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Zu viel Verstand

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Quellenverzeichnis

Quellenverzeichnis

ZUR WELTSICHT DER ROMANTIK*

In der Epoche der Romantik wird Vernunftdenken infrage gestellt. Romantiker kritisierten am aufklärerischen Denken den sog. »Primat der Vernunft« als alleiniges Kriterium zur Erkenntnis von Wirklichkeit

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Das Wesentliche ist immer hinter dem Horizont. Das Wesentliche ist immer hinter dem Sichtbaren. Alles, was mich als selbstverständliche Wirklichkeit umgibt, ist nur Schein und vordergründig und vorläufig. Da ist noch eine zweite Welt, und auf die allein kommt es an. Es gibt Menschen, die sehen durch die vordergründige Welt hindurch, und Menschen, die sehen nur diese allein. Es kommt auf die Augen an. Genauer noch: Es kommt auf das zweite Augenpaar an, das im Menschen angelegt ist und eines Tages zu sehen und zu erkennen beginnt. Dieses zweite Augenpaar sieht durch die vordergründige Welt hindurch auf die andere Wirklichkeit, die dahinter ist. Wem es nie gelingt, dieses zweite Augenpaar in sich zu erwecken, der bleibt blind, auch wenn er alle Dinge um sich herum so scharf sieht wie ein Raubvogel.

Aus einem Radiofeature von Peter von Matt

»DEM FÜHLEN ZU WENIG«

1. Arbeiten Sie die Weltsicht der Romantiker mithilfe der Zitate heraus. Stellen Sie dabei vor allem die Kritik an der Vernunft dar.

2. Deuten Sie C. D. Friedrichs Gemälde als Ausdruck einer romantischen Weltsicht. Beziehen Sie dafür den Radiobeitrag mit ein.

WÜNSCHELRUTE (1835)

Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort.

Man gibt dem Denken zu viel Wert, dem Fühlen zu wenig, dem Wissen zu viel, und dem Idealisieren zu wenig. Nicht im Verstande oder in der Vernunft ist die Genialität, in der Phantasie leuchtet sie, wie eine helle Flamme, und begeistert alles, was sich ihr naht.

Carl August Eschenmayer, 1822

Denn der Begriff kann nur jedes für sich umschreiben, was doch der Wahrheit nach niemals für sich ist; das Gefühl wird alles in allem zugleich gewahr.

August Wilhelm Schlegel, 1846

»Shutter Island*« (2010). Edward »Teddy« Daniels (bzw. Andrew Laeddis, s. rechts oben) verhört als vermeintlicher US-Marshal zusammen mit seinem Partner Chuck Aule (der sich später als sein behandelnder Arzt Dr. Lester Sheehan entpuppt) Mrs Kearns, eine Insassin der Gefängnisinsel Ashecliffe, um das Verschwinden der Insassin Rachel Solando aufzuklären. Teddy hat den Verdacht, dass auf der Insel geheime Experimente durchgeführt werden. Er hat Albträume und Halluzinationen, in denen es u. a. um den Tod seiner Ehefrau Dolores Chanal sowie ihrer drei Kinder geht, in denen das Motiv Wasser eine Rolle spielt. Zwischen Screenshot 1 und 3 liegen ca. vier Sekunden.

DIE SCHLUSSSZENE VON »SHUTTER ISLAND*«

Mithilfe eines von Dr. Cawley und Dr. Lester Sheehan entwickelten riesigen 2-tägigen Rollenspiels erkennt Teddy (s. links), dass er in Wahrheit der schizophrene Insasse Andrew ist. Dr. Cawley äußert allerdings die Befürchtung, dass Andrew – wie schon einmal – wieder rückfällig werden könne, sodass ihm, als Mörder seiner Frau, eine Lobotomie* droht: Es müsse sich zeigen, ob die Heilung dauerhaft ist. Am nächsten Tag im Freien:

Dr. L. Sheehan: »Na, wie geht’s uns heute Morgen?«

Andrew Laeddis: »Gut. Und selbst?«

»Kann nicht klagen.«

»Und, wie geht’s jetzt weiter?«

»Irgend ’ne Idee?«

»Wir müssen von diesem Felsen runter, Chuck. Zurück aufs Festland. Was immer hier vor sich geht – es ist nichts Gutes.« (Dr. Lester Sheehan blickt kopfschüttelnd zu Dr. Cawley, der veranlasst, die Pfleger mit dem Eispickel für die Lobotomie zu holen.)

»Keine Sorge, Partner, die kriegen uns nicht.«

»Hast Recht, wir sind viel zu schlau für die.«

»Ja, oder? … An diesem Ort frage ich mich …«

»Was denn, Boss?«

»Was wäre schlimmer: zu leben wie ein Monster oder als guter Mann zu sterben?« (Teddy geht mit den Pflegern mit, während Dr. Sheehan ihn anstarrt.)

Info

Die Wirklichkeit Ist Nicht Klar

1. Rekonstruieren Sie Grundzüge der Filmhandlung und erläutern Sie die Materialien.

2. Erarbeiten Sie, wie es dem Film gelingt, Gewissheiten zu irritieren und die Vernunft herauszufordern.

3. Tauschen Sie sich über eigene Irritationserfahrungen mit sog. Mindfuck-Filmen ( s. Info) aus.

SOG. BEWUSSTSEINS- ODER MINDFUCK-FILME Seit den 1990er­ Jahren häufen sich Filme, die durch Strategien unzuverlässigen bzw. komplexen Erzählens versuchen, die Wahrnehmung des Publikums auf falsche bzw. doppeldeutige Fährten zu locken und so zu irritieren, dass sie sich irgendwann nicht mehr sicher sein können, wie real das Dargestellte in der Filmwelt ist. Da es sich in der Regel um Filmfiguren handelt, die Wahrnehmungs­ und Bewusstseinsstörungen haben (hervorgerufen durch Traumata, technische Möglichkeiten, psychische Erkrankungen etc.), eröffnen die Filme dem Publikum die Möglichkeit, vergleichbare Irritationen ein Stück weit am eigenen Leib zu erfahren.

WAS SOLLEN WIR TUN?

Wir fühlen uns heute nicht mehr wie von der Sonne der Vernunft beschienene Aufklärer. Wir irren heute ohne Kompass durch die Nebel eines selbsterschaffenen Informationsuniversums, das mit seiner chaotischen Dynamik gefährliche Konsequenzen für uns haben kann. Was sollen wir tun? Man muss nicht alles machen, was möglich ist! Da, wo es möglich ist, sollten wir Übersichtlichkeit anstreben. Im Industriedesign heißt die Zauberformel »Einfachheit«: Benutzeroberflächen werden so gestaltet, dass sie die Komplexität für den Anwender auf wesentliche Bestandteile reduzieren. Von diesem Ansatz kann auch die Politik lernen. Eine Demokratie lebt schließlich davon, dass Bürger und Politiker zumindest prinzipiell in der Lage sind, zu verstehen, worüber sie entscheiden.

Marco Wehr, Physiker und Philosoph

Ȇberschwemmungen gab es schon immer.

»Man hört so viel Verschiedenes.

»Das mit dem Impfschutz hast du doch aus den Mainstreammedien. Alles Fake News*.

EINFACHHEIT ALS LÖSUNG?

1. Deuten und beurteilen Sie das Demonstrationsplakat. Zeigen Sie dabei auf, inwiefern hier auf Gedanken der Aufklärung zurückgegriffen wird.

2. Stellen Sie M. Leuzinger-Bohlebers Sicht der des Plakats gegenüber. Diskutieren Sie die Erklärungskraft ihrer Deutungen.

3. Welche Rolle spielen digitale Kontexte im Zusammenhang mit z. B. Verschwörungstheorien*, Antisemitismus [9] und Populismus? Deuten Sie die Zeichnung von G. Waters.

4. Diskutieren Sie, wieweit sich M. Wehrs Vorschlag der Einfachheit von den Überlegungen M. Leuzinger-Bohlebers unterscheidet und ob Sie seine Lösung überzeugt.

5. Imaginieren Sie Situationen zu den Zitaten links. Tauschen Sie sich darüber aus, wie Sie sich in solchen Situationen verhalten (würden).

WO BLEIBT EINE NEUE AUFKLÄRUNG?

Teilnehmer auf einer Demonstration der sog. QuerdenkerBewegung in Frankfurt/Main im April 2021

Während der langen Monate der Pandemie haben Verschwörungstheorien*, Gewalt, Fremdenhass, Antisemitismus und Populismus in erschreckender Weise zugenommen. Sie sind mitbedingt durch individuelle und gesellschaftliche Regressionsprozesse. Dabei wird versucht, unerträgliche Komplexitäten zu bewältigen, indem vereinfacht zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch, Schwarz und Weiß, Ich und Du, Wir und Ihr unterschieden wird. Dieses reduktionistische, vereinfachende Denken und Fühlen befriedigt zentrale unbewusste Fantasien und schafft scheinbare Orientierungen und Erleichterungen, stellt aber eine enorme Bedrohung für unsere westlichen Demokratien dar.

Marianne Leuzinger-Bohleber, Psychoanalytikerin

INTERVIEWAUSZUG ZUR THEORIE DER VERNUNFT BEI JÜRGEN HABERMAS*

Anlässlich des 90. Geburtstags des berühmten deutschen Philosophen Jürgen Habermas (*1929) führten die Journalistin Gisa Funck und der Soziologe Stefan MüllerDoohm ein Gespräch über ihn und seine wichtigsten Überlegungen und Theorien.

Funck: Sie erwähnten gerade schon, dass das Gegenargument bei Habermas einen wichtigen Stellenwert hat. Was steht im Mittelpunkt seiner Lehre?

Müller-Doohm: Im Mittelpunkt steht der Versuch, Vernunft zu bestimmen, eine Theorie der Vernunft zu entwickeln. Vernunft ist für Habermas etwas, das im dialogischen Verfahren immer wieder neu hervorgebracht werden muss. Erst nach dem, was er dann »Diskurse« nennt, also erst nach Diskursen kann etwas einleuchtend oder nicht­einleuchtend sein. Und solche herrschaftsfreien Diskurse*, die übrigens alle Betroffenen als gleichberechtigte Teilnehmer einbeziehen, die sind für Habermas die grundlegende Voraussetzung eines, wie er es nennt, »rationalen Konsenses«, der die Anerkennung aller Betroffenen verdient. Aber wenn er vom »herrschaftsfreien Raum« redet und von der »gleichberechtigten Anerkennung« aller Beteiligten, dann klingt das doch schon etwas idealistisch, oder?

Nein, idealistisch würde ich nicht sagen. Es ist eine kontrafaktische Idee, an der wir allen Grund haben festzuhalten. Wenn wir nicht mehr davon ausgehen, dass sich am Ende der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« durchsetzt, dann würden wir ja die Ent­ scheidung abgeben an irrationale Instanzen oder an Inhaber von Machtpositionen. Und ich bin davon überzeugt, dass es zu dieser Idee einer Einigung im kommunikativen Prozess keine Alternative gibt. Es sei denn, wir geben unsere Freiheit auf, aber daran kann ja keinem gelegen sein.

»Immer diese leidigen Streitereien.

»In der Schule wird nie richtig diskutiert.

»Die Mehrheit hat nicht immer recht.

»Besser, du entscheidest.

Lass Uns Mal Dar Ber Sprechen

1. Führen Sie Schreibgespräche zu den Zitaten (oben) oder tauschen Sie sich darüber aus, was Ihnen am Diskutieren wichtig/unwichtig/nervig/anstrengend/problematisch … erscheint.

2. J. Habermas* ist für seine Theorie des »herrschaftsfreien Diskurses« berühmt geworden. Erarbeiten Sie diese Vorstellung sowie ihren Zusammenhang zur Vernunft aus dem Interviewausschnitt.

3. Suchen Sie Beispiele für Räume, die nicht »herrschaftsfrei« sind. Denken Sie dabei auch an metaphorische bzw. soziale Räume.

4. Diskutieren Sie J. Habermas*� Verständnis von Vernunft als kontrafaktischer Idee. Beziehen Sie dabei die Karikatur oben bzw. S. 36 mit ein.

5. Formulieren Sie ein »Merke« für diese Seite.

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