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Achtung, Baustelle!

Das ganz am Anfang der Stressreaktion im Gehirn eingeschaltete »Leitsystem« heißt zentrales noradrenerges System. Es wird immer zusammen mit dem peripheren noradrenergen Systems aktiviert, was wir sofort daran erkennen, dass unser Herz zu rasen anfängt und uns der Angstschweiß auf die Stirn tritt. Dieses bei jedem Stau oder Verkehrsunfall aktivierte System sorgt dafür, dass alle Nervenzellen wachgerüttelt werden, und dass der Informationsfluss schnell und effizient dort entlang geleitet wird, wo es besser vorangeht. Das sind diejenigen Nervenbahnen und Verschaltungen, deren Benutzung eine Verhaltensreaktion auslöst, die in irgendeiner Weise geeignet ist, die aufgetretene Bedrohung zu beseitigen – zunächst durch genaueres Hinschauen, und, je nachdem, was sich da im einzelnen abspielt, entweder durch Flucht oder aber durch Angriff oder eine andere Form der aktiven Bewältigung.

Dieses zu Beginn jeder Stressreaktion aktivierte noradrenerge System kann nämlich noch etwas, was kein noch so gut ausgeklügeltes computergestütztes Verkehrsleitsystem zustande bringt. Es sorgt dafür, dass immer diejenigen neuronalen Verschaltungen, die erfolgreich zur Auflösung des entstandenen Durcheinanders in den Netzwerken der Hirnrinde beitragen und die wir schließlich benutzen, um eine bestimmte Belastung zu bewältigen, auch gleich ausgebaut, besser, schneller und effizienter nutzbar gemacht werden. So müsste ein Verkehrsleitsystem funktionieren! Nicht einfach nur Staumeldung und Umleitungsempfehlung durchgeben, sondern gleich noch ein Straßenbaukommando auf die Umleitungsstrecke schicken, das dafür sorgt, dass diese auch gleich vernünftig ausgebaut wird. Das macht das noradrenerge System in unserem Kopf. Es ist kaum zu glauben, aber unser Gehirn scheint tatsächlich schlauer zu sein als wir. Jeder, der eine holprige Nebenstrecke gefunden hat, um an allen Staus vorbei möglichst schnell in die Stadt zu kommen, wird sich schon die ganze Zeit gefragt haben, wie es funktionieren soll, dass dieser holprige Schleichweg nur allein dadurch, dass immer mehr Schlaumeier hier entlangfahren, zu einer vernünftigen Straße werden soll. Jetzt haben wir die Antwort. Die simple Benutzung eines Weges kann bestenfalls dazu führen, dass er irgendwann ausgefahren und immer breiter wird.

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Um daraus eine richtige Straße werden zu lassen, muss etwas anderes passieren. Da muss ein ordentliches Straßenbett ausgehoben und mit Schotter aufgefüllt werden. Das Ganze muss dann festgewalzt und asphaltiert werden, Markierungen müssen angebracht, Verkehrsschilder und Wegweiser aufgestellt werden. Das ist genau das, was das noradrenerge System mit den Verschaltungen macht, die in unserem Gehirn benutzt werden, wenn wir eine ganz bestimmte Herausforderung meistern. Sie werden unter dem Einfluss des von den noradrenergen Synapsen ausgeschütteten Signalstoffs und der von diesem Signalstoff ausgelösten Prozesse

»gebahnt« (so heißt das tatsächlich auch in der Fachsprache der Hirnforscher). Auf diese Weise werden die anfänglich noch holprigen Feldwege unseres Denkens und Fühlens allmählich zu Straßen und unter Umständen sogar zu breiten Highways. So kommt es, dass etwas, was uns beim ersten Mal noch ziemlich viel Angst macht, also etwa die erste Fahrt mit dem Auto durch die Stadt, beim zweiten Mal bereits mit viel weniger Herzrasen und feuchten Händen einhergeht, um schließlich irgendwann ganz mühelos und ohne die geringste Angst, fast routinemäßig erledigt zu werden. Ohne noradrenerges System hätten wir weder Herzklopfen noch feuchte Hände, würden aber wohl noch heute alle wie die Anfänger umherfahren.

Wenn die bei jeder kontrollierbaren Stressreaktion stattfindende Aktivierung des großen noradrenergen Leitsystems dazu führt, dass all diejenigen Verschaltungen, die in unserem Gehirn zur Bewältigung einer Herausforderung benutzt werden, besser ausgebaut, gebahnt und effektiver gemacht werden, können durch häufig auftretende, gleichartige und immer wieder durch die gleichen Reaktionen und Verhaltensweisen bewältigbare Belastungen aus anfangs noch recht holprigen Feldwegen, gut ausgebaute Straßen und aus flotten Straßen rasante Autobahnen für den Informationsfluss in unserem Gehirn entstehen. Manche Herausfor- derungen bewältigen wir, indem wir bestimmte Verschaltungen zur Steuerung komplexer Bewegungsabläufe benutzen. Es ist also nicht verwunderlich, das wir jede anfangs noch so schwierige Handlung, wenn sie uns einmal gelungen ist, das nächste Mal schon viel besser und irgendwann sogar ganz mühelos vollziehen. Sie wird Schritt für Schritt zu einer gebahnten Routine, die am Ende keinerlei Anstrengung, keine neuartige Anforderung und auch keine Aktivierung unseres noradrenergen Systems mehr verursacht.

Viele ungewohnten Anforderungen oder bedrohliche, angsteinflößende Entwicklungen lassen sich auch durch Nachdenken bewältigen. Wenn wir eine Lösung finden, werden diejenigen Wege unseres Denkens gebahnt, die zur Lösung dieses Problems beitragen. Je häufiger es wieder auftaucht, desto leichter fällt es uns, die jeweils geeigneten Denkmuster zu aktivieren und die entsprechenden Verhaltensstrategien zur Lösung einzusetzen. Wieder ist eine Straße, diesmal auf der Ebene des Denkens, entstanden, auf der man sehr bequem vorankommt. Was für ein gutes Gefühl es doch ist, wenn alles so flott läuft, wenn man feststellt, dass man durch eigenes Denken und Handeln die schwierigsten Aufgaben lösen, die bedrohlichsten Situationen klären und auflösen kann. Das Gehirn belohnt uns so für erfolgreiches Verhalten. Die Verschaltungen dieses »Belohnungssystems« werden ebenfalls immer dann aktiviert, wenn wir eine Herausforderung gemeistert, eine kontrollierbare Belastung erfolgreich bewältigt haben.

Je öfter wir also die Erfahrung machen, dass wir die in unserem Leben auftretenden Probleme zu lösen imstande sind, desto tiefer gräbt sich in unserem Gehirn ein bestimmtes Gefühl ein. Wenn wir immer wieder besonders stolz darauf sind, es allein und ohne fremde Hilfe geschafft zu haben, werden wir immer selbstbewusster und überzeugter von unserer Kompetenz. Wenn wir immer wieder voll überströmender Freude erleben, dass ein anderer Mensch uns tatsächlich geholfen hat, die in unserem Leben auftretenden Anfechtungen und Bedrohungen zu meistern, wird sich das Gefühl immer tiefer in unserem Gehirn verankern, dass es ein Leben ohne so etwas nicht geben kann, egal, ob wir es nun Liebe nennen oder nicht.