Bäume gibt´s da noch nicht! - Umsiedlung im Tagebaugebiet Garzweiler

| MF.1

Bäume gibt‘s da noch nicht

| 2.3

Bäume gibt‘s da noch nicht Umsiedlung im Tagebaugebiet Garzweiler

Christian A. Werner

| 4.5

| 6.7

Garzweiler II

entstehen neue Siedlungen, die den gleichen Namen

Bäume Gibt‘s da noch nicht

tragen. Retortenhaft, am Reißbrett geplant, erscheinen

Von Christian A. Werner

sie völlig gegensätzlich zu den alten Orten, die über Jahrhunderte individuell gewachsen sind.

V

on oben betrachtet gleicht das Rheinische

Im Jahr 2006 begann die geplante Erweiterung des

Braunkohlerevier zwischen Köln, Mönchen-

Tagebau auf das Abbaugebiet Garzweiler II. Hierfür

gladbach und Aachen einer Mondlandschaft.

sollen 12 Ortschaften und mit ihnen mehr als 7500

Kraterhafte Riesenlöcher mit mehreren Quadratkilo-

Menschen umgesiedelt werden. Aktuell befinden sich

metern Durchmesser prägen das Bild der Region. Hier

die Dörfer Immerath, Lützerath und Borschemich im

lagern die größten Braunkohlevorkommen Europas. Im

Prozess der Umsiedlung. Fünf weitere Dörfer und damit

vergangenen Jahrhundert hat der großflächige Abbau

tausende ihrer Bewohner sollen bis 2030 folgen. Die

von Kohle die Topographie des Gebietes von Grund auf

Orte Holz, Otzenrath, Spenrath und Pesch sind bereits

verändert und das Leben der Menschen maßgeblich

verschwunden.

beeinflusst. Für Deutschland ist der fossile Brennstoff der größte und gleichzeitig der einzig nennenswerte

Die betroffenen Menschen verlassen ihre Heimatorte

Bodenschatz.

nur widerwillig. Der Verlust ist für sie endgültig, ihr früheres Zuhause verschwindet unwiederbringlich.

Aktuell wird in drei Großtagebauen durch den Energie-

Es ist ein langwieriger Prozess, den jeder Einzelne für

konzern RWE-Power der fossile Rohstoff gefördert und

sich allein durchlebt.

in den umliegenden Kohlekraftwerken zur Stromerzeugung verbrannt. Der Tagebau Garzweiler im Norden der

Am Anfang steht bei vielen Menschen der Widerstand

Region ist einer der flächengrößten in Deutschland. Seit

gegen die Umsiedlung, gefolgt von Resignation und

den 1930er Jahren wird hier Braunkohle gewonnen.

der Einsicht der Machtlosigkeit gegenüber politischen

Insgesamt umfasst das bis 2045 geplante Abbaugebiet

Entscheidungen. Die meisten fügen sich allmählich

eine Größe von 114 Quadratkilometern. Jährlich

ihrem Schicksal als Umsiedler und beginnen sich neu

werden hier zwischen 35 und 40 Millionen Tonnen

zu orientieren: Was machen wir? Wohin gehen wir?

Kohle gefördert.

Der langsame Abschied von der Heimat beginnt.

Die fortlaufende Erweiterung des Tagebaus macht

Zähe, teils mehrjährige Verhandlungen mit RWE über

auch vor der Heimat der Menschen keinen Halt. Der

die Höhe der finanziellen Entschädigungen folgen.

Abriss ganzer Ortschaften und die Umsiedlung der

Die, die weiterhin in der Dorfgemeinschaft leben wollen,

Bewohner gehören seit Jahrzehnten zum Alltag in der

beginnen allmählich mit dem Bau eines neuen Hauses

Region. Jahrhundertealte Dörfer verschwinden von

am vorbestimmten Ort. Ein neues Dorf entsteht.

der Landkarte und in wenigen Kilometern Entfernung

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Mit jeder Familie die wegzieht, wird ein Haus dem

Ziel war es, den Weg für die militärische Aufrüstung

Abriss preisgegeben. Die Lücken im alten Dorf werden

Deutschlands zu ebnen.

so immer größer und die Tristesse erfasst die noch Verbliebenen. Langsam entsteht ein Geisterdorf.

Neben den psychosozialen Folgen für die Umsiedler, stehen schwerwiegende Auswirkungen auf die Umwelt

Nach Schätzungen von RWE siedeln durchschnitt-

in der Umgebung. Wälder werden gerodet, fruchtbare

lich 60 Prozent der Bewohner mit ihrem Dorf um.

Böden abgetragen, Fluss- und Bachläufe umgeleitet.

Bei einigen Orten sind es mehr, bei einigen deutlich

Um den Tagebau Garzweiler bis auf eine Tiefe von 230

weniger. Diejenigen, die sich dagegen entscheiden,

Metern trocken zu halten, werden jährlich bis zu 150

haben unterschiedliche Gründe: Manche nutzen die

Millionen Kubikmeter Grundwasser abgepumpt und

Gelegenheit um künftig näher an ihren Arbeitsstätten

zum Großteil in Flüsse abgeleitet. Das entspricht in

oder bei Angehörigen zu leben. Einige Bewohner su-

etwa 280.000 Litern pro Minute. Der Grundwasserspie-

chen sich alte Bauernhöfe, weil sie das Leben in einer

gel in der weiteren Umgebung wird dadurch trichterför-

Neubausiedlung ablehnen, oder sie die Tierhaltung

mig gesenkt. Folgen sind großflächige Absenkungen

nicht aufgeben wollen. In vielen der neuen Orte ist eine

der Oberfläche und das Austrocknen von Sumpfgebie-

Haltung von Pferden, Kühen, Schweinen und Schafen

ten.

nicht mehr möglich.

Am Ende soll aus dem verbleibenden Restloch des Möglichkeiten sich der Umsiedlung zu entziehen gibt

Tagbaus ein See mit einer Fläche von 23 Quadratkilo-

es selbst für die Hartnäckigsten nicht. Findet keine

metern und einer Tiefe von 185 Metern entstehen. Um

Einigung mit dem Bergbauunternehmen statt, wird ein

das Loch allmählich zu füllen, sollen ab 2045 jährlich

Enteignungsverfahren eingeleitet.

60 Millionen Kubikmeter Wasser vom Rhein in die Gru-

Die Grundlage dafür bildet das Bundesberggesetz.

be umgeleitet werden. Dies über einen Zeitraum von

Wird nachgewiesen, dass der Nutzen aus Bodenschät-

voraussichtlich 40 Jahren.

zen für die Allgemeinheit von größerer Bedeutung ist, als die Interessen am Erhalt der Heimat der Betroffenen, kann das Bergrecht die im Grundgesetz veranker-

Das Leben der Umsiedler geht in den neuen Orten

ten Rechte auf Schutz der Menschenwürde, der

weiter. Alltag und Routine kehren nach einer gewissen

Freizügigkeit und Unverletzbarkeit der Wohnung aufhe-

Zeit zurück. Langsam gewöhnen sich die Menschen an

ben und eine Enteignung vollzogen werden. Im Fall der

das künstlich erschaffene Dorf. Neue Nachbarschaften

Braunkohlegewinnung war dies bislang immer der Fall.

haben sich gebildet und damit neue Strukturen.

Die entsprechende Regelung beruht auf Gesetzesno-

Das soziale Gefüge im Ort festigt sich allmählich.

vellen, die während der NS-Diktatur eingeführt wur-

Den Vereinen und der Kirche wird hierbei eine zentrale

den um Bodenschätze leichter ausbeuten zu können.

Bedeutung beigemessen.

Sie bewahren die lokalen Traditionen und stabilisieren die Dorfgemeinschaft von innen. Ein Stück vom Geist des alten Dorfes lebt so im neuen Ort weiter und bietet den Menschen etwas zum Festhalten, etwas in dem sie ihre Heimat weiterleben können.

Viele der älteren Menschen denken noch immer sehnsüchtig an das alte Dorf und seine Geschichte zurück.

Beides ist unwiderbringlich und nur noch in ihren Erinnerungen und Erzählungen präsent.

Für viele junge Bewohner, wird der neue Ort schnell zur Heimat, ganz so, wie es der Umsiedlungsplan vorsieht.

Nur Bäume? - Bäume gibt‘s da noch nicht!

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vom Abschied

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ÂťDer Kopf ist schon im neuen Ort und das ist auch gut und richtig so.

Aber das Herz ist noch im alten Dorf und es wird noch lange dort bleiben.ÂŤ Franz Josef Gormans

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»Seit über zehn Jahren leben wir jetzt in diesem Zustand. Es gab Zeiten, da waren RWE und die Umsiedlung Thema bei jedem Geburtstag und bei jeder Feier hier im Dorf. Und das kostet Kraft.« Ruth Ahrweiler

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Braunkohletagebau Garzweiler II:

keinen Heimweg mehr. Ihr Fühlen und Denken wird

Horror-Vision oder Zukunfts-Szenario,

davon beherrscht, besonders das der Älteren. Weitere

Alptraum oder Wirklichkeit?

Sorgen schaffen eine unerträgliche Situation, rauben

Von Heinrich Goebels

den Schlaf. Angst vor der Zukunft, Sorge vor Vereinsamung zehren an den Nerven, machen krank. Trostworte

Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Buch

erreichen sie kaum.

»1100 Jahre Borschemich«, welches anlässlich eines

Ein Demonstrationszug formiert sich noch einmal, wie

Ortsjubiläums im Jahr 1998 erschien. Acht Jahre

anfangs schon so oft, Menschen von weiter her, aus

später wurde mit der Umsiedlung von Borschemich

nichtbetroffenen Orten, aus anderen Heimaten sind

begonnen. Einige der von Heinrich Goebels im Text

auch gekommen. Junge Leute, alte Leute, evangelische

beschrieben Szenarien wurden in den Jahren Realität

und katholische Pfarrer vorneweg.

für die Bewohner.

E

Wenige pflegen noch ihre Häuser oder stellen frische ines Tages soll es soweit sein, unser Dorf muss

Blumen an die Fenster. Nachbarschaften zerbrechen,

weg, es liegt über der Braunkohle, ohne diese

lösen sich auf. Viele ältere Menschen sterben, die Jahre

Braunkohle gäbe es keine gesicherte Energiever-

zwischen Hoffen und Bangen, der bevorstehende

sorgung mehr, heißt es.

Verlust ihrer Heimat, ihrer Sicherheit und Geborgenheit

Was Anfangs nur Bedrohung war, wird schreckliche

in gewohnter Umgebung, das alles hat sie an ihren

Wahrheit. Alle waren sie doch dagegen – scheinbar

Wurzeln geschädigt und entkräftet. Wieder werden

alle! Von Solidarität war die Rede. Man wollte zusam-

Häuser abgerissen. Schleppende Verhandlungen mit

menhalten.

dem Konzern, der hat das Monopol, andere Käufer gibt

Die Front der Tagebaugegner bröckelt schnell. Ausein-

es nicht. Sachverständige werden eingeschaltet, gelten

anderdividieren muss man die Leute!

als neutral. Die Betroffenen selbst sind überwiegend

Die Ersten haben schon an den Betreiber verkauft, für

verhandlungsunerfahren.

viel Geld, wie es heißt. Keiner lässt sich über Zahlen

Opfer müssen erbracht werden, das sei eben so, heißt

aus. Ein neuer Standort für das Dorf wird gesucht, ein

es. Die letzte Gaststätte, der letzte Handwerksbetrieb

Wunschstandort verworfen. Die verkauften Häuser

werden aufgegeben. Bald leben nur noch wenige

werden eiligst abgerissen, die Grundstücke planiert, die

Menschen im Dorf. Es ist nur noch ein Geisterdorf.

ersten hässlichen Lücken im Ort entstehen und geben

Es ist wie im Krieg, mitten im Frieden. Wilde Pflanzen

den anderen das Gefühl des Verlassenseins, der

wachsen in Ruinen. Die zunehmende Verlassenheit

Ohnmacht. Die Toten werden schon nicht mehr auf

beängstigt die wenigen Dagebliebenen. Dort, wo einst

dem alten Friedhof beerdigt. Wieder verkaufen welche.

vertraute Winkel und Gassen lagen, ist jetzt nichts als

Fenster und Türen werden zugemauert. Zusehends

öde, leere Weite.

verlieren Menschen ihr Zuhause, bald gibt es dorthin

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Eine alte Frau schaut stundenlang aus dem Fenster

Es zieht durch die hohlen Fensteröffnungen, man

ihres alleinstehenden Hauses in das diesige Nichts,

schlägt die Kragen hoch. Durch das riesige Loch in der

dorthin, wo sie die Bagger vermutet, die sie schon

Außenwand, dort wo immer der große Weihnachts-

hören kann, Tag und Nacht.

baum stand, jagt der Wind feinen Mörtelstaub in die Gesichter. Es schmerzt, man wendet sich ab.

An einem Sonntag wird die letzte Messe in der alten Kirche gehalten. Alle kommen sie noch einmal zurück.

Ja, da sind noch die Toten auf dem Friedhof nahe bei

Schöne Predigt, viele weinen; die Bibelworte des

der Kirche, sie müssen auch umgebettet werden, alle?

Pfarrers in Bezug zur erzwungenen Umsiedlung: »Auf

Die schon lange Verstorbenen bleiben.

Erden gebe es keine bleibende Stätte«, enttäuschen andere. Paulus wird in seinem Brief an die Korinther

Das letzte Weihnachten für die verbliebenen

und Philipper kaum an Riesenbagger gedacht haben.

27 Menschen im alten Dorf. An den nächsten Tagen

Wohlgemeinte Worte des Trostes bereiten ungewollt

kommen viele Besucher, einige schauen traurig, die

Kummer. Nun wird die Kirche nicht mehr für den

meisten sind neugierig, knipsen und filmen pausenlos.

Gottesdienst benutzt werden. Nachher reden die

Einige sind stolz über die technische Leistung, andere

Menschen einander zu: Kopf hoch, das Leben geht

schimpfen über das angerichtete Chaos. Man brauche

weiter! Die meisten steigen in ihre Autos, fahren schnell

schließlich Energie, tragisch für die Betroffenen, hört

weg. Kein Blick zurück in die ausgeräumte Landschaft.

man sagen. Und dann die vielen Arbeitsplätze die

Die Grube ist jetzt nur noch 600 Meter vom Dorf

dadurch gesichert werden! Grundwasserabsenkung?

entfernt.

Ausgetrocknete Feuchtgebiete? Wasser vom Rhein

Die allerletzte emotionale Bindung der Menschen an

wird alles wieder ausgleichen! In hundert, vielleicht

ihre Heimat wird zerstört. Es wird in allen regionalen

zweihundert Jahren.

Zeitungen stehen, das Lokalradio wird darüber berich-

»Verheizte Heimat«, empört sich ein anderer und zitiert

ten, auch das Fernsehen wird kommen. Damals, bei

aus einem gleichnamigen Buch: »Mit der geschunde-

den friedlichen Demonstrationen gegen den geplanten

nen Natur verkümmern unsere Seelen!« Man winkt ab,

Tagebau, war es nicht zugegen. Aber nun wird der

lacht ihn aus, besonders die Fremden. »Wohl immer

altehrwürdige Kirchturm in Schutt und Staub zusam-

noch nicht genug Reibach gemacht, was?«, unterstellt

menbrechen. Ein Hebelzug, der Turm fällt in sich

man ihm Profitgier als Motivation für seinen ohnmäch-

zusammen, genau wie vorausberechnet, Gratulation an

tigen Protest. »Verdrehte Welt«, sagt er und schüttelt

den Sprengmeister, ganze Arbeit geleistet. Eine Flasche

den Kopf, murmelt etwas von Energiesparen und längst

Schnaps macht die Runde. Es weht kalt von der Grube

überfälligen Investitionen für Sonnenenergie in sich

her, fröstelnd trinken nun auch die zahlreichen Zu-

hinein und resigniert.

schauer aus den mitgebrachten Schnapsflaschen,

Der Braunkohlekonzern hat sich doch was einfallen

gehen durch die offenen, türlosen Eingänge der Kirche.

lassen, um den Menschen, die umgesiedelt werden,

das neue Leben lebenswert zu gestalten! »Sehen

Das Dorf ist jetzt schon eine Halbinsel. Ein Bagger frisst

Sie sich die neuen Dörfer doch mal an! Häuser, hier

sich entlang der Dorfstraße und erreicht die Stelle, wo

in leuchtend roten Ziegelsteinen, dort strahlendweiß

die alte Wasserburg gestanden hat, schwenkt in

getüncht in neu-patrizischem Stil!« »Steril? Ach,

Richtung Kirche und Friedhof. Geweihte Erde hilft

lassen Sie die Bäume erst ein wenig höher werden!

anderswo ein ausgeraubtes Riesenloch zu verfüllen.

Manches Vertraute aus dem alten Ort ist doch

Die tief verwundete Erde bleibt stumm, kann sich nicht

herübergeholt worden, die Wegkreuze und andere

wehren.

Zeugnisse der Geschichte!« » Und dann wird da doch, ganz zum Schluss, der herrliche See sein, der

Schnell weiter! Tag und Nacht! Es ist ja noch für etliche

die Landschaft zu einem Anziehungspunkt

Jahrzehnte genügend Braunkohle da, ob benötigt oder

sondergleichen machen wird, umgeben von den

nicht.

alten verbliebenen und den ihnen angegliederten

Die beiden Bagger kommen sich näher. Am anderen

neuen Dörfern, direkt vor der Tür! Sechs Kilometer

Grubenrand, zehn Kilometer entfernt stehen ehemalige

lang, fünf Kilometer breit, mit weiträumig

Einwohner, halten Ferngläser vor ihren Augen, sehen,

geschwungenen Uferrändern, angelehnt an einen

wie ihre Erde schaufelweise wegtransportiert wird.

reich bewaldeten, neu zu schaffenden Berg an der

Hier ist kein Platz für Illusionen, es bleibt kein Rest von

einen Seite und in schilfbewachsenen

Romantik, wie in dem bayrischen Dorf, wo man sich der

Sonderbiotopen auslaufend in den anderen

Illusion hingeben konnte, unten im Stausee läuten noch

Himmelsrichtungen.«

einmal die Glocken der Kirche. An dieser Stelle harter

»Der Bagger macht das doch alles erst möglich!«

Realität ist kein Raum für heimliche Melancholie, kein

Eine makabre Vision angesichts des gespensti-

Ort zum Träumen!

schen Treibens in dem schauerlichen, grausigdüsteren, 200 Meter tiefen Inferno!

Danach gehen sie zurück in ihr neues Dorf, in das sie geordnet und planmäßig umgesiedelt worden sind, das

Plünderer hoffen immer noch, Wertvolles in den

mit Zirkel und Lineal geplant worden ist.

verlassenen Häusern zu finden. Am ehemaligen

Anstelle des alten Dorfes mit seinen verschachtelten

Dorfrand bellt der letzte Wachhund auf dem letzten

Häusern, Grundstücken und den engen Straßen sind

Bauernhof. Bald wird auch der letzte Einwohner das

moderne Anlagen und Einrichtungen entstanden, alles

Dorf verlassen. Der letzte Hof wird niedergerissen,

hübsch sortiert. Kein Platzmangel zum Parken. Alles

wie schon einige andere, die mit Stallungen,

steht genau da, wo es geplant wurde. Nichts wächst

Wohnhaus und Scheune im Karree gebaut waren.

da, wo es nicht geplant ist.

Kein Hahn kräht. Kein Muhen von Kühen ist mehr zu

Der erste Bagger erreicht von Osten her den

hören, aber Rasenmäher surren an lauen Samstag-

Dorfrand, ein zweiter Bagger kommt von Süden.

abenden und am Sonntag.

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vom Neubeginn

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»Umsiedeln, wo anders leben, dass ist nicht schlimm. Wirklich schlimm ist, nicht mehr zurückkehren zu können.

Ich kann meinen Enkeln niemals den Ort zeigen, an dem ich aufgewachsen bin.« Brigitte Albrecht

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Borschemich -

Auf Seite 80 sieht man die neu gepflanzte Linde, die

Die umsiedlungen

jetzt in einer Art – ja, was soll das sein? – Kreisverkehr

Von Stefanie Grube

steht. Der neue »Lingeboom«, der mindestens so alt werden soll wie der im alten Borschemich: 400 Jahre.

U

»Ein schönes Buch ist das«, sagt Herr Albrecht.

nd dann können Sie in Ihrem Bericht auch

Als es für Herrn und Frau Albrecht klar war, dass sie

schreiben, dass wir uns sehr freuen, dass die

umsiedeln mussten, wie es offiziell heißt, planten sie

Keyenberger bald zu uns kommen«, sagt Herr

drei Grundstücke in dem neuen Ort: eines für sich, eines

Albrecht noch. Keyenberg – das ist das Dorf neben

für ihren Sohn und eines für die Tochter. Nun wohnen

dem alten, nun fast verlassenen Borschemich. Die

drei Generationen der Familie Albrecht nebeneinander

Keyenberger müssen ebenfalls umziehen, auch ihr Dorf

– Enkelkinder inklusive. »Das wäre im alten Dorf nicht

wird bald von einer Braunkohlegrube geschluckt. Jetzt

möglich gewesen«, sagt Frau Albrecht.

soll das neue Keyenberg neben dem neuen Borsche-

Junge Leute zogen aus Alt-Borschemich weg, die

mich aufgebaut werden. Also alles fast wie früher.

Kinder der Albrechts hatten das auch so gemacht.

Geht man im neuen Borschemich an dem kleinen Weg

»Das war ein Ort ohne Zukunft«, sagt Frau Albrecht

vor der Kirche Richtung Autobahn, vorbei an den neu

über das alte Borschemich, über dem schon seit den

angelegten Gärten, in denen die Pflanzen noch viel zu

60er-Jahren die Frage nach einem möglichen

klein sind, als dass sie den Blick in die Fensterfronten

Braunkohle-Abbau schwebte. »Nichts gab es dort

verhindern könnten, sieht man schon aufgetürmte

mehr, keine Möglichkeit einzukaufen, keine Kneipe,

Erdhügel: Hier entsteht wieder Keyenberg, offiziell dann

keine Bäckerei«, sagt Herr Albrecht. Nun, fairer-halber

so geschrieben: Keyenberg (neu).

muss man sagen, dass es das alles im neuen Borschemich auch nicht gibt. Aber nur eine Fußgängerbrücke

Herr Albrecht sagt, dass die Keyenberger nun bald

trennt die Neu-Borschemicher von der Stadt Erkelenz.

wieder nebenan wohnen würden, das sei schon ein

Und da gibt es natürlich alles Mögliche.

Stück Heimat. Die umliegenden Dörfer, die seien schon immer wichtig für das eigene Leben gewesen. Herr

»Das hat alles seine Vor- und Nachteile«, sagt Herr

Albrecht besitzt einen Bildband über diese Dörfer und

Albrecht über die Umsiedlung. Auch Frau Albrecht sieht

seine Stadt: »Erkelenz, mittendrin und rundherum«.

das neue Zuhause ganz pragmatisch: »Viele ältere

Keyenberg kommt dort logischerweise nur ein Mal vor,

Paare haben sich neue Häuser gebaut, die viel zu groß

Borschemich hingegen gibt es zwei Mal: Auf Seite 48

für sie sind. Die wollten einfach nach außen hin gut

»Borschemich«, auf Seite 80 »Borschemich (neu)«. Auf

aussehen, eine Verbesserung ihres Status`. Die sind

einem Foto auf Seite 48 sieht man die Dorfstraße,

genauso alt wie wir. Da frage ich mich: Wer soll das

kleine krumme Häuser reihen sich dicht an dicht, ein

alles putzen?« Es ist ja so eine Sache, wie man

schmaler Bürgersteig säumt die Häuserflucht.

versuchen kann, alles rauszuholen aus der Umsiedlung.

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»Alles ebenerdig hier«, sagt Frau Albrecht stolz.

in dem neuen Ort bleiben wollten.

»Altersgerecht.« »Wir heizen mit Erdgaswärme«, sagt

Wohl aber auch bedeutete für die Kinder der neue Ort

Herr Albrecht und erzählt, wie viel Geld sie für Öl

Hoffnung auf weniger Stress. Denn die Umsiedlung war

ausgeben mussten im alten Borschemich, für ihren

ständig Gesprächsthema, hier die Verhandlungen mit

Bauernhof. Der hängt als Foto im Flur. Man sieht das

RWE, da die Baustelle im neuen Ort. Egal wo, ob auf der

mehrteilige Gebäude, die ehemaligen Ställe und die

Straße, beim Schützenfest, bei der nächsten Geburts-

weite Wiese dahinter. Das war den beiden Albrechts bei

tagsfeier im Dorf: »Eigentlich war die Umsiedlung

der Wahl ihres neuen Grundstücks wichtig, dass sie

immer Thema«, sagt Cremer. Und das zehrt.

einen freien Blick haben, wenn sie aus dem Wohnzimmerfenster schauen. Der Vorgarten hingegen, ganz

Ihr Haus in Alt-Borschemich steht nicht mehr, Allerhei-

Neubausiedlung, grenzt an eine Spielstraße mit kleinen

ligen im November 2014 wurde es abgerissen. Jeden

Verkehrsinseln, deren Bäume irgendwann, wenn alles

Vormittag ist Anneliese Cremer dort hingefahren und

gut läuft, Schatten spenden werden. Im neuen Bor-

hat Fotos von dem Abriss gemacht. »Das hat zwar weh

schemich tragen die Straßen dieselben Namen wie im

getan, aber nicht so sehr wie ich dachte«, sagt sie.

alten Borschemich, aber immer mit dem Zusatz »(neu)«

»Dann war wenigstens klar: Ich muss nun wirklich im

versehen. »Das neuʼ auf den Straßenschildern kommt

neuen Ort bleiben, jetzt endgültig.«

weg, wenn Borschemich weg ist«, sagt Herr Albrecht.

Als das alte Haus noch stand, hatte sie sich dort oft

Borschemich alt, meint er natürlich.

einfach in den Garten gesetzt. »Wir hatten draußen einen richtigen Grill-Pavillion. Das war so gemütlich,

Es ist noch nicht ganz weg. Die Kirche steht noch.

sich abends vor das Feuer zu setzen.« Der neue Garten

Sie ist allerdings schon entweiht und die Kirchenbänke

würde Platz bieten für solch eine Feuerstelle – warum

sind auch schon unter dem Nagel gewesen: Am 11.

hat sie nicht wieder so einen Pavillion in den Garten

April 2015 konnte jeder, der wollte, sich eine Kirchen-

gebaut? »Ach, das war immer auch `ne Qualmerei«,

bank mitnehmen. 100 Euro kostete eine und die Bank

sagt sie und winkt ab. »Ich weiß nicht, ob die neuen

musste selbst abmontiert werden. »Da hatte ich erst

Nachbarn das so toll finden.« Irgendwie fühle sie sich

überlegt, aber dann dachte ich mir, was soll man damit.

immer noch, als sei sie hier nur im Urlaub, sagt sie.

Ich warte, bis sie die Fenster verkaufen. Das fände ich

Anneliese Cremer ist 49 Jahre alt, als sie Kind war, war

schon interessant«, sagt Anneliese Cremer.

Borschemich noch ein normales Dorf: »Da waren mehrere Gärtnereien, eine Bäckerei und Lebensmittel-

Cremer zog erst in das neue Dorf, als ihre Kinder nicht

läden, drei Kneipen. Das fand ich bei meinen Kindern

mehr zurück ins alte wollten. »Die meinten, du kannst ja

dann schon etwas schade, die konnten im Dorf ja

wieder fahren, aber wir bleiben hier«, sagt sie. »Für die

nirgendwo ihr Taschengeld ausgeben, sich noch nicht

ist der Schulweg halt kürzer«, fügt sie hinzu, als müsse

mal einen Kaugummi kaufen. Das Highlight war im

sie irgendetwas finden, warum die Kinder ausgerechnet

Sommer einzig das Eismännchen.«

Der Wagen fährt jetzt auch ins neue Borschemich, aber:

»Die Burg instand zu halten, das kostet viel zu viel Geld,

»Diejenigen, die in Alt-Borschemich bei ihm Eis gekauft

das hätte er doch gar nicht geschafft.« Seit fast 170

haben, die machen das irgendwie im neuen Borsche-

Jahren wohnte die Familie Lörkens in der Wasserburg.

mich nicht mehr«, sagt Cremer. Eis gibt es natürlich auch in der Stadt Erkelenz, und was im alten Dorf ein

Für das alte Dorf war die Burg nicht nur ein Wahrzei-

Highlight war, ist im neuen nur mehr ein Plus, ein Extra.

chen, sondern auch ein Treffpunkt. Auf dem Hof wurden Schützenfeste und Kirmisse veranstaltet, als

Sich verbessern, was aus der Umsiedlung rausholen –

die Wasserburg noch von Wasser umgeben war, liefen

das war für Anneliese Cremers Bruder Willfried Lörkens

die Kinder des Dorfes dort Schlittschuh im Winter. Doch

von Anfang an schwer möglich. Er wohnt in der

seit den 70er-Jahren gibt es kein Wasser mehr um die

Wasserburg in Alt-Borschemich. Immer noch. Er und

Burg herum, die Kohlegrube kam dem Dorf näher.

seine Lebensgefährtin sind eine von vier Parteien, die noch im alten Ort wohnen. Aber auch Lörkens wird

»Da willst du eigentlich nur einen kleinen Spaziergang

umsiedeln. Noch nicht lange hat er den Vertrag mit

durchs Dorf machen, und da sitzt Wilfried draußen vor

RWE unterschrieben. Bis zum Schluss hat er versucht,

der Burg – ja, da war dann keine Flucht mehr möglich«,

zu verhandeln. Was hat er denn gehofft, rausholen zu

sagt Udo Rosen lachend und schließt an, das werde

können? »Na, dass sie mir vielleicht eine vergleichbare

noch mal was ändern, wenn Lörkens »endlich« im

Immobilie irgendwo anbieten«, sagt, fragt er mehr. Eine

neuen Borschemich sei. Udo Rosen und seine Frau

vergleichbare Immobilie.

Sabine leben seit vier Jahren in einem der Einfamilien-

Die Wasserburg in Alt-Borschemich, eine historische

häuser, deren Gärten an den Weg grenzen, der bald ins

Burg, seit dem Mittelalter Haus Paland genannt, nach

neue Keyenberg führen wird. Auch ihre Pflanzen im

einem Rittergeschlecht. Urkunden über die Burg gehen

Garten sind noch sehr klein. »Mit den neuen Nachbarn

auf das Jahr 1296 zurück, um 1600 wurde die Burg so

hier haben wir nicht viel zu tun. Das hat sich einfach

umgebaut, wie sie heute noch steht – beziehungsweise

noch nicht so ergeben«, sagt Udo Rosen. Das sei nicht

stand, als dieser Text geschrieben wurde. Die Burg ist

wild – nur eben anders.

denkmalgeschützt. Aber sie sitzt eben auf Braunkohle.

Eine vergleichbare Immobilie ist das Haus von Wilfried

Denn in Alt-Borschemich, da sei man einfach so rüber

Lörkens im neuen Borschemich sicherlich nicht. Es ist

gegangen zu den Nachbarn, da war das ganz normal.

etwas breiter, etwas wuchtiger, als die anderen Einfami-

»Und das hat ja auch so seine Vorteile, dass das nicht

lienhäuser. Aber natürlich ist es keine Burg.

mehr so ist, das will ich gar nicht abstreiten«, sagt

Es geht das Gerücht um, dass einen Tag nach seiner

Rosen, er lacht wieder.

Unterschrift zum Verkauf an RWE das Dach im zweiten Flügel der Wasserburg eingefallen sein soll. Der soll

Vielleicht ist Udo Rosen einer der neutralsten

doch froh sein, der Lörkens, sagt einer im neuen Dorf:

Dorfbewohner, die man zur Umsiedlung befragen kann.

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Erst 1999 zog er ins alte Borschemich. Angeheiratet,

Ein Verkauf sollte jetzt, selbst abgesehen davon,

sozusagen, baute er mit Sabine Rosen ein Haus.

schwierig werden: Ein Haus in einem Dorf, das geogra-

Um sich im Dorf zu integrieren: volles Programm. Er

fisch bald nur noch von einer Seite zu erreichen sein

trat erst einmal in die Borschemicher Bruderschaft ein.

wird, am Rand der Kohlegrube gelegen, erscheint nicht

»Man schließt nicht einfach so Freundschaft in einem

sonderlich attraktiv auf dem Immobilienmarkt.

kleinen Dorf«, sagt er.

Daher hätte also auch alles gut ausgehen können, als 1999 in Alt-Borschmich ein Haus bauen? In einem Ort,

sich die Rosens 1999 entschieden, trotz aller

der abgeschnitten ist, wenn man kein Auto hat, der

vorausschauender Zukunftsvisionen, ein neues Haus in

alleine nicht mehr funktioniert, in dem sich Jüngere

Borschemich zu bauen. Ist es dann eben aber doch

nicht gerne niederlassen, in dem Töchter und Söhne

nicht. Es gibt einen Film aus dem Kinderfernsehen, da

das Dorf verlassen? Sabine Rosen kennt die

sagt der Sohn der Rosens, dass er sich wünsche, jeder,

Bedrohung ihres Kindheitsdorfes, seit sie klein ist, als

der Strom verbrauche, solle sich Gedanken darüber

Jugendliche war sie auf der berühmten Fackeldemo,

machen, dass dafür Menschen umsiedeln müssen.

als sich die Anwohner und weitere Demonstranten

»Das hat damals viele hier berührt«, sagt Sabine Rosen.

gegen den Garzweiler-Tagebau um die Kohlegrube

Aber Protest? Wenn es Demos gab, dann sei niemand

versammelten, einen Fackelkreis bildeten. »Klar, ich bin

vom Dorf dabei gewesen, nur externe, von Organisatio-

damals schon durch Orte gefahren, wenn ich zum

nen wie Attac und ähnlichen. »Die haben dann ihren

Freibad wollte zum Beispiel, die abgerissen wurden.

Müll hier gelassen, aber mehr ist nicht passiert«, sagt

Trotzdem war da immer die Frage: Trifft es wirklich

Sabine Rosen und deutet mit einer ausladenden

auch Borschemich? Man fühlt sich irgendwie nicht

Armbewegung auf ihre Nachbarschaft: »Das sind alle

persönlich betroffen. Fahren Sie mal fünf Kilometer

erwachsene Leute hier, die sind vernünftig. Die finden

raus und fragen sie da mal jemanden nach Braunkoh-

sich damit ab. Wir sind hier auch nicht in Berlin.«

leabbau. Dann sagt der: Tagebau? Wo ist denn hier Tagebau?«

Aber einfach alles so hinnehmen, das tut Sabine Rosen nicht. Als die Umsiedlung begann, bewarb sie sich für

Und tatsächlich gibt es ja solche Dörfer, die bleiben

den Bürgerbeirat, eine Institution von gewählten

dann doch stehen: Bei Holzweiler schien es lange Zeit

Bürgern Borschemichs, die sich um die Belange der

klar zu sein, dass es der Braunkohle weichen muss –

Umsiedlung kümmern. »Das hätte ich gerne gemacht«,

letztendlich aber änderte RWE die Route für die weitere

sagt sie. Gewählt wurde sie nicht. »Das liegt auch an

Ausbaggerung, Holzweiler bleibt. Wer sich da, anders

der alten Dorfgemeinschaft. Da wurde gewählt, wer

als die Rosens, schon auf einen Abriss eingestellt hat,

schon vorher was zu sagen hatte, die Vorsitzenden aus

sich vielleicht gar nicht mehr um die Instandhaltung

den Vereinen.« Keine einzige Frau wurde in den Beirat

des Hauses kümmerte, hat jetzt schlechte Karten.

gewählt, das hat Sabine Rosen schon irgendwie

frustriert. »Im alten Dorf bist du immer die Tochter von

Hans-Willi Fischermann. »Die sind aus Messing, die

dem und dem.« Als der Beirat nach 5 Jahren

sind als erstes weg gewesen.« Fischermann ist noch

wiedergewählt wurde, da hat man sie dann gefragt, ob

oft im alten Borschemich – obwohl er nicht aus dem

sie nicht noch mal antreten wolle. Wollte sie aber nicht

Dorf kommt. Sondern aus Otzenrath.

mehr.

Otzenrath war mal erreichbar, wenn man von KeyenSabine Rosen hat ihre eigene Plattform der politischen

berg aus durch Borschemich fuhr, weiter Richtung

Arbeit gefunden: Zusammen mit ihrem Mann hat sie

Osten. Jetzt ist dort die Kohlegrube. Fischermann

die Internetseite Borschemich.de ins Leben gerufen

wohnt nun in Otzenrath (neu). Ein wenig ist es so, als

und arbeitet daran, sie auch weiter leben zu lassen.

nehme er ein zweites Mal Abschied, wenn er durch die

Sollte es eine Interessengemeinschaft, eine Weiterfüh-

verlassenen Straßen Borschemichs läuft. »15 Jahre

rung des Bürgerbeirats im neuen Dorf geben, wäre sie

ging das so bei Otzenrath: Kommen wir weg?

bereit, sich wählen zu lassen. Themen, die Sabine

Kommen wir nicht weg?«, erinnert er sich. »Die Grünen

Rosen ärgern, sind die immer noch unfertigen Straßen

waren damals natürlich unser Strohhalm. Mit uns kein

im neuen Ort, fehlende Beleuchtung – und auch die

Garzweiler II, haben die gesagt.« Herr Fischermann

Zukunft des neuen Keyenbergs und wie nah die Häuser

steckt sich eine Zigarette an, er schmunzelt leicht,

an Borschemich gebaut werden. Hätte sie jetzt

verächtlich, zieht die Augenbrauen hoch, als müsse er

Chancen, gewählt zu werden? »Die Leute haben

mehr zu dem Thema nicht sagen. »Dann die Phase der

erkannt, wer was macht«, sagt sie. Und das sei an der

Beratungen mit RWE, als es doch so kam und

Umsiedlung eben doch ein guter Punkt, dass die ganze

Otzenrath weg musste. Da kämpft dann jedes Dorf für

Dorfgemeinschaft in ihren Strukturen und Hierarchien

sich«, sagt er und zeigt auf die verlassenen Häuser.

durchmischt worden sei.

»Warum waren die nicht bei uns, auf unseren Versammlungen?«

Ein paar Häuser auf der Dorfstraße im alten Borschemich stehen noch. Sie haben Holzplatten vor die

Otzenrath gilt offiziell als Vorzeige-Ort der Umsiedlung:

Fenster genagelt. Viele Türen sind aufgebrochen, das

Die Umsiedlungsrate lag bei 80 Prozent, die Nachbarn

Glas in Türen und Fenstern ist eingeschlagen. Es fährt

wollten zusammenhalten, weiter zusammenwohnen.

zwar eine Sicherheitsfirma durch die Straßen, aber

»Aber das ist anders, den größten Teil der Leute kennt

eingebrochen wird trotzdem. Was zu holen ist in dem

man nicht mehr, wenn alle umgesiedelt sind«, sagt

fast verlassenen Dorf? An manchen Häusern klaffen

Fischermann. »Einmal haben Nachbarn die Polizei

Löcher im Gemäuer, hier wurde nach Kabeln gesucht.

gerufen, weil ein paar Jugendliche die Musik zu laut

Kupferkabel sind noch rentabel genug, so dass sich

aufgedreht hatten. Am Nachmittag!«

selbst das Einschlagen einer Hauswand lohnt.

Erst denke man, das werde schon alles noch, sagt

»Sehen Sie irgendwo noch ein Klingelschild?« fragt

Fischermann.

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Mittlerweile wohnt er seit zwölf Jahren im neuen

Ein Auto mit Aachener Kennzeichen fährt durch das

Otzenrath. »Das ganze Dorfleben stimmt nicht mehr.

alte Borschemich, ein Pärchen steigt aus, die Frau fragt

Die neuen Dörfer sind klinische Dörfer. Keine Pferde,

erstaunt: »Was ist denn hier los? Warum ist denn das

keine Kaninchen, kein Krach,« resümiert er. Viele

ganze Dorf verlassen?« Fischermann muss schmun-

Landwirte sind nicht mit in das neue Dorf umgesiedelt,

zeln, er zeigt rund 100 Meter weiter, auf den kaum

für sie gelten besondere Umsiedlungsregeln. Auf ihrer

übersehbaren Schaufelbagger. »Und dafür wird ein

Internetseite schreibt die RWE: »Für die Landwirte, die

ganzes Dorf abgerissen?«, sagt die Frau entsetzt.

vom Braunkohlenbergbau betroffen sind, ergibt sich

Später, wenn das Auto wieder weg ist, wird Fischer-

insofern eine besondere Situation, als dass gleichzeitig

mann erzählen: »Oft fragen die Leute dann noch, aber

mit dem Verlust der Wohnstätte auch die betriebliche

die Kirche, die wird doch nicht abgerissen, oder?

Existenz beeinträchtigt werden kann.« »Ein Dorf ohne

Nee, sag ich dann, die bleibt natürlich stehen, die

Bauern? Das ist doch Stadtrand«, sagt Fischermann.

baggern um die rum und irgendwann triumphiert sie dann über dem Kohleloch.« Fischermann lacht in sich

Im alten Borschemich sucht Fischermann nach

hinein und zündet wieder eine Zigarette an. Nee, hier

Kräutern und Pflanzen, die er in seinem neuen Dorf

noch zu wohnen, das wäre nichts, sagt er, und meint

nicht mehr findet. »Hier, Blutpfirsiche, die sind selten«,

aber nicht nur die Leere, und die Leute, die nachts die

sagt er und spaziert zu einem Baum in einem

Kabel klauen, sondern auch die ständigen Touristen.

ehemaligen Garten. Nun ist alles verwildert, die Mauer

Viele kommen, um sich das verlassene Dorf anzu-

zum Bürgersteig hin zerbröckelt in ihre Einzelteile.

schauen. Wie das so ist, kurz vor dem Abriss.

»Ich habe mal versucht, so einen Baum zu pflanzen.

Da würde man doch von alleine abhauen wollen, sagt

Nichts geworden«, sagt er.

Fischermann. Da müsse RWE gar keinen Druck ausüben. Das denke man immer, aber hier wolle doch

Die Braunkohlegrube ist so nah: Der riesige Schaufel-

keiner mehr freiwillig bleiben.

bagger, so hoch wie 32 Stockwerke, ragt aus dem Loch heraus, seine Schaufelräder graben sich langsam,

Auch Google-Maps ist mit der Braunkohle-Umsiedlung

unaufhaltsam in die Erde. Er arbeitet auch nachts.

überfordert: Auf der digitalen Landkarte existiert das

Braun und schwarz ist es hier, das Schwarze, das ist

alte Borschemich nach wie vor. Östlich von ihm liegt

natürlich die Kohle. Aber trotz des Wissens, dass etwas

immer noch Otzenrath, das 2008 dem Erdboden gleich

Kostbares in der Erde steckt, sieht es hier leblos und tot

gemacht wurde, um darunter die Braunkohle zu bergen.

in dem riesigen Loch aus, das nur von Maschinen

Klickt man auf die Foto-Ansicht Google Earth,

bewohnt zu sein scheint. Dass dort einmal Bäume,

sieht man, wie sich patchwork-artig Bilder von dunklen

Häuser und Menschen standen, ist kaum vorstellbar.

Braunkohle-Nicht-Landschaften auf die Dörfer legen.

Das Wort »Kohlelandschaft« wirkt leicht übertrieben.

Borschemich an dem Flüsschen Köhm, das in die Niers mündet, das war einmal. Ein über 1000 Jahre alter Ort. »Früher hatte Borschemich den Beinamen Klein-Warschau«, sagt Hans-Willi Fischermann, als wir uns verabschieden. Alle in diesem Text genannten Personen können den Namen bestätigen. Aber nur Fischermann kann erklären, woher er kommt. »Da stand eine Synagoge in Borschemich«, sagt er. Viele Juden hätten hier in dem Dorf gelebt. Dann sei die Synagoge angezündet worden, 1938, natürlich, sagt er. Die Synagoge wurde nicht wieder aufgebaut, aber der Name Klein-Warschau blieb. Selbst dann noch, als sich viele der Dorfbewohner nicht mehr an seinen Ursprung erinnern können. Neu-Borschemich wird nicht mehr Klein-Warschau genannt werden, auch nicht mehr mit dem Namen in Zusammenhang gebracht werden. Es hat keinen Beinamen und keine Geschichte, kann gar keine haben, nur diesen Zusatz. (Neu).

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Borschemich (alt)

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Impressum Bäume gibt‘s da noch nicht - Umsiedlung im Tagebaugebiet Garzweiler © Christian A. Werner 2015 Fotografie: Christian A. Werner © 2012-2015 Grafisches Konzept: Steffen Petermann, Christian A. Werner Gestaltung: Steffen Petermann, Leila Okanović Druck: Druckhaus Pinkvoss, Hannover Textbeiträge: Stefanie Grube, Heinrich Goebels, Christian A. Werner Die historischen Bilder aus Borschemich wurden dem Familienalben von Wilfried Lörkens (Seite 111, 113, 115, 119, 120) und dem Archiv von Sabine und Udo Rosen (Seite 112, 114, 116, 117, 118) entnommen.

Die Satelitenaufnahmen wurden fotografisch reproduziert von www.google.de/maps (Seite 20/21, 30/31, 52/53, 76/77) und www.bing.com/maps (Seite 96/97).

Danke für die Unterstützung und Ermutigung an: Charlotte Schmitz, Martin Raack, Prof. Karen Fromm, Prof. Walter Hellmann, Alix und Philipp von Rössing, Stefanie Grube, Kathrin Aldenhoff, Steffen Petermann, Sven Stolzenwald, Stefan Wieland, Steffen Schlegelmilch, Henrike Hahn, David Carreno Hansen, Danny Schreiber, Raimund Zakowski, Luise Kehm, Susi Behn und Torsten, Justin Jin, Susanne Lohmann, Marieke Thürich, Nina Mielcarczyk, Amadeus Waldner, Leila Okanović Besonderer Dank geht an Sabine und Udo Rosen für die selbstlose Unterstützung und ihre Geduld, Wilfried Lörkens und allen Bewohnern Borschemichs, die ich fotografieren durfte und die ihre Geschichten mit mir teilten.

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