Quintessenz 03/2016

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KOLUMNE.

KREBS- STATT CURRYWURST ODER: EINE

K.

CHANCE FÜR DAS TRADITIONELLE NEUE A

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lso wieder ein neuer Trend. Wo doch alles

Verkostung fiel das Urteil einstimmig aus: Bei-

schon einmal da gewesen ist! Etwa: selbst

fall. Für das Ungewohnte aber Genussvolle, das

Wurst machen. Über Jahrhunderte hinweg

auch dem doch gänzlich anderen Mundgefühl

gelebter bäuerlicher Alltag. Ja, der heute so ge-

zu schulden ist.

hypte kulinarische Regionalismus war schon

Gegenwärtig wächst die Sehnsucht nach dem

um 1700 „en vogue“.

regionalen, handwerklich soliden, sauberen

Trotzdem entschlossen wir uns letztes Jahr

Produkt. So wie man meinte, dass es vordem

dazu, gemeinsam mit dem Inspirationsteam

einmal existierte. Die Wahrheit ist: So eine heile

eines Salzburger Gewürzherstellers unser

Welt gab es nicht und gibt es nicht. Unsere

eigenes (Wurst-)Süppchen zu kochen, und

Rezepte stammen aus Kochbüchern der Ober-

machten uns an die Herstellung diverser Sor-

schicht, die sich teure Gewürze leisten konnte.

ten. Es sollte ein eher experimenteller Versuch

Der Großteil der Bevölkerung lebte fleischlos,

werden. In den Kochbüchern aus dem 17. und

schlicht aus Armut. Die hygienischen Um-

18. Jahrhundert, die wir herausgeben (und

stände bei der damaligen Zubereitung muten

die im Buchhandel erhältlich sind), finden

so ekelerregend an wie heute die industrielle

sich jede Menge Wurstrezepte, jedoch mit

Massenschlächterei.

heute zum Teil abenteuerlich anmutenden

Fortschritt? Fleisch für alle! Aber welches? Und

Ingredienzien: Zimt, Safran und Rosinen

um welchen Preis? Zahlen die auf „Preisbe-

zählen dazu, ebenso wie Krebse, dazu große

wusstsein“ konditionierten Verbraucher den

Mengen Pfeffer und diverse, teils ungewöhn-

gerechtfertigten, höheren Preis für wirkliche

liche Kräuter.

Qualität? Der aktuelle Trend bietet jedenfalls

Wir wollten wissen, ob das funktionieren kann.

die Chance für unvergleichliche Produkte. In

Und wie es schmeckt. Wenn das Schwein mit

einem kleinräumigen Netzwerk von Züchtern

der Hand auf einem Bauernhof aufgezogen

und Fleischhauern hergestellt, vermarktet über

wurde, stressfrei geschlachtet. Das Fleisch mit

die Regionalschienen und die Gastronomie.

dem Messer geschnitten und gehackt wird –

Das historisch-lokale Fundament bringt die

ohne Cutter natürlich. Wie sich die Gewür-

gewünschten, medientauglichen Storys und

ze in den Mengen der alten Rezepturen un-

Authentizität. Die Rezepte liefern wir gerne

tergemischt entfalten würden. Dann wurde

(gegen Deputat). Und es muss nicht nur um

geräuchert, luftgetrocknet, und am Tag der

die Wurst gehen …

DR. LOTHAR KOLMER Dr. Lothat Kolmer, geb. 1948, hat an der Universität Salzburg Mittelalterliche Geschichte und Kulturgeschichte gelehrt und dort das „Zentrum für Gastrosophie“ gegründet und geleitet. Nunmehr emeritiert, widmet er sich seiner kulinarischhedonistischen Vervollkommnung. Lothar.Kolmer@sbg.ac.at


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