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Editorial

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FOTO: CLAUDIA DEWALD

Segen überall – oder wie war das?

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Es war irgendwann in den 1980er-Jahren. Die Segensworte wurden immer län

ger. Es reichte nicht mehr zu sagen, dass Gott sein Antlitz über jemandem leuch

ten lassen und ihm gnädig sein sollte. Plötzlich musste Gott vor ihm, über ihm,

unter ihm, neben ihm und in ihm sein. Mindestens. Und neben diesem Spruch

befand sich das Foto eines antiken irischen Radkreuzes. Es war keine Frage: Die

Kelten waren wieder modern. Und mit ihnen erfuhren ihre alten und ihre nachge

dichteten Reisesegen eine echte Renaissance. Die geometrischen Knotenmuster

ihrer Bilder und die typischen Radkreuze schmückten Poster, Karten und Bibeln.

Der große Hype ist längst abgeklungen. Doch keltisches Christsein hat sich bis

heute etwas Frisches, Andersartiges bewahrt. Es gilt gleichzeitig als bodenstän

dig und spirituell, als künstlerisch und herausfordernd. Dabei waren seine Ideen

jahrhundertelang verschüttet, sein Einfluss fast vergessen. Doch Columban und

Co waren mehr als eine Episode der frühen christlichen Kirche. Auch wenn sie

manches Mal verkitscht und glorifiziert werden, haben sie einen immensen Bei

trag dazu geleistet, die damals bekannte Welt mit dem Evangelium zu erreichen.

Und – darum soll es in dieser Impulse gehen – dieser Beitrag ist noch längst nicht

zu Ende. Denn vieles bei den keltisch-christlichen Missionaren aus Irland und

Schottland passt gut in unsere heutige Zeit, in unser aktuelles Denken.

Genau darum geht es im Beitrag „Keltisch glauben“ ab Seite 6. Andreas Boppart

als Missionsleiter unterstreicht ab Seite 12, was das mit aktuellen Strategien und

Plänen von Campus für Christus zu tun hat. Und wenn Sie auf Seite 16 Huberta

und Hans Reil in „ihr“ Dorf begleiten, dann können Sie ein wenig von dem „Spi

rit“ spüren, der dahintersteckt.

Slàinte mhath! Gute Gesundheit! Und gute Impulse mit dieser

Impulse.

Hauke Burgarth, Impulse-Redaktion

Die Ballermann-Bekehrung Mallorca und der Ballermann haben traurige Berühmtheit. Jährlich fahren Tausende auf die Partyinsel, um dort abzufeiern und sich zu betrinken. Seit inzwischen zehn Jahren sind dort an der Beach (am Strand) allerdings auch Missionsteams von Campus für Christus und anderen unterwegs. Kann so etwas Erfolg haben? Manuel Leiser von Campus Schweiz lächelt. Er denkt an seine Begegnung mit einer Mutter und ihrer Tochter am ersten Abend auf Mallorca zurück. „Ich bin schon das fünfte Mal hier bei euren Beach-Gottesdiensten“, meinte sie. Am ersten Abend? „Ich war die vergangenen Jahre schon da. Diesmal habe ich meinen Urlaub so gebucht, dass ich euch treffe. Noch lebe ich getrennt von Gott. Aber heute Abend möchte ich das ändern.“ Sie beteten zusammen, und die Frau lud Gott in ihr Leben ein.

FOTO: PIXABAY/DANIELKIRSCH

Voll involviert Seit ein paar Monaten gibt es bei Campus Connect etwas Neues. Die Studierendenbewegung hat jetzt eine Leitung aus 3 Hauptamtlichen und 4 Studierenden. Willkommen, Dominik, Ulrike, Laurie, Joel, Janina, Joachim und Kayla!

Facebook Übrigens, bei Campus für Christus pflegen wir eine Dies&Das-Seite, die regelmäßig aktuelle Infos liefert - mal zum Beten, mal zum Lächeln: facebook.com/campusfuerchristus. deutschland. Einfach liken und am Ball bleiben …

Henrietta cornelia Mears (1890 – 1963) Die Frau auf dem Foto hatte es in sich: Henrietta Mears leitete jahrelang die Sonntagsschule ihrer Gemeinde in Hollywood. Sie coachte ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und war für bis zu 6.500 Besucher verschiedenen Alters zuständig. Nebenbei gründete sie ein paar christliche Organisationen und forderte Hunderte von jungen Menschen dazu heraus, in den vollzeitlichen Dienst zu gehen – unter anderem Billy Graham und Bill Bright, den Gründer von Campus für Christus. Henrietta Mears gilt als eine der einflussreichsten christlichen Persönlichkeiten des letzten Jahrhunderts. Hätten Sie das beim ersten Blick aufs Bild gedacht?

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Keltisch glauben

„Das Ende des christlichen Abendlandes ist gekommen.“ – „Wir haben so viele offene Türen wie schon lange nicht mehr.“

Äußerungen wie diese sind typisch für unsere Zeit. Und so gegensätzlich sie zunächst erscheinen: Eigentlich treffen sie beide den Nagel auf den Kopf. Wie gehen wir damit um, dass Christen in vielen Fragen nicht mehr die Deutungshoheit haben, dass sie schlicht nicht zu „ihren“ Themen gefragt werden, dass sie sich in der Unterzahl wiederfinden. Was machen wir damit, dass Menschen unserer Zeit die Kirche und Institutionen links liegen lassen, aber gleichzeitig so spirituell und suchend sind, wie schon lange nicht mehr? Ausgerechnet ein Blick weit zurück kann hier weiterhelfen: zu den keltischen Christen des 7. Jahrhunderts.

die iro-schottischen Christen des frühen Mittelalters waren ein schillerndes Völkchen. Sie taugen spielend dazu, sie als romantisierte Glaubenshelden zu missbrauchen. Genauso wie sie sich leicht als Spinner, Esoteriker und Synkretisten (also Religionsvermischer) abtun lassen. Doch beides wird ihnen nicht gerecht. Tatsächlich sind irische Segenssprüche doch nur deshalb so beliebt, weil sie uns bis heute etwas zu sagen haben. Gleichzeitig verbietet der Abstand von 1400 Jahren ein bloßes Nachmachen sowieso.

Ich denke, es lohnt sich, diesen keltischen Christen einmal über die Schulter und ins Herz zu schauen und sich dabei zu fragen, was wir von ihnen lernen können. Ich werde Ihnen ein bisschen von den alten Iren erzählen und dabei versuchen, ein paar Linien ins Heute zu ziehen. Denn wie die keltischen Christen ihren Glauben lebten, hat erstaunlich viel mit uns heute zu tun. Machen wir uns also nebenbei auf, das zu entdecken, was der Journalist Wolfram Weimer die „große Überraschung“ nannte: „Gott kehrt zurück, und zwar mit Macht.“ Der ehemalige Chefredakteur der „Welt“ und des „Focus“ sieht unsere heutige Gesellschaft gerade in einem Übergang vom postmodernen ins neoreligiöse Zeitalter – „ob wir es mögen oder nicht“. Also – Vorsicht! Das Lesen könnte Ihr Leben verändern.

Willkommen im Chaos

In unüberschaubarer Masse dringen Zuwanderer nach Europa und bestimmen sehr schnell das Straßenbild. Fremde Sprachen, andere Bräuche und Gewalt machen sich breit. Die Ordnungskräfte sind überfordert. Und der Glaube? Er sorgt in keiner Weise für Stabilität. Die christliche Religion hat schon lange keinen wirklichen Halt mehr gegeben, jetzt erklärt sie praktisch ihren Bankrott. Korruption und theologische Streitigkeiten haben die Kirche zerrüttet.

„Die Erneuerung der Kirche wird aus einer neuen Art des Mönchtums hervorgehen, die mit der alten nur eine kompromisslose Treue zur Bergpredigt gemein hat. Es ist höchste Zeit, dass sich Menschen dazu zusammenschließen.“ (Dietrich Bonhoeffer)

Nun werden die Folgen davon sichtbar, dass sie jahrhundertelang lieber ihre Macht und Finanzen erhalten wollte, als wirklich das Evangelium zu leben. So bleiben die einen Kirchen leer, andere werden sogar angezündet. An den Straßenecken muss gar kein Endzeitprophet stehen und ein Schild erheben: „Das Ende ist nah!“ Denn es scheint wirklich da zu sein. Männer greifen zu den Waffen, um ihr Leben zu retten. Frauen trauen sich nicht mehr auf die Straße und immer wieder hört man von Kindern, die entführt werden. Währenddessen treffen sich die Christen in Konferenzen und debattieren über die Genderfrage …

Nein, dies ist keine Beschreibung der Jetztzeit. Es ist die Situation im Europa des 4. bis 6. Jahrhunderts. 200 Jahre lang strömen Hunnen, Goten, Vandalen und Langobarden ins Römische Reich. Und das scheinbar etablierte christliche Abendland wird davon weggeweht wie trockene Blätter im Herbst.

Gibt es eine Antwort auf diese Umwälzung aller Werte? Welche Rolle kann der christliche Glaube dabei spielen? Muss man die aktuellen Probleme nicht militärisch lösen und lieber anschließend über Fragen von Mission und Nächstenliebe nachdenken? Diese und ähnliche Fragen brannten den Menschen damals auf der Seele. Und auch wenn die heutige Situation eine völlig andere ist, fühlt sich vieles ähnlich an. Die Fragen jedenfalls lassen sich übertragen. Damals fanden sie ihre Antwort übrigens in der Asterix-Lösung. Jeder der Comics beginnt mit der Einleitung: „Ganz Gallien ist von den Römern besetzt … Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.“ In unserem Falle waren die Retter nicht die Gallier, also Kelten im heutigen Frankreich, sondern Kelten, die in den noch schwerer zugänglichen Ecken Europas lebten: die Iren.

Ein Neuanfang hat immer einen Namen

Das Ausbreiten und stellenweise Wiederausbreiten des christlichen Glaubens begann allerdings nicht mit einer strategischen Gemeindewachstumsbewegung. Es begann mit einer Person: Patrick. Der lebte als Sohn eines römischen Offiziers in England und wurde mit 16 Jahren von Piraten nach Irland entführt. Als Sklave hatte er dort Schafe zu hüten. Not lehrt beten. So schrie Patrick in Kälte, Hunger und Einsamkeit zu dem Gott, den er nur dem Namen nach kannte – und der antwortete ihm. Gott hatte ihn nicht vergessen und begegnete ihm von jetzt an regelmäßig. Nach sechs Jahren hörte Patrick deutlich Gottes Stimme, die ihm befahl, an die Küste zu gehen – immerhin gut 300 Kilometer –, weil dort ein Schiff auf ihn warten würde. Patrick lief los und fand dieses Schiff. Der Kapitän wollte ihn zwar erst nicht mitnehmen, doch schließlich gelangte er an Bord und endlich zurück zu seiner Familie. Ende gut – alles gut? Nein.

Später träumte Patrick von einem irischen Boten, der ihn bat, auf die grüne Insel zurückzukehren, zu den Menschen, die ihn verschleppt und unterdrückt hatten. Ähnlich wie Paulus erhielt Patrick also einen „Ruf aus Mazedonien“. Es ist nicht die einzige Parallele zum großen Völkerapostel. Auch in seinem späteren Wirken unter den Kelten gibt es viele Ähnlichkeiten. Zunächst machte sich der ungebildete Missionar in spe auf den Weg nach Frankreich. Dort wurde er zum Priester ordiniert und reiste dann wie geplant nach Irland. Mutig, freundlich und immer auf Augenhöhe begegnete er den heidnischen Iren. Er stritt sich mit Druiden und Königen. Doch ausschlaggebend waren weder kluge Worte noch berittene Soldaten. Es war Patricks weites Herz und seine grenzenlose Liebe für die keltischen Stämme. Und sie kamen in Massen zum Glauben.

„Das 21. Jahr- hundert wird entweder ein spirituelles sein oder unterge- hen. Wenn wir geret- tet werden, wird es nicht durch Römer gesche- hen, sondern durch Heilige.“ (Thomas Cahill)

Cultural Change

Das gesellschaftliche Durcheinander war damals groß. Doch ein Zurück war nicht möglich. Genauso wenig wie es heute möglich ist, hinter die Zeit von Smartphone und aufgeklärtem Denken zurückzugehen. Das große Verdienst von Patrick und seinen Nachfolgern war es, anders zu glauben und anders vom Glauben zu reden als frühere Missionare. Patrick und Co. waren in der Gegend geerdet. So erzählten sie das Evangelium neu: mit Bildern und Geschichten, leidenschaftlich und poetisch, geheimnisvoll und keltisch. Ja, sie erreichten die Menschen und stellten ihnen die Hoffnung des Evangeliums vor, aber diese Menschen wurden Christen und durften Kelten bleiben.

Spüren Sie die Brisanz? Die kulturelle Reife, die weit über diese Zeit hinausreicht? Damit taten sich die römischen Christen damals extrem schwer – erst einmal sollten die „Barbaren“ gebildet werden, also lateinisch sprechen und sich römisch verhalten, dann konnten sie Christen werden. Und bis heute tun sich Christen schwer damit, wenn Hipster Hipster bleiben, wenn Raucher weiter rauchen, wenn Musiker weiterhin jedes Wochenende Konzerte geben und trotzdem Christen werden. Sollten sie nicht erst „römisch“, also gemeindekompatibel werden?

Spannend ist, dass die keltischen Christen einen sehr geerdeten, praktischen und gleichzeitig mystischen Glauben entwickelt haben. Spielend integrierten sie keltische Vorstellungen von einer Anderswelt in ihren Glauben, entwickelten eine Art Ökospiritualität, denn die Schöpfung erfuhr bei ihnen eine ganz neue Wertschätzung, und vieles mehr. Bedenkenträger damals befürchteten eine Verwässerung des Glaubens – und sie tun es auch heute. Damals war das Ergebnis jedoch eine sendungsbewusste, mutige, gewaltfreie, betende und extrem erfolgreiche Glaubensbewegung.

Heute wäre es ein „Hub“

Diese Erweckung blieb nicht auf der Insel stecken. Die Missionsbewegung in die Nachbarländer begann mit der Verbannung eines Mönches: Columcille. Dieser hatte sich mit Gewalt gegen einen irischen König aufgelehnt und musste das Land verlassen. Er zog mit einer Gruppe Mönche auf die Insel Iona vor der schottischen Küste und gründete dort ein Kloster. Er war schuld am Tod von 3000 Menschen, also hoffte er, mindestens 3001 für den Glauben gewinnen zu können. Was für ein seltsamer Traum! Vor allem in der abgelegenen und unwirtlichen Gegend von Iona. Doch Columcille erreichte noch viel mehr Menschen. Sein Kloster wurde ein Zentrum der Bildung und Kunst, aber auch der Heilung. Immer mehr Menschen fuhren nach Iona, kamen zum Glauben und blieben. Da die Insel aber nur 150 Personen ernähren konnte, sandte er die jeweils überzähligen nach Schottland zu den Pikten, nach England, in die Welt. Bei Campus für Christus denken wir in letzter Zeit viel über solche Zentren nach, neudeutsch „Hubs“. Wie ist es möglich, einerseits mittendrin in der jeweiligen Nachbarschaft zu wohnen, sich auf Augenhöhe zu begegnen, den Glauben attraktiv und nachvollziehbar zu leben und dabei genug Raum zu haben für die eigene Stille und Gottesbegegnung? Die alten Iren fanden hier interessante Lösungen – nicht nur auf einsamen Inseln.

Empfehlungen zum Weiterlesen:

Peter Aschoff: Licht der Sonne, Glanz des Feuers

Dietrich Bonhoeffer: Gemeinsames Leben

Thomas Cahill: Wie die Iren die Zivilisation retteten

George Hunter III: The Celtic Way of Evangelism

Peter Müller: Columbans Revolution

Hans-Joachim Tambour: Der keltische Weg

typisch war, dass ein gläubiger Kelte als Eremit leben wollte, um Gott und der Natur nahe zu sein. Also zog er sich zurück. Doch die Menschen suchten Ratgeber – und der Eremit die Gemeinschaft. Dadurch entwickelten sich schnell Klöster. Ganz andere Klöster als die wohlorganisierten und klar strukturierten auf dem Festland. Mit heutigen Augen betrachtet, waren es eher Kommunen als Kirchen. Man lebte und arbeitete zusammen. Man nahm sich Zeit zum gemeinsamen Beten, aber selten mehr als einmal täglich. Oft lebten Männer und Frauen in einem Doppelkloster, das auch noch von einer Äbtissin geleitet wurde. Es herrschte ein ständiger Zustrom an Interessenten, Kranken, Schülern und Studenten oder Menschen, die einfach im Kloster oder seiner Nähe mitleben wollten.

Für viele ist ein Kloster Inbegriff weltfremder Frömmigkeit, die in ihren Formen erstarrt ist. Für die Iren trifft dieses Extrem auf keinen Fall zu. Ihre Klöster – oder soll ich sagen Hubs – waren Bildungszentren. Dort lebten sie gemeinsam ihren Alltag, folgten Gott zusammen nach, lehrten und lernten und entwickelten miteinander ihre Begabungen und Berufungen. Dabei galten Missionare genauso viel wie Maler, Dichter, Musiker oder Erzähler.

Grenzüberschreitende Liebe

Im Rückblick klingt das wie der Himmel auf Erden. Da machten sich ein paar ungebildete, aber charismatische Persönlichkeiten auf den Weg. Sie liebten die Menschen in ihrer Nachbarschaft, schufen eine kulturell interessante Umgebung und luden sie zu Jesus ein. Und die Leute ließen sich einladen. Sie lernten Jesus kennen und änderten ihr Leben. Es wurden Tausende, Zehntausende, Hunderttausende. Sie waren so erfüllt von diesem Hoffnung gebenden und alltagstauglichen Gott, dass sie sich auf den Weg zu allen damals bekannten Völkern der Welt machten.

Die keltischen Christen nahmen ihre Wanderstäbe und eroberten Europa. Diese „Peregrinatio“, diese Pilgerschaft, war eine besondere Missionsbewegung. Wenn man einmal von Paulus und seinen Reisen absieht, waren alle größeren missionarischen Anstrengungen der Geschichte bis heute von Gewalt, politischen Interessen und kolonialistischen Ansprüchen begleitet. Diese nicht!

Columban und Co praktizierten dasselbe wie ihre Vorgänger in Irland. Damit erreichten sie die Menschen in Frankreich, Belgien, Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien. Viele waren ja bereits „christianisiert“. Doch das bedeutete in der Praxis, dass in den Städten Kirchen standen und die meisten Menschen als getaufte Heiden lebten – weil sie überleben wollten. Die iro-schottischen Missionare wollten und mussten keinen Gottesdienstritus durchsetzen, Hierarchien waren ihnen nicht wichtig. Stattdessen legten sie Wert auf persönliche Beziehungen. Sie halfen den Bauern bei der Feldarbeit und den Fischern beim Netzeflicken. Sie redeten vom lebendigen Gott, der jeden Menschen liebt – und erreichten damit die Herzen der Menschen.

Heutige Missionsgesellschaften haben eine Vokabel in ihrem Sprachschatz, bei der die Augen ihrer Missionare anfangen zu leuchten: Multiplikation. In der Praxis sind die meisten allerdings schon mit Addition zufrieden. Da reist ein Missionar aus und führt 3, 12 oder 196 Menschen zum Glauben. Halleluja! Das ist wunderbar! Aber es geschieht praktisch keine Multiplikation. Die geschah damals im 7. Jahrhundert. Wie eine ansteckende Gesundheit (eine Krankheit war es ja nicht!) breitete sich das Evangelium von Irland aus durch ganz Europa hindurch aus. Nichts konnte sie aufhalten. Jeder „Infizierte“ verteilte sie weiter. So breitete sich das Evangelium aus – und, anders als davor, veränderte sich dadurch die Gesellschaft.

Okay. All das und noch viel mehr geschah vor 1400 Jahren. Inzwischen ist viel Wasser den Rhein heruntergeflossen. Die übersprudelnde, lebendige Missionsbewegung aus Irland ist längst zum Stillstand gekommen. Wie konnte es dazu kommen, wo sie doch so erfolgreich war? Sicher gab es da-

für viele Gründe. Symptomatisch ist jedoch einer, bei dem Struktur und Hierarchie über Demut und Geistlichkeit gesiegt haben. Die damalige Kirchenleitung in Rom war nicht nur erfreut von der lebendigen Missionsbewegung aus Irland. Die Bewegung war ihr zu unkonventionell und verlief außerhalb ihres Einflussbereichs. Also wurde ein „wichtiger“ Streitpunkt gesucht und mit den Iren verhandelt: die Berechnung des Ostertermins, damit alle Christen gleichzeitig feiern konnten. Während die irischen Gesandten fröhlich diskutieren und nachdenken wollten, warf der römische Abgeordnete (nur) seine Autorität in die Waagschale. Die demütigen Iren akzeptierten und wurden in der Folge auch in vielen anderen Fragen wieder „auf Linie“ gebracht. Ein kirchengeschichtliches Trauerspiel.

Doch das Interesse an keltischer Spiritualität steigt seit längerer Zeit wieder. Christen und Nochnicht-Christen suchen einen Glauben, der im Alltag Bestand hat, der Genuss und Askese zusammenbringt, der ohne Gewalt auskommt, der kulturell nicht rückwärtsgewandt, sondern im Heute daheim ist, der fröhlich und gleichzeitig tief ist. Und wer sich danach auf die Suche macht, landet schnell bei Angeboten, die von alten keltisch-christlichen Quellen inspiriert werden. Ich habe vorne bereits unterstrichen, dass ein Kopieren nicht möglich ist. Dafür ist zu viel Zeit vergangen und längst nicht alles an der keltischen Spiritualität ist frisch und heutig. Aber wir können unendlich viel lernen von Columban, Aidan, Columcille, Patrick und den anderen sympathischen Iren.

Peregrinatio

Ich habe am Anfang etwas aus der Zeit der Völkerwanderung erzählt. Auch wenn dies längst Geschichte ist, beherrschen uns heute ähnliche Unsicherheiten: Welche Werte gelten noch? Wie gehen wir damit um, dass sich vertraute Strukturen in Familie und Gesellschaft auflösen? Was ist unsere Antwort auf die aktuelle „Völkerwanderung“, auf über 70 Millionen Flüchtlinge weltweit? Wie gehen wir als Christen mit der Frage des Klimawandels um? Wie mit Gottes Schöpfung insgesamt? Hat der Gott, den wir kennen und lieben, etwas mit unserem Alltag zu tun und dem unserer Nachbarn?

Es gab eine Zeit bei Campus für Christus (und bei sehr vielen Christen), in der „Apologetik“ alles war. Christen sollten auf jede Frage eine vernünftige und biblische Antwort haben – dann würden sie selbst im Glauben gefestigt werden und andere ebenfalls überzeugen. Das ist etwas überzeichnet, aber nicht weit von der Wirklichkeit entfernt. Vor dreißig Jahren hat es sogar – begrenzt – funktioniert. Jetzt nicht mehr.

Glauben ist nicht unvernünftiger geworden als früher. Immer noch können wir darüber nachdenken, streiten, argumentieren. Aber die alten Iren helfen uns auch hier, einen neuen Blick zu gewinnen. Glaube ist und bleibt unterwegs. Mehr noch, er bleibt offen. Keltische Ornamente, die in der Buchkunst vorkommen, haben eine seltsame Eigenart, die dies unterstreicht. Sie bilden meistens keinen geschlossenen Rahmen um den Buchtext, sondern bleiben an ein oder zwei Seiten offen. Zufall? Nein, Absicht. Die Welt der christlichen Kelten war kein geschlossenes System. Sie war offen nach außen, offen für Veränderung, offen für andere Menschen und ihre Kultur, – und erst recht offen für Gott und sein geheimnisvolles Eingreifen.

Thomas Cahill unterstreicht, dass dieses Neuorientieren an den alten Iren bzw. das Suchen nach geistlichem Leben für heute keine Nebensache ist, kein Hobby von einigen Spezialisten. Er behauptet: „Das einundzwanzigste Jahrhundert wird entweder ein spirituelles sein oder untergehen.“ Ich glaube, er hat recht.

Hauke Burgarth

Glauben ist nicht unvernünftiger ge- worden als früher. Aber die alten Iren helfen uns auch hier, einen neuen Blick zu gewinnen. Glaube ist und bleibt unterwegs.

FOTO: CLAUDIA DEWALD

Leitgedanken

Der Hub und Columbans Klöster

Lichtpunkte für geistliche Inspiration

Wir haben uns bei Campus für Christus in den letzten Monaten ganz stark mit einer Neuausrichtung beschäftigt und dabei immer wieder von „Hubs“ gesprochen. Mit unseren Mitarbeitenden formen wir in verschiedenen Städten solche Zentren, von denen aus unser evangelistisches und jüngerschaftliches Wirken in die Gesellschaft hineinfließen kann. Orte, die gleichermaßen zur Inspiration für Suchende wie auch für Personen aus Gemeinden und Kirchen werden.

Um zu erklären, was genau der Grundpuls eines Hubs ist, hilft es, einen kleinen Exkurs ins frühe Mittelalter zu machen und den Blick ein paar Jahrhunderte nach hinten zu richten.

Europa hat in seiner Geschichte immer mal wieder hellere und weniger helle Zeiten erlebt. Selbst als der regionale Begriff als solches noch nicht existierte, gab es immer mal wieder große Völkerverschiebungen durch Hunger und Krieg. Doch selbst inmitten düsterer Zeiten sind immer wieder mutige Menschen aufgestanden und haben für massive und nachhaltige Transformation gesorgt.

So löste ein Mann namens Columban im 7. Jahrhundert eine der stärksten Klosterbewegungen Mitteleuropas aus und innerhalb von 100 Jahren kam es zu rund 300 Klostergründungen. Mein Freund Matthias Langhans hat sich über Jahre mit dieser irisch-schottischen TransformationsBewegung auseinandergesetzt, die damals unsere geografische Region erfasste und das Gesicht Europas bis heute prägt. Seine Einblicke in die damalige Welt inspirieren mich immer wieder. So waren diese Klöster nicht etwa einfach nur Rückzugsorte, sondern Lichtpunkte mit Strahlkraft. Mönche wurden als Berater für Königshäuser eingesetzt; um die Klöster herum entstanden sehr oft ganze Städte, weshalb noch heute viele Städte, wie z. B. St. Gallen, nach diesen Mönchen oder Nonnen benannt sind. Dabei wurden diese Klöster zu Orten, die Innovation in verschiedensten Bereichen hervorbrachten, Bildung vermittelten und Gemeinschaft prägten. Es sind vier Pfeiler, die diese belebende Bewegung beschreiben, die von den irischschottischen Mönchen ausging. Sie inspirieren mich sehr, da sie auch Grundlage dessen sind, wie wir uns als Bewegung bei Campus für Christus verstehen.

Die vier Pfeiler ORA (Bete): Ihre Gemeinschaft lebte von einer lebendigen Spiritualität. Im Kloster Bangor, wo Columban herkam, gab es bereits über 250 Jahre lang ein 24/7 Gebet. Gestartet im Jahre 558, wurde es erst 824 gestoppt, als die Wikinger das Kloster zerstörten.

LABORA (Arbeite): Diese Menschen waren nicht einfach nur auf kontemplativen Rückzug aus, sondern haben einen Dienst mit starker Außenwirkung verrichtet. Sie haben Straßen gebaut, Bibeln abgeschrieben, Bücher verfasst, Schreibstuben eingerichtet, Seelsorge betrieben, Könige beraten, Kunst angefertigt, Gefangenen gedient und immer wieder für technologische Innovation gesorgt. Sie betrieben die Krankenhäuser und Bildungszentren der damaligen Zeit.

LEGE (Lies): Man hat gelesen und gelernt. Die Klöster wurden zu Bibliotheken, zu Orten der Bildung, des Bibelwissens. Und Irland wurde zur Bücherstube Europas in einer Zeit, in der es kaum Bibliotheken gab. Die nächste Generation der Leiterinnen und Leiter wurde hier geschult und geprägt. Viele dieser Jungen wurden nach der Klosterausbildung in die Gesellschaft hineingesandt und prägten das geistliche Klima.

PEREGRINARI (Pilgere): Das „In-dieFremde-Gehen“ wurde zum Segen für Europa. 591 brach Columban mit 12 Freunden von Bangor in Richtung des heutigen Frankreichs auf. Er gründete drei Klöster in den Vogesen, welche zu einem unglaublichen geistlichen Hub wurden. Dort prägten sie die geistliche und gesellschaftliche Landschaft des heutigen Belgiens, von Frankreich, Süddeutschland, der Schweiz, Österreich und Norditalien. Dabei ging es Columban nicht primär um den Start von neuen Klöstern, sondern darum, sich in der Sendung als Nachahmer Christi zu verstehen.

Damit wären wir gelandet und die Exkurs-Klammer ist geschlossen. Mir ist klar, dass dies ein verklärtes Bild von Klöstern abgibt. Gleichzeitig beantworten die grundsätzlich erkennbaren Prinzipien, was Kolumbans Missionsbewegung aus dem 6. Jahrhundert mit Campus für Christus im 21. Jahrhundert zu tun hat.

Willkommen im Heute Als Campus haben wir mit „Make Jesus known“ einen Auftrag, der ebenfalls transformatorische Kraft in die Gesellschaft hineinträgt. Wir leben gemeinsam Spiritualität (ORA); wir arbeiten in verschiedenen Ministries und versuchen immer wieder neu zu entdecken, wie Christus von einer kommenden Generation verstanden und aufgenommen werden kann (LABORA); wir bleiben ein Leben lang Lernende und geben Hilfreiches mit unseren Seminaren weiter (LEGE); und wir verstehen uns als Gesandte in diese Welt hinein – ganz egal ob das mit GAiN nach Haiti ist oder mit Campus Connect nach Berlin (PEREGRINARI). So gesehen haben wir doch ein paar markante Anknüpfungspunkte an die irisch-schottische Missionsbewegung. Wir möchten zwar keine Klöster gründen, aber als Nachahmer Christi in verschiedenen Städten Deutschlands Hubs positionieren, die wie Lichtpunkte geistliche Inspiration in die Landschaft hinaussenden. Ein Hub ist ein lokaler Ort, an dem wir zwar nicht als Lebensgemeinschaft, aber zumindest als Weggemeinschaft Spiritualität leben und wo „life transfer“ untereinander und nach außen geschehen kann. Wir möchten nicht primär als Anbieter von evangelistischen Tools bekannt sein, sondern als eine Gemeinschaft, an deren Einheit und Unterwegssein Gott Freude hat, sich mit seinem Geist niederzulassen. Aus dieser Gemeinschaft heraus entfaltet sich unser Kernauftrag, Evangelisation und Jüngerschaft in die Welt hineinzutragen und Christen zu mobilisieren, diesen Auftrag mitzugestalten. An einem Hub sind Mitarbeiter und Ehrenamtliche verschiedener Campus-Ministries präsent. Wir treffen uns in einer gesunden Regelmäßigkeit, um gemeinsam Gott zu suchen, zu arbeiten, Menschen einzuladen und Erfahrungen und Leben zu teilen. Hier finden Seminare statt, von hier aus verstehen wir uns aber auch gesandt, um in die verschiedenen Zielgruppen hineinzuwirken. Gerade weil wir eine Organisation sind, die Struktur benötigt und strategisch unterwegs ist, ist es zentral, dass im Kern von Campus nicht eine Strategie steht, sondern Gemeinschaft und gelebte Spiritualität. Ein Hub bildet somit Campus auf regionaler Ebene ab und kann in verschiedenen Städten unterschiedliche Ausdrucksformen finden. Unser Dienst, unser Tun und Wirken soll aus diesem Miteinander heraus geboren werden und davon durchdrungen sein.

Für mich ist es absolut zentral, dass wir als Campus-für-Christus-Team nicht nur irgendwelche „best practices“ abspulen und mechanisch Menschen mit Christus in Kontakt bringen wollen. Im Zentrum steht unsere persönliche Beziehung mit Christus, der wir gemeinsam Ausdruck geben. Beim Unterwegssein mit verschiedenen Menschen möchten wir uns gemeinsam mit allen Interessierten an die Fersen eben dieses Christus heften und miteinander seine verändernde Kraft in unserem Leben erfahren.

Mit dem Formen von Hubs in verschiedenen Städten können wir die Leuchtkraft erhöhen und den Segensfluss intensivieren. Wir brechen aus einem engen Arbeitszweigdenken aus und werden sehr viel mehr in die einzelnen Regionen hineintragen können – alles nur zum alleinigen Zweck: Make Jesus known!

Andreas Boppart

Gott ist sowohl transzendent, also übernatürlich, jenseitig und gänzlich anders, als auch immanent, also nah, alles durchdringend, in der Welt, und nicht nur über ihr. Mit anderen Worten: Die „Anderswelt“ ist hier!

Dünne Orte

Zugegeben, mein Wissen über Kelten ist geprägt von historischen Romanen. Ich weiß, dass ich mich damit nicht unbedingt der hochwertigsten Literatur aussetze, aber was soll’s, diese Bücher gehen so leicht runter, und ein bisschen kann ich mich der Illusion hingeben, „echte“ Historie beim Lesen mitzubekommen.

Ansonsten hatte ich es nie so mit den Kelten und ihrer Mystik. Dazu war ich wohl zu sehr ein Kind meiner eigenen Zeit. Zwei keltische Begriffe haben es mir allerdings angetan: „Anderswelt“ und „dünne Orte“. Ohne zu wissen, was genau dahintersteckt, liebte ich diese Ausdrücke vom ersten Moment an.

Ich bin Christ. Ich glaube an ein Jenseits, an die Ewigkeit und ein Leben nach dem Tod. Was genau sich hinter diesen Vokabeln verbirgt, bleibt freilich unklar. Christen sind aber weitestgehend vereint in der Überzeugung, dass es alles übersteigen wird, was wir uns vorstellen können – deswegen gefällt mir das Wort „Anderswelt“ so gut.

Ich glaube nicht, dass die keltische Vorstellung vom Jenseits eins zu eins gleichzusetzen ist mit dem biblischen Reich Gottes, aber als Metapher finde ich das Wort wunderschön. Eine „Anderswelt“ lässt Raum zum Träumen. Sie lässt Platz für Sehnsüchte und tiefe Fragen. Ich muss sie nicht verfechten oder verteidigen, denn sie ist ja so dermaßen anders, dass niemand aus dieser Welt ein abschließendes Wort dazu haben kann.

Mittlerweile habe ich ein wenig recherchiert und weiß, dass die unsichtbare „Anderswelt“ für die Kelten sehr wahrscheinlich kein entferntes Jenseits war, sondern etwas, das die Menschen überall und permanent umgab. Nicht schlecht ... Immerhin hatte Jesus selbst Ähnliches formuliert: Das Reich Gottes ist mitten unter euch! (Lukas 17,21) Im Laufe vieler Jahrhunderte Kirchengeschichte ging dieser Aspekt ein wenig verloren. Irgendwann herrschte der Gedanke vor, dass das Reich Gottes etwas Zukünftiges sei – mehr oder weniger. Das ist wahr und doch auch wieder nicht. Deswegen betont die systematische Theologie beide Aspekte: Gott ist sowohl transzendent, also übernatürlich, jenseitig und gänzlich anders, als auch immanent, also nah, alles durchdringend, in der Welt, und nicht nur über ihr. Mit anderen Worten: Die „Anderswelt“ ist hier! Dieser Gedanke begleitet mich seit Jahren. Er macht mich sprachlos und ein wenig demütig. Ich, Tür an Tür mit einer anderen Welt! Diese Idee inspiriert und ankert mich. Manchmal erleben wir Momente, in denen wir wissen (nicht nur als Theorie im Kopf, sondern als Gewissheit im Herzen), dass es noch etwas Anderes gibt. Größer als wir. Jenseits von allem, was wir sehen oder beweisen können. Oft sind es Schicksalsschläge, die uns den Blick für andere Realitäten weiten. Manchmal ist es der Klang einer bestimmten Melodie, der Zauber eines besonderen Ortes oder, oder ... Auch die Kelten machten diese Erfahrungen und sprachen von „dünnen Orten“ und „dünnen Zeiten“. Sie meinten damit Gelegenheiten, bei denen es einem vorkommt, als sei die diesseitige Welt ein wenig durchlässig geworden und würde den jenseitigen Raum berühren.

Ich stelle mir vor, dass ein Leben ohne jeglichen Bezug zur Transzendenz ärmer wird. Einsamer. Haltloser. Das betrifft meiner Meinung nach übrigens nicht nur sogenannte Ungläubige, sondern auch Christen. Wir behaupten, von der Ewigkeit her zu leben. – Wirklich? – Wo denn? Wie denn? Und wann? Fliegt einem das Bewusstsein dafür einfach zu oder kann man das lernen? Und haben Menschen, die in so unfassbar reichen, abgesicherten und scheinbar aufgeklärten Umständen leben wie wir, das überhaupt nötig? Von der Ewigkeit her zu leben bedeutet letztlich, die eigene Vergänglichkeit, also den Tod, in den Alltag miteinzubeziehen. Das scheint mir eine ungeheure Herausforderung für jeden Deutschen zu sein, weil wir Leiden und Sterben, sowohl von Menschen als auch von Tieren, kategorisch in Nischen verbannt haben, die mit dem Alltag der meisten Bürger schlicht nichts zu tun haben. Ewigkeit hört sich so viel schicker an als Tod, aber ich denke, wir müssen uns vor Augen halten, dass es ohne Tod keine Ewigkeit geben wird.

Ich für meinen Teil möchte sensibel sein für „dünne Orte“, „dünne Zeiten“ und die „Anderswelt“. Ich möchte keine neue Lehre aus diesen Gedanken basteln, aber (erwähnte ich es schon?): Ich mag diese Begriffe! Und ich möchte, dass es tief in meinem Herzen Wurzeln schlägt: Gottes Welt existiert nicht nur jenseits, sondern parallel zu meiner Welt. Gottes Reich ist mitten unter uns! Judith Westhoff

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