Camper - The Walking Society - Ausgabe 10 - Sicilia (DE)

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F/S 2021 –– Ausgabe Nr. 10





GEHEN bedeutet, sich fortzubewegen. Sich von einem Ort zum anderen zu begeben. Es bedeutet auch, voranzukommen, sich zu verbessern, sich weiterzuentwickeln und offen zu sein für Innovation. Die Walking Society ist eine virtuelle Gemeinschaft, in der jeder willkommen ist – unabhängig von seinem sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen oder geografischen Hintergrund. Einzeln und als Zusammenschluss fördern die Mitglieder dieser Gemeinschaft Vorstellungskraft und positive Energie, indem sie innovative Ideen und Lösungen entwickeln, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen – auf einfache und ehrliche Weise. CAMPER bedeutet “Bauer” im Mallorquinischen. Die Entbehrungen, die Einfachheit und die Intimität des ländlichen Lebens, vereint mit mediterraner Geschichte, Kultur und Landschaft – all das beeinflusst die Ästhetik und die Werte unserer Marke. Unser Traditionsbewusstsein und unsere Wertschätzung für Kunst und Handwerk sind die tragenden Säulen unseres Versprechens: Wir stellen nützliche, originelle und hochwertige Produkte her, wobei wir die Vielfalt fördern und stets bestrebt sind, die Produkte durch Innovationen, neue Technologien und unseren Sinn für Schönheit weiterzuentwickeln. Kultur und Menschlichkeit sind die Grundlage unseres unternehmerischen Handelns. SIZILIEN ist die größte Insel im Mittelmeerraum. Auch wenn sie nur durch den schmalen Streifen Wasser der Meerenge von Messina vom italienischen Festland getrennt ist, so hat sie doch eine ausgeprägte Eigenständigkeit als Insel. Als Brücke zwischen Europa und Afrika und dem Nahen Osten war sie schon von jeher ein kulturelles Zentrum und ein Brennpunkt multiethnischer Beziehungen und neuer Identitäten. Das Magazin, THE WALKING SOCIETY, sammelt die Worte und Bilder von Menschen und Landschaften, die Teil dieser virtuellen Gemeinschaft sind – Menschen, die gemeinsam die Welt voranbringen und verändern. Unsere erste Ausgabe erschien im Jahr 2001 und hatte Campers Heimatinsel Mallorca zum Thema. Die ursprüngliche Reihe, in der verschiedene Regionen des Mittelmeerraums vorgestellt wurden, erschien in acht Ausgaben über vier Jahre hinweg bis 2005. Die zehnte Ausgabe widmet sich nicht nur der größten Mittelmeerinsel, sondern geht auch der Frage der europäischen Identität nach, die in dieser Gegend über Jahrhunderte hindurch von den Griechen, den Römern, den muslimischen Kalifaten und den Normannen geprägt wurde. The Walking Society ist eine Hommage an eine der wichtigsten kulturellen Säulen der westlichen Zivilisation: den Mittelmeerraum. WALK, DON’TRUN. 3




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In Italien ist Franco ein maestro d'ascia, der „Meister der Axt“. So hießen in der Antike jene Bootsbauer, die Holzschiffe vollständig von Hand bauten, indem sie mit ihrer Axt die Stämme so formten, dass sie zusammengesetzt den Rumpf ergaben.


F/S 2021 –– Ausgabe Nr. 10

Sicilia Zwischen der südlichsten Küste Siziliens und dem ersten felsigen Landvorsprung Tunesiens liegen nur 140 Kilometer. Würde man mit dem Auto fahren, wäre man ungefähr eine Stunde unterwegs. Auch wenn es mit Schiff länger dauert, war Afrika von jeher ein ebenso wichtiger Nachbar Siziliens wie Europa. Sizilien ist die größte Insel im Mittelmeerraum und könnte ohne Weiteres auch dessen gedachte Hauptstadt sein. 7


Über viele Jahrhunderte hinweg bis heute ist sie der sichere Hafen vieler Menschen: zuerst kamen 800 Jahre v. Chr. die Phönizier aus dem Nahen Osten, dann folgten die Karthager von der Küste Nordafrikas. Später ließen sich die Griechen, Römer und Byzantiner hier nieder. Im achten Jahrhundert besetzten die Muslime die Insel, gefolgt von den Normannen. Danach wurde Sizilien sein eigenes Königreich und schließlich ein Teil von Italien. Kein Ort in Europa hat so viele kulturelle Überlagerungen erlebt und kein Ort in Europa ist so eigentümlich wie Sizilien; es gibt Kirchen, die einst Moscheen waren, antike Amphitheater, in denen noch immer Komödien und Tragödien aufgeführt werden, Speisen mit nahöstlichen Anklängen und eine Sprache, deren Alphabet noch immer Spuren dieser Herrschaftsverhältnisse trägt.

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Siziliens Bevölkerung wächst. Nachdem die Insel bis 1900 weniger als 3 Millionen Einwohner zählte, wurde 2010 die 5-Millionen-Grenze zu einer der „jüngsten“ Regionen Italiens überschritten.

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Im Laufe der Jahrhunderte hat die Insel unzählige Völker kommen und gehen sehen: Griechen und Römer, aber auch Vandalen, Ostgoten, Byzantiner und Muslime legten den Grundstein für die Blütezeit der Insel nach dem Jahr 1000.


Sizilien erlebte unter islamischer Herrschaft eine lange Phase des Wohlstands: Fruchtwechsel und andere landwirtschaftliche Neuerungen wurden eingeführt und die Städte wuchsen rasant an.

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Diego ist der Kapitän eines 24 Meter langen Segelbootes. Im Sommer segelt er zwischen Sizilien und den Äolischen Inseln bis zur Küste von Ligurien. Seine Freizeit, so sagt er, verbringt er am liebsten auf dem Meer.


FABRIZIA LANZA S. 38 Eine Kochschule im Herzen der Insel zur Bewahrung und Vermittlung der sizilianischen Küche.

REZEPTE UND FESTE S. 50 Für jeden Anlass gibt es in Sizilien das passende Rezept: unsere 20 Lieblinge.

IGOR SCALISI PALMINTERI S. 64 Der Künstler und Maler, der die Wände Palermos mit den traditionellen Inselheiligen zum Leben erweckt.

Auf Sizilien gehen Gegenwart und Vergangenheit Hand in Hand. Aus diesem Grund sind die religiösen Traditionen hier noch so bildreich und herzlich, deshalb ist die Beziehung der Einwohner zum Land und zur Natur auch bei den Städtern tiefergehend als in vielen anderen Regionen Europas. Trotz der kulturellen, sozialen und politischen Widersprüche könnte womöglich aus diesem Reichtum eine neue, in erster Linie mediterrane und nicht allein europäische Identität entstehen, der es gelingt, drei Kontinente – Europa, Afrika und Asien – in einer einzigartigen Synthese zu vereinen.

PORTICELLO S. 18 So werden in Sizilien noch ganz traditionell Fische gefangen: ein Fischerdorf bei Palermo.

Auch die ganz besondere geografische Beschaffenheit der Insel prägt den sizilianischen Charakter. Zwar war das Meer im Laufe der Geschichte das alles bestimmende Element, das sowohl Vorteil als auch Schwachpunkt, Verbindung als auch Grenze darstellte, und die Fischmärkte gehören noch immer 13


MONCADA RANGEL S. 118 Ein Architektenpaar, für das Syrakus der Ankunfts- und Abfahrtsort ist. DIE TIERE SIZILIENS S. 100 Tierarten, die es nur hier gibt. Illustriert von Michele Papetti. ALESSANDRO VIOLA S. 90 Im Westen Siziliens will ein Naturweinproduzent das Anbaugebiet aufwerten. ANTIKE GRIECHISCHE THEATER S. 84 Die Geschichte Siziliens anhand der jahrtausendealten und noch immer bespielten griechischen Theater.

zu den buntesten des Kontinents, doch Sizilien hat auch eine zum Land gehörende Seele, die eng mit den Bergen und dem Landesinneren verbunden ist. Das Gebiet ist von zahlreichen und teils sehr hohen Hügeln und Bergen überzogen und von der Inselmitte aus kann man an klaren Tagen sogar die Silhouette des Ätna sehen. Mit einer Höhe von ungefähr 3400 Metern ist der am nordöstlichen Horizont gelegene Ätna der höchste aktive Vulkan Europas und im Winter fast dauerhaft mit Schnee bedeckt. Ein Viertel der Fläche Siziliens ist Bergland (mehr als das Flachland), doch es sind die mit Aberhunderten von Hektar Weizen bebauten Hügel, die das Land dominieren. Im Sommer wirkt die Insel wie von einem goldenen Tuch bedeckt. Auf der Fläche des sizilianischen Landdreiecks ist ein ganzer Kontinent untergebracht.

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Ohne Essen ist das sizilianische Leben undenkbar und in jeder Stadt gibt es mindestens ein Marktviertel, allein Palermo hat vier historische Märkte: Vucciria, Capo, Borgo Vecchio und Ballarò.

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Der Ausgangspunkt ist immer das Meer: Von hier kommst du her und von hier wirst du wieder die Segel setzen – so besagt es zumindest das Gesetz aller Inselstaaten. Anders als auf Mittelmeerinseln wie Sardinien oder Korsika, deren Kulturen enger mit den Traditionen des Landesinneren und der Berge verbunden sind als mit denen des Meeres, war und ist der Fischfang in Sizilien ein wirtschaftlicher Grundpfeiler. Keine

Porticello Region Italiens hat eine so große Fischereiflotte wie Sizilien, sowohl was die Anzahl der Schiffe als auch deren Gesamtleistung angeht. Von Palermo aus stößt man in östlicher Richtung nach kurzer Zeit auf eine der zahlreichen Landzungen an der Nordküste der Insel: Kap Zafferano ist eine kleine Landspitze, die sich in türkises Wasser erstreckt. In unmittelbarer Nähe stand bis 1961 18


Wie in keiner anderen Region Italiens ist Fischfang auf Sizilien ein zentraler Wirtschaftszweig.

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Bei der Menge des gefangenen Fisches, der Größe der Flotte und der Anzahl der beschäftigten Fischer steht Sizilien in ganz Italien auf Platz eins.


Das vielleicht berühmteste Produkt Messinas: Schwertfisch ist allgegenwärtiger Bestandteil vieler typisch sizilianischer Rezepte von Pasta bis Fischfilet.

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Sizilien hat eine große Fischvielfalt: Die am häufigsten gefangene Art ist die Sardelle, aber auch Sardinen, Meeräsche, Schwertfisch, Weißer Thun, Roter Thun und Seehecht sind weit verbreitet.




eine Thunfischfabrik, die zur Besiedlung der Gegend und der Gründung neuer Dörfer führte. Eines davon ist Porticello, bewohnt von Fischern und Bootsbauern, die in einem symbiotischen Verhältnis zum Meer geboren und aufgewachsen sind. Während die Bucht am Morgen still daliegt, werden in Francos Werkstatt an einem neuen, über sieben Meter langen Gozzo die letzten Handgriffe angelegt und die krächzenden Geräusche von Sägen und Hobeln vermischen sich mit den entfernten Rufen der Möwen. Der Bau eines Holzboots wie diesem dauert drei Monate. Wegen der starken Konkurrenz von Materialien wie Fiberglas werden diese Boote immer seltener. Deshalb führen die Bootsbauer mittlerweile hauptsächlich Reparaturen aus. Dabei liegen Vorteile eines Holzbootes auf der Hand, sagt Franco, denn aufgrund seines Gewichts liegt es sehr stabil im Wasser. Und selbstverständlich hält es ewig. Mit der richtigen Pflege kann es fast hundert Jahre alt werden. Nach dem Mittagessen, so gegen 15 Uhr, kommen 25


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Dieses für Sizilien typische Fischerboot heißt „Paranza“. Es wirft ein sackförmiges Netz aus und bewegt sich dann mit geringer Geschwindigkeit, sodass auch kleine Fische vom „Mund" des Netzes verschluckt werden.


Uralte Traditionen bleiben unter den Fischern lebendig: Zum Beispiel wird der Bug des Bootes mit zwei Augen bemalt, die vor den Gefahren der Seefahrt schützen sollen.

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die ersten Leute. Um diese Zeit kehren die vor genau 12 Stunden, drei Stunden nach Mitternacht, ausgelaufenen paranze (Fischkutter) wieder in den Hafen zurück. Auf Sizilien ist ein paranza (Fischkutter) auch die Bezeichnung für eine Art von traditionellem Fischernetz, das wie ein Sack aussieht und Fische, Weichtiere und Krebse buchstäblich „verschluckt“, während das Boot mit geringer Geschwindigkeit unterwegs ist. Bei der Vorbereitung der Kisten mit dem fangfrischen Fisch für den Verkauf direkt am Pier tragen die Fischer noch immer die blauen und orangefarbenen Wachsjacken, die sie fast wie Superhelden aussehen lassen. Die Käufer kommen mit dem Auto, zu Fuß oder mit dem Motorrad. Es gibt Kabeljau, Weißband-Putzergarnelen, Holzmakrelen, Gabeldorsche und sogar einige Tintenfische. Hinter der Küste steigen die Berge steil nach oben, sodass die Sonne sich am Nachmittag hinter ihnen versteckt.

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Beim Verlassen des Hafens auf der Fahrt ins Landesinnere setzt die Landschaft ohne jede falsche Scheu umgehend ein. Es wirkt tatsächlich so, als wäre sie schon die ganze Zeit da gewesen und keiner mache ihr den Auftritt streitig. Weiter zum Landesinneren hin wird das Gelände bergig, wobei einige Bergketten mehr als 1500 Meter über dem Meeresspiegel liegen. Auf der Fahrt in das Herz der Insel, in Richtung Caltanissetta, wird das Meer von hügeligem Gelände abgelöst. Man fährt in das andere Sizilien, das Gegenstück zur Küste: das Sizilien der Landwirtschaft, des Käses, des Brotes. Das Sizilien der bäuerlichen Traditionen, der Schafwirtschaft und der kalten Winter.

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FABRIZIA LANZA

Auf unserem Weg Richtung Osten, mit dem Meer im Rücken, nähern wir uns dem Herzen von Sizilien – dem weniger bekannten. Hier, zwischen Palermo und Caltanissetta, erscheinen die Hügel wie mit Samt überzogen. Kilometerweit bedeckt Weizen das Land und gedeiht trotz der manchmal brennenden Sonne. Die Landschaft ist bergig und am Straßenrand wachsen Büsche, weiter entfernt Olivenbäume, Disteln und sogar 38


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Nadelbäume. Hier steht auf einer Anhöhe die Kochschule von Fabrizia Lanza. Die 1989 von Fabrizias Mutter Anna Tasca Lanza gegründete Schule befindet sich in einem weizenfarbenen Gebäude mit blauen Fensterläden, die an die Provence erinnern. Die Lanzas sind schon seit Generationen in diesem Land verwurzelt.

Das Meer ist zwar weit entfernt, aber es fällt auf, wie viel Getreide die Kochschule umgibt – sie steht gewissermaßen inmitten eines goldenen Meeres. Wir befinden uns direkt im Herzen von Sizilien, ungefähr in gleicher Entfernung zu Palermo und Catania. Seit der Römerzeit ist hier das Gebiet der Latifundien. Die Latifundien sind ausgedehnte Landgüter, die einem einzigen Gutsherren gehören. Das macht sich auch im Landschaftsbild bemerkbar, denn es gibt keine Häuser, keine Bäume, nur riesige Weizenflächen. Wenn man über viele Arbeitskräfte verfügt, dann lässt sich Weizen auf Sizilien recht einfach anbauen. Er wird einmal ausgesät, einmal geerntet und braucht ansonsten nicht viel Aufmerksamkeit, weil er nicht beschnitten oder bewässert werden muss. Deshalb war er hier schon von jeher die ertragreichste Getreidepflanze, auch in finanzieller Hinsicht. Daher

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besteht dieses Gebiet aus vielen großen Gutshöfen wie diesem, deren Gutshäuser sehr zweckdienlich errichtet sind. Wir befinden uns nicht in einer Palladio-Villa in Venetien, wo Schönheit als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Die Häuser hier gleichen eher Festungen. Abends wird die Tür abgeschlossen. Wer drin ist, bleibt drin und wer draußen ist, bleibt draußen. Welche Beziehung besteht zwischen Ihrer international ausgerichteten Arbeit – fast alle Kursteilnehmer kommen aus den USA – und dem Land? Für mich bedeutet es Freud und Leid zugleich. Sicherlich habe ich unsere Lerninhalte für Nichteinheimische leicht vereinfacht, aber ich frage mich immer, wie die Gegend von so einem nach außen gerichteten Betrieb vor Ort profitiert. Meiner Ansicht nach sind die Ansprüche und die Ausrichtung der Schule in jeder Hinsicht – auch in Bezug auf





„Die Definition von Tradition empfinde ich als sehr einengend. Ich glaube nicht, dass es eine echte Tradition gibt. Für mich ist das Kochen einfach wie eine Beziehung. Sie ist ein Mittel, um einen emotionalen, diplomatischen oder sogar politischen Weg zu beschreiten. Alles, was ich suche und was mich interessiert, ist ein anthropologischer Weg. Rezepte sind langweilig.“

die Gastfreundschaft, das Essen und dessen Studium, die Qualität der Zutaten und die Sorgfalt bei deren Anbau – eine Übertragung von Wissen und Sorgfalt, das auch die Einheimischen mitbekommen haben. Das ist sicher ein Vorbild, ein modus operandi, für die Gegend. Nur ein Beispiel: Im Sommer stellen wir ein Tomatenkonzentrat her, ein toller Brauch. Irgendwann bei einem meiner vielen Versuche habe ich beschlossen, das Konzentrat zu verkaufen, weil es ein fantastisches Produkt ist, das aber keiner kennt. Leider bin ich keine gute Verkäuferin, und mir wurde klar, dass das nicht der richtige Weg für mich war. Ich fand es deshalb besser, stattdessen den Brauch in Form eines praktischen Erlebens und als Seminar für ausländische Kursteilnehmer zu verkaufen. Auf diese Weise habe ich zwei Dinge erreicht: Erstens habe ich zu einem immer konkreteren Modell des partizipativen Tourismus beigetragen, bei dem die Menschen

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nicht hierher kommen, um sich berieseln zu lassen, sondern Teil der Bewahrung eines immateriellen Erbes sind, das mir sehr am Herzen liegt. Und zweitens, dass die sizilianischen Mädchen aus der Gegend, aus Vallelunga und Valledolmo, die mir bei der Saisonarbeit helfen, das Interesse und das Leuchten in den Augen der Fremden gesehen und dadurch selbst eine andere Wertschätzung gegenüber diesem Brauch entwickelt haben. Ich habe gewissermaßen einen hier selbstverständlichen, aber verkannten Brauch neu eingeübt. Das war mein Hauptanliegen. Mussten Sie Ihre sizilianischen Wurzeln erst wiederentdecken oder war die Verbindung nie abgerissen? Nein, ich war schon immer hier verwurzelt. Ich würde sagen, dass man schon eine gewisse Gewalt anwenden muss, um loszukommen, wie das bei charaktervollen Orten


und starken Bindungen nun mal so ist. Ich ging mit 18 weg und als ich zurückkam, stürzten all meine hiesigen Erlebnisse wie eine Lawine auf mich ein. Da wurde mir klar, mit welcher Gewalt der Bruch damals passiert war. Wann war die Sehnsucht nach Sizilien zu stark? Ich arbeitete als Kunsthistorikerin und meine Mutter leitete die Schule. Ich kam im Jahr 2000 hierher zurück und versuchte, aus dem eher dilettantischen Geschäft, das meine Mutter auf die Beine gestellt hatte, ein strukturierteres Unternehmen zu machen. Die Schule ist nun das ganze Jahr über geöffnet und hat den einen Schwerpunkt im Hotelbetrieb und den anderen in der Ausbildung. Der Kurs, der für maximal 14 Teilnehmer aus aller Welt offen ist, heißt „Cook the Farm“ und läuft zwei Monate lang, montags bis freitags von 9 bis 16 Uhr. Die Lerninhalte sind ziemlich anspruchsvoll und beschäftigen sich mit den Themen Kochen und Landwirtschaft. Zuerst erarbeiten wir uns das jeweilige Thema zum Schwerpunkt Landwirtschaft und Produktion: der Boden, die Mühlen, die Verarbeitung des Getreides und so weiter. Anschließend geht's in die Küche. Man kann nicht nur vom Schreibpult aus über Essen reden. Es geht darum, ein echtes Bewusstsein dafür zu schaffen. Die Küche, die Sie lehren, steht für die Bewahrung und Erhaltung der Vergangenheit, aber lässt sie sich auch in die Zukunft übertragen? Für mich ist Kochen wie eine

Beziehung. Die Definition von Tradition empfinde ich als sehr einengend. Ich glaube nicht, dass es eine echte Tradition gibt. Klar, meine Mutter hat Dinge gemacht, die ich mochte, aber wenn ich sie mache, werden sie zwangsläufig anders ausfallen. Das hängt auch von den Gästen ab, für die ich koche. Für mich ist das Kochen einfach wie eine Beziehung. Sie ist ein Mittel, um einen emotionalen, diplomatischen oder sogar politischen Weg zu beschreiten. Alles, was ich suche und was mich interessiert, ist ein anthropologischer Weg. Rezepte sind langweilig. Vielleicht sind sie ja ein Werkzeug, um die Vergangenheit ins Heute zu bringen? Zum Beispiel haben wir vor kurzem das Rezeptbuch des Kochs gefunden, der viele Jahre bei unserer Familie gelebt hat, der bei meiner Hochzeit gekocht und jahrzehntelang mit meinen Großeltern zusammengearbeitet hat. Es war ein Rezeptbuch aus der „Monsù“-Küche, was vom französischen „Monsieur" stammt. Diese Küche steht für einen fantastischen Schmelztiegel der Kulturen, der die französische Küche mit sizilianischer Eigenart verbindet. Wir haben die Rezepte nachgekocht, und die meisten waren einfach köstlich. Also eine Art von Bewahrung, die trotzdem in Bewegung bleibt. Deshalb habe ich 2019 die Food Heritage Association ins Leben gerufen, die sich als eine gemeinnützige Organisation der Lebensmittelforschung verschrieben hat. Sie soll eine

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Art Lebensmittellabor sein, das die sizilianische und mediterrane Esskultur systematisch aufarbeitet, um sie zu fördern und in die Welt zu tragen. Was kann man noch alles lernen, wenn man sich so intensiv mit Lebensmitteln und der Natur befasst? Alles! Man erlernt die Handgriffe, bekommt ein Gefühl für die Rhythmen, die Jahreszeiten ... Landwirtschaft ist mein Leben, daher weiß ich alles über das Land und seine Produkte, die Verarbeitung und kenne jeden Schritt bis hin zum fertigen Lebensmittel. Dann ist da natürlich auch der psychologische Aspekt, die Zuneigung. Man macht sich bewusst, was man am meisten braucht, aber auch all das, worauf man verzichten kann. Haben Sie Ziele oder Träume, die Sie umsetzen möchten? In letzter Zeit würde ich mich gern stärker politisch engagieren, denn nur so kann man etwas verändern. Aber das sage ich nur leise, weil es mir auch Angst macht. Ich lasse es ruhig angehen, denn das ist ein sehr schwieriges Gebiet, und ich möchte nichts überstürzen.

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Machen sie sich Gedanken über das, was von Ihnen bleiben wird? Das lässt mich relativ unbeeindruckt. Wichtiger wäre mir, dass sich bestimmte Sachen ändern. Was mich während des Lockdowns am meisten beunruhigt hat, war der Gedanke, dass wir nachher wieder genau so weitermachen könnten wie vorher. Die Menschen sind aus vielen Gründen politikmüde geworden, aber die Politik ist im demokratischen Leben wichtig und kein Beiwerk. Wenn ich – jemand, der sich immer um seinen eigenen Kram gekümmert hat und nie etwas mit Politik am Hut hatte – die Möglichkeit hätte und es die Umstände erlauben würden, dann würde ich gerne mitreden und versuchen, etwas zu verändern. Zuerst von der Basis her, durch mein eigenes Engagement.


Rezepte und Feste

Es sollte klargeworden sein, welchen Stellenwert Essen im täglichen Leben der Sizilianer einnimmt. Während seine Erzeugung die Jahreszeiten anzeigt, strukturiert seine Verarbeitung und sein Verzehr den Tag. Aber auch die tiefe Spiritualität der Insel wäre ohne Essen undenkbar. 50




Minne di Sant'Agata

Virgineddi di Torretta

3.-5. Februar Die heilige Agatha Catania

19. März Der heilige Josef Torretta

Pignoccata

Cassata

Karneval Modica

Ostern In ganz Sizilien

Sfincia

Panareddu

19. März Der heilige Josef Palermo

Ostern In ganz Sizilien

Die starke Eigenständigkeit der verschiedenen Orte Siziliens hat im Zusammenspiel mit den religiösen Festtagen, die das Leben der kleinen und großen Städte seit Jahrhunderten begleiten, einen gastronomischen Kalender hervorgebracht, auf dem es für praktisch jedes Fest ein spezielles Rezept gibt, das nur zu diesem einem Anlass auf den Tisch kommt. 53


Turciniuna Ragusani Ostern Ragusa

Babbaluci

15. Juli Die heilige RosaliaPalermo

Pastieri Modicani

Iado co cinu

Nzuddi

Frutta di Martorana

Ostern Modica

3. Juni Messina

Pane di San Calogero 1. Juliwoche Agrigento

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29. August Ragusa

2. November Palermo

Ossi di Morto 2. November In ganz Sizilien




Muffulette di San Martino

Sfuogghiu Ragusano

Cuccìa

Giurgiulena

Liatina

Buccellato

11. November In ganz Sizilien

13. Dezember Palermo, Siracusa

25. Dezember In ganz Sizilien

25. Dezember Ragusa

25. Dezember In ganz Sizilien

25. Dezember Palermo

In Salemi hat es Tradition, am 19. März, dem Tag des heiligen Josef, Skulpturen aus echtem Brotteig zu formen. Meistens handelt es sich dabei um christliche Symbole, aber sie lassen reichlich Platz für heidnische Motive, wie Hähne, Pfauen, Blumengestecke, Rosen und Lilien. 57



Sizilien ist der sonnenreichste Landstrich Europas. Nirgendwo anders auf dem Kontinent scheint die Sonne durchschnittlich so lang.



Drift S/S 2021



Auf Sizilien geht die Verehrung der Stadtheiligen weit über die Religion hinaus und wird zu einer weltlichen Tradition, einer Art Symbolik, einem Ethos. Unter den Einheimischen genießen vor allem drei Heilige große Beliebtheit: Die in Palermo gebürtige heilige Rosalia, die heilige Agata aus Catania und die heilige Lucia aus Syrakus. Es gibt jedoch einen weiteren sizilianischen Heiligen, dessen ganz eigene Geschichte die multikulturelle Vergangenheit Siziliens auf den Punkt bringt: Benedikt „der Mohr“. Als Sohn einer wahrscheinlich aus Äthiopien stammenden afrikanischen Sklavenfamilie wurde er an der östlichsten Spitze der Insel in Messina geboren. Doch zu Palermo, wo er zwanzig Jahre lang als Mönch lebte, hatte er eine besondere Bindung. Neben der heiligen Rosalia ist er heute der Schutzpatron der Stadt. Sein meterhohes Konterfei wacht über ein Fußballfeld in Ballarò im historischen Stadtkern. Gemalt wurde es vom Künstler und Maler – und einstigen Franziskanermönch – Igor Scalisi Palminteri. 63


Igor Scalisi Palminteri bemalt eine Wand in der Albergheria – einem der ältesten Viertel Palermos, nur wenige Schritte vom BallaròMarkt entfernt – mit dem Bild der verzückten Rosalia inmitten von Lilien. Igor ist Maler und als Leinwand dienen ihm häufig die Wände von Palermo.

IGOR SCALISI PALMINTERI 64






Palermo, insbesondere Albergheria, ist nach einem ungewöhnlichen Lebensweg zu seiner Heimat geworden. Sieben Jahre lang war er Mönch in einem Kloster, bis er austrat, um sich der Malerei zu widmen und den ersehnten Sohn aufzuziehen. Heute spielen Spiritualität und seine Arbeit mit Kindern eine gleichberechtigte Rolle in Igors Leben. Er bemalt die Wände von Palermo und veranstaltet Kunstworkshops mit den städtischen Schulen. Kunst und Heilige gehen bei Igor eine Einheit ein, wobei sich seine Heiligen von den unerreichbaren Heiligen des Glaubensdogmas unterscheiden. Sie sind Straßenheilige, nützliche Heilige, bildhafte Heilige. Du hast überall in Palermo Heilige gemalt. Heilige, die von den Wänden auf die Plätze schauen, wo Kinder spielen oder auf die Straßen, wo Autos, Menschen und das Leben vorbeiziehen. Deine Straßenkunst hat etwas Besonderes. Ich nenne sie lieber muri di strada – Straßenwände. Dieser Begriff entstand vor ein paar Jahren während eines Projekts, bei dem wir zusammen mit anderen Künstlern aus Palermo fünf Wände des Viertels Ballarò bemalten. Außerdem hänge ich einfach am klassischen Konzept der Leinwand mit ihrer begrenzten Oberfläche. Bei dieser Art von Malerei hier, bei der man sich

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als Künstler den Blicken der Menschen aussetzt, setzt man sich immer auch einem Risiko aus. Gemälde wie das der heiligen Rosalia sind Ausdruck für den Charakter des Viertels. Haben sie darüber hinaus eine gesellschaftliche Funktion? Auf jeden Fall! Die heilige Rosalia auf dieser Wand entstand aus dem Wunsch heraus, dass die Leute endlich aufhören, ihren Müll hier hin zu werfen. Und die Anwohner wollten sie auch. Es gibt diese Liebe zum eigenen Land, die im eigenen Viertel, quasi vor der eigenen Haustür, beginnt.



Camaleon S/S 2021


Für dich kommt die Verbindung zur Spiritualität aus der Ferne. Mit welcher Absicht bist du ins Kloster eingetreten und was ist davon bei deinem Austritt geblieben? Alles ist geblieben. In meiner Bildrecherche drückt sich die spirituelle Suche aus, die ich in den sieben Jahren zwischen 20 und 27 durchlebt habe. Meine Malerei wird oft als Mischung aus Heiligem und Profanem beschrieben, aber das halte ich für komplett falsch. Meine Malerei ist spirituell. Sie erzählt von meinem Geist, vom Geist der Menschen, vom heiligen Geist, der in dieser Welt ist. Es geht um den Wunsch, sich von der Materie oder dem Zufälligen loszusagen und dabei mit beiden Füßen fest auf dem Boden zu stehen – auf dem schmutzigen Boden. Als ich ins Kloster eintrat, hatte ich mich in den heiligen Franziskus verliebt, so wie man sich in ein Mädchen oder in einen Jungen verliebt. Ich war richtig in den heiligen Franziskus verknallt. Was mich begeisterte, war nicht seine Armut, für die er berühmt ist, sondern dieses Gemeinschaftsgefühl, das er mit seinen

Brüdern lebte. Die revolutionäre Kraft des heiligen Franziskus lag nicht nur in seiner Fähigkeit, mit den Geschöpfen zu kommunizieren, denn das findet man bei vielen anderen Heiligen und auch in der nicht-religiösen Welt. Der heilige Franziskus sprach nicht nur zu den Vögeln, er sprach auch zu den Menschen. In ihm brannte dieses Feuer, diese Vorstellung vom gemeinschaftlichen Handeln. Darin habe ich mich verliebt und deshalb ging ich ins Kloster. Was hast du direkt nach deinem Austritt gemacht? Die Umstellung war einfach: Ich war ausgetreten, weil ich ein Kind wollte. Ich arbeitete weiterhin mit Kindern, so wie als Ordensbruder und auch schon davor. Mit 15 habe ich mich zum ersten Mal ehrenamtlich engagiert, in Zisa im Arbeiterbezirk Danisinni, einem der ärmsten Viertel der Stadt, in dem auch ein paar meiner Gemälde zu sehen sind. Fiel dir der Austritt aus dem Kloster schwer?

„In meiner Bildrecherche drückt sich die spirituelle Suche aus, die ich in den sieben Jahren zwischen 20 und 27 durchlebt habe. Sie erzählt von meinem Geist, vom Geist der Menschen, vom heiligen Geist, der in dieser Welt ist. Es geht um den Wunsch, sich von der Materie oder dem Zufälligen loszusagen und dabei mit beiden Füßen fest auf dem Boden zu stehen – auf dem schmutzigen Boden.“ 70




Sehr schwer. Man fühlt sich wie ein Versager, wie bei einer Trennung. Doch mittlerweile spüre ich, dass ich meinen Platz gefunden habe. Ich habe damals wieder angefangen, als Streetworker mit sozial benachteiligten Minderjährigen und im Jugendgefängnis von Palermo zu arbeiten. Es ist irgendwie so, als müsste ich mein inneres Kind, das gelitten hat und weiter leidet, trösten und behüten. Haben sich die Straßen von Palermo seit deiner Rückkehr verändert? Rein instinktiv würde ich sagen, dass sich die Stadt kaum verändert hat, aber das stimmt nicht. Palermo hat sich toll, wenn auch langsam entwickelt. Es ist eine langsame Stadt, wie eine große Schildkröte. Und wie eine Schildkröte hat sie ein stabiles Zuhause auf ihren Schultern, aber sie bewegt sich langsam. In all den Jahren, in denen ich in Palermo lebe – von der Zeit im Kloster abgesehen – konnte ich den Wandel der Stadt beobachten. Ich fühle mich als Teil dieses Wandels, wegen der Straßenkunst und als Beteiligter dieses langsamen Veränderungsprozesses heute sogar noch stärker als früher. Palermo hat sich zum Bessern entwickelt, es ist schöner und gesünder geworden. Trotzdem braucht Palermo mehr Zuwendung und mehr Aufmerksamkeit. Die Straßen, die Plätze und sogar die Bürger brauchen mehr Zuwendung. Palermo war von jeher eine multikulturelle Stadt. Verändert sich deine Identität auch in diesem Punkt? Die Kinder aus diesem Viertel besuchen eine Mittelschule an der Via Maqueda, einer der Hauptachsen der Stadt. Vor drei Jahren habe ich an dieser Schule

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einen Workshop mit der 7. Klasse veranstaltet. Bis auf drei Mädchen aus Palermo kamen alle anderen Schüler aus der ganzen Welt. Das bedeutet natürlich, dass das soziale Gleichgewicht oft prekär ist. Die Integration ist immer schwierig und ein Kraftakt. Doch weil Palermo ein Hafen ist, eine Stadt am Rande und doch im Zentrum des Mittelmeeres, haben wir einfach keine andere Wahl. Unterm Strich hat Palermo das Glück, dass es weiß, wie man mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur umgeht. Als die Kinder von Normannen, Arabern, Afrikanern, Franzosen, Spaniern sind auch wir ein farbenfroher Haufen. Wo ziehst du die Grenze zwischen deinem Engagement für Kinder und deiner persönlichen Kunst? Bis vor fünf Jahren dachte ich, ich hätte zwei Berufe: einen, bei dem ich Bilder male und verkaufe, und daneben die Arbeit in den Vereinen, draußen bei den Leuten, die meine Leidenschaft ist. Ich habe die beiden voneinander getrennt gehalten. Mittlerweile ist die Trennlinie verwischt. Es ist egal, ob ich eine Wand mit Kindern oder alleine bemale, sie ist für mich gleich wertvoll und bedeutsam und ich gebe mir die gleiche Mühe damit. Es fühlt sich genauso wie meins an, wie wenn ich in meinem Atelier eine Leinwand bemale. Das war eine Zeit des Reifens für mich, ein sehr positiver Schritt. Das verdanke ich den Kindern. Und das ist nicht nur so daher gesagt. Die Jungen und Mädchen, mit denen ich gearbeitet habe, haben unbewusst mein Verständnis für mein Selbstbild als Mann, als Künstler und als Maler erweitert. Sie haben mich von dem inneren Anspruch befreit, jemanden oder etwas zufriedenstellen zu müssen.


„Palermo hat sich toll, wenn auch langsam entwickelt. Es ist eine langsame Stadt, wie eine große Schildkröte. Und wie eine Schildkröte hat sie ein stabiles Zuhause auf ihren Schultern, aber sie bewegt sich langsam. In all den Jahren, in denen ich in Palermo lebe – von der Zeit im Kloster abgesehen – konnte ich den Wandel der Stadt beobachten.“ Ihre Spontaneität in der Malerei und im Leben hat mich von meiner Leistungsangst befreit. Viele deiner Bilder zeigen Heilige. Stellst du sie als Menschen oder als Sinnbilder da? Meine Bilder sind nicht religiös, sondern politisch. Ich habe mich einmal aber auch unabsichtlich gotteslästerlich verhalten. Ich hatte eine Reihe von Heiligenfiguren in Superheldenkleidung gemacht. Sie verkauften sich in Lateinamerika, Portugal, Brasilien und den Vereinigten Staaten wie wild. Es waren katholische Heiligenfiguren, die ich auf Märkten gefunden und dann einfach verkleidet hatte. Die heilige Rosalia als Wonderwoman, der heilige Antonius als Batman und Jesus als Spiderman, ... Denn in unserer Kultur war der Heilige irgendwann so etwas wie ein Superheld geworden, der deine Probleme für dich löst. Wie ein Automat, der einem die Arbeit abnimmt, indem man eine Münze reinwirft. Das war nicht unverschämt oder blasphemisch gemeint, sondern sollte die Gläubigen zum Nachdenken anregen. Meine Freunde aus dem

Kloster riefen mich an und fragten mich: „Aber warum tust du unserem Herrn so etwas an?“ Dieser Subtext ist mitunter unverständlich, auch wenn man auf der Straße ein Bild malt. Wie würdest du deine Identität und deine Wurzeln beschreiben? Was ich tief empfinde, ist diese Selbstverständlichkeit, die mit der Religion verschweißt ist. Wenn ich dann tiefer gehe, wissen Sie, was ich da finde? Meine nach Amerika ausgewanderten Verwandten. Die Vorstellung vom Reisen. Aber deine Reise endete in Palermo. Was hält dich in dieser Stadt? Mütterlicherseits stamme ich aus Terrasini, einem Küstendorf in der Nähe von Palermo. Aber ich habe bis zum meinem Eintritt ins Kloster fast mein ganzes Leben in Palermo verbracht. Ich bin zwar zurück nach Terrasini, aber am Ende hatte ich Sehnsucht nach Palermo. Daher habe ich mich für Palermo entschieden und bin geblieben.

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Ganz in der Nähe beginnen auf dem Markt von Ballarò wie jeden Morgen die Vorbereitungen für den Tag. Der Markt lässt sich Zeit, denn die Stände werden erst ab 9 Uhr aufgebaut. Die Sonne wärmt bereits die balate, jene Pflastersteine, die bald vom Wasser, das die Händler ständig über das Gemüse und den Fisch in ihren Auslagen spritzen, klitschnass sein werden. Hier werden die Zucchini bis zu einem Meter lang. Die Brokkoliköpfe sind größer als Fußbälle. Es gibt Stände mit getrockneten Früchten und Tomaten und Kapern in Dosen, eng an eng mit den Reissäcken, Knoblauchkörben, Kokosnüssen und Papaya vom Nachbarstand. Einige Händler sind berühmter als andere. Das Schild am Stand des Manns mit dem Riesenberg aus grünem Blumenkohl weist ihn als u vruccularu, den Spezialhändler für diese Gemüsesorte, aus.

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Ballarò ist das Herz von Albergheria, einem der vier Stadtteile in Palermos Altstadt. In diesem ältesten Teil der Stadt steht der Königspalast, auch Normannenpalast genannt, neben neueren Gebäuden, die bereits deutliche Alterserscheinungen zeigen. Mit zwei weiteren Märkten der Stadt – Vuccirìa und Capo – war er einst Teil des großen Innenstadtgebietes, der medina, die auch heute noch für die Städte des Nahen Ostens charakteristisch ist. Auch der Name Ballarò stammt aus dem Arabischen. Er leitet sich von Bahlara ab, einem nahem Dorf, aus dem zur Zeit der arabischen Herrschaft die hiesigen Händler kamen. Nur wenige Meter weiter steht die Kirche San Giovanni degli Eremiti, einem Sinnbild der komplexen Geschichte Siziliens. In ihr finden sich Einflüsse der islamischen Architektur des Maghreb und die fünf roten Kuppeln aus dem 11. Jahrhundert würden auch den vormals prächtigen Silhouetten von Bagdad oder Damaskus gut zu Gesicht stehen. 83


Antike

Theater


Auf Sizilien werden noch heute acht Theater aus der griechischen Antike genutzt, die über die ganze Insel verstreut sind: von der Provinz Messina im Norden bis nach Agrigento direkt am Mittelmeer, von der Westküste in der Provinz Trapani bis ins Zentrum der Insel in der Provinz Enna. Viele weitere werden zwar nicht mehr als Theater genutzt, können aber immer noch besichtigt werden.

Griechische Auch den später folgenden Römern hat die Insel ein paar Theater zu verdanken. Eine Sonderstellung nimmt das Theater von Taormina ein. Es ist zwar hellenistischen Ursprungs, wurde dann aber von den Römern umgebaut, die einige der noch heute gut sichtbaren Elemente hinzufügten. In den letzten Jahren des römischen Reiches wurde aus dem Theater eine Arena, in der statt Theateraufführungen nun Tier- und Gladiatorenkämpfe stattfanden.




Die griechische Besiedlung Siziliens dauerte mehrere Jahrhunderte. Die ersten Siedler kamen vor über 2500 Jahren und blieben bis vor etwa 300 Jahre v. Chr. Sie hinterließen erkennbare architektonische Spuren, vor allem Tempel und Theater. Da Sizilien näher an Griechenland liegt und damit leichter erreichbar war (wie auch die kalabrische Küste mit Blick auf das Ionische Meer), wurde natürlich der östliche Teil der Insel von Messina bis Catania und dann weiter südlich in Richtung Syrakus und Gela und weiter westlich in Richtung Agrigento und Selinunte am dichtesten besiedelt. Von dieser Herrschaft sind die Theater das offensichtlichste Überbleibsel und wenn einige nur noch als jahrtausendealte majestätische Ruinen und weiße, von der Sonne ausgebleichte Steine stehen, erfüllen viele andere weiterhin ihre ursprüngliche Funktion: Im Frühling und Sommer werden dort Theaterstücke und klassische Konzerte aufgeführt.

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Camaleon S/S 2021


Die Straße zu den Weinbergen von Alessandro Viola windet sich vom Meer von Alcamo Kurve um Kurve nach oben, dann biegen wir von der Straße

ALESSANDRO VIOLA ab, um wieder ein paar enge Kurven hinunterzufahren. Dann ist der Ausblick da: das mit Weinbergen bewachsene grüne Tal unter der mediterranen Sonne. Einige kleine Häuser stehen hier – in 91




einem davon erwartet uns Alessandro mit einer Flasche Catarratto – und es herrscht gespannte Stille. Seine Weine gehören zu den bekanntesten sizilianischen Naturweinen und stehen in den Regalen der besten nordamerikanischen und japanischen Weinhandlungen. Der Mann mit den langen Locken ist still und konzentriert. Sein Blick ruht auf dem neuen Grundstück, das er gerade gekauft hat. Unter den jungen Rebstöcken blühen kleine Wildblumen.

Hinter uns liegt der Monte Bonifato, vor uns der Golf von Castellammare. In dieser Gegend hat der Wein eine lange Tradition. Auf Sizilien wurde zwar viel Wein angebaut, aber damals füllte niemand selbst den Wein ab, sondern verkaufte ihn en gros an Zwischenhändler. Die einzige Ausnahme waren ein paar der großen alten Weingüter. Wein liegt bei Ihnen in der Familie. Haben Sie das früher schon gemacht? Ja, es fing mit meinem Großvater an, der 1900 geboren wurde. Als Kind habe ich den Wein noch auf die alte bäuerliche Art gekeltert: mit Presse und Maultier. Das war in den 1980er Jahren. Ich wurde quasi in den Weinbergen geboren. So sind

mein Bruder und ich aufgewachsen. Wir haben unserem Vater beim Weinanbau geholfen. Dieser Winkel von Sizilien, zwischen Palermo und Trapani, liegt sowohl am Meer als auch in den Bergen und hat ganz besondere Merkmale. Die DOC-Appellation (geschützte Ursprungsbezeichnung) für das Anbaugebiet Alcamo gehört zu den ältesten auf Sizilien. Es ist hier nicht zu heiß und es ist wie geschaffen für frische, feine Weine, wie sie mir am besten gefallen. Der Weinberg meines Vaters hingegen lag mehr im Landesinneren, in einer Gegend mit lehmigem und sehr hartem Boden. Die Weine dort hatten große Fülle, große Griffigkeit. Dennoch ist Ihr Wein etwas

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Camaleon S/S 2021


Besonderes. Fast persönlich, mit unverwechselbarem Charakter.

In der Zwischenzeit ist Ihr Bruder in Ihre Fußstapfen getreten.

In den 90er Jahren beschloss ich, in meiner Garage meinen eigenen Wein zu keltern. Ich las ein paar Ratgeber und entwickelte nach und nach eine Leidenschaft dafür. Außerdem fand ich, dass Trauben anzubauen, aber keinen Wein zu machen, so ein bisschen ist wie, naja, ein Kind zu haben und es nie zu sehen und nichts von ihm zu wissen. Es war eine sinnentleerte Aufgabe. Man spielt seine Rolle bei der Weinherstellung, aber man weiß nicht, welcher Wein am Ende herauskommt. Keine besonders geistig anregende, dafür körperlich umso anstrengendere Arbeit. Um mich weiterzubilden, begann ich dann ein Studium.

Seit wir unsere Weine verkaufen, haben Aldo und ich noch nie zusammen Wein gemacht. In der Garage hatten wir mal gemeinsam rumprobiert, aber dann habe ich Önologie studiert und er später das Unistudium angefangen. Jedenfalls machte er seinen eigenen Wein und ich meinen, genau so, wie wir ihn trinken wollten. Wir haben uns auf ganz selbstverständliche Weise in unterschiedliche Richtungen entwickelt: Jeder will den Wein machen, den er gerne trinken möchte. Beim Versuch, einen Mittelweg zu finden wären wir Gefahr gelaufen, das Interesse zu verlieren. Ein weiterer Grund, warum wir uns hervorragend verstehen!

Und zwar Weinbau. Ich ging erst mit 28 an die Uni. Dort habe ich Weinbau und Önologie in Marsala studiert. Nach meinem Abschluss habe ich erst bei einem berühmten Önologen im Piemont gearbeitet und danach in einem großen Weingut am Ätna. Das waren alles große Industriebetriebe, ich hatte also mit nach Industrienormen hergestelltem Wein zu tun. Für diese Art von Wein konnte ich mich nicht begeistern und unter uns gesagt, hielt ich den selbstgemachten Wein aus meiner Garage für besser als den Wein aus dieser industriellen Weinkellerei. Also habe ich gekündigt und angefangen, meinen eigenen Wein zu machen und meine eigenen Vorstellungen umzusetzen. Das war 1999. In dem Jahr habe ich meine ersten 1000 handwerklich hergestellten Flaschen abgefüllt.

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Wann entstand Ihre eigene Marke? Das war 2000. Damals hießen wir noch „Uva Tantum“. Den Wein machte ich gemeinsam mit einem Freund. Als dieser dann aus dem Projekt aussteigen musste, machte ich alleine weiter, und da es ein Einmannbetrieb war, bekam er meinen Namen. Damals habe ich die Trauben noch bei anderen Produzenten eingekauft, denn hier bauen zwar viele Trauben an, aber kaum einer macht Wein. Ich wollte mehr über die Anbaugebiete, die verschiedenen Eigenschaften wissen. Ich wollte die Unterschiede zwischen einem Catarratto aus diesem Anbaugebiet und einem Catarratto aus einem anderen Anbaugebiet, das Potenzial und die Unterschiede des Bodens verstehen. Das ist eine Suche, die bis heute andauert. Genau genommen habe ich die Flächen am


„Die hiesige Landwirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren nicht um die Produktion von Qualitätsweinen gekümmert. Daher weiß noch keiner, was wirklich in diesem Anbaugebiet steckt. Das ist sehr reizvoll, hier kann ich entdecken und erfinden, kann eine Art Wegbereiter sein. Da ist ein großes und noch völlig unausgeschöpftes Potenzial – die schönste Art von Potenzial.“

Monte Bonifato kürzlich nur deshalb gekauft, weil dort meiner Meinung nach ganz besondere Bedingungen herrschen. Wie entsteht Ihrer Meinung nach ein Wein? Schlussendlich versuche ich, den Wein zu machen, den ich selbst trinken möchte. Ich stelle ihn mir vor, ich träume davon. Und dann versuche ich, den Traum wahr werden zu lassen. Aber was passiert, wenn der gekelterte und der erträumte Wein nicht zusammenpassen? Eigentlich läuft der Prozess eher andersherum. Die Idee zu einem Wein stammt nicht nur aus meiner reinen Fantasie, sondern aus den Aromen, die man aus den Trauben herausschmeckt. Man kostet die Trauben und nimmt den Geschmack als

Ausgangspunkt für den passenden Wein. Fantasie und Erfindung haben schon ihre Daseinsberechtigung, aber die Grundlage muss die Botschaft sein, die von der einzigen Zutat, der Traube, kommt. Die ganze Kunst besteht darin herauszufinden, welches Potenzial in den Trauben stecken könnte. Das muss man erkennen und vorsichtig herauskitzeln, damit es sich in die richtige Richtung entwickeln kann. Mich leitet dabei ein Satz von Albert Einstein, der besagt, dass alles, was man sich vorstellen kann, in der Natur bereits angelegt ist. Man hat nur deshalb eine Vorstellung von einem Wein, weil man die Aromen aus den Trauben herausgeschmeckt hat. Kam es jemals in Frage, Sizilien den Rücken zu kehren? Nein, nie. Aus einem schlichten Grund: Für mich ist das hier der

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Bark F/W 2020


reizvollste Ort, um Wein zu machen. Die hiesige Landwirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren nicht um die Produktion von Qualitätsweinen gekümmert. Daher weiß noch keiner, was wirklich in diesem Anbaugebiet steckt. Das ist sehr reizvoll, hier kann ich entdecken und erfinden, kann eine Art Wegbereiter sein. Da ist ein großes und noch völlig unausgeschöpftes Potenzial – die schönste Art von Potenzial. Hat sich Sizilien in jüngster Zeit der Welt gegenüber geöffnet? Ich glaube schon. Es gibt aber auch keine Alternative dazu. Im Weinbereich überleben heute entweder multinationale Unternehmen oder kleine Betriebe mit einer eindeutigen und besonderen Ausrichtung. Mittelständische Unternehmen haben da wenig Zukunft. Als Kleiner muss man also das machen, was die Großen nicht können: penibel arbeiten und bei der Weinherstellung auch mehr Wagnisse eingehen. Ich gebe zum Beispiel keine Sulfite dazu, ich mache Naturwein. Naturwein erhält derzeit weltweit viel Aufmerksamkeit. Wie erlebt man als Winzer diese neue Welle? Mein Wein war schon von Anfang an naturbelassen. Denn als ich in meiner Garage mit der Weinherstellung experimentierte, hatte ich weder das Wissen noch die Zusatzstoffe noch besondere technische Mittel. Ich kannte zwar die Aromen, doch als ich dann die technologische Weinherstellung kennenlernte,

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war ich unzufrieden. Das lag vermutlich daran, dass mich die echten Aromen für sich eingenommen hatten und mich an die Zeit erinnerten, als ich gerade meine Leidenschaft für die Weinherstellung entdeckte. Ich habe da eine einfache Theorie: Wein gibt es schon seit Jahrtausenden, und Trauben auch ... Als wären sie auf die Erde geschickt worden, um von den Menschen entdeckt zu werden. Einfach die Trauben auspressen und heraus kommt Traubenmost. Stehen lassen und er wird zu Wein. Es wirkt fast wie ein Zeichen der Götter. So haben sich ja auch viele Geistesgrößen der Vergangenheit geäußert. Das Getränk sei etwas Mystisches, Magisches, der Nektar der Götter. Damals gab es freilich nur Naturwein. Und genau das ist mein Wein. Naturwein ist also keine Modeerscheinung? Nein. Gut gemachte Naturweine werden immer mehr zunehmen. Eine Stufe darunter gibt es die weniger gut gemachten Naturweine und darunter die bearbeiteten Weine. Aber die großen Weine aus den renommiertesten Gebieten sind meiner Meinung nach schon natürlich genug. Gut gemachte Industrieweine sind schließlich nicht zu hundert Prozent ursprünglich. Der Naturwein ist das Original. Fünfzig Jahre Industrialisierung können die vorangegangenen Jahrtausende nicht ändern.


Die Tiere


Siziliens





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Der Ragusana-Esel ist eine seit 1953 offiziell anerkannte Rasse, deren Herkunftsgebiet die Gemeinden von Modica, Ragusa, Santa Croce Camerina und Scicli im südlichen Sizilien sind. Leider gehört der Esel seit 2007 zu den bedrohten Tierarten.

Ragusana-Esel

Die Sanfratellanos gehören zu wenigen noch wildlebenden Pferderassen und es wird angenommen, dass sie zusammen mit den Arabern um das Jahr 1000 nach Sizilien kamen. Sie sind vor allem in den Nebrodi-Bergen um San Fratello herum zu finden.

SanfratellanoPferd

Die Cinisara ist eine ausgesprochen große und vollkommen schwarze Rinderart. Selbst das unwegsamste Gelände stellt für das meistens halbwild lebende Rind keine Herausforderung dar. Einst vom Aussterben bedroht, ist der Bestand heute wieder auf über 3000 Exemplare angewachsen.

Cinisara-Rind

Schon seit den Griechen wird das im Vergleich zu anderen Schweinerassen recht kleine Tier mit schwarzem Fell im Nordosten Siziliens im Nebrodi-Gebirge – meist wildlebend – gezüchtet.

Das schwarze Schwein der Nebrodi

Unverkennbar sind die langen, spiralartig gewundenen Hörner der Ziege. Sie soll ungefähr im Jahr 800 von den Arabern auf die Insel gebracht worden sein und ähnelt einigen der typischen asiatischen Ziegenrassen.

Girgentana-Ziege

Diese uralte Hühnerrasse ging wahrscheinlich aus einer Kreuzung zwischen sizilianischen Haushühnern und nordafrikanischen Rassen hervor. Während die Hennen sehr legefreudig sind, kann man die Hähne an ihrem markanten kronenförmigen Kamm erkennen.

Der Sizilianische Becherkamm

Man geht davon aus, dass diese Hunderasse von den alten Jagdhunden abstammt, die zur Pharaonenzeit gezüchtet und dann auf den Schiffen der Phönizier nach Sizilien gebracht wurden. Sie sind elegante, aber dennoch ausdauernde Jagdhunde.

Cirneco dell’Etna






Auf dem Weg nach Syrakus durchquert man die Insel einmal von Küste zu Küste, vorbei an Landschaften, die alle so unterschiedlich sind, als würde man sich Szene für Szene durch einen Film bewegen. Fährt man in Richtung Süden, sieht und spürt man das Meer nicht mehr, weil sich die Berge erheben. Wir nähern uns dem Parco delle Madonie, der aus der Ferne einen Fransenrock aus niedrigen Wolken trägt. Neben der Straße wachsen Eukalyptusbäume. Entlang enger Kurven geht es zu einigen der höchsten Berggipfel Italiens. Auch wenn das Mittelmeer gar nicht so weit entfernt ist, fallen die Temperaturen mit jedem Meter rasant. Die Straßenschilder weisen uns auf die Anwesenheit von Wildschweinen hin. Der Himmel kommt immer näher.

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Match S/S 2021

Tobia hat ein kleines Unternehmen gegründet, mit dem er alte Getreidesorten zu Mehl und Pasta verarbeitet, darunter auch alte einheimische Sorten.

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Der Kulturverein Porto di Terra kümmert sich um Permakultur und Agroökologie. Die Gründer kommen aus Sizilien und aus anderen Teilen Europas und veranstalten öffentliche Workshops und Festivals.

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Federico, einer der Gründer des Vereins, hat bereits in Australien, Thailand, Indien und Nepal gelebt. Dort machte er sich mit Permakulturtechniken vertraut, die er dann in seine Heimat Sizilien mitbrachte.

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Wir machen einen Zwischenstopp. Eine Gruppe junger Männer und Frauen hat sich hier niedergelassen und renoviert ein altes Haus in einem Tal voller Haselnussbäume. Sie haben große Gemüse- und Obstgärten. Die alten Olivenbäume, aus denen sie ihr Öl gewinnen, sind ein Naturerbe, da sie schon vor 500 Jahren gepflanzt wurden. Nicht zu vergessen die Tiere: Hunde, Katzen, Esel, Hähne und Hühner. Sobald wir die Gipfel hinter uns gelassen haben, geht es wieder bergab. Zuerst nach Enna, in die Mitte der Insel, und dann weiter östlich nach Catania. Von hier aus fahren wir hinunter ins griechische Sizilien, das sich gen Afrika und Kleinasien zum Meer hin öffnet. Dort begegnen uns die Farben und Düfte des Aufbruchs wieder und der Kreis schließt sich.

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MONCADA RANGEL

Wären nicht das Meer und die Erdkrümmung, könnte man von Syrakus aus, im östlichsten und südlichsten Zipfel Siziliens, geradewegs in Richtung Kairo, Nildelta und sogar Jerusalem blicken. Doch das Stadtzentrum ist eine richtige Insel, die 2005 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde. Sie heißt Ortygia und ragt auch ins Meer hinaus, doch eigentlich ist sie nur einen fingerbreit vom Festland entfernt. Hier gründeten Francesco Moncada und 118






Mafalda Rangel ihr Architekturbüro, das wie ihre Arbeiten zum Mittelmeer hin ausgerichtet ist. Er ist Sizilianer, sie Portugiesin. Ihr gemeinsames Ziel ist die Aufwertung dieser Randregion des europäischen Kontinents, die gleichzeitig seit Jahrhunderten das Zentrum der Kultur des Mittelmeerraums ist. Moncada Rangel: Schon im Namen zeigt sich, dass es ein internationales Büro ist, das in Europa und der Welt herumgekommen, aber inzwischen hierher zurückgekehrt ist. Erzählt doch mal ... Francesco: Ich komme von hier. Ich bin zwar in Syrakus geboren und habe in Palermo studiert, aber schon als Junge wollte ich weg. Vor meinem Abschluss habe ich zuerst in Spanien studiert und gearbeitet und ab 2001 dann die ganze Welt bereist: London, Oslo, Portugal, Dubai. Wir haben uns in Portugal getroffen. Dann haben wir lange zusammen für ein großes Büro, OMA, in Rotterdam gearbeitet und dort geheiratet und Kinder bekommen. Schließlich haben wir uns sowohl aus persönlichen als auch aus beruflichen Gründen entschlossen, wieder in den Süden zu ziehen. Wir hatten allmählich genug von der Steifheit der nördlichen Länder und wollten ein etwas langsameres, ungezwungeneres Leben. Mafalda: In Wahrheit sind die Unterschiede zwischen Portugal und Sizilien gar nicht so groß, denn es gibt viele grundlegende Gemeinsamkeiten. Wir

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haben uns gegen Porto und für Sizilien entschieden, weil es noch nicht so erschlossen ist und wir uns stärker einbringen können. Was Design, zeitgenössische Architektur und Kreativität angeht, ist es ein recht unbeschriebenes Blatt. Porto dagegen hat auf der kreativen Ebene bereits sehr viel zu bieten. Was ist der kleinste gemeinsame Nenner der Architektur des Mittelmeerraums? F: Auf jeden Fall spielt das Licht eine große Rolle, weil es Dinge verändert, den Raum verändert. Am Mittelmeer spielt das eine besonders große Rolle, weil das Licht hier sehr hell ist, was für starke Schatten und Kontraste sorgt. Aber auch das Essen. Die landwirtschaftlichen Produkte im Mittelmeerraum sind sich sehr ähnlich. M: Das Meer ist das verbindende Element. Wenn man nach Nordafrika fährt, erkennt man keinen Unterschied mehr zu Europa auf dieser Seite. Ortygia und Syrakus gehören seit


einigen Jahren zum UNESCO-Weltkulturerbe. Es wird häufig von der Gefahr der „Musealisierung“ gesprochen, die mit diesen Eintragungen einhergeht. Beschäftigt euch das Thema? F: Das Authentische ist uns sehr wichtig, aber leider ist es schwer zu bewahren, denn die „Musealisierung“ ist immer ein Risikofaktor. Womit wir uns stark auseinandersetzen und was in unsere Arbeit einfließt, ist die Tatsache, dass beim Thema „Erhaltung“ und damit auch bei allem, was die UNESCO macht, häufig das Bild stärker im Vordergrund steht als die eigentliche Substanz. Zur Zeit der Griechen war Syrakus eine riesige und sehr reiche Stadt. Heute ist sie kleiner als damals, und diese einfache Erfahrung zeigt, wie lebendig Städte sich entwickeln, wie sie sich ausdehnen aber auch schrumpfen können. F: Stimmt, es kommt eher selten vor, dass eine Stadt im Altertum größer war als in der Gegenwart. Normalerweise verschwinden Städte ganz oder es bleibt wenig von ihnen übrig. Syrakus wiederum steht noch und es wurde einfach draufgebaut. Politiker und Denkmalschützer schauen oft viel stärker auf das äußere Erscheinungsbild als auf die gesellschaftliche Dynamik. Aber es sollte doch die Lebendigkeit der Orte, ihre Entwicklung, bewahrt werden, ihr Bestreben, stets modern sein zu wollen. Wie habt ihr euch in Sizilien eingewöhnt? M: Wir hatten unterschiedliche Phasen. Zuerst haben wir beobachtet. Zuschauen, um sich anzupassen. Unsere Strategie ist der Umgang mit der Gegend, in der wir uns befinden. Wir wollen hier

nicht als Fremde ohne Verbindung zu den vorhandenen Verhältnissen auftreten. Also haben wir versucht, auf verschiedenen Ebenen eine Verbindung herzustellen, auch auf verschiedenen Stufen mit der Schule: Arbeiter, Materialforschung, Projekte. Sizilien ist äußerst mehrschichtig. Es ist multikulturell, mit unterschiedlichen Geschichten, unterschiedlichen Menschentypen und liegt im Zentrum der aktuellen Migrationsphänomene im Mittelmeerraum. Es ist also ein ergiebiges Umfeld, um aktuelle Denkmuster zu entwickeln und auf die aktuelle Realität zu reagieren. Das wollen wir neben unserem Architekturbüro auch durch Bildung erreichen. F: Als Kind hat es mich immer wieder verblüfft, dass Sizilien in der Mitte der Weltkarten lag. Aber die Insel ist echt und sie fühlt sich auch echt an. Angefangen bei den Pflanzen, die aus der ganzen Welt kommen, bis hin zu den vielen Einflüssen, die auf der Insel zu finden sind. Könnte der Mittelmeerraum das Zentrum einer künstlerischen und kulturellen „Renaissance“ sein? M: Aber sicher! Eines der Themen, die wir mit den Studenten unserer Kurse im Rahmen des „Made Program“ am intensivsten bearbeitet haben, hat mit der Landschaft zu tun. Der Ausgangspunkt sind die Impulse und Materialien der Insel, aus einem zeitgenössischen Blickwinkel betrachtet. F: Eine Teilnehmerin hat zum Beispiel ein Projekt über Muschelabfälle gemacht. Man denkt immer, dass es sich dabei um organischen Abfall handelt, aber das stimmt nicht. Trotzdem wird er ins Meer geworfen, doch zu viel

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Left: CRCLR S/S 2021 Right: Pelotas Ariel




„Wir wollen hier nicht als Fremde ohne Verbindung zu den vorhandenen Verhältnissen auftreten. Also haben wir versucht, auf verschiedenen Ebenen eine Verbindung herzustellen, auch auf verschiedenen Stufen mit der Schule: Arbeiter, Materialforschung, Projekte. Sizilien ist äußerst mehrschichtig. Es ist multikulturell, mit unterschiedlichen Geschichten, unterschiedlichen Menschentypen.“ Abfall schadet dem Meer. Also hat sie sich eine Art Wiederverwendung dieser Reste als Baumaterial ausgedacht. Denn die Muschelschalen sind aus Kalk. Ein anderer Teilnehmer hat eine Art Bio-Haut aus Johannisbrot entworfen. Andere haben vom Aussterben bedrohte Handgesten erforscht. Ein Teilnehmer schrieb eine Arbeit über die Handgriffe beim Brotbacken, eine Art Wörterbuch des Backens durch Handgesten, wie bei Bruno Munari. Mafalda kommt aus Portugal, Francesco aus Sizilien. Ist die portugiesische Kultur eigentlich eine mediterrane Kultur? M: Das ist eine gute Frage. Für mich ist es eine Mischung aus mediterraner Kultur und nordischen, atlantischen Einflüssen. Die multikulturelle Grundstruktur hat es aber mit Sizilien gemeinsam. F: Es gibt den maritimen Einfluss des Atlantiks von Norwegen bis Frankreich, aber auch eine enge Verbindung mit Nordafrika und Südamerika.

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Jeden Sommer veranstaltet das „Made Program“ Sommerworkshops für internationale Teilnehmer. Die sogenannten „Made Labs“. Sie konnten im Sommer 2020 zwar nicht stattfinden, aber das Thema „Knappheit“ war äußerst zeitgemäß. M: Ja, es passte einfach perfekt. Denn es hat mehrere Aspekte: politische, wirtschaftliche, architektonische. Es war eine Einladung an Designer und Kreative, sich mit den autonomen Möglichkeiten des Siziliens auseinanderzusetzen. F: Ressourcenknappheit ist ein zentrales Thema, nicht nur für Architekten und Designer, sondern für jeden von uns. Und jeder von uns sollte ihm Aufmerksamkeit schenken. Ein weiteres interessantes Projekt von euch heißt „Piedi Liberi. Tactical Urbanism Proposal“ („Freie Füße. Vorschlag für einen taktischen Urbanismus“) und ist ein Versuch, den Platz von Autos und


Parkplätzen zu reduzieren und dafür mehr fußgängerfreundliche Bereiche in der Stadt zu schaffen. F: Wir bezeichnen das Projekt als taktische Stadtplanung – mit knappem Budget Orte oder Kreuzungen neu zu denken, die bis dahin nicht als Räume mit Potenzial wahrgenommen wurden. Allerdings nicht in der Altstadt. Syrakus ist eine seltsame Stadt, denn die Altstadt ist eine Insel. Deshalb neigt man of dazu, Ortygia und Syrakus getrennt zu denken. Das ist völlig absurd: Ortygia ist Syrakus, denn eigentlich bestand Syrakus jahrelang nur aus Ortygia. Aber viele Besucher konzentrieren sich nur auf Ortygia, oder halten es für eine eigenständige Einheit, so als ob Syrakus der Teil auf dem Land und Ortygia der Teil auf dem Meer wäre. Es sollte viel mehr Aufmerksamkeit auf die Gebiete außerhalb Ortygias gelenkt werden, denn genau dort wohnen die Einheimischen. M: Das Projekt entstand aus der Idee, die Akteure rund um diese zukünftigen Plätze mit einzubeziehen. Zuerst haben wir Bereiche abgegrenzt, die keine Fußgängerbereiche waren und sie so zu Fußgängerbereichen gemacht. Damit

gaben wir den Anwohnern die Möglichkeit, sich diesen Raum zurückzuerobern. F: Letztendlich wollen wir versuchen, immer mehr Menschen dazu zu bewegen, zu Fuß zu gehen und das Auto stehen zu lassen. Und nach dem Lockdown 2020 und dem zunehmenden Wunsch nach „Social Distancing“ kann das Konzept der Piazza auch architektonisch wieder zum zentralen Gestaltungsmittel der Städte der Zukunft werden. M: Die Piazza wurde, wie alle öffentlichen Räume, stark aufgewertet. Vor allem aber ist sie ein Grundelement der mediterranen Architektur. Syrakus liegt im Meer. Wie lebt es sich mit dieser Grenze? F: Für mich ist das Meer keine Grenze, sondern ein Bindeglied. Wo das Meer ist, eröffnen sich Verbindungen. Auf dem Meer kann man in alle Richtungen fahren. M: Das Wasser hat genau wie das Land ein eigenes Profil, eine eigene Fauna und Flora.

„Syrakus ist eine seltsame Stadt, denn die Altstadt ist eine Insel. Deshalb neigt man of dazu, Ortygia und Syrakus getrennt zu denken. Das ist völlig absurd: Ortygia ist Syrakus, denn eigentlich bestand Syrakus jahrelang nur aus Ortygia. Aber viele Besucher konzentrieren sich nur auf Ortygia.“ 128


Left: CRCLR S/S 2021 Right: Pelotas Ariel




THE WALKING SOCIETY

Eine Rundreise durch Sizilien ist ein tiefes Eintauchen in das Erbe des Mittelmeerraums. SICILIA


Am Abend ist der Sonnenuntergang an der Küste von Trapani vielleicht einer der schönsten der ganzen Region. Die Inseln Favignana, Levanzo, Marettimo und Formica erstrahlen im letzten rosafarbenen Schein, der sich über dem Meer ausbreitet. Mit dem bloßen Auge sehen sie aus, als ob man in wenigen Minuten zu ihnen hinüberschwimmen könnte. Doch das ist eine optische Täuschung. In Wirklichkeit sind sie viel weiter entfernt. Die letzten Schiffe pendeln zwischen den Häfen über das flache Meer. Doch vielleicht könnte es trotzdem klappen? Man müsste sich nur Zeit dafür nehmen und geduldig sein. Denn mit der Zeit kann hier alles gelingen.

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Herausgabe und Erstellung Alla Carta Studio Brand Art Director Gloria Rodríguez Magazin Fotos: Osma Harvilahti Set-Design: Aapo Nikkanen Illustrationen: Michele Papetti Copywriting: Davide Coppo Videos Regie: Fele La Franca Redakteur: Luca Lo Nigro Kameramann: Andrea Nocifora Live-Tontechniker: Gianluca Donati Musik: Luis Luft, Dirt O’Malley Stellvertretender Leiter: Angelo Maniscalco camper.com © Camper, 2021

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Drift S/S 2021





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