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Spielend leicht lernen für eine bessere Welt
Natalie Schalk / Hochschule Coburg © Clarissa Heiler //
von Natalie Schalk
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Wie innovative Lehrformate unternehmerisches und in die Zukunft gerichtetes Denken und Handeln fördern.
Ein Bus am Theaterplatz in Coburg, ein Radfahrer, der sich auf der mittleren Spur zwischen Autos einordnet, ein Kleintransporter, der so auf dem Gehweg parkt, dass eine Fußgängerin auf die Straße ausweichen muss. Studierende haben kleine Szenen aus dem Verkehrsalltag der Stadt gefilmt, zu einem etwa eineinhalbminütigen Video zusammengeschnitten und diesen Momentaufnahmen Bilder aus anderen Städten gegenübergestellt: zum Beispiel aus Dänemarks Fahrrad- Hauptstadt Kopenhagen und aus einer Fahrradstraße in Stuttgart. Der Kontrast macht deutlich, wie stark das Auto den Verkehr in Coburg noch dominiert. „Es geht auch anders“, kommentieren die Filmmacherinnen Clarissa Heiler, Anna Lurtz und Leonie Eller. „Wir hatten zuerst den Auftrag, einfach mit offenem Blick durch die Stadt zu laufen und alles, was wir wahrnehmen, auf uns wirken zu lassen“, erzählt Clarissa Heiler. „Und wir waren echt überrascht: Es gibt so viele schwierige Situationen für Fußgänger und Radfahrer.“
WIE EIN EINZIGER, GROSSER ORGANISMUS „In der Region Coburg haben wir andere Problemlagen als in großen Städten“, erklärt Prof. Dr. Adelheid Susanne Esslinger. „Die Struktur ist anders: im Verkehr, der Wohnsituation, bei Förderungen.“ Mehrere Videos zu lebenspraktischen Fragen rund um Nachhaltigkeit vor Ort sind in einem Kurs entstanden, den Esslinger zu Beginn des Sommersemesters 2022 mit ihrem Kollegen Prof. Mario Tvrtkovic geleitet hat. Die Veranstaltung fand im Rahmen der interdisziplinären Projektwoche statt, in der Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen gemeinsam kleine Projekte umsetzten. Auch die Lehrenden kamen dabei aus den verschiedensten Disziplinen. Esslinger ist Professorin für Gesundheitsförderung und Prävention und Nachhaltigkeitsbeauftragte der Hochschule Coburg. Die planetare Gesundheit zählt zu ihren fachlichen Schwerpunkten. Mario Tvrtkovic ist Professor für Städtebau und Entwerfen und unter anderem Experte für Nachhaltigkeit und Transformation in der Entwicklung von Stadt und Land. Gemeinsam boten sie die Veranstaltung „Planetary Health“ an. „Wie wir regional handeln, hat auch global Auswirkungen“, sagt Esslinger. „Wenn man wissenschaftlich betrachtet, wie alles zusammenhängt, muss man die Welt systemisch begreifen. Wie einen Organismus.“ Doch die Eingriffe des Menschen bringen diesen Organismus aus dem Gleichgewicht. WISSEN: WELTBEWEGEND Innovative, auch interdisziplinäre Lehrformate sollen künftig in allen Studiengängen das Thema Nachhaltigkeit behandeln. „Die Studierenden müssen erst einmal verstehen, worum es geht: nämlich darum, die Lebensgrundlagen von morgen zu bewahren“, erklärt Esslinger. „Sie müssen außerdem verstehen, dass sie wirksam sind. Wenn sie dann noch eine kooperative Haltung entwickeln, dann schließen sie sich zusammen und bewegen die Welt in die richtige Richtung.“ Die Hochschule Coburg will nicht nur hochqualifizierte Expertinnen und Experten in verschiedenen Fachrichtungen ausbilden, sondern Menschen mit Ideen, mit dem Willen, etwas zu verändern – und dem Wissen, dass sie es können. Darauf ist auch das Projekt ERIC ausgerichtet. Die Abkürzung steht für „Entrepreneurship Track for Regional Impact on Global Challenges“. Der Fokus liegt auf neuen unternehmerischen Lösungen in der Region, die positive Wirkung (englisch „Impact“) auf Ökologie und Gesellschaft haben, die Antworten auf globale Herausforderungen geben. Gesundheit und Nachhaltigkeit bei Energie, Mobilität, Stadtplanung, Produktion und Konsum gehören dabei zu den großen Themen.

ZIELE FÜR DIE ERDE ERIC ist ein Verbundprojekt der Hochschule Coburg und der Technischen Hochschule Ingolstadt, das vom bayerischen Wissenschaftsministerium gefördert wird. An beiden Hochschulen geht es zunächst darum, bei zusammen etwa 12.000 Studierenden ein Bewusstsein für sozial-ökologische Fragen zu schaffen. Vermittelt werden sollen außerdem Methoden zur Entwicklung, Bewertung und Realisierung von wirtschaftlich, ökologisch und sozial zukunftsfähigen Unternehmen. Esslinger nennt Beispiele: „Wenn unsere Absolventinnen und Absolventen der Architektur als Freiberufler verstärkt mit ökologischen Baustoffen arbeiten oder wenn sie sagen: Bevor ich ein Haus abreiße, schaue ich, was wiederverwendet und was wiederaufgebaut werden kann. Oder wenn unsere Ingenieurinnen und Ingenieure überlegen, wie sie eine andere Produktlösung oder eine bessere Mobilitätslösung umsetzen können, dann entfalten sie eine positivere Wirkung für die Zukunft als bisher.“ Projekte und Veranstaltungen wie die Coburger Nachhaltigkeitstage ergänzen das Lehrangebot zum Thema. Die Professorin berichtet außerdem von weiteren Bausteinen des Projekts ERIC – wie einem impact-orientierten Gründerwettbewerb und der Zusammenarbeit mit regionalen Partnern aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik – in beide Richtungen. Bei allen Aktivitäten bilden die „17 Ziele für nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDG) den Rahmen. „Um sie zu vermitteln, setzen wir in innovativen Lehrformaten auch das Kartenspiel ‚Gedankenexperiment‘ ein“, berichtet Esslinger. Ausgetüftelt hat dieses Spiel eine Studentin der Hochschule: Julia Karberg aus dem Masterstudiengang ZukunftsDesign. ZUM SPIEL „GEDANKENEXPERIMENT“ Was wäre, wenn Du ein/e Diktator/in wärst und ein Jahr Zeit hättest, um die Armut auf der Welt aufzulösen? Das ist die Idee von „Gedankenexperiment“. Das Kartenspiel vermittelt Jugendlichen und Erwachsenen die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen und regt dazu an, nachhaltige Ideen zu entwickeln. Es ist crossmedial angelegt und kann alleine oder in der Gruppe gespielt werden. Das Spiel ist im Rahmen des ESFProjekts „Nachhaltigkeitscluster Oberfranken“ entstanden, das aus dem Master-Studiengang ZukunftsDesign hervorgegangen ist. Stand Mitte 2022 gibt es „Gedankenexperiment“ nicht zu kaufen, aber sowohl regional als auch bundesweit sind Kooperationen im Gespräch. Es wird über eine Coburg-Edition und über eine Variante für jüngere Kinder nachgedacht.
EXPERIMENTE, INNOVATIONEN, SPASS Ökologische, soziale und ökonomische Nachhaltigkeit sind häufig Thema der Projekte, an denen die ZukunftsDesign-Studierenden am Lucas-Cranach-Campus in Kronach arbeiten. Studiengangsleiter Prof. Dr. Christian Zagel hat das vom Europäischen Sozialfonds (ESF) geförderte „Nachhaltigkeitscluster Oberfranken“ ins Leben gerufen, bei dem Julia Karberg mitarbeitete und in dessen Rahmen unter anderem das Spiel „Gedankenexperiment“ entstand. Zagel widmete sich bereits vor der Corona-Pandemie digitaler Lehre und Nachhaltigkeit. Seit seiner eigenen Studienzeit interessiert er sich für die Möglichkeiten von Spielkarten. All das fließt in „Gedankenexperiment“ ein. QR-Codes verbinden die klassischen Spielkarten mit digitalen Inhalten, das Spiel regt zum Nachdenken an, macht Spaß und vermittelt nebenbei die 17 SDGs. Im Frühjahr 2022 wurde das ESF-Projekt abgeschlossen, aber es wirkt in die Zukunft. „Gedankenexperiment“ kommt gut an.
Esslinger findet gerade für das Thema Nachhaltigkeit Formate ideal, in denen die Studierenden selbstverantwortlich aktiv werden, diskutieren und über Lösungsoptionen entscheiden. „Wir wollen zum Beispiel im Bereich von ERIC auch ein Planspiel nutzen, um die Inhalte digital und analog auf greifbare und anschauliche Weise zu vermitteln.“ Projektarbeit fördert eigenverantwortliches Handeln. „Man lernt voneinander, bekommt ein besseres Ergebnis – und es macht auch viel mehr Spaß.“ GESUNDHEITSFÖRDERUNG TRIFFT MASCHINENBAU Das sehen auch die Studierenden so. Nach dem Filmprojekt über die Autostadt Coburg resümierte Clarissa Heiler aus dem Master Gesundheitsförderung. „Ich bin total begeistert!“ Vorher hat sie noch nie einen Film erstellt, die Technik fand sie positiv herausfordernd, die Zusammenarbeit mit Studierenden aus anderen Fakultäten spannend und das Ergebnis toll. „Das war eine super Erfahrung.“ Auch Johannes Wagner (Bachelor Soziale Arbeit) sagt: „Mir hat die Arbeit unserer Gruppe viel Spaß gemacht. Wir hatten viele Gestaltungsräume und Möglichkeiten und konnten das Thema frei wählen.“ Wagner war mit Acer Aysegül (Bachelor BWL) und Annika Hiller (Master Gesundheitsförderung) in einem Team, das sich mit Armut und dem Recht auf nachhaltige und gesunde Lebensmittel auseinandergesetzt hat. „Zu einem interessanten und zugleich komplexen Thema einen ganz konkreten Videobeitrag zu erstellen, ist ein klasse Format, um zu lernen, wie alternative Lösungen funktionieren können und so schrittweise hin zu einem ganzheitlichen Themenverständnis zu kommen.“ Als die Gruppe ihr Video aufzeichnete, kostete ein Kilo Bio-Butter, die regional produziert wird, 19,80 Euro – mehr als drei Mal so viel wie die Butter aus dem Marken-Discounter. „Die Politik ist gefragt, nachhaltige Lebensmittel zu fördern“, stellten die Studierenden fest. Ein weiteres Filmteam aus Nadja Hamani (Master Gesundheitsförderung), Timon Klughardt (Bachelor Maschinenbau) und Katharina Weiß (Master Gesundheitsförderung) ermittelte, dass Coburger Privathaushalte teilweise ein sehr großes Interesse an Photovoltaik haben. Steigende Energiepreise und Klimawandel führten die Gruppe zu einer klaren Frage: „Wie kann die Stadt Coburg klimaneutral werden?“ Die Studierenden haben dafür Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern der Wirtschaft, aber auch mit Coburger Bürgerinnen und Bürgern geführt. „Es ging in diesen Projekten zunächst darum, in die Diskussion mit der Öffentlichkeit zu kommen“, erklärt Esslinger. Es ist ein Anfang. „Im folgenden Semester können eventuell Lösungsvorschläge erarbeitet werden.“
www.hs-coburg.de/planetary-videos