letzten Jahr einen Sprung von 36 Prozent auf nunmehr 33,4 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum haben sich mehr als 500 chinesische Unternehmen und Zehntausende junger chinesischer arbeitskräfte in afrika niedergelassen. Was bedeuten diese rege Investitionstätigkeit und die intensivierten Handelsbeziehungen für afrika? In Westafrika ist die chinesische Bautätigkeit dem anschein nach flächendeckend präsent. Nach aussagen von Kommentatoren wird Freetown, die Hauptstadt von Sierra

Leone, von chinesischen Neubauten dominiert. Während dieses Land bei westlichen regierungen in erster Linie als Hilfsempfänger gilt, sehen die regierung und die staatlichen Unternehmen Chinas in Ländern wie Sierra Leone Chancen für langfristige Investitionen. Manche afrikaner sind frustriert von der Bürokratie und den drückenden auflagen der G8-regierungen und multilateralen Geber. Für sie ist das investive Engagement Chinas eine alternative: „Die Chinesen investieren in afrika im großen Stil und erreichen wirklich etwas, während die G8 sehr viel Geld ins Land pumpen und kaum Ergebnisse sehen“, so Sahr Jonny, der Botschafter Sierra Leones in Peking. Viele Menschen in afrika bewundern das chinesische Modell, weil es schnelles Wirtschaftswachstum mit politischer Stabilität verbindet. Dass es China innerhalb von 20 Jahren gelungen ist, 400 Millionen Menschen im eigenen Land von armut zu befreien, markiert einen deutlichen Gegensatz zur armutsbekämpfung unter der Losung „Make Poverty History“, einem Zusammenschluss englischer Wohltätigkeitsvereine, Gewerkschaften und Prominenter, auf dem afrikanischen Kontinent. Ob afrika von der rolle Chinas konkrete Vorteile zu erwarten hat, ist allerdings fraglich. Investitionen ohne auflagen mögen zwar für das eine oder andere regime ihren reiz haben, schwächen jedoch den Einfluss internationaler Menschenrechts- und anti-KorruptionsInitiativen. Das Gleiche gilt für Initiativen, die sich für eine transparente Gewinnverteilung einsetzen. Beispiel angola: Der Internationale Währungsfonds und andere hatten die angolanische regierung gedrängt, für mehr Transparenz in der Erdölwirtschaft des Landes zu sorgen und im Vorfeld einer geplanten Geberkonferenz noch andere reformen durchzuführen. Im Juni 2005 befand man die reformbemühungen angolas als unzureichend und vertagte die Geberkonferenz. Dass die angolaner sich so wenig genötigt sahen, auf den Druck der westlichen Geberländer zu reagieren, wird maßgeblich darauf zurückgeführt, dass China dem Land im rahmen eines längerfristig angelegten Hilfspakets einen zinsgünstigen Kredit in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar angeboten hatte. Durch Entwicklungen dieser art wird der Erfolg internationaler Bemühungen um eine transparentere Gewinnverteilung im Bereich der Bodenschätze ernsthaft in Frage gestellt. Zudem ist China ein loyaler Verbündeter einiger afrikanischer Staaten, die am schlechtesten regiert werden und auf deren Konto schlimmste Menschenrechtsverletzungen gehen. So nutzte China seinen Sitz im UN-Sicherheitsrat, um die sudanesische regierung in Khartum vor internaKULTUraUSTaUSCH 11/06

Foto: Simon Rix.com

Shopping in Darfur


tionalen Sanktionen zu bewahren, während gleichzeitig lokale und regionale aktivisten nach einer Intervention riefen, die EU massive Menschenrechtsverletzungen in Darfur anprangerte und die US-administration Sudan Völkermord vorwarf. China ist an der international tätigen „aBCO Corporation“ beteiligt, die derzeit in Darfur nach Öl bohrt. China gehört auch zu den wichtigen Lieferanten von Militärausrüstung für die regierung des Sudan. China ist der wichtigste internationale Verbündete von robert Mugabe in Zimbabwe. Während Mugabe von der internationalen Gemeinschaft beinahe ausnahmslos gemieden wird, engagieren sich die Chinesen in Zimbabwe im großen Stil und investieren kräftig in Bergbau, Straßenbau und Landwirtschaft. Während die EU ihr Waffenembargo gegen Zimbabwe aufrechterhält, wird das Land von den Chinesen mit großen Mengen an Militärausrüstung und sogar mit K8-Kampfjets beliefert. auch hat China während des Krieges Ende der 1990er Jahre sowohl Äthiopien als auch Eritrea mit großen Mengen an militärischem Gerät im Wert von einer geschätzten Milliarde US-Dollar versorgt. In der Demokratischen republik Kongo – auch dies ein von Bürgerkrieg, schlechter regierung und Menschenrechtsverletzungen geplagtes Land – investiert China in Kobalt- und Kupferminen und ist intensiv an Vorhaben zur Energiegewinnung beteiligt. China darum international zum außenseiter abzustempeln wäre jedoch kontraproduktiv. Während die chinesische Präsenz in afrika große Fragen aufwirft, wurde wenig unternommen, um China bei seiner afrikapolitik in die Pflicht zu nehmen. Dies sollte Vorrang haben. Zwar war der chinesische Premierminister Hu Jintao beim G8-Gipfel 2005 in Gleneagles, bei dem afrika auf der Tagesordnung stand, doch es wurde versäumt, mit ihm das Gespräch über afrikanische Fragen zu suchen. auch in anderen Gremien wie den Vereinten Nationen oder dem african Partners Forum kam Chinas rolle in afrika nicht zur Sprache. Die regierungen des Westens und die internationalen Institutionen müssen neue Wege finden, um sich in afrika mit China zu verständigen. Denn Chinas Zielsetzungen gehen über das rein Wirtschaftliche hinaus. China strebt danach, als bedeutender Machtfaktor anerkannt zu werden. Beispielsweise unterstützt China verstärkt die aktivitäten der Vereinten Nationen – auch die Entsendung von Friedenstruppen in afrika. Dadurch entsteht die Chance, gemeinsame Interessen zu erkennen, auf gemeinsame Probleme mit aufeinander abgestimmten Strategien zu reagieren und mit Interessenkonflikten umgehen zu lernen. Dies wird mehr Erfolg bringen als der einfältige Versuch, Chinas Einfluss zu begrenzen, denn die Bedeutung Chinas für afrika wird voraussichtlich eher zunehmen. Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld KULTUraUSTaUSCH 11/06

Fisch gehabt In China sind Doppeldeutigkeiten verbreitet und beliebt. So heißt etwa das Wort „Fisch“ auf Chinesisch „yu“. „Yu“ wird aber auch das Schriftzeichen für Reichtum und Überfluss ausgesprochen. Nach demselben Prinzip wird die blutsaugende Fledermaus zu einem Glückstier, da Fledermaus „fu“ und Glück „fu“ gleich klingen. Wie präsent solche Wortspiele sind, kann man im Restaurant erleben. Ein Geschäftsmann berichtete von einem Essen mit seinen chinesischen Partnern, bei dem unter den Gerichten, von denen sich jeder ein Häppchen nimmt, auch ein köstlicher Fisch war. Als er den Fisch umdrehen wollte, riefen die chinesischen Gastgeber: „Nein! Das bringt Unglück!“ Denn der Fisch bedeute Reichtum, den man doch nicht zum Kentern bringen wolle. Deshalb gehört ein Aquarium mit stattlichen Goldfischen zur Grundausstattung jedes chinesischen Restaurants: zum Ankurbeln der Geschäfte. Und auf Glückwunschkarten sind häufig Fischmotive abgebildet. (Dagmar Gürtler, www.chinesign.de )

Vitamin B „Guanxi“– Beziehungen – braucht man in China nicht nur zum Erklimmen der Karriereleiter. Selbst in öffentlichen Verkehrsmitteln hilft es, vor der Fahrt den Fahrer anzusprechen, um sich einen Sitzplatz zu sichern. Jede Gefälligkeit sollte man im Kopf behalten und bei Gelegenheit wiedergeben. Gegenseitigkeit ist oberstes „Guanxi“-Prinzip. Fremden mag es schwer fallen, den Überblick über Hilfs- und Gegenleistungen zu wahren. Zumal nicht nur die Anzahl der geknüpften Beziehungsknoten, sondern auch deren Enge zählt. Eine einmal geknüpfte Beziehung ist nicht zu unterschätzen: Was im Bus als Wohltat nach einem anstrengenden Arbeitstag begann, kann bei ausdauernder Kontaktpflege zu einem Posten im Aufsichtsrat verhelfen. (Quelle: Hanne Chen: Kultur Schock VR China/Taiwan,2004)

Die Chinakarte auf der folgenden Doppelseite ist entnommen aus Alexander Gesamtausgabe Seite 90-91, Klett-Perthes Verlag.

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Magazin In Europa

Forum

Hochschule

Programme

Bücher

Gespaltene Zunge Warum Flamen und Wallonen in Belgien sich einfach nicht verstehen

4,7 Prozent Europa Wie die europäische Einheit politisch genutzt werden könnte

„Wir werden glücklicher“ Ein Interview mit dem niederländischen Glücksforscher Ruut Veenhoven

Kirschholzraspeln Ein deutscher Schreiner auf Handwerkeraustausch in Japan

Paul Nolte über Ralf Dahrendorfs Versuchungen der Unfreiheit

Liebe Europäerinnen und Europäer! Eine Europarede für jeden Anlass

Kulturdialog – wonach klingt das? Thomas Krüger und Susanne Weigelin-Schwiedrzik suchen ein neues Wort

Meine Uni ist die Welt Das Jetsetleben mobiler Studenten

Mit Björk auf du und du Musikbörsen im Internet

Cem Özdemir über die neuen Veröffentlichungen zu Europa

Außenminister Frank-Walter Steinmeier über die Aufgaben der Auswärtigen Kulturpolitik Herr Außenminister, wenn wir Sie zurzeit im Fernsehen sehen, geht es meist um den Iran oder die Entführungsfälle im Irak. Wo in Ihrer täglichen Arbeit begegnet Ihnen Außenkulturpolitik? Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist fester Bestandteil der deutschen Außenpolitik. Sie ist auch ein wichtiger Teil meiner politischen Agenda. Bei meinem letzten Besuch in Ägypten etwa standen kulturelle Termine wie die Teilnahme an der Buchmesse Kairo sogar im Zentrum des Programms. Die Mohammed-Karikaturen oder der Film „Tal der Wölfe“ haben es uns doch gerade wieder ins Bewusstsein gehoben: Der Dialog der Kulturen ist wichtiger denn je – um kulturelle Produkte nicht politisch zu instrumentalisieren und um kulturelle Vielfalt und auch Differenzen als Ausgangspunkt eines Dialoges sichtbarer zu machen. Langfristig angelegte außenpolitische Beziehungen sind ohne ein solides kulturpolitisches Fundament nicht denkbar. Die Resultate Auswärtiger Kultur- und Bildungspolitik begegnen mir oft auch ganz direkt. Viele meiner Gesprächspartner in aller Welt sind mit der deutschen Sprache und Kultur gut vertraut, weil sie eine deutsche Schule im Ausland besucht oder an einem Goethe-Institut Deutsch gelernt haben. Dies ist ein außenpolitisches Sympathie-Kapital, das kaum überbewertet werden kann. Ist zwischenstaatlicher Kulturaustausch in Zeiten der Globalisierung noch zeitgemäß? Diese Frage umfasst zwei Aspekte, die Rolle des Staates allgemein sowie speziell im 66

Bereich der Kulturarbeit. Ohne Zweifel ist die Zahl außenpolitischer Akteure gewachsen – im multilateralen und im nicht-staatlichen Bereich. Die Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen ist ganz bewusst Teil unserer Politik. Ich bin davon überzeugt, dass Staaten und zwischenstaatliche Beziehungen auf lange Sicht der zentrale Baustein unserer globalen außenpolitischen Architektur bleiben werden: als Knotenpunkte der Netzwerke, aber auch als außenpolitische Akteure. In Deutschland wird Kultur von unabhängigen Kulturschaffenden gemacht. Unsere offiziellen Kulturmittler sind, obwohl staatlich budgetiert, in ihrer Programmgestaltung weitgehend frei von staatlichen Vorgaben. Dies spiegelt unser Kulturverständnis wider, das den im offiziellen Auftrag handelnden Institutionen wie etwa dem DAAD oder dem Goethe-Institut einen substanziellen Gestaltungsspielraum gewährt. Das war so und das bleibt so – es ist der einzig zeitgemäße Ansatz. Mit Joschka Fischers „Konzeption 2000“ sind Menschenrechte und Konfliktprävention besondere Inhalte der Außenkulturpolitik geworden. Sie ist so enger an die Sicherheitspolitik gerückt. Was wurde seither auf praktischer Ebene erreicht? Werden Sie sich weiter an diesem Kulturbegriff orientieren? Auswärtige Kulturpolitik heißt einerseits, Kultur in ihrem Eigenwert und ihrer Besonderheit wahrzunehmen und andererseits, ihre Möglichkeiten als eigenständiger Bestandteil der Außenpolitik zu nutzen. Willy Brandt

prägte dafür den Begriff „dritte Säule“. Dieser ist nach wie vor so aktuell, dass auf ihn gleich an zwei Stellen der Koalitionsvereinbarung Bezug genommen wird. Auswärtige Kulturpolitik orientiert sich an den übergreifenden Zielen der deutschen Außenpolitik. Dazu gehören die Sicherung des Friedens, der Schutz der Menschenrechte und eine langfristig angelegte Konfliktprävention. Nehmen wir das Beispiel Afghanistan: Das Land wird nur dann eine sichere Zukunft haben, wenn es gelingt, politisch für Stabilität und für den Aufbau eines funktionierenden Gemeinwesens zu sorgen und der jungen Generation eine Perspektive zu geben. Deshalb hat sich die Bundesregierung maßgeblich am Wiederaufbau des afghanischen Bildungssystems beteiligt. Wir haben den Aufbau von Schulen unterstützt, helfen bei der Erstellung von Lehrplänen, bilden Lehrer und Hochschullehrer aus und statten Bibliotheken wieder so aus, dass künftige Generationen von Studenten sie nützen können. Das Goethe-Institut in Kabul und die Deutsche Welle leisten einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung einer unabhängigen Öffentlichkeit. Gemeinsam mit unseren Mittlerorganisationen wollen wir in diesem Jahr einen Prozess der Evaluierung und der künftigen strategischen Neuausrichtung einleiten. Wir denken auch an eine größere Konferenz zur Zukunft der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik gegen Ende des Jahres im Auswärtigen Amt. Den wichtigen Akteuren der Kulturarbeit, staatlichen wie nichtstaatlichen, soll dabei Gelegenheit gegeben werden, sich an diesem Prozess zu beteiligen. Wie bewerten Sie den verstärkten Bezug der Kultur zur Politik? Wird sie damit ernster genommen oder droht sie durch politische Interessen instrumentalisiert zu werden? Ich sehe in der Feststellung, dass Kultur auch politischen Interessen dienen kann, keiKulturaustausch 11/06

Foto: dpa

„Wir wollen die Köpfe und die Herzen erreichen“


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nerlei Bedrohung für die Kultur, im gegenteil. Wichtig ist aber, dass sie nicht vordergründig für kulturfremde ziele instrumentalisiert, sondern mit Blick auf ihren eigenständigen Beitrag und ihre ziele ernst genommen wird. ich habe übrigens den Eindruck, dass auch immer mehr Kulturschaffende beides – Kultur in ihrem Eigenwert und als eine der besten Visitenkarten der Kulturnation Deutschland – für vereinbar halten. Dies stärkt Kulturarbeit und Politik gleichermaßen. Die Vielgestaltigkeit unserer Kulturlandschaft ist die gewähr dafür, dass es zu keiner instrumentalisierung durch Politik und Wirtschaft kommt. auch in der tatsache, dass

Kultur und Bildung mehr und mehr auch als Wirtschafts- und standortfaktor Deutschlands gesehen werden, kann ich nichts negatives erkennen. ich sehe hier vielmehr noch große chancen und raum für neue Partnerschaften, deren Potenzial nach meinem Eindruck noch lange nicht ausgeschöpft ist. Ist die Außenpolitik vom Fordern nach mehr Dialog zu echten Dialogprozessen zwischen den Kulturen gekommen? Wo gibt es nachhaltige Erfolge? zu einem Dialog der Kulturen gehört eine Kultur des Dialoges. gerade im licht des Karikaturenstreites stellt sich diese Frage mit neuer

Dringlichkeit. ich habe aber überhaupt keinen zweifel daran, dass gerade Ereignisse wie diese für uns ein appell sein sollten, in unseren Bemühungen nicht nachzulassen. Die gegenwärtig zu beobachtende instrumentalisierung kultureller Differenzen und ein möglicherweise drohender Kampf der Kulturen weisen ja darauf hin, dass wir es hier mit einem ausfall oder zumindest einem Defizit von Politik zu tun haben. Mit unseren Projekten im rahmen des islamdialogs versuchen wir gerade diejenigen Menschen zu erreichen, mit denen bislang deshalb kaum ein Dialog stattgefunden hat, weil sie dem Westen eher misstrauisch gegenüber stehen. Ein Kulturdialog, der Krisenprävention ernst nimmt, kann nicht nur unter den „Bekehrten“ auf beiden seiten stattfinden, die sich für ihre Dialogbereitschaft gegenseitig auf die schultern klopfen. Deswegen habe ich mich auch persönlich dafür stark engagiert, vor allem durch die mit meinem türkischen Kollegen verabredete initiative für Freiheit und respekt. trotzdem: hier ist ein sehr langer atem nötig.

Was sind die wichtigsten Herausforderungen der Außenkulturpolitik? Es geht darum, kulturellen austausch unter den veränderten gegebenheiten des 21. Jahrhunderts neu zu organisieren. Kulturelle Prozesse laufen mehr als je zuvor in internationalen, interkulturellen netzwerken ab. Dem muss unsere arbeit stärker rechnung tragen. Denn wir möchten auch weiterhin die Köpfe und herzen der nachwachsenden generationen und künftigen Entscheidungsträger in unseren Partnerländern erreichen. Das wird nur gelingen, wenn das instrumentarium der Kultur- und Bildungspolitik, die sprachvermittlung, auslandsschulen, stipendien- und austauschprogramme, sowie das Kulturangebot insgesamt diesem ziel dienen. Wir wollen diesen „Werkzeugkasten“ gut sortiert und aktuell halten, um Chef der Diplomaten: ihn nach Bedarf schnell auf neue Dr. Frank-Walter schwerpunkte und aufgaben ausSteinmeier, geboren richten zu können. Eine zweite, in 1956, ist Jurist, teilen gegenläufige herausfordeSPD-Politiker und rung liegt darin, in zeiten knapper seit November 2005 Kassen handlungsfähig zu bleiben. Bundesaußenminister. Wir stellen uns dieser herausforderung mit einer Doppelstrategie: zum einen werden wir immer wieder darauf hinweisen, dass weitere 67


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drastische sparrunden die Fortsetzung einer vernünftigen arbeit in diesem Bereich in Frage stellen. auswärtige Kulturpolitik muss finanziell sachgerecht ausgestattet werden. so steht es in der Koalitionsvereinbarung, das muss gelten. Der Entwurf für den haushalt 2006 sieht in diesem Bereich keine Kürzungen vor. zugleich müssen wir durch klare Prioritäten und die Einführung moderner Managementmethoden unsere Effizienz verbessern. und schließlich haben wir erste Partner, auch im privaten Bereich, gefunden und suchen nach weiteren, mit denen wir unsere gemeinsamen ziele verwirklichen können. Mit hilfe der robert Bosch stiftung ist es uns zum Beispiel gelungen, eine anzahl von Kulturmanagern in wichtige städte Mittel- und Osteuropas zu entsenden, wo wir bislang nicht oder nicht ausreichend vertreten waren. Muss die politische und parlamentarische Lobby für die Außenkulturpolitik gestärkt werden? Die abgeordneten des Deutschen Bundestages sind sicher mit die energischsten Kämpfer für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass ich selbst gelegenheit habe, meine Vorstellungen im ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages vorzustellen und das der neue Bundestag entschieden hat, einen unterausschuss für auswärtige Kulturpolitik einzurichten. Die Besonderheiten der Kulturarbeit in und mit dem ausland finden hier eine große unterstützung. Der Regierung Schröder ist vielfach vorgeworfen worden, in ihren Beziehungen zu Russland zu wenig auf Demokratie, Einhaltung der Menschenrechte und die Lösung des Tschetschenienkonflikts gepocht zu haben. Ist es nicht widersprüchlich, einerseits die Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft weltweit fördern zu wollen, dieser Entwicklung aber gleichzeitig auf politischer Ebene nicht immer zu folgen? Die Partnerschaft mit russland auszubauen und zu vertiefen ist ziel dieser Bundesregierung. Wir stehen hier also in einer Kontinuität, die ich auch persönlich für ein zentrales Element deutscher außenpolitik halte. Wir brauchen die Partnerschaft mit russland zur lösung der globalen Probleme, zum Beispiel die ratifizierung des Kyoto-Protokolls durch russland und unsere gemeinsamen Bemühungen um 68

stabilität im nahen Osten. Diese Partnerschaft ermöglicht uns zugleich abseits des medialen getöses einen offenen und vertrauensvollen Dialog, in dem wir auch Punkte ansprechen, in denen der reformprozess russlands noch nicht alle gewünschten Fortschritte erzielt hat, wie etwa den tschetschenienkonflikt, die Menschenrechtslage oder die innere Entwicklung in russland. Die Bundesregierung bringt gegenüber russland immer wieder zum ausdruck, dass Demokratie, rechtsstaatlichkeit und eine lebendige zivilgesellschaft Fundament und stärke der deutschen und europäischen gesellschaft sind. Deutschland sieht darin auch die grundlage für die künftige stärke russlands. neben den offiziellen, politischen Kontakten ist der rege gesellschaftliche austausch der solide grundstein der deutsch-russischen Beziehungen. hier können wir zeichen setzen und unterstützend tätig sein – und wir tun dies auch. zahlreiche, vor allem junge, Deutsche und russen nutzen etwa die Möglichkeiten unserer Förder- und austauschprogramme, um sich einen persönlichen Eindruck vom jeweils anderen land zu machen. allein im Bereich der Wissenschaft profitieren davon mehr als 15.000 studenten, Dozenten und Forscher. Wie viel Selbstdefinition und klare Positionierung braucht Deutschland, um überzeugend in den Dialog nach außen treten zu können? nur wer sich über sein selbstverständnis im Klaren ist, kann auch nach außen überzeugend auftreten. ich glaube, dass in unserer gesellschaft nach wie vor ein weitestgehender Konsens über unsere zentralen Wertvorstellungen, Meinungsvielfalt, Demokratie und Menschenrechte, herrscht. Dieses gesellschaftsmodell wollen wir in der Konkurrenz der ideen zur Diskussion stellen als ein Modell, das uns in Europa Frieden, sicherheit und wirtschaftlichen Erfolg gebracht hat. aus unseren historischen Erfahrungen in Europa haben wir gelernt, dass nur demokratische und freiheitliche Verhältnisse ein gedeihliches zusammenleben der Menschen und Völker garantieren. Vor allem aber haben wir gelernt, dass die größte europäische leistung darin besteht, interessenkonflikte friedlich zu lösen. ich glaube, gerade wir Deutschen können diesen kooperativen ansatz einer Friedenspolitik besonders glaubhaft vertreten – und sollten dies auch noch stärker tun.

Wie steht es in einem geeinten Europa um die Auswärtige Kulturpolitik? Es gibt bisher bi- und trinationale Projekte und Programme, aber keinen gemeinsamen kulturpolitischen Ansatz. Das stimmt so pauschal ja nicht, wenn wir uns die europäischen Programme ansehen, denen eine eigene – europäische – logik zu eigen ist. und zwar die, die „Einheit in der Vielfalt“ zu schützen und zu unterstützen. genau das macht ja die kulturelle Dimension der europäischen Einigung aus: dass sie nicht die national gewachsenen lebendigen Kulturen ersetzt, sondern diesen eine zusätzliche europäische Dimension eröffnet. Deswegen bilden die europäischen länder und hier insbesondere die staaten Mittel- und Osteuropas ja auch einen schwerpunkt der deutschen auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Wir tragen so aktiv bei zu einer besseren gegenseitigen Kenntnis und stärken so das kulturelle Fundament der europäischen identität. Kulturaustausch wird nicht nur positiv wahrgenommen. Die Nachricht, dass China in nächster Zeit weltweit 100 neue Konfuzius-Institute eröffnen will, hat nicht nur Reaktionen der Freude, sondern auch empfundener Bedrohung hervorgerufen. Welche Auswirkungen werden neue politische und wirtschaftliche Achsen für den Kulturdialog haben? ich kann daran nichts Bedrohliches ausmachen. im gegenteil halte ich es für überfällig, dass den immer enger werdenden wirtschaftlichen Verbindungen, zum Beispiel mit china, auch eine stärkere kulturelle Dimension zur seite gestellt wird. schon jetzt stellt china mit abstand die größte zahl der ausländischen studenten in Deutschland. Wir sollten uns freuen, dass unser land offensichtlich in Kultur und Bildung ein hohes ansehen bei den chinesen genießt. ich sehe das als chance. im Übrigen: der Kulturaustausch mit china ist, darauf legen beide seiten Wert, eine zweibahnstraße. Wir freuen uns daher nicht über das chinesische Kulturinstitut in Berlin, sondern wollen unsererseits dem goethe-institut in Peking baldmöglichst eine eigene zweigstelle in shanghai zur seite stellen. Das Beispiel darf gerne schule machen. Das Interview führte Jenny Friedrich-Freksa

Kulturaustausch 11/06


in EurOPa

Liebe Europäerinnen und Europäer! Müssen sie demnächst aus einem europäischen anlass vor Publikum sprechen? hier eine rede, die immer passt Von Michael Stavaric

Foto: Philips GmbH

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe überzeugte Europäer,

erfolgreiche und erfolglose Etappen in der geschichte unterscheiden sich dadurch, dass es mit hilfe von Potenzial und Eliten möglich war, langfristigen positiven Entwicklungen den Vorzug zu geben. Egoismus und altruismus sind Widersprüche, die es nur in wenig strukturierten gemeinschaften gibt. in strukturierteren aber, wie etwa der Eu, könnte man längst zu dem schluss gekommen sein, dass altruismus die klügere Form der interessenswahrung ist. Wir leben, ob es uns gefällt oder nicht, in einer Welt, in der das Funktionale und nicht das tribale entscheidet. Europäer zu sein bedeutet nicht, seine nationalität abzustreifen. Vielmehr müssen wir uns abgewöhnen, identitätsfragen von heute mit den „Kategorien des gestern“ zu betrachten. Wir brauchen kein „Euro Ethnos“, sondern ein vernetztes system, ein Demos und eine europäische gesinnung Es ist wichtig und richtig, wirtschaftlich aneinanderzuwachsen,regionale zusammenarbeit zu fördern und Europa als einen gemeinsamen

lebensraum zu achten – und zu schützen. Die schrittweise annäherung des wirtschaftlichen niveaus wird dazu beitragen, dass unterschiede weitestgehend angeglichen werden. natürlich wird es Differenzen geben, aber sind nicht angemessene Differenzen auch ein kulturelles und identitätstiftendes „Muss“? sind sie nicht die Basis für geistige Mobilität und physische Vitalität? Vergegenwärtigen wir uns: nur eine systemüberwindende Öffnung kann Wohlstand mit sich bringen. Ein kulturelles und politisches Miteinander wird von einer mündigen Bürgergesellschaft und einem demokratischen rechtsstaat getragen. unifizierer, identitätsstifter oder „nationale Bewahrer“ können uns nicht weiterhelfen. Die Europäische union ist in erster linie eine chance, die versteckte animositäten und Feindschaften, die sich im laufe des 20. Jahrhunderts in ihrer schlimmsten ausprägung auf dem Kontinent festsetzten, zu überwinden. sie hat einst als Friedensprojekt begonnen und stabilität, zusammenarbeit und gegenseitige achtung ermöglicht. heute gilt es allerdings mehr denn je, sich

für Freiheit, Demokratie, gleichheit, rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einzusetzen. Vergessen wir nicht, dass das „heute“ allzu oft von einem beiläufigen „nebenher“ geprägt ist, in dem das „Miteinander“, der „Brückenschlag“ zu inhaltsleeren Phrasen verkommen. Kluge, umsichtige taten sind gefragt, keine Mittäterschaften. Die Einheit Europas kann nur als eine Einheit politischer und wirtschaftlicher transparenz gewahrt werden, durch freiwillige teilnahme an der ökonomischen und politischen Praxis der Demokratie. Das fruchtbare und furchtbare Paradoxon, dass das transnationale gleichzeitig mit dem regionalismus, ja teilweise lokalismus einhergeht, macht die sache nicht leichter. letztendlich ist das, was wir Europa nennen – und davon bin ich überzeugt–nichtnureinekontinentale,vielmehr auch eine kulturelle Bestimmung. Wir brauchen weiterhin reformen, eine Entbürokratisierung und vitale umstrukturierung der gesellschaft, Budgettransparenz, eine neukonzeption der agenden „sicherheit“ und „gerichtsbarkeit“, neue Wege in der Export- und industriepolitik, wir müssen mehr denn je entschlossengegenKorruptionund turbokapitalismus vorgehen, die Wirtschaft restrukturalisieren,füreinausgeglichenesökonomischesWachstum, die Entwicklung menschlicher ressourcen und eine soziale tragfähigkeit sorgen. Da wir keine nation namens „Europäer“ haben, soll dies mit hilfe der nationale Differenz als ein Quell systemöffnender Dynamik gelingen. unsere identität wird eine kulturpolitische, keine machtpolitische leistung sein. Wir dürfen nicht vergessen, eine union ohne „nation“ als identifikationsfaktor, ist nicht a-national oder anti-national, sie ist rational. Diejenigen, die meinen, hier trockene anbotskonzepte, eine aufklärerische spätlese oder Ähnliches bekommen zu haben, übersehen die tatsache, dass auch die Vernunft als gesamtheit letztendlich emotional entscheidet. ich danke ihnen für ihre aufmerksamkeit. Michael Stavaric , geboren 1972 in Brno in der Tschechoslowakei. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Redenschreiber in Wien. Zuletzt erschienen von ihm „Europa – eine Litanei“ (kookbooks, Berlin 2005) und „stillborn“ (Residenz Verlag, St. Pölten 2006).

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Gespaltene Zunge Flamen und Wallonen sprechen nicht nur verschiedene sprachen, sie haben sich auch nicht mehr viel zu sagen Von Alois Berger Wenn Europa funktionieren soll, hat ein bel-

gischer schriftsteller einmal gesagt, muss es werden wie Belgien. Die Europäer müssten lernen, schwierige Kompromisse zu akzeptieren, damit sie auch dann zusammenleben können, wenn sie sich nicht übermäßig mögen. Darin haben die Belgier Übung. seit es das land gibt, wird es geprägt vom komplizierten Verhältnis der knapp sechs Millionen Flamen im norden und der rund vier Millionen Wallonen im süden. Die Flamen sprechen niederländisch, die Wallonen Französisch, und die künftige Elite lernt fleißig Englisch, damit man sich wenigstens in zukunft besser versteht. an der renommierten Vlerick Management school in gent beispielsweise wird ausschließlich in Englisch unterrichtet. „Damit es egal ist“, meint Vlerickstudentin Virginie, „aus welchem landesteil die Kommilitonen kommen.“

als sich das katholische Belgien 1830 von den protestantischen niederlanden abspaltete, da dachte man, dass eine einheitliche religion wichtiger sei als eine gemeinsame sprache. Vielleicht war das damals so. aber die religiöse Klammer hat nicht lange gehalten. heute sind es vor allem der König, die zweisprachige hauptstadt Brüssel und die belgische Fußballnationalmannschaft, die das land zusammenhalten. noch. „in ein paar Jahren wird auch der belgische Fußball in einen flämischen und einen wallonischen Verband aufgeteilt sein“, schätzt andré Vanderheyden, Manager der nationalelf. niemand wolle diese spaltung, die Fans nicht, die Funktionäre nicht und die spieler schon gar nicht. „aber der Druck aus der Politik ist enorm“, klagt Vanderheyden, alle anderen sportverbände seien längst sprachlich sortiert.

Man sieht das Schild vor lauter Schildern nicht: Kein Land ist so skurril organisiert wie Belgien 70

Dabei sind die harten auseinandersetzungen längst vorbei, die zeiten, in denen regierungen stürzten, weil ein Dorf bürgermeister sich weigerte, niederländisch zu reden. Flandern hat über die Jahre so viel autonomie bekommen, dass es oft kaum noch Berührungspunkte mit Wallonen gibt. Die politischen Parteien sind getrennt, die schulen, die universitäten. Flamen und Wallonen streiten sich nicht mehr, weil sie sich kaum noch begegnen. aber sie lieben sich auch nicht: Die zahl der Mischehen ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Jüngste umfragen sagen, dass inzwischen wieder mehr als 80 Prozent der Belgier zusammenbleiben und viele gerne wieder etwas mehr zusammenrücken würden. aber es wird immer schwieriger. Belgien ist längst zwei länder in einem. „Wenn ich wirklich wissen will, was in meinem land passiert“, klagt christiane Vierset, „muss ich die flämischen nachrichten um sieben und die französischsprachigen um halb acht anschauen.“ Das seien völlig unterschiedliche themen, unterschiedliche informationen, unterschiedliche Welten: „Die haben oft nichts miteinander zu tun.“ Madame Vierset gehört zu einer generation von Belgiern, die es bald nicht mehr geben wird. sie ist in einer flämischen Familie aufgewachsen, in der fast ausschließlich Französisch geredet wurde. ihr Vater hat sein geld in der wallonischen schwerindustrie gemacht. Französisch war die sprache des geldes, des gesellschaftlichen aufstiegs, der Mitgliedsausweis der Bourgeoisie. „Flämisch haben wir nur mit den Dienstboten gesprochen“, erzählt christiane Vierset. noch heute leben die besseren Kreise in flämischen städten wie gent oder löwen Französisch. aber sie wissen um ihre fragile Position. Mit dem zusammenbruch der wallonischen schwerindustrie nach dem Krieg und dem wirtschaftlichen aufstieg des einstigen Bauernlandes Flandern zur hightech-region haben sich die gewichte verschoben. zwei Drittel des belgischen sozialproduktes wurde plötzlich in Flandern erwirtschaftet. Die Flamen wollten sich nicht mehr der französischKulturaustausch 11/06

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In Europa

sprachigen Elite unterordnen und dafür auch noch bezahlen. Radikale Separatisten, die für die Auflösung Belgiens kämpften, hatten Zulauf. „Sie stürmten die Kirchen und trommelten auf die Bänke“, erzählt Christiane Vierset, „sie wollten in Flandern nicht einmal mehr französische Messen dulden.“ Die Regierung wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als das Königreich Belgien schrittweise in einen Bundesstaat umzubauen. In den letzten drei Jahrzehnten haben Flandern, Wallonien und die Region Brüssel immer neue Rechte bekommen. Sie sind selbständiger als alle anderen europäischen Regionen. Das hat dem Konflikt die Schärfe genommen, aber zu absurden Ergebnissen geführt: Sechs Parlamente für 10 Millionen Einwohner, sechs Regierungen und Teilregierungen, mehr als 50 Minister. Kein Land in Europa hat pro Kopf mehr Parlamente, mehr Regierungen und mehr Minister. Kein Land ist so unübersichtlich und so skurril organisiert wie Belgien, wo startende Flugzeuge eine Schleife über der Hauptstadt Brüssel drehen müssen, damit der Lärm gleichmäßig über flämisches und französischsprachiges Gebiet verteilt wird. Viele Belgier, auch Flamen, haben den Sprachenstreit satt. Doch die meisten Politiker sind noch nicht so weit. Da flämische Parteien nur von Flamen gewählt werden können, sehen sie ihre Hauptaufgabe darin, mehr Rechte für Flamen zu erkämpfen. Nicht anders ist das in den wallonischen Parteien. Schuldirektorin Sonja Vandehoef hat trotzdem Hoffnung. Sie leitet eine niederländischsprachige Schule in Brüssel. „Unsere Schüler kommen fast alle aus französischsprachigen Familien“, sagt sie, „und der Andrang wird immer stärker.“ Es habe sich herumgesprochen, dass es Vorteile bringt, wenn die Kinder später beide Sprachen können. Die flämische Gemeinschaft steckt viel Geld in diese Schulen, damit Brüssel auf diese Weise wieder stärker flämisch wird. So wie früher, bevor die flämische Bourgeoisie angefangen hat, Französisch zu reden. Doch die Kinder aus französischsprachigen Familien legen ihre Muttersprache nicht ab, nur weil sie auf eine flämische Schule gehen. Sie werden nicht flämisch, sie werden wallonischflämisch. Belgisch eben. Alois Berger lebt und arbeitet als freier Journalist in Brüssel.

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Das kann ich mir sparen Michael Gahler über die Dolmetscherkosten im Europäischen Parlament Meine Erfahrungen mit der Vielsprachigkeit im Parlament sind unterschiedlich: Grundsätzlich hat in allen Plenar-, Ausschuss-, und Fraktionssitzungen jede anwesende Sprache das Recht, in jede andere übersetzt zu werden. In kleinere Sprachen wird allerdings in den Ausschusssitzungen nur dann gedolmetscht, wenn ein Angehöriger dieser Sprache Vollmitglied des Ausschusses ist. Das ist sinnvoll, denn wenn es 22 Parlamentsausschüsse gibt, aber nur fünf Abgeordnete aus Malta oder sechs aus Estland, dann können sie sich maximal in fünf oder sechs Ausschüssen aufhalten. Also hat man keine Dolmetscher nur für den Fall, dass jemand in einem Ausschuss, in dem er selbst nicht Mitglied ist, „mal eben vorbeischaut“. Das Gleiche gilt für die Parlamentsfraktionen, in denen nicht jedes Mitgliedsland vertreten ist. Bei Terminen innerhalb der Europäischen Union außerhalb der Standorte Brüssel und Straßburg, so etwa bei externen Fraktionssitzungen, werden sieben oder acht Sprachkabinen mitgenommen und dann in die Sprachen gedolmetscht, die die meisten Reiseteilnehmer sprechen. Bei Delegationsreisen außerhalb der Europäischen Union ist das eine Kostenfrage. Beispiel: Wenn eine vierköpfige Delegation mit vier verschiedenen Sprache nach Südafrika reist, müssen theoretisch bis zu acht Dolmetscher mitkommen, weil jeweils einer in die Muttersprache und der andere in die Zielsprache übersetzt, und überdies nicht einer einen ganzen Tag ununterbrochen dolmetschen kann.Die Frage, die ich mir stelle, ist: Soll ich, weil ich Englisch kann, dem Steuerzahler die Kosten für die Dolmetscher ersparen? Kannn ich das Gleiche von den französischen Kollegen verlangen? Oder sollten die Deutschen aus Gründen der Gleichbehandlung ihre Sprache wie die Franzosen gedolmetscht bekommen? Am 1. Mai reiste ich nach Togo. Ursprünglich sollten zwei frankophone Kollegen und ich unterwegs sein. Weil ich gut Französisch kann, habe ich unserem Sekretariat gesagt: Spart dem Steuerzahler die Dolmetscherkosten, wir machen alles auf Französisch. Im konkreten Fall hat jetzt eine frankophone Kollegin abgesagt, deren Platz ein polnischer Kollege einnahm. Dieser spricht Deutsch und Englisch, aber kein Französisch. Nun reisten zwei Englisch-Dolmetscher mit, aber niemand, der Polnisch-Französisch übersetzt. Letztlich kann man vieles pragmatisch, aber auch prinzipiell sehen. Nur sind Prinzipien immer teuer. Wenn letztlich nur die Hälfte der Abgeordneten reisen kann, weil die andere Hälfte der Reiseplätze von Dolmetschern ausgefüllt wird, ist damit dem politischen Anliegen des Europäischen Parlaments in der Welt nicht unbedingt gedient.

Was das äußere Erscheinungsbild des Europäischen Parlaments betrifft, gibt es keine deutschen Aufschriften, trotz der Tatsache, dass in Straßburg und Brüssel die Mehrheit der Besuchergruppen deutschsprachig ist. Daneben hat sich insbesondere in Straßburg eine französische „Chasse gardée“, oder auf Englisch „closed shop“- Mentalität breit gemacht, die nur französische Ortskräfte einstellt, mit der Folge, dass vom Wachpersonal, über die Postverteilung bis zu den Bedienungen im Restaurant oder an den Kantinenkassen nur Französisch gesprochen wird. Diese sprachenspezifische Personalpolitik lässt sich auch auf der Ebene der Europa-Beamten verfolgen. Ich habe festgestellt, dass neu eingestellte Mitarbeiter aus Bulgarien und Rumänien mit Hochschulabschluss jeweils auch Englisch konnten, aber 67 Prozent der Bulgaren Französisch und nur 11 Prozent Deutsch und 88 Prozent der Rumänen Französisch und 12 Prozent Deutsch sprachen. Skandalös wurde der Vorgang erst durch meine Recherche bei EPSO, dem Amt, das für alle EU-Institutionen die Auswahlwettbewerbe durchführt. Es bietet die Bewerber dem Europäischen Parlament und ähnlichen Institutionen an. Dort stellte sich Folgendes heraus: Etwa gleich viele Bewerber wiesen die Sprachkombination Deutsch-Englisch und Französisch-Englisch auf. Interessierte Kreise der Parlamentsverwaltung haben also sprachpolitisch vorsortiert, um sicherzustellen, dass die frankophone Dominanz im Vergleich zu Deutsch erhalten bleibt. Deswegen stelle ich folgende Forderungen an die Verwaltung: Englisch sollte bei jedem Beschäftigten als Mutter- oder Fremdsprache vorhanden sein. Darüber hinaus ist sicherzustellen, dass in diesen Laufbahngruppen Deutsch und Französisch annähernd gleich als Mutter- oder Fremdsprache vertreten sind. Bei gleicher fachlicher Qualifikation ist Bewerbern mit mehr Fremdsprachenkenntnissen der Vorzug zu geben. Letztlich ist das Europäische Parlament aber immer noch die Institution, wo Vielsprachigkeit am ausgeprägtesten praktiziert wird und man es aufgrund des politischen Mandats der Abgeordneten letztlich auch er warten kann. Dass wir uns außerhalb offizieller Runden und ohne Simultanübersetzung in mehrsprachigen Kreisen in der Regel auf Englisch unterhalten, ist auch nahliegend. Und dass für jeden Kollegen mit umfassenderen Fremdsprachenkenntnissen genügend Gelegenheit bleibt, damit andere Kollegen zu beeindrucken, ist auch gewährleistet. Michael Gahler ist CDU-Abgeordneter im Europäischen Parlament.

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4,7 Prozent Europa Europa pflegt seine eigenen Debatten. Diese sind nicht vorrangig von den großen globalen Fragen geprägt. Will die Eu sich im 21. Jahrhundert behaupten, dann muss sie vor allem eines sein: groß

Von Ulrike Guérot

Europäischen ratspräsidenten, die Einführung des „Nein“ zur Europäischen Verfassung vor einem Jahr Postens eines Europäischen außenministers, eine befindet sich Europa in einer Krise, die euphemistisch bessere Mitwirkung der nationalen Parlamente an den „Denkpause“ genannt wird. Die Frage, wie es nun weieuropäischen Entscheidungsprozessen, vertragliche tergehen soll mit Europa, liegt auf dem tisch: Welche Möglichkeiten, um die Integration im Bereich der Grenzen soll die Eu haben? Wie weit, wie tief soll die Europäischen sicherheits- und Verteidigungspolitik Integration gehen? Diese Fragen sind jedoch nicht neu. weiter voranzutreiben, sowie neue Möglichkeiten Die Eu denkt seit etwa 40 Jahren darüber nach, und im Bereich der Innen- und Justizpolitik. außerdem eigentlich hat Europa nie etwas anderes getan, als über enthält er die Europäische Grundrechtscharta, die Dr. Ulrike Guérot ist Senior sich nachzudenken und sich stets in Frage zu stellen. bereits 2000 verabschiedet wurde, die aber gleichsam Transatlantic Fellow beim Jedoch haben sich verschiedene gewohnte, außenpo- German Marshall Fund of the Verfassungsrang erhalten hätte. United States in Berlin. Zuvor litische Parameter der Europäischen union drastisch aber die Bürger – zumindest die französischen war sie Direktorin der „Euverschoben. Zum einen rückte die Eu-Osterweiterung ropean Studies“ am German und die niederländischen – wollten diese Verfassung immer näher. Zum anderen hatten die Ereignisse des Council of Foreign Relations. nicht, und mutmaßlich wäre ein referendum auch Ulrike Guérot lebt in Berlin. 11. september der sicherheitspolitischen Diskussion mit in Deutschland knapp ausgegangen. Dabei war dies dem Begriff des asymmetrischen Krieges gegen terror kein Votum gegen den text noch ein Votum gegen die eine neue Dimension gegeben. schließlich hat der transeuropäische Integration als solche. Es war ein Votum atlantische Bruch einiger europäischer staaten mit den gegen das Europa von heute, in dem sich vor allem jene usa über den Irak-Krieg auch hier die üblichen Muster europäischer nicht mehr wiederfinden, die schon lange dabei sind: die Gründungsund transatlantischer Politik aus den Zeiten des Kalten Krieges end- nationen. abgesehen davon, dass ein großer teil der Neinstimmen gültig überholt. Eigentlich Zeit zu handeln, und Europa fit für die Proteststimmen gegen die eigene, nationale regierung waren, lag der „Moderne“, das 21. Jahrhundert zu machen. Doch das unterblieb. tiefere Grund des „Nein“ eher im Wachsen der Eu. Mit dem Vertrag von Nizza blieb die Eu institutionell – auch was „Erweiterungsmüdigkeit“ ist das Modewort in dieser Diskussion. ihren haushalt anbelangte – nur ungenügend auf die anstehende Die „Kosten der Erweiterung“ werden diskutiert, und sie scheinen Osterweiterung vorbereitet. aus der Not wurde eine tugend gemacht, zu hoch. Europa gibt nur und erhält nichts, so ist der unterton. Die das Instrumentarium der regierungskonferenz wurde ad acta gelegt sehnsüchte nach dem alten, kleinen „Europe de charlemagne“ oder und ein Europäischer Verfassungskonvent einberufen. „Kerneuropa“ sind groß, zumal weitere länder an die tür der Eu Der Verfassungskonvent, der 2002 begann, war eine gute Idee. klopfen: voraussichtlich 2007 werden rumänien und Bulgarien Zusammen mit regierungsvertretern verhandelten Vertreter sowohl dazustoßen, mit der türkei und Kroatien hat die Eu bereits offiziell des Europäischen Parlamentes wie auch der nationalen Parlamente Verhandlungen aufgenommen; die Balkan-staaten haben eine Perüber einen Vertragstext, der viele Elemente enthielt, die die euro- spektive für eine Eu-Mitgliedschaft bekommen. Dahinter gibt es päische Integration vorangetrieben hätten. Der text, der 2003 von wiederum eine reihe von ländern, die sich eine Beitrittsperspektive den staats- und regierungschefs der Eu einstimmig verabschiedet erhoffen, wie etwa Georgien, Moldawien oder die ukraine. Die Eu wurde, enthält weit reichende Neuerungen wie etwa die Wahl eines steckt in dem Dilemma, dass sie unglaublich attraktiv für alle län72

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Foto: German Marshall Fund of the United States

Seit dem französischen und dem niederländischen


Forum

der ist, die draußen sind, aber unpopulär in allen, die drinnen sind. eng geworden. Einen Schritt weiter könnte man skizzieren, wie sich Zusätzlich befindet sich die EU in dem Dilemma, dass sie als EU, als die EU institutionell besser und geschlossener aufstellen könnte, um Akteur in der Welt, längst für alle anderen Staaten in der Welt sichtbar gerade international mehr als Akteur wahrgenommen zu werden ist und einige Regionen dieser Erde, wie etwa die ASEAN-Staaten und um durch das Zusammenlegen von „Souveränität“ den interoder etwa die Mercosur-Staaten in Lateinamerika, bemüht sind, nationalen Einfluss zu erhöhen. Dazu würden gewichtige Schritte gleichartige regionale Kooperationsformen aufzubauen, während gehören, wie etwa die Vertretung der EU durch die „Eurogruppe“ den meisten Europäern nicht klar zu sein scheint, dass Europa als im G-8, ein EU-Sitz im IWF, ein europäischer Sitz im Sicherheitsrat solches in der Welt bereits gut zu sehen ist. Was europäisch ist, weiß der Vereinten Nationen oder die konsequente Verfolgung des Ziels einer „europäischen Armee“, so wie dies ansatzweise auch schon in und fühlt man außerhalb Europas am besten! Vielleicht führt Europa also die falsche Debatte? Zumindest scheint den so genannten „Headline Goals“ der EU bereits skizziert ist. Nadie europäische Selbstwahrnehmung nicht mit der Außenwahrneh- türlich wäre dazu zumindest die Verabschiedung der Europäischen mung in Einklang zu sein. Dies zeigt zumindest, dass sich die EU Verfassung notwendig; im Grunde aber eine viel weiter gehende nicht ihrer Verantwortung für die Welt und ihre internationalen institutionelle Reform der EU. Belange, ganz speziell der Verantwortung für ihre Nachbarstaaten, Diese sollte man auch nicht nur als Gewinn von Handlungsentziehen kann. Mehr noch: Sie sollte in ihrem eigenen Interesse eine macht verstehen, sondern viel banaler, als Sicherung des derzeitigen europäischen Platzes in der Welt. Hochrechnungen zufolge wird auf Öffnung bedachte Diskussion führen. In der Diskussion über die Zukunft Europas sollte daher mit im Jahre 2050 Europa zusammen mit den USA, also der „Westen“, einigen Dichtonomien aufgeräumt werden. Die wichtigsten und zu- nur noch etwa 7 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, wovon gleich schlimmsten Dichtonomien der derzeitigen Diskussion sind, 4,7 Prozent auf die EU entfallen. Es ist daher vermessen anzunehmen, dass eine weitere Erweiterung nur um den Preis der Vertiefung zu dass 7 Prozent der Weltbevölkerung allein über die Geschicke und haben ist, dass ein „Kerneuropa“ oder eine „Politische Union“, wie die Entwicklung der internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert einst angestrebt, nur zu haben sind, wenn jetzt keine weiteren Länder weltweit bestimmen werden. Multi-Polarität – obgleich ein unschönes mehr dazu kommen. Die zweite, ebenso gefährliche Dichtonomie ist, Wort – ist längst Realität in den internationalen Beziehungen. Vor dass sich Europa wirtschaftlich abschotten muss, um ökonomisch diesem Hintergrund sollte sich die EU entsprechend als internatiowieder zu erstarken. Diese Debatte wird in zwei Lagern geführt, von denen das eine die EU gerne als Bollwerk gegen Globalisierung sehen würden; das andere die EU Die EU ist offensichtlich in dem Dilemma, dass als Treibkraft für weitere Liberalisierung und Reformen. sie attraktiv für alle Länder ist, die draußen sind, Und die dritte, vielleicht falsche Debatte ist jene über die aber unpopulär in allen, die bereits in ihr sind so genannte Finalität der Europäischen Union. Wo hört sie auf? Wo will sie hin? Unterhalb dieser Ebene laufen Sub-Debatten, wie etwa jene von „nationaler Kompetenz“ versus naler Akteur aufstellen. Die Transzendenz des Nationalstaates als „europäischer Kompetenz“, die ebenfalls ins Leere laufen und wenig wirkungsmächtigen Entscheidungsrahmens und Akteur für Politik ist im 21. Jahrhundert vorgezeichnet. zur Klärung der augenblicklichen Probleme beitragen. Wer Europas Zukunft skizzieren möchte, muss sich die vermeintDenn die EU als Ganzes hat ein Interesse, zum Beispiel den Binnenmarkt zu erhalten, außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen, lichen Dichtonomien auflösen. Nehmen wir die Erweiterungsdiseine gemeinsame Strategie für Migration und Flüchtlingsströme zu kussion. Vielleicht muss Europa die Kosten der Nicht-Erweiterung entwickeln, ihre Energiesicherheit und Versorgung sicherzustellen, diskutieren anstatt die Kosten der Erweiterung? Die Kosten der eine konstruktive Strategie zu entwickeln, um den Folgen der Globa- Nicht-Erweiterung wären politischer, ökonomischer, kultureller und lisierung offensiv zu begegnen, um die Prinzipien von Demokratie, geo-strategischer Natur. Rechtsstaatlichkeit, „good governance“ sowie den Wertekanon der Nun muss „Erweiterung“ nicht unbedingt eine „schnelle“ VollEuropäischen Grundrechtscharta in den internationalen Institutionen mitgliedschaft bedeuten. Aber negiert werden kann nicht, dass und auf der internationalen Bühne auszudehnen und zu verteidigen; sich Europa im eigenen Interesse mehr um seine Anrainerstaaten um das europäische Sozialmodell international anzupassen wie zu kümmern muss. Politisch hat die EU, dies wurde durch die letzte modernisieren. Erweiterungsrunde bewiesen, „transformative Kraft“. Allein die PerDies alles sind Aufgaben, von denen die meisten Menschen heute spektive, sich der EU anzunähern, motiviert viele der angrenzenden sagen würden, dass sie national nicht mehr zu lösen sind und einer Länder, weit reichende politische wie ökonomische Reformen in europäischen Handlungsebene bedürfen. Der Nationalstaat ist dafür Angriff zu nehmen, hin zu Demokratie und Marktwirtschaft, die als strategischer Handlungsrahmen und für effiziente Lösungen zu zentral in europäischem Interesse und nicht nur der Länder selbst Kulturaustausch 11/06

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Forum

sind. Ökonomisch sind dort ebenfalls die Wachstumspotentiale. Die Türkei zum Beispiel hat prognostizierte Wachstumsraten von 6 bis 10 Prozent für die nächsten zehn Jahre, von denen Deutschland nur träumen kann. Im europäischen Interesse wäre es, diese Wachstumsimpulse auszunutzen, anstatt sich vor ihnen abzuschotten. Kulturell steht ebenfalls viel auf dem Spiel, gerade mit Blick auf die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Derzeit gibt es eine aktuelle Diskussion über Zuwanderung und Integration. Es ist klar, dass sich vor allem Deutschland allein aus demographischen Gründen einer erhöhten Öffnung für Zuwanderung nicht entziehen kann, seine Integrationspolitik verbessern muss. Fakt ist aber, dass die Türkei nicht von der Landkarte verschwindet, wenn sie nicht in die EU kommt – oder dass die deutschen Integrationsprobleme dadurch geringer würden. Wir können uns einen Umgang mit der Türkei nicht wegdenken, indem wir einfach die Beitrittsperspektive aufgeben. Inzwischen haben die Verhandlungen begonnen, aber zugleich kursieren Gerüchte über deren Suspendierung. Hier geht es weder um irgendein überstürztes Verfahren noch darum, bei der Türkei die Augen bezüglich der zu erfüllenden Kriterien zuzudrücken. Die Verhandlungen werden lang und zäh. Es gibt unzählige Probleme, wie etwa die Kurdenfrage, Armenien oder Zypern. Hier wird die Türkei die europäischen Standards in Sachen Menschenrechte hundertprozentig erfüllen müssen. Auf der anderen Seite ist die Aufnahme der Türkei in die EU vielleicht die wichtigste und entscheidendste außenpolitische Frage des 21. Jahrhunderts, wenn es darum geht, Samuel Huntingtons

Hochrechnungen zufolge wird 2050 Europa zusammen mit den USA, also der Westen, nur noch 7 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen Buch vom „Clash of Civilizations“ zu widerlegen. Die EU hat – heute vielleicht als einzige politische Einheit – die Chance, eine kulturelle Brücke zur muslimischen Welt zu schlagen und auf der Basis von Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, „good governance“ und Marktwirtschaft zu demonstrieren, dass die EU eben kein „christlicher Club“ ist. Die Signalwirkung für die ganze Welt – von Brasilien bis Australien – wäre enorm. Und jeder, der sich, insbesondere nach den Anschlägen des 11. September, nicht darauf einlassen will, dass der Grundkonflikt des 21. Jahrhunderts jener zwischen dem „Westen“ und der „muslimischen“ Welt wird, sollte diese Entscheidung und die Verhandlungen der EU mit der Türkei daher mit großem Augenmerk verfolgen. Was den Balkan anbelangt, so ist das Problem vergleichbar: Die Antwort auf die dortigen Probleme kann nicht lauten, diesen Staaten eine EU-Beitrittsperspektive zu verwehren. Aber es muss gleichzeitig 74

klar sein, dass wir starke institutionelle Lösungen brauchen, denn sieben weitere, kleinere EU-Staaten kann das institutionelle System der EU derzeit nicht verkraften. Ebenso in die Leere läuft die Annahme, dass eine politische Union nur im Kreise einiger weniger Staaten zu haben ist. Es ist schwer, sich eine schlagkräftige Kerngruppe der EU vorzustellen, deren Mitgliederzahl unterhalb der Euro-Gruppe liegt. Denn es ist in der Tat der Euro, mehr als der Binnenmarkt, der immer mehr politische Integration notwendig macht. Daher darf man annehmen, dass die EU durch die Ausbreitung des Euro auch immer mehr Gravität und Schwerkraft entfalten wird, wenn die neuen Mitgliedsländer zum Euro dazustoßen. Natürlich ist es vorteilhaft, wenn, wie derzeit in den Verhandlungen mit Iran, die drei „Großen“ die Führung übernehmen. Ihre Stärke aber ziehen sie letztlich daraus, dass die EU ihnen folgt. Führung in der EU darf nicht mit der Frage eines „Kerneuropa“ verwechselt werden. Wenn die EU als Politische Union heute stark sein will, dann muss sie dafür auch groß sein. Die „Kerneuropa“-Debatte führt zurück in das Europa der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Was Europa aber heute braucht, ist eine Zusammenführung der „Kerneuropa“-Debatte’ mit den geo-strategischen Notwendigkeiten der EU! Die Formel dafür ist die alte: Erweiterung erzwingt mehr Vertiefung; Vertiefung erlaubt mehr Erweiterung. Beide gehören zusammen! Am wichtigsten aber wäre es, die „Finalitätsdebatte“ zu beenden. Die EU ist mehr denn je Projekt und Prozess zugleich, jedenfalls nicht statisch. Die EU kann nicht vom Ende her gedacht werden, weder was ihre Grenzen noch was ihre Integrationsdichte anbelangt. Die EU muss mit der Zeit gehen, und vielleicht ist dies ihre größte Stärke, denn es hält sie flexibel, um auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts zu reagieren. Dies ist vielleicht ihre größte Stärke in einem Zeitalter, in dem flexibles Handeln wichtig sein wird. Der EU ist es damit gegeben, sich jeweils auf neue historische Entwicklungen einzustellen und anzupassen. Damit ist gemeint, dass zum Beispiel die Frage des Beitritts der Ukraine zur EU heute nicht mit letzter Verbindlichkeit beantworten kann noch sollte. Man kann es vielleicht 2016 entscheiden, auf der Grundlage von Fakten und Gegebenheiten, die dann real sein werden. Aber die EU sollte sich heute nicht die Chance verbauen, dass Die Aufnahme der Ukraine vielleicht 2016 von Vorteil für sie sein könnte. Um mit der griechischen Mythologie zu enden, könnte man die EU vielleicht mit dem Mythos von Sisyphus vergleichen: Europa, die EU, ist der Stein, an dem wir alle rollen und der vielleicht nie auf dem Berg liegen bleiben wird. Aber wer Albert Camus’ Essay über den Mythos von Sisyphus gelesen hat, der weiß, das Sisyphus ein glücklicher Mann war! Der Stein, in diesem Fall die EU, ist gleichzeitig unser Interesse und unsere Identität!

Kulturaustausch 11/06


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Foto: Bundeszentrale für politische Bildung

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Foto: privat

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PrEssEsPIEGEl

Goethe-Institute

Judas-Evangelium

Russlands Public Diplomacy

Über die geplante Schließung der öffentlichen Räume des Goethe-Instituts Kopenhagen

Die Übersetzung des Judas-Evangeliums wurde erstmals veröffentlicht

Russland möchte im Vorfeld des G8-Gipfels in St. Petersburg im Juli sein Image verbesssern

Es ist klar, dass es in Kopenhagen künftig kein voll funktionstaugliches Goethe-Institut mehr geben wird. [...] Wir sind davon überzeugt, dass man in der Kulturabteilung des auswärtigen amts schon lange darauf wartet, dass das Goethe-Institut, nach Dutzenden Konzepten und strategiepapieren, Programmkonferenzen und Expertenbefragungen, selber einmal sagt, was es will, was es kann und was es unter Kulturarbeit versteht.

Der Verschluss, unter dem das Dokument gehalten worden zu sein scheint, ist von James robinson, dem altmeister der Koptologen, gerügt worden [...]. Doch mit aller Geheimniskrämerei hat es nun ein Ende. Der tV-Palmsonntag wird, wenn schon nicht als Ereignis der heilsgeschichte, so doch als eines der neueren Offenbarungsgeschichte registriert werden dürfen – auf Neudeutsch: als Public-relations-Event.

Thomas Steinfeld in SÜDDEUTSCHE ZEITUNG (München) am 23. März und 5. April 2006

Uwe Justus Wenzel in NEUE ZÜRCHER ZEITUNG am 8. April 2006

Ich jedenfalls habe noch nicht gehört, dass dieses Institut geschlossen werden soll.

Nicht jeder alte text auf Papyrus, den man im Wüstensand findet, ist unbedingt weise. [...] Kurz, die Entdeckung des Evangelium nach Judas ist eine schöne Kuriosität, die zu einem großen Ballon aufgeblasen wurde. Ein archäologischer Fund zweifelhafter herkunft eines ketzerischen textes, der seinerzeit vom kirchlichen Kanon ausgeschlossen wurde. Die Erwartung, dass er die haltung der Kirche gegenüber der Figur des Judas Ischariot verändern könnte, ist absurd.

Die Eliten in Moskau sind besorgt, dass das treffen der G8 -spitzen in st. Petersburg im Juli zu einer Public-relations Katastrophe werden könnte, wenn die Vereinigten staaten mit dem fortfahren, was man dort als „Informations-Krieg“ wahrnimmt. [...] Einige Kritik aus den usa in den letzten zwei Monaten kam den russen vor wie rhetorik aus dem Kalten Krieg, die die aufmerksamkeit vom Irak und Washingtons eigenen Zielen im ausland ablenken soll. [...] aber analysten sagen voraus, dass die charme-Offensive eher auf asien oder südamerika als die usa und Westeuropa zielen sollte, denn Moskau hat wachsende handels-, Militär- und Energieverbindungen mit diesen beiden regionen.

Jutta Limbach im DEUTSCHLANDRADIO (Berlin) am 23. März 2006

Vielleicht ist auch jetzt erst der Zeitpunkt gekommen, an dem Konsens darüber besteht, dass die weltpolitische Nachkriegsordnung der Vergangenheit angehört, endgültig. Das Goethe-Institut sollte in dieser Ordnung nach 1949 Vertrauen stiften, vor allem unter den alten Kriegsgegnern, andere, bessere seiten der deutschen Gesellschaft dokumentieren. Das ist jedoch kaum noch nötig, denn trotz rückschlägen und Erweiterungsakrobatik wächst Europa aus eigener Kraft zusammen. trotzdem sind noch immer 50 Prozent aller Mittel des Goethe-Instituts in Europa gebunden. Das ist ein anachronismus. In Italien ist Deutschland mit sieben, in china mit anderthalb Instituten vertreten.

Benny Ziffer in HAARETZ (Tel Aviv) am 14. April 2006

In globaler Perspektive mag das plausibel erscheinen. Diese Perspektive bringt allerdings auch das trugbild hervor, der Westen sei sich seiner selbst sicher, die innerwestliche Verständigung daher eine höchstens noch zweitrangige aufgabe. Wie man in Europa beobachten kann, ist dem nicht so. Europa wächst nicht von allein zusammen.

Dennoch ist das Judas Evangelium eine Eröffnung. Denn erstens ist es nützlich daran erinnert zu werden, in Zeiten erneuten Fundamentalismus, dass religionen kein Fundament haben: dass die unfehlbaren texte und unangefochtenen heiligtümer jeden Glaubens das Werk von Menschen und Zeit sind. Jede Orthodoxie ist eine augenblicksaufnahme. [...] auch hat das neue Evangelium eine Faszination – besonders für sympathisierende Freidenker – denn es erinnert uns an die literarische Kraft der kanonischen Evangelien, insbesondere wegen ihrer Verbindung des Göttlichen mit dem allgemeinplatz. Wir wollen ein bißchen hicksville und ein bißchen himmel in unseren heiligen schriften, Materie, Mensch und Magie in einem.

Eckhard Fuhr in DIE WELT (Hamburg) am 6. April 2006

Adam Gopnik in THE NEW YORKER am 17. April 2006

Thomas E. Schmidt in DIE ZEIT (Hamburg) am 30. März 2006

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Tom Parfitt in THE BOSTON GLOBE am 11. April 2006

Es gibt nämlich einen Begriff wie Informationskriege. Zwar stammen sie nicht aus sowjetzeiten, sondern sind viel älteren Datums. Das Verschwinden der udssr hat, wie das leben selbst beweist, an der russenphobie nichts geändert. Das „neue Denken“, von dem Gorbatschow träumte, hat sich nun einmal nicht eingestellt. schließlich gibt es auch noch das historische Gedächtnis. spricht man erst von ethnisch bedingten Phobien, so ist es eine weitere unerschöpfliche Quelle von vergiftetem Wasser. [...] Zudem sind die russischen Fachleute auf dem Gebiet der außenpolitischen Propaganda (entschuldigen sie mir das altmodische Wort) längst ins rote Buch eingetragen. Pjotr Romanow in RIA NOVOSTI (Moskau) am 4. Mai 2006

Das Problem der russischen Experimente mit „soft power“ ist, dass sie kein Vorbild haben. [...] soft Power kann ein wirkungsvolles Instrument sein, sobald Menschen in anderen ländern auf die art leben wollen wie Menschen in russland. Bis dahin bleiben nur die traditionellen Instrumente der außenpolitik: Gewalt und Bestechung. KOMMERSANT (Moskau) am 26. April 2006 Kulturaustausch 11/06


Eigenanzeige

56. Jahrgang | 6 Euro

Herausgegeben vom Institut für Auslandsbeziehungen

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China auf dem Weg nach oben

In dieser Ausgabe Ian Buruma : > Wbbe :hWY^[ Pan Yue : > Whced_[d _d =h d Noam Chomsky: :[h l_[hj[ 8beYa Tian Mansha: :_[ Ef[hdZ_lW ifh_Y^j Tilman Spengler: F[a_d] Simone Young: M[_^dWY^j[d _c @kb_ Paul Nolte: :W^h[dZeh\i ?dj[bb[ajk[bb[

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Demokraten 1/2006 – Fernbeziehungen Abbas Khider: Die Gespenster der Heimat

abbas Khiders Beitrag hat mir mehr über den irak erzählt als alles, was täglich in den nachrichten kommt. sein Entsetzen angesichts der täglichen und beiläufigen gewalt. seine Einsicht, dass ein Volk, das jahrelang unter Diktaturen lebt, Demokratie erst lernen muss, schritt für schritt. und dass Demokratie in der achtung voreinander beginnt, in der inneren haltung, unabhängig zu sein, nicht opportunistisch. Dr. Petra Gropp, Frankfurt am Main

Präsidentinnen 1/2006 – Fernbeziehungen Julianne Smith: Mrs President

gerne und mit großem gewinn lese ich „Kulturaustausch“. in der neuesten ausgabe ist mir jedoch eine kleine unkorrektheit aufgefallen. sie schreiben unter dem titel „Mrs. President“, dass noch nie eine Frau für das höchste amt der usa kandidiert habe. Das stimmt so nicht. 1872 hat Victoria Woodhull dafür kandidiert, da sie das Wahlrecht für alle Bürger auch auf Frauen bezogen gesehen hat. sie ist in der Folge in Vergessenheit geraten. Es wäre aber gut, wenn an diese mutige und engagierte Frau, die nicht den damals üblichen Vorstellungen von dem, was eine Frau zu tun und zu lassen hat, entsprach, erinnert wird. insgesamt jedoch ein großes lob und ein herzliches Dankeschön für ihre arbeit. Inge Utzt, MdL, Kulturpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion Baden-Württemberg

Gute Arbeit ihre zeitschrift gefällt mir ganz ausgezeichnet und ist mir eine große hilfe zur Vorbereitung meiner Vorträge. Weiter so! Jörg-Eckart Allkämper, Leverkusen

Kulturaustausch zuletzt erschienene themenhefte: 1/2006 Fernbeziehungen – Kommen wir zusammen?

3+4/2005 Deutschland von außen –

Wie andere uns sehen 2/2005 Die Macht der Moral – religion und Politik im 21. Jahrhundert

1/2005 Besser werden – Welchen Fortschritt wollen wir?

4/2004 Wissensgesellschaft –

Kampf um kluge Köpfe 3/2004 Die heimlichen Herrscher –

Politik mit nationalen Bildern und stereotypen 2/2004 Weltsprache Musik –

Wie global klingt die Welt? 1/2004 Kunst zieht an –

Die rolle der Kunst in den internationalen Kulturbeziehungen 4/2003 Willkommen im Club –

Die europäische union sucht ihre Bürger 3/2003 Afrika –

Patient oder Partner? 2/2003 Wertsache Familie –

Der alte Kontinent und seine Kinder 1/2003 Im Bann der Vergangenheit –

Deutsch-russische Begegnungen zu bestellen unter conbrio@pressup.de Weitere informationen unter www.ifa.de Kulturaustausch 11/06


iMPrEssuM

Neue ifa-Präsidentin ursula seiler-albring ist im März 2006 zur neuen Präsidentin des instituts für auslandsbeziehungen (ifa) gewählt worden. sie löst alois graf Waldburg-zeil ab, der das amt acht Jahre innehatte und dessen zweite amtszeit im Mai 2006 ausläuft. seiler-albring, studierte soziologin, Politikwissenschaftlerin, Psychologin und staatsrechtlerin war 1983 bis 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages, gewählt über die landesliste Baden-Württemberg der FDP. Von 1991 bis 1995 arbeitete sie als staatsministerin für Europäische angelegenheiten im auswärtigen amt. seit 1995 war sie als Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland tätig: zunächst in Wien, ab 1999 in sofia und seit 2003 in Budapest. im sommer 2006 scheidet sie aus dem diplomatischen Dienst aus. sie will in ihrem neuen amt ihrem Verständnis nachkommen, dass „die Vermittlung von Kultur im ausland außenpolitik ist“.

Kulturaustausch – zeitschrift für internationale Perspektiven erscheint vierteljährlich mit dem ziel, aktuelle themen der internationalen Kulturbeziehungen aus ungewohnten Blickwinkeln dar zu stellen. autoren aus aller Welt tauschen sich über Wechselwirkungen zwischen Politik, Kultur und gesellschaft aus. Die zeitschrift erreicht leser in 146 ländern. Ein schwerpunktthema in jeder ausgabe fokussiert die wachsende Bedeutung kultureller Prozesse in der globalisierten Welt. Kulturaustausch wird vom institut für auslandsbeziehungen (ifa) herausgegeben und durch das auswärtige amt finanziell unterstützt. Das institut für auslandsbeziehungen engagiert sich weltweit für Kulturaustausch, den Dialog der zivilgesellschaften und die Vermittlung außenkulturpolitischer informationen. als führende deutsche institution im internationalen Kunstaustausch konzipiert und organisiert das ifa weltweit ausstellungen deutscher Kunst, fördert ausstellungsprojekte und vergibt stipendien. Das institut für auslandsbeziehungen bringt Menschen aus unterschiedlichen Kulturen in internationalen Konferenzen und austauschprogrammen zusammen und unterstützt die zivile Konfliktbearbeitung. Das ifa engagiert sich in vielfältigen Projekten mit nationalen und internationalen Partnern wie stiftungen und internationalen Organisationen. Die ifa-Fachbibliothek in stuttgart, das internetportal www.ifa.de und die zeitschrift Kulturaustausch gehören zu den wichtigsten informationsforen zur außenkulturpolitik in Deutschland.

impressum Herausgeber: Institut für Auslandsbeziehungen Generalsekretär Dr. Kurt-Jürgen Maaß

Redaktionsbeirat: Theo Geißler, Verleger, Mitglied des Deutsch-Französischen Kulturrates, Regensburg

Chefredaktion: Jenny Friedrich-Freksa

Michael Häusler, Auswärtiges Amt, Berlin

Redaktion: Friederike Biron, Naomi Buck, Nikola Richter

Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun, Redaktionsleiter SWR International, Stuttgart

Mitarbeit: William Billows, Valentina Heck, Susan Javad, Lisa Schreiber, Eileen Stiller

Dr. Hazel Rosenstrauch, Chefredakteurin Gegenworte, BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin

Redaktionsassistenz: Birgit Hoherz, Christine Müller Gestaltung: Eberhard Wolf editorials Gauting/ München Schlussredaktion: Gabi Banas, Alfred Frank Kulturaustausch 11/06

Dr. Claudia Schmölders Historikerin und Publizistin Humboldt-Universität Berlin Prof. Dr. Olaf Schwencke, Präsident der Deutschen Vereinigung der Europäischen Kulturstiftung für kulturelle Zusammenarbeit in Europa, Berlin

Eberhard Wolf, Art Director Süddeutsche Zeitung, München Redaktionsadresse: Linienstr. 155 10115 Berlin Telefon: (030) 284491-12 Fax: (030) 284491-20 Email: kulturaustausch@ifa.de http://www.ifa.de Objektleitung: Sebastian Körber Institut für Auslandsbeziehungen Charlottenplatz 17 70173 Stuttgart Telefon: (0711) 2225-0 Fax: (0711) 2264346 Email: info@ifa.de Verlag: ConBrio Verlagsgesellschaft mbH Brunnstr. 23 93053 Regensburg Telefon: (0941) 945 93-0 Fax: (0941) 945 93-50

Email: info@conbrio.de Anzeigenakquise: Elke Allenstein Telefon: 0163/2693443 Email: allenstein@conbrio.de Abonnement und Vertrieb: PressUp GmbH Telefon: (040) 41448466 Email: conbrio@pressup.de Postvertriebszeichen: E 7225 F ISSN 0044-2976 KULTURAUSTAUSCH erscheint vierteljährlich. Bezugspreis pro Jahr (4 Hefte): 20 Euro und Zustellgebühr. Preis Einzelheft: 6 Euro. Bestellungen über Verlag oder Buchhandel. Für unverlangt eingesandte Manuskripte aller Art wird keine Gewähr geleistet.

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hOchschulE

„Wir werden glücklicher“ ruut Veenhoven ist Direktor der „World Database of happiness“, der größten glücksdatenbank der Welt: tausende von umfragen aus aller Welt hat der rotterdamer Professor gesammelt, um eine Frage zu beantworten: Was ist glück?

Im Zuge Ihrer Untersuchungen rund um den Globus, sind Ihnen da andere Auffassungen von Glück begegnet? Es gibt kulturelle unterschiede, was Menschen glücklich macht. aber nach meiner Definition ist der Wunsch, das leben zu genießen, auf der ganzen Welt gleich, ebenso wie es Kopfschmerzen überall auf der Welt gibt. aber es mag unterschiedliche Meinungen darüber geben, was Kopfschmerzen verursacht. Wie untersuchen Sie Glück? zufriedenheit hat damit zu tun, was sie von ihrem leben halten. ihre zufriedenheit beschäftigt sie, demzufolge kann man sie durch gespräche messen. Etwa indem man sie bittet, diese auf einer skala von 1 bis 10 anzugeben. und weil diese Fragen so simpel sind, kann man mit ihnen große Bevölkerungsforschungen durchführen, in westlichen ländern etwa durch telefoninterviews oder im netz. Kann man von Glücklichsein-Trends sprechen? ich lese die Daten so, dass wir insgesamt glücklicher werden. in Europa und in den Vereinigten staaten hat die lebenszufriedenheit in den vergangenen 30 Jahren zugenommen. Der trend ist nicht sehr groß, aber bedeutend.

von dem sich die meisten länder erst allmählich erholen. im Fall russlands spielte sich wirklich Dramatisches ab. in den ersten Jahren nach dem regimewechsel verbesserte sich die lage, doch dann kam die rubelkrise, und auf der glückskala ging es um zwei Punkte abwärts, was enorm ist.

Spielt das Geschlechterverhältnis allgemein eine Rolle? Dort, wo das leben der Männer strikt von dem der Frauen getrennt wird, und wo die Frauen diskriminiert werden, wie etwa in saudi-arabien, ist die generelle lebenszufriedenheit viel niedriger – und nicht nur bei den Frauen, sondern auch bei den Männern. in ländern mit größerer gleichberechtigung sind die MenWelchen Zusammenhang gibt es zwischen Reichtum und Lebenszufriedenheit? schen glücklicher, unabhängig von der wirtWenn sie richtig arm sind, werden sie glück- schaftlichen lage. zu meiner Überraschung licher, wenn der Wohlstand steigt. ist aber mit leichtem Vorteil für Männer, sie profitieren erst einmal ein level von 10 000 Dollar pro noch stärker von gleichberechtigung. Kopf und Jahr erreicht, richtet zusätzlicher reichtum nur noch wenig aus. Wie sind Sie im Laufe Ihrer akademischen Karriere zum Glück gekommen? In Deutschland gibt es viel Gerede über den eials soziologiestudent stellte ich mir die Frage, genen notorischen Hang zum Unglücklichsein. „was ist gut für die gesellschaft?“ Mir gefiel Wie würden Sie den Glückslevel in Deutschland die idee, dass eine „gute“ gesellschaft eine beurteilen? lebenswerte ist, in der die Menschen glücklich ganz ordentlich. aus dem Kopf heraus würde sind. ich fragte meine Professoren nach Datenich 7,2 auf der glücksskala sagen. Das ist ein material darüber und musste feststellen, dass wenig niedriger als in den niederlanden oder sich noch niemand damit befasst hatte. und in Dänemark, aber das mag ein Überbleibsel das ist ja für einen jungen akademiker nicht der beiden Kriege sein. Es gibt einen aufwärts- schlecht, wenn er neuland betreten kann. trend nach einem leichten Knick nach der Wiedervereinigung. nicht wegen dieser selbst, Hat die Beschäftigung mit dem Glücklichsein auf sondern weil viele Ostdeutsche nach Westen Ihr eigenes Leben abgefärbt? kamen: Wenn man seine heimat verlässt und ich glaube nicht, ich hätte ebenso glücklich Freunde und Familie zurücklässt, ist man werden können, wenn ich irgendein geschäft meist weniger glücklich. aufgemacht hätte.

Gibt es so etwas wie eine kulturelle Veranlagung für Zufriedenheit? Es ist ein weitverbreiteter glaube, dass einige nationen besonders unglücklich seien - etwa die russen. ich habe das mal überprüft. und zwar indem ich mir Menschen andernorts genauer ansah, die in ähnlichen Verhältnissen Wo werden die Menschen nicht glücklicher? in Osteuropa. nach dem regimewechsel sind leben, also ähnlich arm sind, schlecht regiert die dortigen gesellschaften kollabiert. und werden und ein miserables Klima haben. ich dies brachte einen Knick auf der glücksskala, habe keinen unterschied feststellen können. 82

Das Interview führte Naomi Buck Aus dem Englischen von William Billows Ruut Veenhoven ist Professor für soziale Bedingungen menschlichen Glücks an der Erasmus-Universität in Rotterdam. Er ist zudem Direktor der Weltdatenbank des Glücks, der größten Sammlung empirischer Forschung zu dem Thema.

Kulturaustausch 11/06

Foto: privat

Herr Professor Veenhoven, was ist Glück? nach meiner Definition besteht glück darin, wie man im großen und ganzen sein leben mag.

Dennoch ist klar, dass manchen Kulturen Voraussetzungen fürs unglücklichsein innewohnen, etwa ein übertriebener gemeinschaftssinn. Ein Japaner ist vor allem teil der Familie oder der Firma und zählt nicht so stark als individuum. und dies kommt der menschlichen natur nicht so sehr entgegen, was sich darin äußert, dass die Menschen in diesen Kollektivkulturen weniger glücklich sind.


HocHscHule

Meine Uni ist die Welt Heute Vilnius, morgen tokio: Viele studenten führen ein Jetset-leben Von Karl-Heinz Kloppisch

Fotos: dpa, privat

Florence kommt aus einem Pariser Vorort. sie

studiert in Paris Politikwissenschaft. Zurzeit absolviert sie ein auslandssemester in australien. sie meint selbst, dass sie in ihrem jungen leben schon „viel von der Welt gesehen“ hat. Das wird der 25-jährigen vor allem immer dann bewusst, wenn sie mit ihren eltern oder Großeltern zusammensitzt. Die können sich nicht mehr merken, wann sie wo überall schon gewesen ist und welche ihrer Freunde aus welchem teil der Welt stammen. um der Verwirrung ein wenig abhilfe zu schaffen, schreibt Florence jedes Mal wenn sie „auswärts unterwegs ist“ Postkarten. schon früher ist sie mit ihren eltern und Freunden viel gereist. Doch mit ihrem studium in tunis oder Metropolen wie Paris und Berlin hat das eine ganz neue Dimension angenommen. Die academic community, merkte sie schnell, ist eine international community – vor allem in europa. Grenzübergreifende Bildungsangebote, Förderprogramme, gemeinsame Bildungsstandards und nicht zuletzt Billigfluglinien helfen dabei, in die Welt zu gehen und Menschen rund um den Globus kennen zu lernen. Für viele studierende gehört der Weg ins ausland zur Vertiefung der sprachfähigkeiten, zum erlangen spezieller Fachkenntnisse oder schlichtweg, um die eigenen Berufschancen zu verbessern, als fester Bestandteil in den lebenslauf. In kaum einem anderem Bevölkerungssegment moderner Gesellschaften ist die grenzübergreifende Mobilität und Kommunikation so selbstverständlich wie im leben der studierenden. Für Florence ist die auswahl von Freunden, Partys oder Wohnorten längst nicht mehr auf ein land begrenzt. Die kulturelle Vielfalt, die sie erlebt, sieht sie als Bereicherung an. Nur manchmal geht alles zu schnell vorbei, wie die Wochenenden bei Freunden oder der abend im club. Zu einer Vernissage ihrer schwester, die in london als Grafikdesignerin arbeitet, kam sie einmal sechs stunden zu spät, weil der Flug KulturaustauscH 11/06

ausfiel, und musste dann zu schnell zurückreisen, der Billigflieger-rückflug war ja schon für ein paar stunden später gebucht. Der Mangel an Zeit ist für Florence das größte Problem. Ihrer Meinung nach müsste die Woche neun tage haben: fünf zum studieren und arbeiten, zwei, um sich zu erholen und alte Freunde zu treffen, und zwei Brückentage zum reisen. Gäbe es schnellere Verkehrsmittel, Florence würde sie benutzen.

ständig ist Florence mit irgendwem per Internet oder Handy in Verbindung, chattet über die vergangenen tage oder macht termine aus. u-Bahn-Fahrten sind inzwischen eine willkommene abwechslung vom Datenstrom geworden. Früher hatte sie die Metro mit ihrer Hektik und der stickigen luft gehasst. Florence hat Glück: Wenn sie in Paris ist, hat sie einen gut bezahlten Nebenjob in einem restaurant und das logement gratuit bei ihren eltern – ohne deren finanzielle unterstützung wäre all das so nicht möglich. Nicht jedem studierenden ist ein leben im Jetset, wie Florence es führt, vergönnt. Nicht jeder studiengang ist so international ausgerichtet wie ihrer. Manche können einen solchen lebensstil schlichtweg nicht bezahlen, rund die Hälfte der deutschen studierenden muss arbeiten, um sich allein ihr studium zu finanzieren. Manchmal macht sich die Mutter von Florence ein wenig sorgen um ihre hektisch lebende tochter: wenn diese etwa die Nacht im Flugzeug verbringt und dann nach einer Dusche in die uni geht. Die oma findet es schön, dass ihre enkelin was von der Welt sieht. Deshalb auch die vereinzelten kleinen Finanzspritzen, die sie ihr immer noch hinter opas rücken zusteckt. Glückliche Florence. Karl-Heinz Kloppisch jr. studiert Philosophie und Publizistik in Berlin und ist verantwortlicher Redakteur von WORK|OUT European Students’ Review.

Lernen von Professor Thomaß Der Streit um die Mohammed-Karikaturen warf vor allem die Frage auf: Wie führt man in einer globalisierten Welt einen kritischen und offenen Dialog auf nationaler Ebene, der nicht brüskierend für andere Kulturen und Religionen ist? Eine Antwort auf diese Frage gibt es noch nicht. Mit ihr müssen wir uns aber sehr wohl beschäftigen, etwa im Rahmen der interkulturellen Kommunikation. Medien wirken über Grenzen hinweg. Wir müssen über die Folgen nachdenken und eine verantwortungsethische Diskussion führen, zumal wenn ein so

sensibles Thema wie das derzeitige Verhältnis von westlicher und islamischer Welt berührt wird. „Die Welt zu Gast bei Freunden“ lautet das euphorische Motto der Fußballweltmeisterschaft – eine gute Gelegenheit in solchen interkulturellen Begegnungen die sensible Balance zwischen Respekt und Kritik zu üben. Dass dies auch medial attraktiv vermittelt werden kann, zeigen Beispiele wie die ARD-Vorabend-Serie „Türkisch für Anfänger“ oder die Sendungen, die mit dem ARD Medienpreis CIVIS für Integration und kulturelle Vielfalt in Europa ausgezeichnet werden. Mehr davon ist notwendig. Barbara Thomaß lehrt am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.

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KulturPrOGraMME

Dass handwerker auf Wanderschaft gehen, hat tradition. Von seinen alltagserfahrungen im land der aufgehenden sonne erzählt ein schreiner Von Marc Andrae

die haare schneiden – allerdings ist das auch eine art von Notlösung, da wir sechs tage in der Woche arbeiten und kein Frisör nach 20 uhr mehr geöffnet hat. leider sind meine Kollegen auf der arbeit sehr streng und verstehen keinen spaß. arbeit ist für sie etwas ganz Ernstes, und das musste ich als gut gelaunter Deutscher erst lernen. In Japan gibt es auch so etwas wie Praktikanten nicht. Deswegen dachten die anderen, dass sie mich wie einen Gesellen behandeln könnten. Doch leider hatte ich von ihren arbeitsmethoden keine ahnung und wurde des Öfteren auf meine langsame, für sie faul scheinende, arbeitsweise hingewiesen. Ich ärgerte mich ein wenig, denn ich bin der Meinung, keiner von ihnen würde sich trauen, alleine in ein land zu gehen, ohne die sprache zu beherrschen und dort zu arbeiten. Im Vorbereitungsseminar in Deutschland wurden wir zwar über unterschiedliche kulturelle hintergründe informiert, jedoch waren die geschilderten situationen eher für Büromenschen als für handwerker von Bedeutung. trotzdem habe ich das Gefühl, hier auf das leben vorbereitet und gefestigt zu werden. Ich muss hellwach sein, manche tage sind ein kleiner Kampf. Denn meine sprachprobleme führen immer wieder zu schwierigen situationen und Missverständnissen. Es kam auch mal vor, dass man eine Woche lang nicht mit mir redete. Erst mit der Zeit wurde mir klar, dass ich teilweise die falschen Entschuldigungsformeln benutzt hatte. Die traditionellen handwerker in Japan sind gut vernetzt und kennen sich untereinander sehr gut. Ich werde nach meinem Praktikum versuchen, länger zu bleiben, um noch einige traditionelle Werkstätten kennen zu lernen. Diese chance habe ich nur einmal im leben und ich möchte sie mir nicht entgehen lassen.

Mein Aufenthalt hier in Japan ist das größte beitet. Des Weiteren macht ein japanischer abenteuer meines lebens. Ich bin 21 Jahre alt schreiner auch die holzarbeiten, die bei uns und komme aus schwabenheim, einer 2500- Zimmerleute machen: sie bauen komplette seelengemeinde in der Nähe von Mainz. Dort häuser und sogar Inneneinrichtungen. Mich habe ich in der Werkstatt meines Großvaters, faszinieren die alten japanischen hauskondie in der sechsten Generation von der Familie struktionen. Eine schöne sache ist außerdem, betrieben wird, eine schreinerlehre gemacht. dass hier im Vergleich zu Deutschland sehr viele Mir war schon immer klar, dass ich schreiner massive Edelhölzer an stelle von Edelfurnieren werden möchte. verwendet werden. seit Mitte November des vergangenen Jahres Im Moment arbeiten wir an einem riesigen luxubin ich nun in Japan. Zunächst besuchte ich riösen haus, das 500 Meter vom Meer entfernt einen einmonatigen sprachkurs in tokio, um ist. Jeden tag erleben wir den sonnenaufgang zu lernen, mich einigermaßen bemerkbar und den sonnenuntergang. Das macht richtig zu machen. Denn mit Englisch kommt man glücklich. Ich muss sagen, dass ich noch nie zwar in tokio weiter, nicht jedoch im japa- auf einer schöneren Baustelle gearbeitet habe. Mein alltag hier in Japan sieht nischen hinterland. Ich wohne folgendermaßen aus: Morgens derzeit in der Kleinstadt samukastehe ich um sechs uhr auf. Ich wa, etwa eine stunde von tokio wohne mit einem japanischen entfernt. Man sieht von hier aus Kollegen zusammen, für den den höchsten Berg Japans, den ich Frühstück mache, während Fuji-san. Er ist der ganze stolz er die lunchpakete vorbereitet. der Japaner und wirklich sehr abends kommen wir um 20 beeindruckend. uhr von der Baustelle zurück. Mein chef (Oyakatta), ein sehr Wir kennen uns jetzt schon so bekannter japanischer schreiner gut, dass wir uns gegenseitig (Daiku-san), ließ mich zunächst einen teetisch und einen stuhl bauen. Die erste schwierigkeit dabei war, dass in Japan die handwerker ihr eigenes Werkzeug mitbringen. Ihnen ist ihr Werkzeug sehr wichtig, und sie haben eine starke persönliche Bindung dazu. Entsprechend schwierig war es, überhaupt die nötigen utensilien zu organisieren. Mir gefällt sehr gut, dass die japanischen handwerker noch wissen, wie man mit traditionellem Werkzeug umgeht. In Deutschland ist diese tradition verloren gegangen, vieles wird nur noch Oben: Wer will fleißige Handwerker sehen? Marc Andrae beim Hobeln mit elektrischen Geräten bear- Unten: Schöne Aussichten: Schreinern in den Zeiten der Kirschblüte

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Marc Andrae ist 21 Jahre alt und nimmt an dem Austausch programm „Praktikum in Japan“ der Organisation InWent teil.

Protokolliert von Christine Müller Kulturaustausch 11/06

Fotos: privat (1), dpa (2)

Kirschholzraspeln


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Mit Björk auf du und du

Termine

Wie Musikaustausch im Internet funktioniert Von Avi Pitchon

Foto: Moga Mobo

Wie schon Madonna sagte: Musik bringt die

Menschen zusammen. Wer auf myspace. com ein paar Bilder hochlädt, einen song, seine Interessen oder seinen herkunftsort nennt, ist bereits teil der Web-community von „Myspace“. Diese Internetplattform wird von bis zu 60 Millionen Nutzern weltweit mitgestaltet. Noch wichtiger ist jedoch, dass sie scheinbar die optimistische Vision eines globalen Dorfes Wirklichkeit werden lässt. Der Erfolg von Myspace liegt in der Kombination aus der intimen, freundschaftlichen atmosphäre einer persönlichen Web-seite und einer Fan-Webseite für Musikbands sowie dem Einsatz von Digitalkameras und dem Format MP3. Diese Einzelteile bieten jeder für sich genommen nur begrenzte reize. MP3 ermöglicht es unbekannten Bands ohne Plattenvertrag, ihre Musik zu verbreiten, ohne auf Plattenfirmen angewiesen zu sein. Myspace erlaubt es diesen Bands außerdem, Booker, agenten, Manager, Promoter und die Musikpresse zu umgehen. Denn gleichgesinnte Musiker und Einzelpersonen, die um die 20 Jahre alt sind, finden sich hier im Internet ganz organisch zu Grüppchen zusammen. Ein zentrales Merkmal der Plattform ist, dass jedes Mitglied per Mausklick „Freund“ („add to friends“) eines anderen Mitglieds werden kann und auf diese Weise eine weitere Verknüpfung im Netzwerk herstellt. so finden sich Freundeskreise, die füreinander auftrittsmöglichkeiten oder Konzerttouren buchen. Der Musikgeschmack ist das Entscheidende, nicht Ort oder staatsangehörigkeit. Mittlerweile präsentieren sich auf dieser virtuellen Bühne von Björk bis Peaches die meisten Bands der großen Plattenlabel. Denn keiner kann es sich leisten, bei diesem so einfach zugänglichen Informationsaustausch nicht mitzumischen. hier sind alle gleich – die Band „Metallica“ zum Beispiel zählt 15.092 „Freunde“ zu ihrem Netzwerk und damit gerade mal dreimal so viele wie Jorch Kulturaustausch 11/06

Mono, ein mexikanischer Elektro-Pop-Musiker ohne Plattenvertrag, mit seinen 4.729 Freunden. Interessant dabei: Der Grad der Beliebtheit verhält sich nicht proportional zu den Plattenverkaufszahlen, sondern zu der Zeit, die man in diesem virtuellen Dorf verbringt. Das scheinbar mühelose Zusammenkommen bereits zuvor bekannter Web-Features in Myspace ist ebenso der Klugheit des Begründers der Internetseite zu verdanken – dessen Identität sich hinter einem „Freund“ mit dem Namen tom verbirgt – wie der aufkommenden Dominanz einer internetorientierten Generation. Globalisierte Pop-Kultur ist eine realität, in die Menschen hineingeboren werden. In Myspace überwiegt eine positive, freundschaftliche, jugendliche, auch oberflächliche sprache, in der jeder jedem Komplimente macht, also schreibt, er sei „hot“ oder ein „sexy mo-fo“ – kurz für „mother-fucker“. Inzwischen mehrt sich jedoch Kritik an der Plattform. Missfallen erzeugte zunächst der Kauf der Plattform durch Medienmogul rupert Murdoch im vergangenen Jahr. unlängst wurde zudem der Vorwurf der pädophilen Infiltration laut. Myspace versuchte zu reagieren, indem es 200.000 accounts von Minderjährigen löschte, um diese vor dem Kontakt mit Pädophilen zu bewahren. Zuletzt sorgte die Änderung der allgemeinen Geschäftsbedingungen, die die rechte der Künstler zu Gunsten der Plattform einschränken, für aufregung. In jedem Fall zeigt sich, wie schnell sich eine utopie in eine Dystopie verwandeln kann, wenn sie erfolgreich wird – und sich zu viel Macht in den händen Einzelner sammelt. Aus dem Englischen von Annalena Heber Avi Pitchon ist 1968 in Tel Aviv geboren. Er lebt als Autor, Kurator, Künstler und Musiker in Berlin und London.

14.-20. Juni 2006, RoboCup in Bremen: Parallel zur Fußballweltmeisterschaft findet zum ersten Mal in Deutschland der 10. RoboCup statt. Dort treffen Roboter unterschiedlicher Herkunftsländer aufeinander, um gegeneinander Fußball zu spielen. Die internationale Initiative will die Forschung in den Bereichen Künstliche Intelligenz und autonome mobile Roboter fördern. Die nationale Vorentscheidung wurde im Rahmen des Informatikjahres vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

15.-18. Juni 2006, Comicsalon Erlangen: Die Vorliebe für japanische Comics und Mangafiguren verbindet die deutsche Künstlergruppe „Moga Mobo“ und das japanische Kollektiv „NouNouHau“. Zusammen entwickelten die im Rahmen des Deutschland-in-Japan-Jahrs 2005/06“ eine Ausstellung. Sie wurde vom Goethe-Institut Tokio produziert, vom Forum Goethe-Institut und dem Japanischen Kulturinstitut nach Deutschland gebracht und von der Kulturstiftung des Bundes gefördert. Im Juli 2005 war sie auf Einladung des Goethe-Instituts in der Hillside Gallery in Tokyo zu sehen. 18.-25. Juni 2006 Interplay Europe 06 — Festival of Young Playwrights in Schaan/Liechtenstein: 50 Künstler aus 15 Ländern diskutieren und präsentieren zeitgenössische Dramatik. Alle Autoren sind zwischen 18 und 26 Jahre alt. Anliegen der 1985 in Sydney gegründeten Initiative ist die Förderung junger dramaturgischer Talente. An wechselnden Orten wird den Teilnehmern alle zwei Jahre ein internationales Austauschforum geboten, auf dem sie ihre Arbeit auch dem breiten Publikum vorstellen können.

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KulturOrtE

Eugenijus Ališanka über den Kalvarjamarkt in Vilnius kalvarien

Eugenijus Ališanka, geboren 1960, ist Lyriker, Essayist und Übersetzer. Er wuchs in Vilnius in der Kalvarjastraße auf, dort, wo der Kalvarjamarkt an den ehemaligen Kalvarienberg, einen Wallfahrtsort, angrenzt. Er istChefredakteur von „Vilnius Review”. Zuletzt erschien von ihm „Aus ungeschriebenen Geschichten” (Köln, Dumont 2005). Kulturaustausch 11/06

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Aus dem Englischen von Nikola Richter, Foto: Valdas Jarutis

ein besoffener ohrfeigt die marktplatzluft seine wörter übel aus einer seemannsbibel seine seele schwarz wie ebenholz klebt als schlamm an seinen schuhen mitten in den kalvarien überall stände von ständen auf dem markt blüht schon wieder der kohl ein gör schlägt ein kreuz und schiebt seine hand in meine tasche mein kleiner bruder war früher messdiener als wir melonen wie hostien zerteilten mitten auf dem hof sind menschen nur menschen sie laufen herum und denken nicht an heilige sachen gottseidank sonst würde man nicht an diesen bergen vorbei diesen schirmen und mützen moslems katholen hare krishnas vegetariern gehen sondern kapieren dass man mittendrin ist nicht mal mit hut für milde gaben wie er jammert und weint auf meinem platz


KÖPFE

Und er läuft und läuft und läuft Der amerikanische Filmemacher lee Kazimir läuft durch Europa

Der Futurist Eigentlich hatte adrian taylor nach seinem Oxfordstudium bereits ziemlich viel erreicht: 1995 bis 1999 arbeitete er bei der Europäischen Kommission in der Generaldirektion für auswärtige angelegenheiten in Brüssel. aber dann frustrierten ihn die „intelligenten leute, die alle in einer Blase leben“. seitdem engagiert sich der 40-jährige Brite, der sieben sprachen spricht, nicht mehr von innen, sondern von außen für Europa. Er begründete die transeuropäische Partei „Generation Eur90

Vor drei Jahren nahm sich Philip Mctaggarts 17-jähriger sohn das leben. Drei Wochen später gründete Mctaggart die „Public Initiative to Prevent suicide and self-harm“, kurz „PIPs“ – wie der spitzname seines sohnes. PIPs bekämpft die in Nordirland horrende selbstmordrate mit Informationskampagnen, 24-stunden-hotlines und Forderungen nach einer verstärkt präventiven Gesundheitspolitik. Mit Erfolg: angesichts der zuletzt veröffentlichten Zahlen hat das Gesundheitsministerium das Budget für Präventionsmaßnahmen verdoppelt. Bemerkenswert ist, dass bei PIPs Katholiken und Protestanten hand in hand arbeiten. Denn, so Philip Mctaggart: „leid kennt keine Konfession.“

In der Offensive reise begegneten, ein Film werden: „More shoes“ wird er heißen. Wer im abspann des Films erwähnt werden werden möchte, kann lees „Fellow traveler“ werden und ihn mit 20 Dollar unterstützen.Die anzahl der spender ist allerdings auf 1000 begrenzt. Denn reich werden möchte er mit dem Projekt nicht. Er sucht nach etwas anderem. Nach was, das weiß er selbst noch nicht so genau. www.madridtokiev.com.

opa 21“ und schreibt Essays über Europa, weil er so „viel radikalere sachen sagen kann als ein Beamter“. außerdem entwickelt taylor „think tools“: grafische strukturen, die Denk- und Entscheidungsprozesse abbilden. Derzeit ist der dynamische Denker als Dozent an der Berliner „European school of Governance“ tätig und entwirft „szenarien“ des zukünftigen Europa: alles ist mit allem digital verbunden, durch das Mittelmeer schwimmen Kongolesen, es gibt 30 Millionen weniger Menschen, und das Ebolavirus wird nach Europa eingeschleppt. Nur wer in die Zukunft denke, könne die heutigen herausforderungen für Europa verstehen, findet taylor.

als tochter eines bekannten Fußballschiedsrichters hatte die Ägypterin sahar el-hawary bereits früh Ballkontakt. Entgegen aller gesellschaftlichen Konventionen blieb sie ihrer leidenschaft treu und wurde zur Vorkämpferin für den arabischen Frauenfußball. und das mit Erfolg: Die arabische Frauenfußballmeisterschaft, die im april in alexandria stattfand, wäre ohne ihre beharrliche Vorarbeit bei der FIFa nicht denkbar gewesen.

Feuer und Flamme seit anfang des Jahres wohnt die Engländerin rosie Pannell bei einer Familie in Karachi, Pakistan. Deren haushälterinnen darf sie nicht anlächeln. Nur einige Kilometer weiter kümmert sich die 25jährige hingegen täglich darum, Frauen selbstachtung nahe zu bringen. Zusammen mit der NGO „Flame“ kämpft sie für den Erhalt einer schule für Mädchen, die das schulgeld nicht bezahlen können. Kulturaustausch 11/06

Fotos: privat

Es ist nicht leicht, lee Kazimir zu erreichen. als es endlich gelingt, steht er in einer telefonzelle in einem kleinen Dorf in Frankreich und hat gerade die Pyrenäen durchquert. Zu Fuß. ausgerüstet nur mit einer Kamera, einem Zelt und einer landkarte hat sich der 24-jährige Filmemacher aus chicago im März auf den Weg gemacht, 5000 km von Madrid nach Kiew zu laufen und Inspirationen für einen Film zu sammeln. Damit nahm lee den regisseur Werner herzog beim Wort, der Filmstudenten riet, lieber eine reise zu Fuß zu unternehmen, statt eine akademie zu besuchen. lee wählte für seine reise Europa: Der Kontinent sei dicht besiedelt und die Gefahr gering, verloren zu gehen oder für mehrere tage nichts zu essen zu finden, sagt er. Das klingt vernünftig. Überhaupt spricht lee ernsthaft von den psychischen strapazen, die das leben schwer machen, wenn man unterwegs ist. „seien es schlechte Wegmarkierungen, eine falsch gelesene Karte oder richtungsangaben, die an sprachbarrieren scheitern, es gibt nichts Frustrierenderes, als eine stunde oder mehr zu verlieren, weil ich wieder umkehren und den anderen Weg nehmen muss.“ Im september will lee außerdem schon in Kiew sein. am Ende der europäischen Wanderung soll aus den Gesichtern und Geschichten, die lee auf seiner

Hotline ohne Konfessionen


BÜchEr

Der Unfreiheit die Stirn bieten Viele Intellektuelle waren von den freiheitsfeindlichen Ideologien des 20. Jahrhunderts fasziniert. ralf Dahrendorf fragt, warum andere Denker ihnen widerstanden – und wie sie das zu Einzelkämpfern machte Von Paul Nolte

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alf Dahrendorf ist ein bemerkenswertes Buch gelungen. auf wenig mehr als 200 seiten behandelt er mit großer Eindringlichkeit eine der großen Fragen des rückblicks auf das 20. Jahrhundert: Warum sind die freiheitsfeindlichen Ideologien dieser Zeit nicht nurmachtpolitisch immer wiedererfolgreich gewesen,sondern konntensichauchder unterstützung vieler kluger Menschen gewiss sein, deren eigentlicher Beruf derjenige der Kritik und der skepsis ist, nicht der unverhohlenen,oberflächlichen Begeisterung:der unterstützungvon Intellektuellen? historiker spüren seiteinigerZeitderFaszination nach, die vom deutschen Nationalsozialismus nicht nur auf verängstigte angestellte oder erwerbslose Proletarierausgegangen ist,sondern auch auf Professoren, geistige Eliten und philosophische Meisterdenker:Martin heideggerist einviel diskutiertes Beispiel dafür. seit 1989 richtet sich diese Frage auch auf die attraktivität des Kommunismus, der sogar in seinersowjetisch-stalinschenGestalt Intellektuelle überall auf der Welt, auch in England und amerika, in seinen Bann geschlagen, ja auf seltsame Weise verblendet hat. Doch Dahrendorf geht das thema nicht als historiker an, Die Stir nen standhaf ter Denker: Erasmu s von Rotterdam (oben link s), Theodor W. Ador no, und erbeginnt miteinerauf den Hannah Arendt, Karl Popper und Raymond Aron. Unten rechts der Autor des besprochenen Buches, Ralf ersten Blick überraschenden Dahrendorf. Pointe – er kehrt nämlich die Fragestellung um. so schreibt er nicht über die sen. Das, so könnte man etwas überspitzt sagen, von Intellektuellen, die den „Versuchungen der Professoren,die den Nationalsozialismus begeistert ist angesichts der tiefgreifenden Ideologisierung unfreiheit“ klar und fest widerstanden haben, hochgeschrieben haben; nicht über diejenigen des20.Jahrhunderts,angesichtsderutopischüber- auch wenn sie damit das risiko des außenseiIntellektuellen, die sich in den 1930er Jahren mit spannten Erwartungen an eine befriedete Moder- tertums, teils auch der persönlichen Gefährdung leuchtenden augen durch die vermeintlichen ne eher der Normalfall gewesen. Erklärungsbe- auf sich genommen haben.Es sind Menschen,die Fortschritte des sowjetreiches haben führen las- dürftig istdagegen dasVerhalteneinerMinderheit sich durch tugenden der Freiheit auszeichnen; Kulturaustausch 11/06

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Bücher

keine liberalen Halbgötter, sondern Menschen, die der Verlockung der großen Ideologien, dem Versprechen der Teilhabe an der vermeintlich siegreichen Zukunft nicht auf den Leim gegangen sind. Dahrendorf nennt diese Menschen, diese öffentlichen Intellektuellen „Erasmier“, in Anlehnung an Erasmus von Rotterdam, der in einer anderen Zeit der ideologischen und politischen Umwälzung, fast ein halbes Jahrtausend früher, ein Vorbote der geistigen Unabhängigkeit gewesen sei, ein „intellektuelle(r) Einzelkämpfer par excellence“. Wer sind diese Erasmier des 20. Jahrhunderts? Drei Musterbeispiele der Unversuchbarkeit werden gleich im ersten Teil des Buches vorgestellt: Karl Popper, Raymond Aron und Isaiah Berlin. An Letzterem entwickelt Dahrendorf auch seinen eigenen Begriff von Freiheit: Er weist Berlins berühmte Unterscheidung von „negativer“ und „positiver“ Freiheit zurück: vereinfacht gesagt, die Unterscheidung der Freiheit „von“ etwas und der Freiheit „für“ etwas, für bestimmte Werte und Normen wie etwa soziale Gleichheit. Die zweite ist eine Scheinfreiheit, die in Wahrheit in die Gefahr der totalitären Festlegung gerate; die „negative“ Freiheit ist die einzige bedingungslose Freiheit. Anders gesagt: Freiheit ist eben Freiheit – und nicht Gleichheit oder Gerechtigkeit; mit diesen gerät sie vielmehr in einen Konflikt, der dann, frei nach Max Weber, zu führen oder auszuhalten ist. „Erasmier“ zeichnen sich dadurch aus, dass sie an Freiheit und Individualität festgehalten haben: gegen die Konzepte von Bindung und Gemeinschaft, die auf unterschiedliche Weise Faschismus und Kommunismus charakterisiert haben. Deshalb sind die Erasmus-Intellektuellen Einzelgänger, wenn nicht gar einsame Menschen gewesen. Das bringt auch der Tugendkatalog zum Ausdruck, den Dahrendorf an diesen Intellektuellen entwickelt: ein klassischer Vierklang aus Mut,Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit in liberaler Deutung. „Mut“ ist dabei gerade nicht das vordergründige Heldentum, mit dem die großen Ideologien für sich warben, sondern der Mut des „Einzelkampfes um Wahrheit“. Gerechtigkeit ist gerade nicht das Streben nach einer prinzipiellen Neuformierung der Gesellschaft, bei der am Ende der Zweck alle Mittel heiligte, sondern die Fähigkeit des Aushaltens von Widersprüchen. Besonnenheit – das engagierte Beobachten, also wieder ein Element der Selbstdistanzierung; Weisheit – die leidenschaftliche und 92

kompromisslose Vernunft. Andererseits, und das macht Dahrendorfs Entwurf besonders spannend, sind die Erasmus-Intellektuellen mehr als eine Ansammlung von Einzelgängern gewesen. Ihre gemeinsame Identität wurzelt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts selbst – sie sind Teil einer sehr spezifischen Generation, also einer Alterskohorte, die in bestimmten Phasen ihres Lebens auf historische Umbrüche traf, die zu persönlichen Herausforderungen wurden. Nicht nur Popper (Jahrgang 1902), Aron (Jahrgang 1905) und Berlin ( Jahrgang 1909) entstammen dieser Generation der Geburtsjahrgänge des ersten Jahrzehnts des Jahrhunderts. Auch die anderen Voll- oder Teilerasmier, auf die Dahrendorf immer wieder faszinierende biografisch-intellektuelle Schlaglichter wirft, sind zwischen 1902 und 1909 geboren: Norberto Bobbio ebenso wie Theodor W. Adorno, Hannah Arendt und Marion Dönhoff, George Orwell ebenso wie John Kenneth Galbraith. Die Liste dieser Namen lässt schon erkennen: Die Erasmier sind ein sehr internationales Völkchen, nationale Begrenzungen machen hier keinen Sinn. Wohl handelt es sich um ein „westliches“ Phänomen im weiten Sinne, das nicht nur den Nordatlantik umgreift, sondern bis nach Neuseeland (wo Popper „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ schrieb) reicht. Was Dahrendorf jedoch nicht sagen will: dass die Jahrgänge um 1905 durch Gnade der Geburt gegen totalitäre Versuchungen gefeit waren.Denn die Erasmus-Intellektuellen dieser Generation behaupteten sich gerade gegen die Vielzahl ihrer Gleichaltrigen, die zu besonders eifrigen Unterstützern der unfreien Regime wurde. So hat die Geschichtswissenschaft für den Nationalsozialismus sehr scharf herausgearbeitet,wie dieselbe Generation zu einer willigen „Generation des Unbedingten“ (Michael Wildt) geworden ist. In den beiden letzten Teilen seines Buches verfolgt Dahrendorf seine Erasmier durch die Länder und durch die Zeiten. Die „Versuchungen der Unfreiheit“ stellten sich auch jenseits der

Dahrendorfs Tugendkatalog des Intellektuellen: Mut, Gerechtigkeit, Besonnenheit, Weisheit

Grenzen, innerhalb derer die unmittelbare politische Vereinnahmung drohte: auch in der neutralen Schweiz, auch in England, sogar in den Vereinigten Staaten. Und sie stellten sich, zeitlich, auch jenseits der Grenze von 1945, die das katastrophale Scheitern der faschistischen „Versuchung“ markiert. Dahrendorf verfolgt die Intellektuellen auch durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der „1968“ und „1989“ die entscheidenden Etappen bilden. Dabei enthält er sich einer deutlichen Kritik an den „68ern“ nicht, wie er auch zu dem Opportunismus JeanPaul Sartres harsche Worte findet. 1989 sah es so aus, als erkläre die Geschichte die Erasmier zu Siegern – oftmals, in biografischer Perspektive, schon posthum. Aber die vorläufig letzte Station ist nicht 1989, sondern „2001“ und die Gefahr einer „neuen Gegenaufklärung“. Heroisch kann dieses Buch schon deshalb nicht enden, weil der Autor selber zur Spezies der Erasmus-Intellektuellen gehört und im Porträt einer Gruppe, die seiner Vatergeneration entspricht, sich immer auch selbst beschreibt, entwirft, überprüft. Dahrendorf ist deshalb weit davon entfernt, das Drama eines „Kampfes der Kulturen“ zu prognostizieren. Aber er warnt vor der schleichenden Bereitschaft des Westens, „die Freiheiten der liberalen Ordnung einzuschränken“ oder jedenfalls nicht mehr aktiv zu vertreten. Dahrendorf ist nicht Hegel; die Freiheit macht sich nicht selbst auf den Weg des natürlichen Fortschritts. Im Gegenteil, es gibt vielleicht so etwas wie eine „Entropie der Freiheit“– ein beunruhigender Gedanke. Dahrendorfs schmales Buch beantwortet längst nicht alle Fragen, die es selber ausdrücklich stellt oder für den mitdenkenden Leser aufwirft. Die Kunst seiner Verdichtung ohne irgendeinen Verlust an Leichtigkeit ist bemerkenswert. Es drängt sich nicht auf und lässt doch nicht so schnell los.Wer dieses Risiko eingehen will, sollte es lesen. Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Von ihm erschien zuletzt „Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus“ (München, C.H. Beck Verlag, 2006). Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. Von Ralf Dahrendorf. (München, C.H. Beck Verlag 2006).

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BÜchEr

Lest zweisprachig

liebevoll illustrierte Bücher für Kinder binationaler Ehen auf, was ein kniffliges unterfangen ist, da Kinderliteratur in der oralen Orientkultur Es gibt sie wirklich: bilinguale Bücher, deren lektüre sich lohnt selten ist. Die Migrantenliteratur von türkischen, in Von Eileen Stiller Deutschland lebenden autoren konnte sich in der hiesigen literaturlandschaft noch nicht recht etablieren. um ihr einen angemessen Platz zuzuweisen, gründeten haweisprachiger literatur bib Bektas und Yüksel Pazarkaya haftet das Etikett an, nur anfang des Jahres den sardes Verdidaktischer Behelf für den lag. Gleich die ersten beiden titel Erwerb einer Fremdsprache zu sein. skizzieren eindrücklich das Gesicht, Verschreckt denkt man an Fußnodas sich der Verlag geben möchte: ten und Vokabelhilfen. Dabei sind Pazarkayas wortsatter Poesieband zweisprachige Bücher ziemlich in„Du Gegenden“ ist die litanei eines teressant: Denn jede einfache Überin die Einsamkeit Verbannten auf setzung ist ja eine Interpretation. ein fernes Du, auf die ihm fremd Der Paralleldruck des bilingualen gewordene heimat. Buches hingegen lässt den leser Mit Germán carrasco, dem Gezwischen den eigenen und fremden winner des Pablo-Neruda-Preises Wörtern hin und her springen. Da 2005, startete die parasitenpresse zweisprachige Bücher kommerziihre neue reihe „paradosis“. Getreu ell uninteressant sind, werden sie der unverwechselbaren Verlagsbilediglich von wenigen namhaften Im Buch „Fünfter November und andere Tage“ von Petr bliophilie liegt mit „Wir die wir keiVerlagen herausgebracht. Nur dtv Borkovec ist auch der handgeschriebene Originaltext zu sehen nen Karneval“ ein handgearbeitetes legt seit 1973 eine erfolgreiche biBändchen vor. Die Übersetzung ist linguale reihe auf. Der fabelhafte, achtsam gestaltete Bücher finden sich auch für seine behutsame Editierung geschätzte Babel bei der österreichischen Edition Korrespon- eine klare Neudichtung: Worte wurden interVerlag verlegt erstklassige autoren aus dem denzen. sie widmet sich Mitteleuropa und ver- pretativ übersetzt (aus „Welt“ für „mundo“ etwa englischen sprachraum. Künftig will Verleger steht sich laut lektor reto Ziegler als „tür zum wurde „Vorstadtbahn“), es gibt Einfügungen und Kevin Perryman auch die „unerschöpflichen deutschsprachigen raum“. Den tschechischen auslassungen. Die Änderungen funktionieren, skandinavischen literaturen“ in sein Programm Dichter Petr Borkovec, der 2004/2005 als „wri- da sie offenkundig sind. Der leser darf sich auf einfügen. ter in residence“ in Berlin lebte, präsentiert die verschiedene lesarten einlassen. Damit gibt lohnenswerte Neuentdeckungen oder li- Edition mit einer hochwertigen hardcoveraus- der junge Verlag der zweisprachigen literatur teratur aus unpopulären sprachen finden sich gabe von „Fünfter November und andere tage“. jenseits von pädagogischer ambition den letzten bei Kleinverlagen. Die straelener Manuskripte um die Verständigung mit der arabischen Welt authentischen schliff. etwa folgen bei Erstveröffentlichungen der De- haben sich zwei Verlage verdient gemacht. Mit vise von Verlegerin renate Birkenhauer: „Zuerst seinem wiedergegründeten, nach ihm benannmuss man Bücher machen, dann kann der Erfolg ten Verlag will hans schiler „einen kulturellen An den Ufern der Zeit. Von Dan Pagis. Aus dem kommen.“ Die Edition stellt auf Empfehlung des raum schaffen für die Begegnung zwischen Hebräischen von Anne Birkenhauer. Straelener nahe gelegenen Europäischen Übersetzer-Kolle- Europa und dem Orient und den mannigfachen Manuskripte, Straelen 2003. giums in jährlichen, von Klaus Detjen gestalteten orientalischen Kulturen untereinander“. aus Fünfter November und andere Tage. Von Petr Borkovec. Aus dem Tschechischen von Christa Bänden zeitgenössische Poesie aus dem ausland dem Programm ragt ein geläuterter Mahmud Rothmeier. Edition Korrespondenzen, Wien 2006. vor. Ein highlight ist der leinenband „an den Darwisch heraus. Der palästinensische Dichter, Belagerungszustand. Von Mahmud Darwisch. Aus ufern der Zeit“, eine auswahl von lyrik und der als Mitglied des Nationalrats energisch für dem Arabischen von Stephan Milich. Verlag Hans Prosastücken des Israeliten Dan Pagis. Der hebrä- einen palästinensischen staat eintrat, dekliniert Schiler, Berlin 2005. ische Originaltext ist im Farbton sepia gehalten, in „Belagerungszustand“ den gebündelten hass, Du Gegenden. Von Yüksel Pazarkaya. Aus dem Türwas an vergilbte Fotografien erinnert und Pagis´ der in mythisiertes Märtyrertum mündet, um am kischen vom Autor. Sardes Verlag, Erlangen 2005. Bewältigung der durchlittenen shoa konturiert. Ende an eine friedliche Koexistenz zu gemahnen: Wir die wir keinen Karneval. Von Germán Der Perspektivwechsel ist aufgrund der fatalen „’Ich oder er’/ so beginnt der Krieg. Doch er Carrasco. Aus dem Spanischen nachgedichtet von gemeinsamen Vergangenheit hebräisch - deutsch endet/ Mit einer beschämenden Begegnung:/ Timo Berger und Tom Schulz. Parasitenpresse, besonders eindrücklich. ‚Ich und er’.“ Die Edition Orient dagegen legt Köln 2005.

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Bücher

Zweigstelle Kultur Eine Institution wird besichtigt: Steffen R. Kathe untersucht die Verwaltungsstrukturen des Goethe-Instituts Von Kurt Düwell

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ewiss lässt sich die Geschichte des Goethe-Instituts auch als Institutionsgeschichte schreiben. Dies tut die Arbeit von Steffen R. Kathe, eine Trierer Dissertation, ausführlich, ja fast ausschließlich. Sie versteht unter Strukturen in erster Linie Verwaltungsorganisation, Haushaltsangelegenheiten und Personalpolitik. Der Leser erfährt eine Menge über die Entwicklung einer Einrichtung, die politisch und administrativ seit ihrer ersten Gründung 1932, damals als „praktische Abteilung“ der Deutschen Akademie, in der NS-Zeit zunächst als eingetragener Verein und seit 1941 als Körperschaft des öffentlichen Rechts, an der kurzen Leine des Auswärtigen Amts eine wechselvolle und katastrophale Geschichte durchlaufen hatte. Eine Lehre aus dieser Geschichte war, dass seit der Neugründung 1951 das „GoetheInstitut zur Pflege der deutschen Sprache und Kultur im Ausland“ wieder als eingetragener privatrechtlicher Verein geschaffen wurde, um einer erneuten staatlichen „Gleichschaltung“ zu entgehen. Dieses Unabhängigkeitsstreben hatte anfangs damit zu tun, dass die alte Deutsche Akademie 1945 ein Restvermögen hinterlassen hatte, welches das Goethe-Institut zu übernehmen hoffte. Diese Rechnung ging jedoch nicht auf, und auch Hoffnungen auf Zuschüsse der deutschen Exportwirtschaft oder des Auswärtigen Amts blieben bis zur Mitte der 1960er Jahre Illusion. Die Gründe für diese Zurückhaltung möglicher Zuschussgeber lagen in erster Linie in der Vorsicht, mit Personal zusammenzuarbeiten, das zu viele Kompromisse mit Hitlers Politik eingegangen war. Das Auswärtige Amt, das selbst wegen der „Kontinuität“ des Personals viel Kritik erfahren hatte, hielt sich noch bis Ende der 1950er Jahre bedeckt, wenn im Goethe-Institut Männer im Vorstand saßen, die das NS-Regime nicht ganz unbelastet überstanden hatten. Dass es sich dabei, 94

besonders bei den Jüngeren, um Spezialisten des Deutschunterrichts und der Kulturwissenschaften handelte, die selbst ihr „historia docet“ inzwischen gelernt hatten, hätte der Fairness halber erwähnt werden sollen. Der Autor übt hier mitunter recht herbe Kritik. Der Fokus der Untersuchung Kathes liegt auf den Strukturen der Kulturverwaltung und des Haushaltswesens, weniger auf der eigentlichen Kulturarbeit des Goethe-Instituts. Die Studie orientiert sich vorwiegend an der Zeitungsausschnittsammlung und den Vorstandsprotokollen und -verlautbarungen des Goethe-Instituts, in denen das Verhältnis zum Auswärtigen Amt und immer wieder Haushaltsforderungen des Instituts im Mittelpunkt stehen. Zu den Strukturen des Instituts gehört aber eigentlich auch das Verhältnis zu den Zweigstellen „draußen“, deren Berichte allenfalls als Reflex in den Vorstandssitzungen aufscheinen. Auch ein Exkurs über die Zweigstellen in Paris und Lagos – nur zwei von 120 bis 140! – lässt erkennen, was der Studie fehlt. Die Arbeit liefert mehr oder weniger ein Bild der Zentrale, das noch um die Beziehungen zur Peripherie ergänzt werden müsste. Denn von den zeitweise sechs Zweigstellen allein in Indien bis hin zum Goethe-Institut in Kopenhagen, das seine Sprach- und Kulturarbeit auch für Grönland, Island, die Faröer- und andere nordische Inseln versieht, arbeiteten die Institute unter unterschiedlichsten Rahmenbedingungen. Der Leser wundert sich etwas, wenn in den Fußnoten plötzlich kurz Regionalkonferenzen der Zweigstellen erwähnt werden. Zwar macht der Autor sogar darauf aufmerksam, dass eine Geschichte des Goethe-Instituts „kaum ohne den genauen Überblick über die Zweigstellen“ auskommt, belässt es dann aber bei nur zwei Beispielen. Doch schon das Gutachten, „Die Auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland“, das Hansgert Peisert 1971 vorgelegte, hat

sich gerade mit der Schwerpunktsetzung nach Ländern und einem Strukturmodell „zentraler Orte“ auseinander gesetzt. Bei Kathe vermisst man eine Anwendung dieser Überlegungen auf das Goethe-Institut. Was bedeutete es für das Institut, wenn etwa 1956 die Bundesrepublik am Bau des Stahlzentrums im indischen Rourkela beteiligt war und es dort einen Bedarf an Deutschunterricht zu prüfen galt? Oder wenn 1979 eine fast fertige deutsche Universität bei Teheran durch die Revolution der Ayatollahs verhindert wurde? Welche Rolle hatte die Helsinki-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 für die Arbeit des Goethe-Instituts in Osteuropa, aber auch gegenüber der DDR, gespielt? Solche Fragen bleiben weitgehend außer Betracht. Dagegen kann die Arbeit fast immer dort mit präzisen Ergebnissen aufwarten, wo sie sich mit dem Binnenverhältnis zwischen Auswärtigem Amt und der Zentrale des Goethe-Instituts befasst. Der ständige Kampf um einen Anteil an den Ressourcen bis zum Rahmenvertrag von 1969, die innovative Gründung der Vereinigung für Internationale Zusammenarbeit von 1972, in der das Institut mit sieben anderen Mittlerorganisationen gegenüber dem Auswärtigen Amts aktiv wurde, der „Föderalismus“ als Strukturmerkmal der Auswärtigen Kulturpolitik – all dies ist in der Arbeit Kathes kritisch dargestellt und erörtert. Demgegenüber treten aber gerade die Inhalte der Kulturarbeit etwas zu sehr zurück. Wie sich das Fach „Deutsch als Fremdsprache“ he-rausgebildet hat, oder ob die in den 1980er Jahren von der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts vertretene Arbeitshypothese der „kulturellen Einbettung der Entwicklungspolitik“ (Barthold C. Witte) vom Goethe-Institut aufgenommen wurde, hätte man gern erfahren. Hier bleibt noch viel zu forschen. Wenigstens für den administrativen Kern des Goethe-Instituts ist hier aber ein Anfang gemacht. Kurt Düwell ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Kulturpolitik um jeden Preis. Die Geschichte des Goethe-Instituts von 1951 bis 1990. Von Steffen R. Kathe. Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2005. Kulturaustausch 11/06


Bücher

Und jetzt? Die Krise der EU hat mehrere Autoren zu Stellungnahmen motiviert Von Cem Özdemir

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ie allgemeine Diagnose lautet: Europa ist in der Krise. Wie sehr das im historischen Vergleich zutrifft sei dahin gestellt, doch erkennbar sind eine große Verunsicherung und die Notwendigkeit von Reformen. Der Streit um den richtigen politischen Weg wird längst auch auf europäischer Ebene ausgetragen. So ist es nicht verwunderlich, dass eine Fülle von Neuerscheinungen zu Europas Zustand zu sichten ist. „Was es heißt, Europäer zu sein“ – in Zeiten wie diesen ein nahe liegender Titel für ein politisches Buch, zumal von zwei europäischen Geistern unterschiedlicher politischer Lager: Dominique de Villepin und Jorge Semprún. Der eine im Hauptberuf Premier Frankreichs, der andere spanischer Schriftsteller, Widerstandskämpfer und späterer Kulturminister. Auf einem Briefwechsel beruht das Buch, und man erhofft sich von diesen klugen Männern Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit. Es braucht einige Geduld, sie aufzuspüren. Es finden sich schöne, oft wortgewaltige Formulierungen zum Erbe Europas und unseren widersprüchlichen Wurzeln. An anderer Stelle überraschen die Autoren mit eindeutigen Positionen: Beide sprechen sich gegen eine Festlegung der Grenzen Europas aus und plädieren für weitere Mitglieder, inklusive der Türkei, deren Schicksal sie historisch-politisch mit Europa verbunden sehen. Gleichzeitig wollen sie ein politisches und ein sozialstaatliches Europa, das als friedlicher Global Player unsere demokratischen Werte in die Welt trägt. Sie plädieren für ein von Deutschland und Frankreich getragenes Kerneuropa und werben eloquent um Verständnis für das „europäische Paradox“, auf wirtschaftlicher Zusammenarbeit gegründet, aber auch ein originär politisches Projekt zu sein. Was bei de Villepin und Semprún die Weiten der Historie sind, ist das Klein-Klein Europas bei Herbert von Arnim, dem allseits Kulturaustausch 11/06

bekannten Kritiker von Politikern und Parteien. Sein Buch „Das Europa-Komplott – Wie EU-Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln“ ist eine Abrechnung mit dem politischen System und seinen Akteuren auf europäischer Ebene. Von Arnim schildert die „Aufblähung“, „Kontrollschwäche“ und das „Demokratiedefizit“ des „Monsters“ EU. Streckenweise möchte man ihm beipflichten, gerade wenn es um das Ausbooten der nationalen Parlamente im politischen Prozess oder den „Buhmann Brüssel“ geht. Er benennt aufrüttelnde Beispiele, aber auch manche rein populistische Forderung. So kritisiert er an den Wahlen zum Europäischen Parlament, dass es sich um Verhältniswahlrecht handele und die Parteien Listen aufstellten. Das entspricht allerdings der gängigen Praxis anderer europäischer Länder, und das Listenverfahren ist auch bei Bundestagswahlen üblich. Innerparteiliche Wahlen stuft er offenbar als nichtig ein. Dass etwa alle 99 Abgeordneten aus Deutschland im Regelfall auf Parteitagen demokratischer Parteien mit ebenso demokratisch gewählten Delegierten für die Liste zur Europawahl nominiert werden, sind Details, die von Arnim der Effekthascherei zuliebe unterschlägt. Das Buch lebt von Pauschalisierung und Skandalisierung – und erweist damit seinem eigentlich ehrenwerten Anliegen einen Bärendienst. Weniger Polemik, dafür mehr Grundsätzliches über die EU, ihre Konstruktion und Mängel bietet dagegen ein Buch von Michel Reimon und Helmut Weixler. „Die sieben Todsünden der EU – Vom Ausverkauf einer großen Idee“ macht es sich mit seiner Europa-Kritik nicht gar so leicht. In sieben thematischen Kapiteln stellen die beiden österreichischen Journalisten nicht nur die akuten Probleme dar, sondern auch deren tiefere Ursachen in einem politischen System ohne Vorbild. Schwerpunkt sind neben der EU-Verfassung die Themen Wirtschaft und Liberalisierung.

Die Berücksichtigung der politischen Realitäten in der EU macht die Kritik der Autoren nicht milder, aber stellt sie in den notwendigen Rahmen. Dabei gelingt ein informativer, gut lesbarer Rundumschlag inklusive Vorschlägen zur Abhilfe. Reimon und Weixler üben Kritik „von links“, sie plädieren für ein soziales Europa, jedoch für die europäische Einigung. Wohltuend setzt sich das Buch ab von allen, die in Europa nichts als Krise sehen wollen. Das „Kritische EU-Buch – Warum wir ein anderes Europa brauchen“ schlägt in eine ähnliche Kerbe. Herausgegeben von ATTAC Österreich versammelt es Beiträge verschiedener Autoren – und auch verschiedener Qualität. Werden zunächst die EU und ihre Entstehung lehrbuchartig dargestellt – denn ein Ziel des Buches ist es auch, das System EU zu vermitteln, gehen die folgenden Artikel auf ein breites Spektrum politischer Fragen ein. Der Einfluss der Lobbyisten oder die Dramatik der Migrationsbewegungen nach Europa werden interessant analysiert. Andere Untersuchungen, wie zur Sicherheitspolitik, verrennen sich in lieb gewordene Thesen der Globalisierungskritiker, etwa die Militarisierungsthese. Leider fällt ATTAC zum EU-Beitritt der Türkei auch nur die CDU-lancierte und wenig substanzielle „privilegierte Partnerschaft“ ein. Es ist ein Buch der globalisierungskritischen Bewegung und bietet an „Rezepten“ leider nur, was zu erwarten war. Neben selbstbezogener Bewegungsprosa bietet das Buch nichtsdestotrotz auch lesenwert Kritisches zum Stand der europäischen Integration. Was es heißt, Europäer zu sein. Von Jorge Semprún, Dominique de Villepin. Aus dem Französischen von Michael Hein. Murmann, Hamburg 2006. Das Europa-Komplott. Wie EU-Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln. Von Herbert von Arnim. Hanser, München 2006. Die sieben Todsünden der EU. Vom Ausverkauf einer großen Idee. Von Michel Reimon, Helmut Weixler. Ueberreuter, Wien 2006. Das kritische EU-Buch. Warum wir ein anderes Europa brauchen. Hg. von ATTAC. Deuticke, Wien 2006. Cem Özdemir ist seit 2004 Abgeordneter des Europäischen Parlaments und Mitglied der Fraktion Die Grünen/Freie Europäische Allianz.

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NEuErschEINuNGEN

Wissenschaftsstandort Frankreich Perspektiven bis 2020

Deutsche Informationszentren in Frankreich

Studieren im Ausland – Mobilität im internationalen Vergleich

Internationale Praktikanten in Deutschland – Cross Culture

W i e a n d e r e westeuropäische Industriestaaten muss auch Frankreich davon ausgehen, dass der a r b e i t s m a r k t im kommenden Jahrzehnt unter einem Defizit an gut ausgebildeten einheimischen Fachkräften leiden wird, das durch die anwerbung von ausländischen arbeitnehmern ausgeglichen werden muss. Wie aber können in diesem sensiblen Prozess die Weichen bereits jetzt so gestellt werden, dass Frankreich trotz des zunehmenden internationalen Wettbewerbs als Forschungs- und Wissenschaftsstandort für ein internationales Publikum von arbeitskräften attraktiv bleibt? Die studie formuliert Vorschläge, die Frankreich fit für die Erfordernisse der künftigen Veränderungen auf dem weltweiten arbeitsmarkt machen sollen. Das erste Kapitel untersucht die Mobilität internationaler studierender und Wissenschaftler in den westlichen Industriestaaten. Vor diesem hintergrund wird im zweiten Kapitel die situation in Frankreich genauer in den Blick genommen. Neben der historischen Entwicklung der aufnahme internationaler studierender und Forscher interessiert hier auch die abwanderung junger Wissenschaftler aus Frankreich. Während ein weiteres Kapitel fünf Zukunftsszenarien zeichnet, wie der Wissenschaftsstandort Frankreich um 2020 aussehen könnte, gibt das abschließende Kapitel eine reihe von Empfehlungen für die Politik, wie die Einwanderung von studierenden und Wissenschaftlern konstruktiv gesteuert werden könnte. (sch)

seit der unterzeichnung des Élysée-Vertrags 1963 wurde das deutsch-französische Freundschaftsabkommen in Frankreich durch die Einrichtung zahlreicher Informationszentren zum thema Deutschland bekräftigt. Diese Zentren existieren bis heute, und ihr stetes Bemühen, ihre strukturen, Methoden und Präsentationsformen an die aktuellen Erfordernisse anzupassen, steht in herbem Gegensatz zu den unkenrufen der Medien, die von Zeit zu Zeit ein abf lauen des wechselseitigen Interesses der deutschen und französischen Öffentlichkeit konstatieren. Die Verfasserin möchte mit ihrer studie den Nachweis erbringen, dass die Nachfrage nach dem Informationsangebot über Deutschland in Frankreich viel größer ist, als in den Medien behauptet. Dazu widmet sie sich den bislang noch nicht systematisch untersuchten Dokumentationszentren und deutschlandkundlichen Bibliotheken in Frankreich, verfolgt ihre historische Entwicklung unter den sich wandelnden kulturpolitischen Vorzeichen der vergangenen Jahrzehnte und fragt nach ihrer heutigen Bedeutung für den deutsch-französischen Kulturaustausch. (sch)

Die un iversitäten sind seit alters her Orte, die sich der Welt geöffnet haben, um internationales Wissen aufzunehmen und weiterzuvermitteln. In den letzten Jahrzehnten jedoch hat die Mobilität der studierenden nie gekannte Dimensionen erreicht. Geopolitische Faktoren spielen bei der Verteilung eine große rolle: Während die ärmeren länder eher eine abwanderung und damit regelrecht einen „brain drain“ zu beklagen haben, konnten sich die Industriestaaten bislang die künftigen Experten und Führungskräfte für den einheimischen Markt aus einem internationalen angebot aussuchen. Die vorliegende studie hat zum Ziel, verschiedene Modelle europäischer aufnahmeländer zu vergleichen, um daraus strategien zu entwickeln, wie die attraktivität der einzelnen studienstandorte künftig gesteigert werden kann. Dabei geht es im ersten teil zunächst darum, die Wichtigkeit ausländischer studierender für die Wirtschaft und Wissenschaft eines staates genauer zu bestimmen, um sodann zu analysieren, wie die Wahl für einen bestimmten studienstandort unter den internationalen studierenden getroffen wird. Der zweite teil ist der Frage gewidmet, welche auswirkungen die Globalisierung auf die zunehmende Mobilität der studierenden hat und wie die universitäten auf die neuen herausforderungen reagieren sollten. (sch)

„this experience has affected my p e r s on a l l i f e and stimulated my professional capacities“, „the image of Germany undoubtedly becomes clearer when you are on the spot” – das sind nur zwei aussagen ehemaliger teilnehmer der cross culture Praktika, die das Institut für auslandsbeziehungen im auftrag des auswärtigen amts seit 2005 anbietet. Die Dokumentation gibt einen Einblick in Entstehungsgeschichte und erste Erfahrungen und stellt die Praktikanten und ihre Praktikumsstellen vor. Die sechs- bis zwölfwöchigen Praktika bieten die Gelegenheit, sich einen Überblick über strukturen und Personen im Gastland zu verschaffen, Netzwerke zu bilden sowie interkulturelle Erfahrungen zu sammeln. sie wenden sich an junge Berufstätige in den Mitgliedsstaaten der arabischen liga, in Pakistan, afghanistan, in der arabischen Bevölkerung Israels und in Deutschland. Insbesondere Kandidaten aus den Bereichen Wissensgesellschaft und Bildung, rechtsdialog und Menschenrechte, Medien, Jugendaustausch und Politische Bildung sollen erreicht werden. starke resonanz fanden die Praktika im Medienbereich; die meisten teilnehmer kamen aus Ägypten, Pakistan und dem sudan. aktuelle Erfahrungen zeigen einen anstieg weiblicher Interessentinnen und eine Zunahme herausragender Bewerbungen. Für die Zukunft ist an eine ausweitung auch auf andere Bereiche gedacht. (http://cms.ifa. de/publikationen/dokumentationen/euro-islam-dialog/#16696) (cz)

Etudiants et chercheurs à l’horizon 2020: Enjeux de la mobilité internationale et de l’attractivité de la France. Von Mohamed Harfi. Commissariat Général du Plan, Paris 2005. 249 Seiten.

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Les lieux et supports d’information sur l’Allemagne en France, acteurs et témoins des relations francoallemandes. Von Anna Walter. Univ., Mémoire de maîtrise, Paris 2005. 147 Seiten.

Comparaison internationale des politiques d’acceuil des étudiants étrangers: Quelles finalités? Quells moyens? Von Guillaume Vuilletet. Conseil économique et social, Paris 2005. 186 Seiten.

Cross-culture internships. Impressions of the first year. Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart 2006. 87 Seiten. (European-Muslim Cultural Dialogue)

Kulturaustausch 11/06


NEuErschEINuNGEN

Public Diplomacy für die Europäische Union?

Einsprachigkeit – Vielsprachigkeit Sprachpolitik in Europa

Deutsche Schule In Afrika – Begegnungen statt Apartheid

Lexikon zur Sprachwissenschaft

Die Grenzerweit e r u n g e n d e r Eu, das zunehmende Interesse an der rolle der religion und der Mentalitäten bei der Eskalation von Konf likten zwischen unterschiedlichen Kulturen oder die Erfahrungen eines massiven, weltweit agierenden terrorismus während der letzten Jahre – dies sind nur einige der auslöser, die zu verstärkten Forderungen nach einer intensiveren Berücksichtigung interkultureller Faktoren in der Politik geführt haben. In den Vereinigten staaten wurde für die Fähigkeit, auf staatsebene einen Dialog mit fremdkulturellen Öffentlichkeiten führen zu können, der kulturelle Differenzen berücksichtigt, anstatt eigene hegemonialansprüche durchzusetzen, der Begriff der „public diplomacy“ geprägt. Das von dem britischen Premierminister tony Blair ins leben gerufene Foreign Policy center (FPc) ist dazu ausersehen, ähnliche strategien für eine europäische außenpolitik zu entwickeln, um die Eu beispielsweise in der Fähigkeit, mit staaten wie den usa oder china zu kommunizieren, zu stärken. Die vorliegende studie formuliert zunächst grundlegende leitfragen, die für die Etablierung einer gemeinsamen europäischen „Public Diplomacy“ berücksichtigt werden müssen, darunter: Wie gut ist die außenwirkung der europäischen Institutionen? Über welche besonderen Fähigkeiten der Interkulturellen Kommunikation verfügt die Eu mit ihren 25 Mitgliedstaaten bereits? Wie sollen gemeinsame strategien gegenüber staaten außerhalb der Eu gestaltet, koordiniert und angewendet werden? Die studie schließt mit einem set an Empfehlungen an die Institutionen der europäischen Politik ab. (sch)

Das Verhältnis zwischen nationalstaatlicher sprachenpolitik und der sprachenpolitik der E u r o p ä i s c he n union steht im Zentrum dieser analyse. Dabei unterscheidet der autor drei Bereiche, auf die er detailliert eingeht: sprachplanungsprozesse, sprachverbreitungspolitik und Politik gegenüber Minderheitensprachen. Er untersucht den Zusammenhang zwischen herrschaftsform und sprachenpolitik, die Bedeutung von standardisierung und sprachenplanung, die sprachverbreitungspolitik als teil auswärtiger Kulturpolitik sowie den umgang mit Minderheitensprachen und sprachminderheiten – einschließlich der Grenzsprachminderheiten und der Migrations-sprachminderheiten. Patrick schreiner kommt zu dem Ergebnis, dass scheinbar ein Widerspruch besteht zwischen der Politik der Nationalstaaten, die nach Einheitlichkeit und allgemeingültigkeit der sprache streben, und der auf Vielsprachigkeit ausgelegten Eusprachenpolitik. Das Verdienst der arbeit ist es, empirisch zu belegen, in welchem ausmaß dennoch Übereinstimmungen zwischen europäischer und nationalstaatlicher sprachenpolitik bestehen. Der autor plädiert darüber hinaus dafür, die sprachenpolitik nicht länger den Disziplinen sprachwissenschaft, soziologie oder Geschichte zu überlassen, sondern sie auch als thema der Politikwissenschaft zu begreifen und zu bearbeiten. Die studie basiert auf einer Magisterarbeit, die im Wintersemester 2003/2004 vorgelegt wurde. Für die Veröffentlichung wurde sie überarbeitet und berücksichtigt nun auch die länder, die im Mai 2004 der Europäischen union beigetreten sind. (cz)

auf welchen Wegen finden Menschen aus schwierigen situationen h e r a u s ? a u s Begeg nu n gen , aus denen Mitmenschlichkeit erwächst, die ihrerseits Veränderung bewirkt, so lautet die these der langjährigen Bundestagsabgeordneten und Erziehungswissenschaftlerin Erika schuchardt, die sie am Beispiel der deutschen Begegnungsschulen in südafrika eindrucksvoll belegt. ausgehend von den positiven Erfahrungen in lateinamerika und durch beharrliche Einflussnahme von deutscher seite wurde noch vor Ende der apartheid die Integration einheimischer und nicht weißer schüler in die deutschen auslandsschulen in südafrika forciert. Für besonders begabte schüler aus soweto und den townships bestanden darüber hinaus noch zusätzliche Fördermöglichkeiten zur Integration in die sekundarstufen der deutschen auslandsschulen. Im vorliegenden Band kommen die schüler der ersten abiturientenjahrgänge der deutschen Begegnungsschulen in Johannesburg, Kapstadt, Pretoria, Windhoek und hermannsburg ausführlich zu Wort. Ergänzende Beiträge schildern die Erfahrungen aus sicht des auswärtigen amts und der lehrenden an den Begegnungsschulen. Die Broschüre steht als download unter http://www. prof-schuchardt.de/brueckenbau/ zur Verfügung. (cz)

Von „abasa“ bis „Zyklusprinzip“ sind in diesem lexikon mehr als 5.000 Einträge und ebenso viele Verweise zur sprachwissenscha ft und ihrer Grenzgebiete wie anatomie der sprech- und hörorgane, sprachenrecht und sprechwissenschaft verzeichnet. hinzu kommen Einträge aus Bereichen wie computerlinguistik, künstliche Intelligenz, Diskursanalyse und Ethnografie der Kommunikation. Das lexikon wendet sich außer an die philologische Fachwelt und ihre Nachbardisziplinen auch an Oberstufenschüler, redakteure, Journalisten, Übersetzer und weitere interessierte laien. Die über 70 Fachautoren waren angehalten, auf möglichst große Verständlichkeit ihrer Beiträge zu achten und neben dem aktuellen Forschungsstand auch kontovers diskutierte Fragestellungen zu berücksichtigen. Dem lexikon vorangestellt sind Internet-adressen für linguisten mit angaben zu Dienstleistungen und Informationen, Organisationen und Institutionen, deutsche und ausländische Organisationen der auswärtigen Kultur- und spracharbeit sowie virtuelle Fachbibliotheken. (cz)

European Infopolitik: Developing EU Public Diplomacy Strategy. Von Philip Fiske de Gouveia, Hester Plumridge. Foreign Policy Centre, London 2005. 37 Seiten.

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Staat und Sprache in Europa. Nationalstaatliche Einsprachigkeit und die Mehrsprachigkeit der Europäischen Union. Von Patrick Schreiner. Peter Lang, Frankfurt am Main 2006. 186 Seiten.

Brückenbau – 15 Jahre Begegnungsschulen im Südlichen Afrika. Erfolgsmodell deutscher Auswärtiger Kulturpolitik. Erika Schuchardt (Hrsg.). IBA_media & book, Berlin 2005. 300 Seiten.

Metzler Lexikon Sprache. Helmut Glück, Friederike Schmöe (Hrsg.). 3., neubearbeitete Auflage. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2006. 782 Seiten.

Alle Titel sind in der Bibliothek des ifa ausleihbar. www.ifa.de/b/index.htm bibliothek@ifa.de Auswahl: Institut für Auslandsbeziehungen Gudrun Czekalla Christine Steeger-Strobel Annotationen: Gudrun Czekalla (Cz) Mirjam Schneider (Sch)

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Weltmarkt Produkte für Kosmopoliten

Zeichen und Wunder

Stellen Sie sich vor, sie nehmen bei einer der zahlreichen Quizsendungen teil, die derzeit überall im Fernsehen unser allgemeinwissen testen. Wir stellen uns derweil vor, dass bei Ihnen als international interessiertem Menschen Geografie zu den stärken zählt. Deshalb atmen sie vermutlich bei folgender Frage auf: „Welcher hauptstadt dient der Eiffelturm als Wahrzeichen?“ antwort: a) Moskau b) Paris c) New York d) Bad Münstereifel. Der Quizmaster sieht sie erwartungsvoll an. Bevor sie antworten, werfen sie zur sicherheit einen Blick auf Ihren Bauch, auf Ihr neues t-shirt, das sie sich extra für Ihren Fernsehauftritt zugelegt haben. aber Vorsicht! Die antwort New York ist leider falsch. als Entschuldigung können sie auf die Globalisierung verweisen, die uns ja irgendwie alle verunsichert. In jedem Fall aber ist es der holländische Designer simon de Boer gewesen, der sie um Ihren Millionengewinn gebracht hat. Der vertauscht nämlich in seiner neuen t-shirt-Kollektion „the world on tour“ die Wahrzeichen bekannter städte. Eine globale Gemeinschaft von Weltbürgern schwebt ihm dabei vor. aber vielleicht ist die Idee gar nicht so neu. Immerhin ist die Freiheitsstatue ja auch ein Geschenk der Franzosen an die amerikaner gewesen. Valentina Heck

heute: t-shirts

Demnächst Thema

Forum

In Europa

Fokus

Die Zukunft der Stadt Die Urbanisierung schreitet voran. Zum ersten Mal in der Geschichte leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Manche Stadtmodelle – wie das europäische – erleben eine Renaissance, andere verändern sich radikal.

Was ging schief? Von der Karikaturenkrise zur Kulturkrise: welche neuen Strategien für den Kulturdialog gibt es? Und mit welchen Argumenten müssen sie vermittelt werden?

Gut zu erreichen Hat Europa ein Kommunikationsproblem? Wie man die Massen für Europathemen stärker interessiert und wer was dafür tun könnte

Verschollen Wie geht es Ingrid Betancourt? Patricia Salazar, Korrespondentin der kolumbianischen Tageszeitung „El Tiempo“, über Kolumbien und seine ungelösten Geiselnahmen

Ein Themenschwerpunkt zur Entwicklung der Städte im 21. Jahrhundert

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Die Ausgabe 3/2006 erscheint am 31. Juli 2006

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Fotos: The world on tour (Motive), Friederike Biron

T-Shirts für 29.75 EUR unter www.masterandcreator.com


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