Welche Fortpflanzungsstrategie setzt in der Tierwelt eher auf längere Lebensspannen? Die Kapazitätsstrategie. Sie wird von Tierarten angewandt, die lange brauchen, bis sie geschlechtsreif sind und viel Zeit und Energie in die Betreuung ihrer Nachkommen investieren. Die Überlebenschance des Nachwuchses steigt dank der guten Betreuung stark an. Deshalb reichen kleine Würfe aus, um die für den Erhalt der Art notwendige Anzahl Nachkommen heranzuziehen. Ein beeindruckendes Beispiel sind die
Orang-Utans. Sie haben ein Geburtsintervall von 6 bis 9 Jahren. Den Jungtieren wird in dieser Zeit vermittelt, wie sie später im Regenwald überleben können. Dies gelingt
nur mit einem grossen Spezialwissen. Der Regenwald ist zwar extrem artenreich. Grösseren Tieren bietet er jedoch kaum in ausreichender Dichte Nahrung, so dass sie
als Gruppe unterwegs sein können. Die Nahrungssuche ist für die einzelgängerischen Orang-Utans entsprechend anspruchsvoll. Die Kapazitätsstrategie wird von den Tieren insbesondere dort angewandt, wo der Lebensraum sich nur noch marginal ändert, weil das örtliche Ökosystem das sogenannte Klimaxstadium erreicht hat, stabil
ist und so bis an die Kapazitätsgrenze genutzt werden kann. Nur deshalb können die Tiere die Zahl der Nachkommen derart exakt auf den Lebensraum abstimmen.
«TIERE ARBEITEN ALSO NICHT STEREOTYP, SONDERN SETZEN JE NACH SITUATION VERSCHIEDENE STRATEGIEN EIN.» Dr. Robert Zingg
Wenn Unternehmen viel in die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden investieren: Betreiben sie dann auch eine Art Brutpflege? Ja, durchaus. Es erhöht die Überlebenschancen. Ohne Wissenstransfer auf die nächste Mitarbeitergeneration droht dem Unternehmen das mittelfristige Aus.
Wer gut zu seinen Mitarbeitenden schaut, hilft sich selbst. Ein Unterschied zur Natur besteht jedoch: Unternehmen können mit geeigneten Massnahmen jederzeit
neue Spezialisten einstellen und ungenügende Arbeitskräfte entlassen. Bei den Tieren ist dies anders. Sie arbeiten ausschliesslich mit ihrem eigenen Nachwuchs. «Hire and fire» – das gibt es im Tierreich nicht.
Können wir die Reproduktionsstrategie und die Kapazitätsstrategie der Tiere ökonomisch deuten? Ist es beispielsweise richtig, dass in stabilen Ökosystemen vor allem Qualität und Spezialistentum gefragt sind? Ja. Viele Kapazitätsstrategen sind Spezialisten, weil sie in einer ganz bestimmten Ni-
sche des Ökosystems die Besten sind und sich so ihr Überleben sichern. Ihr Problem ist, dass sie bei wechselnden Rahmenbedingungen nicht mehr mithalten können und auszusterben drohen. Denn im Gegensatz zu Unternehmen haben spezialisierte Tierarten
keine Möglichkeit, laufend an neuen Innovationen zu arbeiten und sich so auf künfti-
ge Gegebenheiten einzustellen. Anpassungen erfolgen nur langfristig. Das hatte 1858 Charles Darwin in seinem Buch «On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life» erstmals festgehalten. Haben im Tierreich die Generalisten gegen die Spezialisten überhaupt eine Chance? Jein. In stabilen Ökosystemen nicht, weil die Spezialisten dort schlicht effizienter sind.
Dies betrifft auch die Nahrungsaufnahme. So haben Untersuchungen mit Krabben ge-
zeigt, dass diese bewusst möglichst nur Muscheln einer bestimmten Grösse ver-
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meeting BSI I Nr. 1/13 I Keynote