EB 8803 - Bach, Orgelwerke Band 3

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Sebastian Bach Sämtliche Orgelwerke Complete Organ Works Mit Online-Fassungen Online Versions additional Edition Breitkopf 8803 Fantasien | Fugen Fantasias | Fugues Band Volume
Johann

J O hann Seba S tian b ach 1685–1750

Sämtliche Orgelwerke

cO mplete Organ wO rk S Band 3 | Volume 3 Fantasien · Fugen | Fantasias · Fugues Edition Breitkopf 8803 Printed in Germany

herausgegeben von | edited by Pieter Dirksen

Johann Sebastian Bach · Sämtliche Orgelwerke in 10 Bänden Editionsleitung: Werner Breig, Pieter Dirksen, Reinmar Emans

Johann Sebastian Bach · Complete Organ Works in 10 Volumes Editorial Board: Werner Breig, Pieter Dirksen, Reinmar Emans

Band 3 | Volume 3 EB 8803 Fantasien · Fugen | Fantasias · Fugues herausgegeben von | edited by Pieter Dirksen

Umschlaggestaltung: RAUM ZWEI, Leipzig

Notengraphik: Martin Steinebrunner, Weilheim Druck: PIROL-Notendruckerei, Minden

Online verfügbar: Fassungen, zweifelhafte Werke, synoptische Ansichten, Commentary

Available online: Versions, doubtful works, synoptical depictions, Commentary www.breitkopf.com/bach-edirom Virtueller Forschungsverbund Edirom

© 2016 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Inhalt / Contents

Vorwort 5

Preface 6

Einleitung 7

Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Fantasia in C . . . . . . . . . BWV 570 . . . . . 32

Fantasia in c . . . . . . . . . BWV 1121 . . . . . 34 Fantasia in c . . . . . . . . . BWV 562/1 . . . . . 36 Fantasia in c BWV 562/1 40

Frühfassung

Fantasia et Fuga in c BWV 537 44 Fantasia in G BWV 571 53 Fantasia in g BWV 542/1 61 Fuga in g BWV 542/2 65 Fantasia in h BWV 563 73

Fuga in C (nach Albinoni) . . . . . BWV 946 . . . . . 76 Fuga in c (nach Bononcini) . . . . BWV 574 . . . . . 78 Fuga in c . . . . . . . . . . BWV 574b . . . . . 86

Frühfassung

Fuga in c . . . . . . . . . . BWV 575 . . . . . 94 Fuga in d . . . . . . . . . . BWV 539/2 . . . . . 98 Fuga in G . . . . . . . . . . BWV 577 . . . . . 106

Fuga in g . . . . . . . . . . BWV 578 . . . . . 110

Fuga in A . . . . . . . . . . BWV 949 . . . . . 114

Fuga in A (nach Albinoni) . . . . . BWV 950 . . . . . 118 Fuga in B („Erselius“) . . . . . . BWV 955 . . . . . 124 Fuga in B . . . . . . . . . . BWV 955a . . . . . 128

Frühfassung

Fuga in h (nach Corelli) BWV 579 132

Anhang /Appendix Fantasia in C (Fragment) . . . . . . . BWV 573 . . . . . . . 137 Fuga in c (Fragment) . . . . . . . . . BWV 562/2 . . . . . 138 Praeludium in d . . . . . . . . . . BWV 539/1 . . . . . 140 Fuga in g . . . . . . . . . . . . BWV 131a . . . . . . 142

Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Online unter www breitkopf .com/bach-edirom:

Fassungen /Versions

Fuga in g BWV 542/2 – Frühfassung und Varianten-Synopse Fuga in g BWV 542/2 – Fassung in f Fuga in B BWV 955 – Verzierte Fassung

Zweifelhafte Werke /Doubtful Works Fantasia in a BWV 561 Fuga in C BWV Anh 90 Fuga in D BWV 580 Fuga in G BWV 576

Commentary

Vorwort

Die vorliegende Neuausgabe von Bachs Orgelmusik ist für die Praxis bestimmt und basiert auf dem aktuellen Stand der Bachforschung Die Ergebnisse der bisher vorliegenden textkritischen Ausgaben werden berücksichtigt, aber nicht in ganzer Breite dargestellt

Die Ausgabe enthält – die Werke, die im BWV (Kleine Ausgabe 1998) als „Orgelwerke“ verzeichnet sind (BWV 525–771) sowie im Anhang aufgeführte Orgelwerke nach Maßgabe des gegenwärtigen Stands der Echtheitsdiskussion – Werke, die im BWV als „Klavierwerke“ geführt werden, für die aber die Verwendung des Pedals in den Quellen vorgeschrieben bzw aus grifftechnischen Gründen unumgänglich ist, außerdem die innerhalb des III Teils der Clavierübung gedruckten vier Duetti Werke, an deren Autorschaft Zweifel bestehen („Incerta“), werden dann in den Notenband aufgenommen, wenn ihre Echtheit nach heutiger Kenntnis hinreichend wahrscheinlich ist Werke zweifelhafter Echtheit, bei denen Bachs Autorschaft unter textkritischen Gesichtspunkten nicht ausgeschlossen werden kann, sowie Früh- und Alternativfassungen werden auf der Website www breitkopf .com/bachedirom publiziert Diese bietet die Notentexte mit Kommentar, ermöglicht synoptische Darstellungen sowie ein gezieltes Ansteuern einzelner Takte und bietet damit eine bessere und schnellere Übersicht, als es bei einer Druckwiedergabe möglich ist .

Die online angebotenen Alternativfassungen und Incerta können auch ausgedruckt werden

Ist ein Werk in mehreren authentischen Fassungen überliefert, so werden alle Fassungen abgedruckt, sofern sie sich substantiell voneinander unterscheiden Dabei wird –sofern die Chronologie feststellbar ist – die späteste („Haupt“-) Fassung zuerst geboten und danach die Frühfassung(en)

Unvollendete und fragmentarisch überlieferte Werke werden ebenso behandelt wie vollständige, im Allgemeinen aber nicht ergänzt .

Die Ausgabe erscheint in zehn Bänden:

Freie Werke

1/2 Präludien und Fugen

3 Fantasien und Fugen, einzelne Fugen

4 Toccaten und Fugen, Einzelwerke

5 Sonaten, Trios, Konzerte

Choralgebundene Werke

6 In Originaldrucken überlieferte Werke (Clavierübung III, Schübler-Choräle, Canonische Veränderungen in der Stich- und Autograph-Fassung)

7/8 Originale Sammlungen in autographer Überlieferung (Orgelbüchlein, die früher so genannten Achtzehn Choräle) mit den abweichenden Frühfassungen 9/10 Choralpartiten, einzeln überlieferte Choralbearbeitungen (einschließlich der Choräle der Neumeister-Sammlung)

Jeder Band enthält außer dem Notenteil eine Einleitung und einen Kommentar Die Einleitung gibt eine dem aktuellen Forschungsstand entsprechende Einführung in die edierten Werke (Stellung in Bachs Œuvre, Werkgeschichte, Überlieferung, ggf . Authentizität, gelegentlich Hinweise zur Aufführungspraxis) Der Kommentar enthält eine Beschreibung und Bewertung der Quellen und gibt Rechenschaft über die Entscheidungen des Herausgebers hinsichtlich der Gestalt des Notentextes Lesarten, die Bach durch autographe Korrekturen verworfen hat, werden in der Regel nicht mitgeteilt Die Zielsetzung der Ausgabe, die in erster Linie der Praxis dienen soll, bedingt eine Beschränkung in der Beschreibung der Quellen Die Ausgabe bietet den in den Quellen (Originaldrucken, Autographen, Abschriften) überlieferten Notentext, berücksichtigt aber die heute geltenden Gepflogenheiten der Notation Die besonders in frühen Werken anzutreffende „dorische“ Notierung (d-moll ohne Vorzeichen, g-moll mit einem j) wird beibehalten . Als Schlüssel finden nur Violin- und Bassschlüssel Verwendung . Werke, in denen das Pedal eine festgelegte Stimme (meist den Bass) ausführt und in dieser Funktion eindeutig zu bestimmen ist, werden mit einem eigenen Pedalsystem notiert, auch wenn in der Quelle nur zwei Systeme verwendet wurden Wenige Ausnahmen betreffen Stellen mit sehr einfacher Pedalstimme (z B Orgelpunkte), wo einer Notation auf zwei Systemen der Vorzug gegeben wird Werktitel, die Autographen oder Originaldrucken entnommen sind, erscheinen im Allgemeinen in der originalen Orthographie; wie weit dabei offensichtliche Falschschreibungen richtiggestellt werden, wird im Einzelfall entschieden Die nur in Abschriften überlieferten Titel werden normiert; die originale Schreibung ist immer aus dem Kommentar zu ersehen Ergänzungen von in der Vorlage zweifelsfrei fehlenden Vortrags- und Artikulationszeichen erscheinen in der üblichen graphischen Differenzierung (Strichelung für Bögen, Kleindruck für Vortragszeichen und Akzidentien, eckige Klammern für Vorschlagsnoten) Warnungsakzidentien werden nach praktischer Notwendigkeit und ohne Kennzeichnung ergänzt

Wiesbaden, Frühjahr 2010 Die Editionsleitung

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Preface

This new edition of Bach’s organ music is intended for performance purposes and is based on the current state of Bach research The findings of the previously published text-critical editions have been taken into consideration but not rendered in their entirety

The edition contains – the works listed in the BWV (Kleine Ausgabe 1998) as “organ works” (BWV 525–771) as well as organ works contained in the Appendix, inasmuch as their inclusion is justified by the current discourse on authenticity – works listed in the BWV as “keyboard works” but for which the use of the pedal is prescribed in the sources or mandatory for technical reasons; also the four Duetti printed in Part III of the Clavierübung.

Works of dubious authenticity (“Incerta”) are included whenever present-day research makes them appear sufficiently plausible . Dubious works for which Bach’s authorship cannot be excluded for text-critical reasons, along with early and alternative versions of works, are contained at the website www breitkopf com/bach-edirom In addition to presenting the musical text with comments, this online version allows synoptic depictions and a cogent search process for specific measures, thus providing a better and faster overview than would be possible with a printed version The alternative versions and Incerta featured online can also be printed out

If a work is transmitted in several authentic versions, then all versions are reproduced, inasmuch as the difference between them is substantial Here the latest version (“main version”) of a work is given first, and is followed by the earlier version(s), provided that the chronology is ascertainable Incomplete works and pieces transmitted in fragmentary form are treated as finished compositions; they are generally left incomplete .

The edition consists of ten volumes:

Free Works

1/2 Preludes and Fugues

3 Fantasias and Fugues, single Fugues

4 Toccatas and Fugues, individual works

5 Sonatas, Trios, Concertos

Chorale-Based Works

6 Works transmitted in original prints (Clavierübung III, Schübler Chorales, Canonic Variations in the engraved and autograph versions)

7/8 Original collections transmitted in autographs (Orgelbüchlein, the works formerly called The Great Eighteen Chorales) with their divergent early versions

9/10 Chorale Partitas, individually transmitted organ chorales (including the chorales of the Neumeister Collection)

In addition to the music, each volume contains an introduction and comments

The introduction provides information on the works which reflects the current state of scholarly research (position in Bach’s œuvre, work history, transmission, authenticity, occasionally notes on performance practice) The comments contain a description and evaluation of the sources, and account for editorial decisions in matters of determining the form of the music text . Readings which Bach rejected through autograph corrections are not generally communicated . The purpose of the edition, which aims above all to serve musical practice, entails a restriction of the source descriptions .

The edition reproduces the music text as transmitted in the sources (original prints, autographs, copies), but also takes into consideration notational practices that are customary today . We have, for example, kept the “Dorian” notation (D minor without accidental, G minor with one j) that is found especially in the early works

Only the treble and bass clefs have been used Works in which the pedal has its own proper part to play (the bass, in general), and in which there is absolutely no doubt about its distinct function, are notated with their own pedal staff, even if only two staves were used in the source . There are a few exceptions concerning passages with a very simple pedal part (e g , pedal points), where it seemed better to print the music on two staves

Work titles taken from autographs or original prints are as a rule reproduced in their original orthography; the correction of obvious errors has been treated on an individual basis The titles transmitted solely in copies were standardized; the original reading can always be inferred from the comments

Additions of performance instructions and articulation signs that are clearly missing in the source are signalized by the customary graphic solutions (broken lines for slurs, small type for performance markings and accidentals, brackets for grace notes)

Cautionary accidentals are supplemented on the basis of how necessary they are; they are not identified as such Wiesbaden, Spring 2010

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The Editorial Board

Einleitung

Der vorliegende Band vereinigt alle Orgelkompositionen Bachs, die mit dem Titel „Fantasia“ überliefert sind,1 die (wenigen) zu einzelnen Fantasien gehörigen Fugen sowie alle einzeln überlieferte Fugen Bei näherer Betrachtung gibt es kein einziges autorisiertes und vollständiges Fantasia-et-Fuga-Paar für Orgel In der Überlieferung von BWV 542 erscheinen Fantasia und Fuga meist getrennt, während bei den beiden c-moll-Stücken BWV 537 und 562 die Fugen (im Falle von BWV 537 höchstwahrscheinlich) unvollendet geblieben sind Besonders durch diesen Umstand und die Tatsache, dass die Mehrheit der Fantasien als Einzelwerke überliefert sind, bietet es sich an, die Fantasien mit den Einzelfugen in einem Band zu vereinen Das ermöglicht auch die beiden Teile des g-moll-Werkes BWV 542 – in der zweiteiligen Gestalt eine der berühmtesten Kompositionen Bachs überhaupt – im Zusammenhang zu veröffentlichen, obwohl der Quellenbefund eventuell dagegen spricht .

Zum Begriff der Fantasie bei Bach

Um den Begriff der Fantasia bei Bach richtig zu erfassen, ist es notwendig, deren Vorgeschichte zu skizzieren Der Ursprung der Gattung liegt um 1500 und ist eine Folge der geschichtlich bedeutsamen Berührungsebene zwischen dem Humanismus und der Musik „Fantasia“ war eine Idee aus dem griechischen Gedankengut, die von der humanistischen Ästhetik mit den zeitgenössischen Künsten verbunden wurde Der abstrakte Begriff steht für das „Höchste“, das ein Künstler als Individuum erreichen konnte 2 Er wurde dankbar für die neue Instrumentalmusik des 16 Jahrhunderts übernommen, die, ohne die traditionelle Stütze des Textes, nach einem schlüssigen Konzept und einer passenden Terminologie suchte Der Aspekt des „Höchsten“ wurde wie selbstverständlich auf die kunstvollste Art der damals komponierten Musik, nämlich die des imitativen Kontrapunkts der franko-flämischen Schule, angewandt . Der besondere Aspekt der „Fantasia“ erforderte vom Komponisten ein hohes Maß an Originalität Ohne die formelle oder inhaltliche Stütze eines Textes oder etwa der Form eines Tanzmusters musste er quasi einen eigenen Fantasia-Typus kreieren . Es ist deshalb nicht überraschend, dass diese Individualisierungstendenz vorwiegend in der Gattung der Claviermusik stattfand: nicht nur, weil ein einzelner Spieler für die Darstellung der gesamte polyphonen Struktur zuständig war, sondern besonders auch, weil Komponist und Interpret hier in einer Person vereint waren Den Höhepunkt dieser „humanistisch“ geprägten Clavierfantasie bilden die entsprechenden Werke

1 Mit zwei Ausnahmen: [a] Das Praeludium d-moll BWV 549a ist in der Hauptquelle (Möllersche Handschrift) als „Praeludium ô Fantasia pedaliter“ bezeichnet Da sich die c-moll-Fassung BWV 549 aber immer auf den Titel „Praeludium“ beschränkt und in der Möllerschen Handschrift „Fantasia“ nur als Alternative zu „Praeludium“ verwendet wird, wurde das Werk Band 1 der Neuausgabe (Praeludien und Fugen I) zugeordnet [b] Das dreiteilige singuläre G-dur-Stück BWV 572 war lange Zeit in erster Linie als „Fantasia“ bekannt (vor allem durch die Peters-Ausgabe), jedoch überliefern die meisten Quellen die Bezeichnung „Pièce d’Orgue“; das Stück erscheint deshalb in Band 4 (Toccaten und Fugen, Einzelwerke)

2 Vgl dazu vor allem Arnfried Edler, Fantasia and Choralfantasie: on the Problematic Nature of a Genre of Seventeenth-Century Organ Music, The Organ Yearbook 19 (1988), S 53–66

Jan Pieterszoon Sweelincks 3 Das Formschema ist in der Regel das einer klassischen, dreiteiligen Rede, die aus Exordium, Medium und Finis besteht, und dies unter genau durchdachter Proportionierung Anders als im Kreis der Sweelinck-Schule, wo die „Fantasia“ zum ,stylus phantasticus‘ der norddeutschen Organisten mutierte, reduzierte sich ihre Bedeutung in den meisten anderen Teilen Europas in der zweiten Hälfte des 17 Jahrhunderts auf eine Art Hilfsbegriff für meist kleinere Kompositionen, die nicht etwa als „Fuge“, „Canzone“ oder ähnliches bezeichnet werden konnten Das gilt auch für die mitteldeutsche Claviermusik am Ende des 17 Jahrhundert, wo „Fantasia“ dann auch gelegentlich als Gattungsbezeichnung auftaucht Am bedeutendsten sind die sechs erhaltenen Beispiele Johann Pachelbels 4 Hier erscheinen als wichtigste Parameter die freie Imitation von ein oder mehreren Kurzthemen oder Motiven sowie die Anwendung von ,Ostinato‘ (Fantasien in C und D), der ,figura corta‘ (Rhythmus Achtel – zwei Sechzehntel; Fantasien in d und g) und von ,durezze‘ („harte“ harmonische Reibungen; Fantasien in Es und g) .

Es ist dieser freizügige und eher schlichte Fantasientypus, an den der junge Bach anknüpft 5 Seine Auseinandersetzung mit der Fantasia bildet kein Kontinuum, sondern spielt sich in zwei klar voneinander getrennten Phasen ab: Eine Frühphase (BWV 563, 570, 571, 917, 922 und 1121) steht im Zeichen des Suchens nach einer eigenen Sprache, ausgehend vom Pachelbelschen Vorbild Nachdem der norddeutsche Einfluss – eine Tradition, die die Fantasia als Gattung bewusst ausklammert – wohl unter dem Eindruck der Reise nach Lübeck im Winter 1705/06 – stark zunahm, verschwindet der Begriff für einige Zeit aus Bachs Werk Entsprechend sind aus der Mühlhauser und Weimarer Zeit (1707–1717) keine Fantasien als selbstständige Werke bekannt Bach benützt die Bezeichnung in diesem Jahrzehnt lediglich als Zusatz bei einigen besonders weitausladenden Choralbearbeitungen (BWV 651a, 654a, 658a, 659a und 713), wobei die norddeutsche Komponente des „fantastischen Stils“ bzw der Choralfantasie unüberhörbar mitschwingt 6 Die Fantasia selbst wurde offenbar als eine Gattung der Vergangenheit betrachtet – genauso wie die Toccata und die Choralpartita, von denen sich der junge Bach nur wenig später definitiv verabschie-

3 Pieter Dirksen, The Keyboard Music of Jan P. Sweelinck – Its Style, Significance and Influence , Muziekhistorische Monografieën 15, Utrecht 1997, S 327–492

4 Johann Pachelbel, Sämtliche Werke für Tasteninstrumente, Bd 6: Fantasien, Ciaconen, Suiten, Variationen, hrsg von Michael Belotti (in Vorb )

5 In diesem Zusammenhang ist auch die Definition des aus Jena stammenden Bach-Zeitgenossen Friedrich Erhard Niedt (1674–1717) wichtig: „Fantaisie, ist Frantzösisch / und wird auf Italiänisch Fantasia genannt Es heißt auf Teutsch ein eingebildetes Ding / eine Phantasey / und wird in musicalischen Sachen solchen Stücken beygeleget / die ein jeder nach seinem Sinn / wie es ihm einkommt / oder gefällig ist / ohne gewisse Schrancken und Maasse verfertiget / oder extemporisiret Die Organisten halten viel davon: Denn / wer ein Organist will heissen / muss sich der Phantasie befleissen …“ (Friedrich Erhard Niedtens Musicalischer Handleitung Anderer Theil, Hamburg 1721, Reprint Buren 1976, S 97)

6 Vgl Werner Breig, Der norddeutsche Orgelchoral und Johann Sebastian Bach – Gattung, Typus, Werk, in: Gattung und Werk in der Musikgeschichte Norddeutschlands und Skandinaviens, hrsg von Heinrich W Schwab und Friedhelm Krummacher, Kassel 1982, S 79–94

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dete . Im Gegensatz zu diesen beiden Gattungen taucht aber die Fantasia im Spätwerk Bachs wieder auf In dieser zweiten Phase, die wohl erst in der Köthener Zeit einsetzte, wird der Terminus dann sehr gezielt gebraucht, aber offenbar nicht ohne eine spezifische Problematik . Einerseits wurde er für singuläre, rhetorisch ausgeformte chromatische Kompositionen benützt (Cembalofantasie BWV 903 und Orgelfantasie BWV 542), die unverkennbar Bachs Kenntnis des norddeutschen ,stylus phantasticus‘ zeigen, andererseits wurde die Konzeptschrift zur Orgelfantasie in C BWV 573 vorzeitig abgebrochen, was bezeichnenderweise auch bei den Fugen zur Cembalofantasie BWV 906 und zur Orgelfantasie BWV 562 (und wahrscheinlich auch für die Fuge zur Orgelfantasie BWV 537) der Fall war

Die frühen Fantasien

Die Fantasia in C BWV 570 ist wohl das älteste erhaltene freie Orgelwerk Bachs, wenn nicht überhaupt eine seiner ersten Kompositionen, und könnte noch in Ohrdruf entstanden sein . 7 Es überrascht deshalb nicht, dass es sich direkt dem Vorbild Pachelbels anschließt Dessen Fantasia in d zeigt eine ähnliche Struktur mit vollstimmiger, die Tonart definierender Einleitung, gefolgt von einem auf der ,figura corta‘ basierenden, frei-imitativen Hauptteil mit ,durezze‘-artigen harmonischen Fortschreitungen

Der Beginn der Fantasia in h BWV 563 ähnelt stark dem Hauptteil von BWV 570, wobei die ,figura corta‘ mit noch mehr Freiheit, vor allem in harmonischer Hinsicht, eingesetzt wird . Der zweite Abschnitt (,Imitatio‘) basiert auf einem kurzen, Ouvertüren-artigen Fugenthema in fließendem Dreivierteltakt, das gleichfalls frei gehandhabt wird und auch in der Umkehrung auftritt . Die Aufzeichnung beider Werke durch Bachs Ohrdrufer Bruder Johann Christoph im Andreas-Bach-Buch (in der Folge ABB abgekürzt) lässt sich nur pauschal mit vor 1715 datieren; das ungleich reifere Werk BWV 563 muss aber um einiges später entstanden sein und lässt sich stilistisch der Arnstädter Frühzeit zuordnen 8

Im Gegensatz zu diesen beiden zuverlässig in ABB überlieferten Stücken ist die Fantasia in G BWV 571 nur in wesentlich späteren Quellen erhalten, was zu Echtheitszweifel geführt hat 9 Jedoch gibt allein schon Johann Peter Kellners Zuschreibung in der Handschrift P 287 keinen Grund zum Zweifel 10 Letzte Unsicherheiten könnten dann durch die Bewertung der Brüsseler Handschrift Fétis 2960 als zentrale Quelle

für Bachs Frühwerk beseitigt werden 11 Dafür spricht auch, dass die Quelle jetzt wesentlich früher datiert wird (um 1750 statt Ende des 18 Jahrhunderts), und neben BWV 571 nur gesicherte und vor etwa 1712 zu datierende freie Tastenwerke Bachs, darunter alle sieben Cembalotoccaten BWV 910–916 sowie die Orgelwerke BWV 532/2, 550, 564 und 574b, enthält Die Quelle basiert damit wohl insgesamt auf einer geschlossenen frühen Thüringer Sammelhandschrift Die G-dur-Fantasie zeigt sich zudem als eine überaus logische kompositorische Weiterentwicklung von BWV 570 und 563: sie baut die Zweiteiligkeit von BWV 563 weiter zur dreiteiligen Form aus Sie vereint dabei unüberhörbar die drei oben festgestellten wichtigsten Parameter der Pachelbel’schen Fantasia in einer geschlossenen Komposition: freie Imitation mit Kurzthema (1 . Satz), das Gleiche (mit Umkehrung des Themas vom ersten Satz) in Kombination mit ,durezze‘ (2 Satz), und frei gehandhabtem ,ostinato‘ (3 Satz) Wie BWV 563 ist BWV 571 der Zeit um 1704 zuzuordnen,12 was durch die große Ähnlichkeit der Schlussgestaltung (T 118–127) mit dem Schluss der Choralbearbeitung Wie schön leuchtet der Morgenstern BWV 739 (T 65–75), das in einem Autograph aus derselben Zeit erhalten ist, unterstrichen wird

Lange fristete die im ABB anonym und überdies in Tabulaturnotation überlieferte Fantasia in c BWV 1121 ein Schattendasein (obwohl sie bereits von ihrem ersten Herausgeber Max Seiffert als bedeutende Komposition erkannt wurde13), bis die Handschrift am Anfang der 1980er-Jahre als Autograph identifiziert wurde 14 Seitdem gilt das anonyme Stück zu Recht als ein authentisches Werk Bachs, was durch die für ihn charakteristische Schlusskadenzbildung (Kombination von vermindertem Septakkord [auf h] und Tonika-Pedal) bestätigt wird . 15 Auch hier werden kurze imitatorische Themen mit expressiver, ,durezze‘-artige Harmonik kombiniert, jedoch in eher improvisatorischer Form und sich ständig verändernder thematischer Gestalt – ein experimenteller Weg, den Bach offensichtlich schon bald wieder verlassen hat Spätestens seit seinem Aufenthalt in Lüneburg und dem Unterricht bei Georg Böhm war Bach mit der norddeutschen Tabulaturschrift vertraut, wie seine unlängst entdeckten Abschriften von Choralfantasien Reinckens und Buxtehudes unterstreichen 16

11 Ulrich Leisinger und Peter Wollny, Die Bach-Quellen der Bibliotheken in Brüssel – Katalog, Leipziger Beiträge zur Bachforschung 2, Hildesheim 1997, S 85–89 und 214f ; Johann Sebastian Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hrsg vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Kassel etc 1954–2007 (=NBA), Band V/9 1, Toccaten – Kritischer Bericht von Peter Wollny, Kassel 1999, S 16; Zehnder 2009 (wie Anm 7), S 359f

12 Zehnder 2009 (wie Anm 7), S 112f

7 Jean-Claude Zehnder, Die frühen Werke Johann Sebastian Bachs. Stil – Chronologie – Satztechnik, Schola Cantorum Basiliensis, Scripta 1, Basel 2009, S 15–18

8 Zehnder 2009 (wie Anm 7), S 135f

9 Vgl Peter Williams, The Organ Music of J.S. Bach, Bd I, Cambridge 1980, S 231; Wolfgang Dömling und Thomas Kohlhase, Kein Bach-Autograph: Die Handschrift Brüssel, Bibliothèque Royale II. 4093 (Fétis 2960), Acta Musicologica 43 (1971), S 108f ; Bach-Werke-Verzeichnis: Kleine Ausgabe (BWV 2a), hrsg von Alfred Dürr, Yoshitake Kobayashi und Kirsten Beisswenger, Wiesbaden 1998, S 461 .

10 Auch Philipp Spitta war von der Echtheit des Stücks überzeugt; Joh. Seb. Bach, Bd 1, Leipzig 1873, S 317

13 Anonymi der norddeutschen Schule (Organum, Heft 10), hrsg von Max Seiffert, Leipzig 1925, Nr 6 Seiffert bemerkte dazu: „Mit seinem formalen Bau und Gedankeninhalt steht es in der Literatur völlig isoliert da Es muss einer der ganz großen Meister sein, dem wir dieses wundersame Stück verdanken “

14 Dietrich Kilian, Zu einem Bachschen Tabulaturautograph, in: Bachiana et alia musicologica Festschrift Alfred Dürr zum 65 Geburtstag, hrsg von Wolfgang Rehm, Kassel 1983, S 161–167; Hans-Joachim Schulze, Die Bach-Überlieferung im 18. Jahrhundert, Leipzig 1984, S 49

15 Laut Russel Stinson (Some Thoughts on Bach’s Neumeister Chorales, The Journal of Musicology 11 [1993], S 464–467) typisch speziell für Bachs Frühwerk

16 Die frühesten Notenhandschriften Johann Sebastian Bachs sowie Abschriften seines Schülers Johann Martin Schubart, mit Werken von Dietrich Buxtehude, Johann Adam Reinken und Johann Pachelbel, hrsg von Michael Maul und Peter Wollny, Kassel 2007

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Die nach 1600 bald überall in Europa aus der Mode gekommene Tabulaturnotation für Tastenmusik wurde in der norddeutschen Orgeltradition des 17 . Jahrhunderts als eine Art zunftgebundener Geheimschrift weiterhin gepflegt Offenbar steht der experimentelle Charakter und die frei ausschweifende Anlage des Satzes in kausalem Zusammenhang mit der singulären Überlieferung in Tabulaturschrift Jedenfalls wurde das Stück offenbar nie weiter tradiert 17

Die späteren Fantasien Während sich die frühen Fantasien nach heutigem Forschungsstand relativ leicht zeitlich einordnen lassen, gilt das erstaunlicherweise nicht für die spätere und viel bekanntere Gruppe von Orgelfantasien . Die einzige Ausnahme betrifft die fragmentarisch erhaltene Fantasia in C BWV 573 . Sie befindet sich im ersten Clavierbüchlein für Anna Magdalena Bach von 1722, wo Bach sie wohl noch im gleichen Jahr oder kurz danach eintrug Obwohl erheblich anspruchsvoller und durch das obligate Pedal um eine fünfte Stimme bereichert, zeigen die zwölf erhaltenen Takte ein ähnliches Kompositionskonzept wie die in derselben Tonart stehende Fantasia in C BWV 570: Vollstimmige Eröffnung (mit Einbeziehung der ,figura corta‘; entsprechend dem harmonischen Plan der ersten Zeile von BWV 570!), gefolgt von imitativ geführten Sechzehntel-Motiven Warum Bach diesen vielversprechenden Kompositionsentwurf unvollendet gelassen hat, ist unbekannt Eine vergleichbare Unsicherheit in der Anwendung des Begriffs „Fantasie“ findet sich zu derselben Zeit für den Zyklus streng dreistimmiger imitativer Clavierstücke BWV 787–801: Diese Stücke werden im Clavierbüchlein für Wilhelm Friedemann Bach von 1720/21 „Fantasien“ genannt, aber schon bald danach (Autograph P 610, Anfang 1723) als „Sinfonien“ bezeichnet Andererseits erfährt der Terminus in der gleichen Epoche besondere Bedeutung durch zwei Schlüsselwerke in Bachs Œuvre, der Chromatischen Fantasie in d BWV 903 und der Fantasia in g BWV 542/1 . Sie ergänzen sich nicht nur hinsichtlich ihrer Bestimmung für Cembalo bzw Orgel: Beide Werke stellen überhöhte Ausprägungen des Hamburger ,stylus phantasticus‘ dar . Anders als die dreiteilige Form von BWV 903/1 ist BWV 542/1 fünfteilig, mit abwechselnd freien (Rahmenteile, Zentralteil) und gebundenen, imitatorischen Abschnitten (2 und 4 Teil) Dies entspricht dem Standardtypus des norddeutschen Pedaliter-Praeludiums:18

A T . 1–9 ,exordium‘ „Eingang und Anfang“19 – Passagenwerk auf Orgelpunkt I und V B T 9–14 ,propositio‘ „eigentlicher Vortrag“ – Fugato (Kurzthema in abgewandelter ,figura corta‘) in mehrfach umkehrbarem Kontrapunkt, ,durezze‘ A’ T 14–25 ,confutatio‘ „Anführung und Widerlegung fremdscheinender Fälle“ –Passagenwerk, starke Chromatik, stark gesteigerte ,durezze‘ B’ T 25–31 ,confirmatio‘ „künstliche Bekräfftigung“ – B transponiert und um einen zusätzlichen Takt „bekräftigt“ A” T 31–49 ,peroratio‘ „Ausgang oder Beschluss“ – Erweiterung und Überhöhung von A’, genau in der Mitte eine Reminiszenz von B (T 39–41)

Die vom Hamburger ,stylus phantasticus‘ geforderte kunstvolle Proportionierung ist voll und ganz vorhanden, und zwar auf verschiedenen Ebenen . Das Werk weist sowohl zwei gleich lange Teile (ABA’ = B’A”) auf, als auch die klassische Proportion 2:5 (AB:A’B’A”) Zudem ist A” genau so lang wie A+A’ (jeweils 18 Takte), und dort findet dann auch die dramaturgische „Auflösung“ des Satzes auf dem Schnittpunkt 4:1 statt (T . 39), wo nach der enharmonischen Kulmination jene kurze Reminiszenz von B auftritt

Die Kenntnis des besonderen Hintergrunds der g-moll-Fantasie ist sowohl für die Interpretation der Quellen als auch zur Bestimmung der Entstehungszeit wesentlich . Anders als die Fuge BWV 542/2 weist die Überlieferung der Fantasie überwiegend posthumen Charakter auf Das Hauptgewicht liegt sogar um 1800 oder später, während die beiden früheren, aus der zweiten Hälfte des 18 . Jahrhunderts stammenden Quellen (AmB 531 und P 595) von unbekannter Hand sind Außerdem ist von mehreren verlorengegangenen Zwischenquellen zum ebenfalls verlorenen Autograph auszugehen 20 Umso bemerkenswerter ist aber die Tatsache, dass das Werk trotz dieser ungünstigen Quellenlage erstaunlich gut und mit nur marginalen Varianten überliefert ist Diese außergewöhnliche Überlieferungssituation deutet stark darauf hin, dass Bach diese in jeder Hinsicht einmalige Fantasia – und zwar genauso wie das frühe, ebenso isoliert dastehende Tabulaturstück BWV 1121! – für sich behielt und es seinen Schülern nie zum Kopieren überließ Während die Quellen also nichts über die Entstehungszeit der g-moll-Fantasie aussagen, wird das Werk bekanntlich seit Spitta21 mit Bachs Besuch in Hamburg Ende November 1720 in Verbindung gebracht, wofür die Indizien tatsächlich reichlich vorhanden sind Das Schwesterwerk BWV 903/1(a) wird in die Köthener Zeit datiert, 22

17 Nicht aufgenommen wurden hier die frühen Fantasien in g BWV 917 und in a BWV 922, die keine orgel-idiomatischen Züge aufweisen und wohl eher dem Cembalo zuzuordnen sind Die gleichfalls rein manualiter konzipierten Fantasien BWV 570 und 1121 weisen dagegen klar auf die Orgel, wie die langen Orgelpunkte gegen Satzende in BWV 570 sowie die Notation in Orgeltabulatur von BWV 1121 (eine Notationsweise, die Bach nur für Orgelmusik nützte, wie auch die Beispiele im Orgelbüchlein zeigen) – Die viel späteren Fantasien (mit Fugen) in a BWV 904 und in c BWV 906 sind reine Cembalowerke

18 Zur rhetorischen Analyse im Sinne des ,stylus phantasticus‘ vgl Pieter Dirksen, The Enigma of the stylus phantasticus and Dieterich Buxtehude’s Praeludium in G Minor (BuxWV 163), in: Orphei Organi Antiqui: Essays in Honor of Harald Vogel, hrsg von Cleveland Johnson, Seattle 2006, S 107–132

19 Stichwörter nach Johann Mattheson, Der Vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, S 236; vgl auch Dirksen 2006 (wie Anm 18), S 121–126

20 Vgl NBA IV/5, Präludien, Toccaten, Fantasien und Fugen – Kritischer Bericht von Dietrich Kilian, Kassel 1978/79, S 455–457; William H Bates, J. S. Bach’s Fantasy and Fugue in G Minor, BWV 542: A Source Study for Organists, BACH: Journal of the Riemenschneider Bach Institute 39/2 (2008), S 1–89 (hier S 2–13)

21 Spitta Bd 1 (wie Anm 10), S 635

22 Philipp Spitta, Joh. Seb. Bach, Bd 2, Leipzig 1880, S 661f und 842; George Stauffer, “This fantasia … never had its like”: on the enigma and chronology of Bach’s Chromatic Fantasia and Fugue in D Minor, BWV 903, in: Bach Studies, hrsg von Don O Franklin, Cambridge 1989, S 160–182 (hier S 175–181)

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und wenn Wolfgang Wiemers Theorie zutrifft,23, dass dieses ein Tombeau auf den Tod Maria Barbara Bachs (gestorben Juli 1720) darstellt, so gäbe es einen festen Bezug zu jenem Jahr Die „moderne“ Notation von BWV 542/1 mit zwei j deutet jedenfalls auf eine Entstehung nach der Weimarer Zeit,24 und die Wiederaufnahme des Begriffs „Fantasia“ fällt wie oben ausgeführt in die Jahre 1720–22 Zwei kompositionstechnische Einzelheiten weisen ebenfalls in diese Richtung: Eine auffallende Parallele einer enharmonischen Verwechslung (vgl . T . 20 und besonders T 38f ) findet sich (abgesehen von BWV 903/1[a]) in einem weiteren Köthener Werk, nämlich der Sarabande aus der Dritten Englischen Suite in g-moll (!) BWV 808, während die „unendlich“ fallende Tonleiter mit überraschenden Modulationen (T . 31–35) eine klare Parallele im 1 . Satz des Dritten Brandenburgischen Konzerts BWV 1048 (T . 87–91) aufweist, das spätestens 1721 vorlag Somit kommt, auch unabhängig von der möglichen Assoziation mit der g-moll-Fuge (vgl dazu S 16), der Besuch in Hamburg im November 1720 in den Blick, was auch die Konzeption im Hamburger ,stylus phantasticus‘ bestätigt . Höchstwahrscheinlich wurde das Werk eigens für diesen Besuch komponiert . Zugleich ist es auch ein Beispiel einer modernen, wohltemperierten Stimmung Deshalb und wegen des geforderten Tonumfangs war die Fantasie auf den beiden sicherlich mit Bachs Besuch zu assoziierenden Orgeln, jene der Jakobi- und Katharinenkirche, nicht spielbar, da beide im Manual noch die kurze Oktave (ohne Es, Fis und As) aufwiesen und im Pedal nicht über das tiefe Es verfügten und dazu noch (weitgehend?) in mitteltöniger Stimmung gestanden haben müssen . 25 Nicht erwogen wurde aber bisher die Möglichkeit, dass Bach das Werk auf der damals größten und modernsten Orgel Hamburgs gespielt hat, nämlich auf dem 1687 von Arp Schnitger fertiggestellten viermanualigen Meisterwerk in der Nikolaikirche, das über den „Bach-Umfang“ CD–c3 (Manual) und CD–d1 (Pedal) verfügte und in einer modernen, wohltemperierten Stimmung gestanden haben muss 26 Dieses berühmte Instrument, „welches alle [anderen] in Teutschland übertreffen soll“, 27 hat gewiss Bachs besonderes Interesse hervorgerufen und war zweifellos am geeignetsten, um der Hamburger Zuhörerschaft seine virtuose Weiterentwicklung der norddeutschen Orgelkunst vorzuführen . Rätselhaft bleibt dann allerdings, warum diese Orgel nirgendwo in Bachs Biographie auftaucht Zu Fragen der Registrierung siehe weiter unten; zur Fuge BWV 542/2 siehe S . 16f

Wie BWV 573 liegt die Fantasia [et Fuga] in c BWV 562 in einer autographen Reinschrift (P 490) vor, die in der Leipziger Zeit entstanden ist Allerdings zeigt die Fas-

sungsgeschichte,28 dass dieser Niederschrift noch eine andere, in einer Abschrift aus der Zeit um 1750 (P 1104) erhaltene Fassung vorausgegangen sein muss Dort ist die Fantasie an die Fuge BWV 546/2 gekoppelt, wobei offen bleiben muss, ob dies auf Bach zurückgeht oder nicht . Die beiden Sätze in der Einzelhandschrift P 490 sind zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben: die Niederschrift der Fantasia entstand wohl zwischen 1742 und 1745, während die der unvollendeten Fuge BWV 562/2 auf „um 1747 bis August 1748“ datierbar ist . 29 Jedenfalls hat Bach die Fantasie zumindest einige Jahre als Einzelsatz betrachtet Davon unabhängig ist die Frage, ob er vor der erneuten Niederschrift in P 490 die Fantasie jemals mit der Fuge BWV 546/2 gekoppelt hat oder nicht (Aus diesem Grund ist das Fugenfragment, das höchstwahrscheinlich von Bach bewusst abgebrochen wurde,30 in der vorliegenden Neuausgabe [NA] von der Fantasie getrennt im Anhang abgedruckt ) Bedeutsam könnte aber die Tatsache sein, dass der neue (?) „Partner“ dieser Fuge, das Praeludium BWV 546, aus stilistischen Erwägungen auf um 1740 datiert werden kann und deshalb vielleicht zu diesem Zeitpunkt die Fantasie abgelöst hat Die Frage nach der Entstehungszeit von BWV 562/1 lässt sich wegen des Fehlens der Erstniederschrift lediglich pauschal auf vor etwa 1742 ansetzen . Es gibt jedoch einige Indizien für eine nähere Präzisierung So wird bei der Datierungsfrage der Fantasie gerne der thematische Hintergrund ins Spiel gebracht . Das Thema ist unverkennbar von Nicolas de Grigny’s Livre d’Orgue von 1699 angeregt 31 Bachs Soggetto erscheint fast wie die Summe zweier Fugenthemen von de Grigny:

Fugue à 5 Fugue

Außerdem übernimmt Bach die typische Fünfstimmigkeit von de Grigny’s PedaliterFugen und offensichtlich auch zunächst noch dessen Anlage „à 2 tailles [de cromorne] et 2 dessus [de cornet]“; bis T . 56 (also Zweidrittel des Stücks) sind die vier Manualstimmen so auf zwei Manualen spielbar, danach wurde dieser Ansatz offenbar fallengelassen Die sorgfältige, komplette Abschrift, die Bach von de Grigny’s Livre

28 Vgl Dietrich Kilian, Studie über Bachs Fantasie und Fuge c-Moll (BWV 562), in: Hans Albrecht in Memoriam, hrsg von Wilfried Brennecke und Hans Haase, Kassel 1962, S 127–135; Kilian 1978/79 (wie Anm 20), S 333–340

23 Wolfgang Wiemer, Carl Philipp Emanuel Bachs Fantasie in c-Moll – ein Lamento auf den Tod des Vaters?, Bach-Jahrbuch 1988, S 163–177 (hier S 166)

24 Vgl George Stauffer, The Organ Preludes of Johann Sebastian Bach, Ann Arbor 1980, S 27

25 Christoph Wolff und Markus Zepf, Die Orgeln J. S. Bachs – Ein Handbuch, Leipzig 2008, S 52–55

26 Gustav Fock, Arp Schnitger und seine Schule, Kassel 1974, S 46–50 Das vereinzelte d3 von BWV 542/1 (T 24) ist aber nicht maßgeblich; vgl den Kommentar, S 148

27 Laut der bemerkenswerten Orgelbeschreibung in Caspar Friedrich Neickelius, Museographia, Leipzig und Breslau 1727, S 45

29 Yoshitake Kobayashi, Zur Chronologie der Spätwerke Johann Sebastian Bachs. Kompositions- und Aufführungstätigkeit von 1736 bis 1750, Bach-Jahrbuch 1988, S 59 Die Angaben von Kobayashi sind hinsichtlich BWV 562/1 in P 490 dahin zu präzisieren, dass von der abwärts kaudierte Form drei Formen durcheinander und gleichrangig auftreten; neben den von Kobayashi (dort S 18, 35 und 59) angeführten Formen 5a („bis etwa 1738 vorherrschende Form“) und 5d („ab etwa 1742 gebräuchlich“) findet sich aber auch noch 2c („gegen Mitte der 1740er Jahre“; vgl . Kobayashi, S 17) Zudem fehlt die Form 5c („von etwa 1739 bis 1742“) ganz Dies erlaubt insgesamt eine chronologische Einengung der Niederschrift auf „etwa 1742–1745“ .

30 Werner Breig, Freie Orgelwerke, in: Bach-Handbuch, hrsg von Konrad Küster, Kassel 1999, S 704

31 Hermann Keller, Die Orgelwerke Bachs, Leipzig 1948, S 98; Norbert Dufourcq, Jean-Sébastien Bach – Le maitre de l’orgue, Paris 1973, S 223 Wenig überzeugend ist dagegen der Versuch von Hans Steinhaus (Themen anderer Komponisten in drei Orgelwerken Bachs, Ars Organi 59 [2011], S 100), das Themenmodell einem Stück Jacques Boyvins zuzuordnen .

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d’Orgue angefertigt hat (Universitätsbibliothek Frankfurt a M ., Mus. Ms. 1538) lässt sich etwa auf 1712 ansetzen 32 Jedoch passt BWV 562/1 stilistisch weniger gut in die Weimarer Epoche, aus der ja offenbar auch keine weiteren Fantasien überliefert sind Die erwähnte Abschrift der Frühfassung (P 1104) weist eindeutig nach Köthen,33 was ein Indiz dafür ist, dass das Werk zumindest Anfang der 1720er-Jahre vorlag Es wäre aber auch durchaus plausibel, die Fantasie genau jener Epoche zuzuordnen, in der dieser Gattungsbegriff in Ausnahmefällen wieder herangezogen wurde Dann wäre BWV 562/1 neben anderen Köthener Werken dieser Stilausrichtung, wie die Ouvertüre in C BWV 1066 oder die Englischen und Französischen Suiten BWV 806–815, als Studie im französischen Stil einzustufen

Die Primärquelle für die Fantasia et Fuga in c BWV 537 ist eine Abschrift (P 803), die von Vater und Sohn Johann Tobias und Johann Ludwig Krebs gemeinschaftlich und offenbar in einem Zuge angefertigt wurde Letzterer datiert die Kopie am Schluss auf 1751 . John O’Donnel wies als Erster darauf hin, dass das Werk höchstwahrscheinlich von einem Autograph kopiert wurde, in dem die Fuge unvollendet war 34 Johann Tobias‘ Anteil reicht nur bis T 89 der Fuge, was offenbar seiner Vorlage entsprach Danach übergab er möglicherweise die Abschrift zur Fertigstellung seinem mit dem Bachstil vertrauten Sohn Darauf deuten verschiedene Merkmale von dessen Schreiberanteil Obwohl er sich wohlweislich für ein Da capo des Fugenbeginns entschied und so wesentlich zum Erfolg seiner Arbeit beitrug, zeigen die möglicherweise neu komponierten Teile sowie Einzelheiten Züge einer fremden Hand: die harmonische Unentschlossenheit der Takte 90–103, die abweichende Themenform mit Durchgangsnote (T 105), sowie der Schluss mit dreifachem Vorhalt in ausgeschriebenen Halben 35 Auf eine über bloßes Kopieren hinausgehende Tätigkeit deutet auch die Ausführlichkeit von Johann Ludwig Krebs’ Endsignierung, nur ein halbes Jahr nach Bachs Tod: „Soli Deo Gloria d 10 Januarij 1751“ 36 Diese Art der Signatur kommt tatsächlich wiederholt in den Autographen von Krebs’ eigenen Kompositionen vor und findet sich sonst nach Einschätzung des Herausgebers nie in den – überaus zahlreichen – Abschriften von Werken seines Lehrers . Belegbar ist diese Interpretation des Quellenbefundes nicht Selbst wenn sie zutrifft und nicht Bach, sondern der jüngere Krebs für die Zusammenstellung der letzten 41 Takte verantwortlich wäre, so bleibt die Qualität und Singularität dieser offenbar kurz nach Bachs Tod vorgenommenen

32 Yoshitake Kobayashi, Quellenkundliche Überlegungen zur Chronologie der Weimarer Vokalwerke Bachs, in: Das Frühwerk Johann Sebastian Bachs, hrsg von Karl Heller und Hans-Joachim Schulze, Köln 1995, S 294

33 Vgl Andrew Talle, Nürnberg, Darmstadt, Köthen. Neuerkenntnisse zur Bach-Überlieferung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Bach-Jahrbuch 2003, S 162–165

34 John O’Donnell, Mattheson, Bach, Krebs and the Fantasie & Fugue in c Minor BWV 537, The Organ Yearbook 20 (1989), S 88–105

35 Dass im Da capo der erste Themenansatz im Alt entfällt (und somit an T 5 statt an T . 1 anknüpft), wurde kritisiert (vgl Breig 1999 [wie Anm 30], S 691), jedoch ist der additionale zusätzliche Alteinsatz (der die 1 Stufe vom Satzanfang wiederholt) noch einbezogen (T 25 bzw 125) und wird besonders effektiv sowohl als Komplettierung der vierstimmigen Themendurchführung als auch als Schlussthema umgedeutet

36 O’Donnell 1989 (wie Anm 34), S 90

Vollendung weiterhin voll aufrecht, weshalb das Werk in den Hauptteil der vorliegenden NA aufgenommen wurde 37Auf den Beginn der Ergänzung wird durch eine Fußnote hingewiesen Überlieferung, Notation (c-moll in „moderner“ Notation mit drei j) und Stil von BWV 537 weisen klar auf die Leipziger Periode, wenn nicht sogar auf eine ausgesprochen späte Entstehungszeit Ein Vergleich mit den Präludien für Orgel der Leipziger Periode (BWV 544, 546, 547, 548, 552) verdeutlicht, warum Bach noch einmal zur besonderen Gattung „Fantasia“ gegriffen hat: Im Gegensatz zum späten Praeludientypus handelt es sich bei BWV 537/1 eindeutig nicht um eine Organo- pleno-Komposition (vgl . dazu weiter unten) In diesen Zusammenhang gehört auch die sonatenartige Überleitung zur Dominante am Schluss sowie die Vermeidung der Ritornellform und die dazu gehörenden akkordischen „konzertanten“ Stellen, die in allen genannten Präludien auftreten BWV 531/1 ersetzt dies durch freie Imitation von zwei relativ kurzen Themen, wobei auch wiederum die ,figura corta‘ auftritt, und die reiche Harmonik hat Züge von ,durezze‘ . Die Anlage mit Tonika- und Dominant-Orgelpunkten mit Einsatz des Soprans bzw des Tenors auf einer leeren Quinte entspricht der älteren c-moll-Fantasie BWV 562/1 Die seltene Taktart 6$begegnet in auffallender Weise auch in der frühen Fantasie in der gleichen Tonart BWV 1121 und innerhalb von Bachs Orgelwerk sonst nur noch in zwei Spätwerken: der unvollendeten c-moll-Fuge BWV 562/2 sowie Dies sind die heilgen zehn Gebot BWV 678 (Clavierübung III) 38 Auf eine Entstehung nach 1739 weist schließlich das Fugenhema, das möglicherweise auf eine Anregung von Johann Mattheson zurückzuführen ist:39

Mattheson, Thema 1739 (von g-moll nach c-moll transponiert)

Es stellt sich an dieser Stelle die Frage nach der angemessenen Registrierung von Bachs Fantasien, besonders im Hinblick auf eine Organo-pleno-Realisierung, was besonders bei den späteren Fantasien von Bedeutung ist Organo pleno heißt bekanntlich in der Regel Prinzipalchor einschließlich Mixturen, unter Hinzufügung von einer oder mehrerer Zungen im Pedal . Hier hat sich der Blick vor allem auf am nächsten

37 Der Spieler könnte aber eine Angleichung von T 114–122 an die Lesart von T 14–22 vorziehen, wie auch in T 104 im Alt, Zz 4 ein Viertel f 1 anstelle der beiden Achteln „Bachischer“ klingen dürfte 38 BWV 678 erscheint mit BWV 537/1 besonders eng verwandt: auch hier kontrastiert ein ruhiger, kanonisch einsetzender Eröffnungsgedanke über einem Orgelpunkt mit einem Seufzer-Motiv, und beide Werke zeigen ein ähnliches, äußerst flexibles rhythmisches Bild; man könnte deshalb mit gutem Grund behaupten, BWV 678 sei im ,Fantasia‘-Stil geschrieben Meredith Little und Natalie Jenne (Dance and the Music of J.S. Bach, Bloomington 2/2001, S 255–257) weisen darauf hin, dass BWV 537/1 (und somit auch BWV 678) dem Tanztypus des Loure zuzuordnen ist Auffallenderweise liegt auch der Fuge von BWV 537 ein Tanzmuster zugrunde, und zwar das der Bourrée (ebenda, S 207) Insgesamt bestätigt dieser Befund, welcher nicht zuletzt auch für die Aufführungspraxis von Bedeutung ist, die chronologische Nähe dieses Werkpaars zum zweiten Teil des Wohltemperierten Claviers (um 1739–1742), wo auffallend viele stilisierte Tanztypen auftreten

39 Der vollkommene Capellmeister (wie Anm 19), S 210 Vgl dazu Williams 1980 (wie Anm 9), S 86; O’Donnell 1989 (wie Anm 34), S 92

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verwandte Formen zu richten, nämlich Praeludium und Toccata In den wenigen Originalquellen findet sich die Angabe organo pleno bei BWV 544/1 (Autograph) und 552 (Originaldruck Clavierübung III 1739), aber nicht bei BWV 548 (P 274) und der c-moll-Fantasie BWV 562 Innerhalb der als zuverlässig einzustufenden Sekundärüberlieferung findet sich organo pleno bei BWV 535, 538, 540, 543, 545, 546, 547, 548, 569, 582 und 589 Es fällt auf, dass sich darunter keine Fantasien finden und dass Bach auch in seinem Autograph von BWV 562 auf einen solchen Hinweis verzichtet (das gleiche gilt für die autographe Überschrift zu BWV 573) . Für BWV 537/1 ist aufgrund der rhythmisch und polyphon fein ziselierten Gestalt eine Organo-pleno -Registrierung auszuschließen . Auch die frühen Fantasien BWV 563, 570, 571 und 1121 zeigen durch ihren ,durezze‘-artigen Stil, dass für sie in erster Linie wohl eine traditionelle Registrierung mit Solo-Labialen in Betracht kommt . Schwieriger ist die Registrierungsfrage bei der g-moll-Fantasie BWV 542/1 Zweifellos ist die Fuge BWV 542/2 organo pleno zu registrieren, wie die Primärquellen P 288/5 (Kellner) und P 1100 (Oley) explizit vorschreiben . Für die Fantasia fehlt dagegen ein derartiger Beleg; nur in der um 1800 entstandenen Handschrift P 288/9 ist für BWV 542 als Ganzes organo pleno angegeben Die Titelei („Fantasia e Fuga Gm: Per l’Organo pieno col pedale“) entpuppt sich allerdings als Nachtrag von etwa 1830 40 Da die g-moll-Fantasie in besonderer Weise den ,durezze‘-Stil widerspiegelt, sollte die moderne Tradition, Teile oder die ganze g-moll-Fantasia mit Organo-pleno-Registrierung zu spielen, vielleicht neu überdacht werden .

Frühe Fugen nach italienischen Vorlagen

Das Komponieren von Fugen über italienische Themen und Vorlagen war offenbar wichtiger Bestandteil des (autodidaktischen) Lernprozesses des jungen Bach Neben den hier aufgenommenen Kompositionen BWV 574, 579, 946, 949 und 950 finden sich weitere Beispiele in den Cembalofugen BWV 914/4 (letzter Teil der Toccata e-moll) und BWV 951(a) . Diejenigen Fugen, die auch für Orgel in Betracht kommen und deshalb in die NA aufgenommen wurden, weisen lange Orgelpunkte gegen Ende (BWV 946, 949, 950) oder obligaten Pedalgebrauch (BWV 574, 579) auf – Merkmale, die in BWV 914 und 951(a) fehlen

Frühestes Beispiel ist zweifellos die Fuga in C (nach Albinoni) BWV 946 Die Identifizierung der Themenvorlage durch Michael Talbot41 belegt wohl Bachs Autorschaft dieses nur in posthumen Abschriften greifbaren Stücks Das Thema entstammt demselben Druck – Tomaso Albinonis Triosonaten op 1 von 1694 – wie die Vorlagen zu BWV 950 und 951(a) Der junge Bach wagt sich hier, wie auch in der etwa zeitgleich einzuordnenden Fuga in A BWV 949 an die Konstruktion einer vierstimmigen Fuge, was ihm im letzteren, wesentlich umfangreicheren Werk wohl

etwas besser gelang . 42 Die A-dur-Fuge, die in einer Kopie von Bachs Bruder Johann Christoph erhalten ist (ABB), basiert offenbar ebenfalls auf einem Thema italienischer Provenienz, jedoch ist eine eindeutige Identifizierung bisher noch nicht gelungen . Sehr wahrscheinlich könnte es sich um das Thema einer Fuge von Bernardo Pasquini (1637–1712) handeln, dessen Musik Bach vielleicht durch einen Sammeldruck von etwa 1698 kennengelernt hat:43

Thema Pasquini (von C-dur nach A-dur transponiert)

Eine weitere Fuga in A BWV 950, ebenfalls über ein Thema aus Albinoni’s op 1, entstand wohl einige Jahre später und kann der frühen Arnstadter Zeit zugeordnet werden 44 Sie bleibt in ihrer Dreistimmigkeit näher an der italienischen Vorlage als BWV 946, was sich nicht nur in dem beweglicheren, von durchgehenden Sechzehnteln bestimmten Satz, sondern auch in der Übernahme einiger (Zwischenspiel-) Motive des Vorbilds ausdrückt . Eine Weiterentwicklung zeigt sich darüber hinaus durch die Durchführung des Themas auch auf den Mollstufen III und VI sowie die bedeutenderen Zwischenspiele . Die Quellenlage ist schwierig, denn die einzige zeitgenössische Quelle (eine vor 1725 anzusetzende Kopie von Johann Peter Kellner) entpuppt sich als eine nach G-dur transponierte Vereinfachung des Originals, während Johann Ringks Abschrift zwar die A-dur-Fassung wiedergibt, wenn auch in einer eher verderbten Fassung Die NA basiert deshalb in erster Linie auf einer erst viel später entstandenen Kopie unbekannter Hand .

Das Prinzip eines weit ausladenden, toccatenhaften Schlusses, das sich schon in BWV 950 andeutet, gewinnt noch weiter an Bedeutung in der Fuga in c BWV 574(b), die zudem einen wichtigen Schritt von punktueller zu obligater Pedalanwendung vollzieht Das Thema dieses vor allem durch die Abschrift von Johann Christoph Bach in ABB gut überlieferten Werks konnte trotz der scheinbar eindeutigen Angabe dort („Thema legrenzianum elaboratum per Joan Seb . Bach cum subjectum“) lange nicht identifiziert werden In Legrenzis Werk fand sich keine eindeutige Entsprechung, sondern nur Imitationsgebilde mit eher vagen Anklängen 45 Erst kürzlich fand Rodolfo Zitellini die Vorlage des ersten Themas in der Triosonata in c-moll (!) op 3 Nr 4 von Giovanni Maria Bononcini (1642–1678) . Da auch weitere Anklänge von Bononcinis

42 Zehnder 2009 (wie Anm 7), S 13–18; er datiert die beiden Werke auf „um 1699“

43 In der Drucksammlung Sonate da Organo di varii autori (hrsg von Guilio Cesare Arresti, Bologna, um 1698) ist die Fuge anonym als „Sonata 14 .a di N N di Roma“ abgedruckt (vgl Zehnder 2009 [wie Anm 7], S 18f ), jedoch enthält die Handschrift Bologna, Civico Museo Bibliografico, Ms. DD.53, das gleiche Stück mit einer Zuschreibung an den bekannten römischen Komponisten Bernardo Pasquini; vgl die Ausgabe in der Reihe Frutti Musicali, Bd 7, hrsg von Jolando Scarpa, Magdeburg 2009, Vorwort und S 32

40 Vgl dazu Bates 2008 (wie Anm 20), S 10–12 (note 14)

41 Michael Talbot, A further Borrowing from Albinoni: The C Major Fugue BWV 946, in: Das Frühwerk

Johann Sebastian Bachs (wie Anm 32), S . 142–161

44 Zehnder 2009 (wie Anm 7), S 119f

45 Vgl David Swale, Bach’s Fugue after Legrenzi, Musical Times 126 (1985), S 687–689; Robert Hill, Die Herkunft von Bachs ,Thema Legrenzianum‘, Bach-Jahrbuch 1986, S 105–107

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Beispiel 3

Beispiel 4

Satz im ersten Teil von BWV 574 festzustellen sind, scheint tatsächlich das lange gesuchte Vorbild gefunden zu sein:46

Allegro

Wie der offenbar auf Bach selbst zurückgehende irreführende Titel zustande kam, lässt sich nicht nachvollziehen, ebensowenig, ob das „subjectum“ des Titels (das zweite Thema) von Bach selbst stammt oder auf eine sekundäre, unbekannte Quellenlinie dieser Sonate zurückzuführen ist Das Doppelthema zeigt als Ganzes jedenfalls Züge eines standardisierten italienischen kontrapunktischen Modells 47 Das Werk spielt in der Entwicklung der Doppelfuge (mit der klaren dreiteiligen Form A, B, A+B) eine Schlüsselrolle 48

Im Gegensatz zu den Fugen BWV 535(a), 532(a) und 951(a) sind die Unterschiede zwischen der Frühfassung BWV 574b und der Revisionsfassung BWV 574 weniger tiefgreifend und die Überlieferung zeigt eher ein Kontinuum an kleineren Verbesserungen und Bereicherungen (wie etwa bei BWV 542/2) Die NA versucht, die beiden Fassungen klar zu trennen BWV 574b lässt sich ziemlich genau datieren, da nicht nur die Kopie in ABB vor 1715 anzusetzen ist, sondern auch, weil die Abschrift Johann Gottfried Walthers (P 805) nicht lange nach Bachs Ankunft in Weimar entstand Die bisher eher problematische Quellenlage von BWV 574 hat sich durch die Auffindung einer anonymen Kopie in der Forschungsbibliothek Gotha (Mus. 40 43/1) erheblich verbessert; diese Quelle wird hier zum ersten Male ausgewertet

Die Fassung BWV 574a, die sich nur in dem Ende des 18 Jahrhunderts entstandenen Sammelband P 207 befindet, stammt wohl nicht von Bach 49 Der (unbekannte) Schreiber wollte hier offenbar diese und andere Fugen Bachs sowie Händels durch Ausmerzung allzu „barocker“ Floskeln „verbessern“ Dabei entfiel natürlich auch die toccatenhafte Coda – das wohl extremste Beispiel des norddeutschen rezitativischen Stils bei Bach

Wohl als eine Art Pendant zu BWV 574(b) ist die Fuga in h (nach Corelli) BWV 579 anzusehen Beide Werke können der Entstehungszeit um 1706 zugeordnet werden,50 und auch BWV 579 basiert auf einem „Thema con Suggetto“ (so der Titel in P 804) italienischer Provenienz . Im Gegensatz zu BWV 574 werden hier entsprechend der Vorlage (Arcangelo Corelli, 2 Satz aus der Triosonate op 3 Nr 4) die Themen von Anfang an miteinander kombiniert Die Quellenlage ist wesentlich ungünstiger

Johann Nikolaus Mempells Kopie aus den 1730er-Jahren ist ausgesprochen problematisch Eine vermutlich über Wilhelm Friedemann Bach überlieferte und erst in Quellen aus dem 19 Jahrhundert greifbare Abschrift bietet eine gute Alternative Eine mögliche Erklärung für die bemerkenswerte Tatsache, dass Bachs lange Fuge (er dehnt Corelli’s 36 Takte auf 102 Takte aus51) sich – im Gegensatz nicht nur zu BWV 574(b) sondern auch zu wesentlich früher anzusetzenden Fugen wie BWV 535a/2 und 950 – ganz auf Tonika- und Dominantthemen beschränkt, bietet der analytische Ansatz Robert Hills,52 der BWV 579 als eine Art Permutationsfuge betrachtet . Eine direkte Anregung zur Komposition kam vielleicht durch den Besuch bei Dieterich Buxtehude im Winter 1705/06, der das weitgehend gleiche Doppelthema (in Dur!) in seinem späten Pedaliter-Praeludium in A-dur BuxWV 151 benützte, das auf 1696 datierbar ist (Beispiel a) . Offenbar hat Bach eine Abschrift des Stücks aus Lübeck mitgenommen, wie die vor 1707 anzusetzende Kopie seines Bruders Johann Christoph in der Möllerschen Handschrift nahelegt Ein weiterer Überlieferungszusammenhang bietet sich durch ein Fugenthema von Buxtehudes Schüler Nikolaus Bruhns an (Beispiel b), der auch Corellis Tempoangabe „Vivace“ übernimmt 53

46 Rodolfo Zitellini, Das „Thema Legrenzianum“ der Fuge BWV 574 – eine Fehlzuschreibung?, Bach-Jahrbuch 2013, S 243–259

47 Zehnder 2009 (wie Anm 7), S 199f

48 Werner Breig, Das ,Thema legrenzianum elaboratum per Joan. Seb. Bach‘ und die Frühgeschichte der Doppelfuge, Bach-Jahrbuch 2001, S 141–150

49 James A Brokaw II, The Perfectability of J.S. Bach, or Did Bach compose the Fugue on a Theme by Legrenzi, BWV 574a?, in: Bach Perspectives I, hrsg von Russel Stinson, Lincoln und London 1995, S 163–180

50 Zehnder 2009 (wie Anm 7), S 198 und 212

b.

Buxtehude, Praeludium in A Bux WV 151, T 23–25

Beispiel 5 a. b.

Beispiel 5 a. Vivace

Bruhns, Praeludium in e, T 47–50

Weitere frühe Einzelfugen

Die Fuga in B („Erselius“) BWV 955(a) wurde lange Zeit als Arbeit des Freiberger Organisten Johann Christoph Erselius (1703–1772) aufgefasst, wobei er im Wesentlichen als Urheber der Fassung BWV 955a, Bach dagegen – wenn seine Beteiligung überhaupt in Erwägung gezogen wurde – lediglich für die (nur leicht überarbeitete) Fassung BWV 955 in Betracht kam Erst Karl Heller konnte die Verhältnisse richtigstellen und nicht nur beide Fassungen Bach zuschreiben, sondern diesen auch einen festen Platz in

51 Vgl dazu Hartmut Braun, Eine Gegenüberstellung von Original und Bearbeitung, dargestellt an der Entlehnung eines Corellischen Fugenthemas durch J. S. Bach, Bach-Jahrbuch 1972, S 5–11; Williams 1980 (wie Anm 9), S 249–252; Gwylim Beechey, Bach’s B-minor Fugue, BWV 579 – Corelli’s B-minor Sonata, Op. 3 No. 4, The American Organist 19 (1985), S 126f ; Luca Tutino, La fuga per organo in si minore „über ein Thema von Corelli“. Modalità di lettura di un modello italiano, in: Bach und die italienische Musik. Bach e la Musica Italiana, hrsg von Wolfgang Osthoff und Reinhard Wiesend, Venedig 1987, S 61–87 .

52 Robert Hill, „Streng“ versus „Frei“. Ein Beitrag zur Analyse der frühen Tastenfugen von Johann Sebastian Bach, in: Bach, Lübeck und die norddeutsche Tradition Bericht über das Internationale Symposion der Musikhochschule Lübeck April 2000, hrsg von Wolfgang Sandberger, Kassel etc 2002, S 178–184

53 Geoffrey Webber, Buxtehude’s Praeludia and the sonata publications of Corelli, Early Music 38 (2010), S 252f .

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dessen Frühwerk zuweisen 54 Auch die erst kürzlich durch einen neuen Quellenfund (Berlin Mus.ms. 9172/3) hinzugekommene Zuschreibung an Georg Friedrich Händel ist nicht haltbar . Doch liefert gerade diese Quelle den entscheidenden Hinweis auf das Verhältnis der beiden Fassungen Die Pedalanweisung am Anfang von BWV 955a in Mus.ms. 9172/3 zeigt, dass die Basslinie wohl durchgehend auf dem Pedal zu spielen ist und löst somit das Problem einiger manualiter unspielbarer Stellen (T 45–48, 74, 77–79 und 81) Es handelt sich hier also nicht um einen Satz mit punktueller Pedalbeteiligung (zur Aushilfe jener Stellen), sondern um ein Werk mit obligatem Pedal 55 Interessant sind in dieser Hinsicht die Takte 65–68 Die tiefste Stimme wurde bisher immer als Basslinie ediert; die Quellen lassen aber auch eine Deutung einer von der linken Hand zu spielenden Tenorlinie zu (in der NA realisiert), die in typischen virtuosen Manualiter-Figurationen während des Schweigens des Pedals das tiefe C berührt In der revidierten Fassung BWV 955 wurde diese Passage umgeschrieben, wobei jetzt nicht mehr der Bass, sondern der Sopran schweigt . Bachs Versuch, eine reine Manualiter-Ausführung zu ermöglichen, wurde aber nicht mit letzter Konsequenz durchgeführt; während der Dezimgriff in T 48 noch einigermaßen spielbar ist, rechnet der Schluss ab T 79 offenbar doch noch mit Pedalbeteiligung Darüberhinaus wurden nach der Exposition die Gegenstimmen durch Hinzufügung von Sechzehnteln fließender gestaltet und es wurde der toccatenhafte Schluss um einem Takt erweitert .

Eine ganz andere Stilrichtung als diese eher auf vokale Kantabilität ausgerichtete Komposition zeigt die Fuga in c BWV 575 . Das Thema und dessen Verarbeitung tragen Züge des phantastischen Stils; die rhetorischen Pausen des spielerischen, ausgesprochen originellen Themas werden durch ein Kontrasubjekt gefüllt Wie in BWV 579 gibt es kompositionstechnisch einen „Ersatz“ für das Beharren auf Tonika und Dominante bei allen Themeneinsätzen: in Gestalt freier Stimmeneinsätze und Themenelemente (nach der vierstimmigen Exposition),56 wobei die vier Oktaven des Manuals virtuos ausgenützt werden BWV 575 bildet in thematischer und kompositorischer Hinsicht das Moll-Pendant zur Pedaliter-Fuge in D BWV 532/2 Direktes Modell für die freizügige, spielerische Fugentechnik beider Werke war wohl die Fuge in Buxtehudes Praeludium in F BuxWV 145 (T 40–123), wohl nicht zufällig Buxtehudes längste Pedalfuge und auch in dieser Hinsicht vergleichbar mit den beiden Werken Bachs (wie so viele freie Tastenwerke Buxtehudes überlebte BuxWV 145 dank Abschriften aus dem Bachkreis) BWV 575 ist Bestandteil einer um 1708 anzusiedelnden Gruppe

stark von Buxtehude beeinflusster Werke mit neuer Pedalvirtuosität (BWV 532a, 550, 577), was sich hier besonders durch die Pedaliter-Coda zeigt

Die Fuga in g BWV 131a ist singulär in Bachs Orgelwerk Es handelt sich um den Schlusssatz „Und er wird Israel erlösen aus allen Sünden“ der Kantate Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir BWV 131 von 1707 Die Bearbeitung vermeidet gekonnt eine schematische Übernahme des Materials, trotzdem bleibt der Eindruck zwiespältig 57 Einerseits gibt es durchaus „Bachische“ Elemente, wie die Bereicherung der Harmonie in T 17 (auf der zweiten Zählzeit hat der Tenor hier als erste Note c1 statt d1 wie in der Kantate), die sehr pedalgerechte Passage T 36f , die Altstimme in T 41 sowie vor allem der Einfall, den Kantatenschluss durch jene Dialogtakte zu ersetzen, die in BWV 131 unmittelbar der Chorfuge vorangehen; der ursprüngliche, stark plagale Schluss wurde dabei zurecht als zu dramatisch und textgebunden verworfen Andererseits ist die Textur durch Weglassen von Stimmen an einigen Stellen dünn und fragmentarisch geraten und gibt es harmonisch und melodisch problematische Stellen (z B in der Harmonik in T 22, der Stimmführung im Alt in T 26, oder der Querstand zwischen Bass und Alt in T 44) Die Eröffnung mit einem schlichten Akkord deutet eher auf einen Bearbeiter der jüngeren Generation . Die späte und eher periphere Überlieferung kann nichts zur Frage der Autorschaft beitragen Da das Stück aber in seiner Grundsubstanz selbstverständlich von Bach stammt, wurde es in den Anhang aufgenommen

Spätere Einzelfugen Wegen der eher peripheren Überlieferung ist die Echtheit der Fuga in G BWV 577 wiederholt angezweifelt worden,58 jedoch passt das Werk mit seiner ausgesprochen virtuosen Pedalstimme stilistisch völlig in das Bild von Bachs Orgelmusik aus der Zeit unmittelbar nach dem Besuch bei Buxtehude in Lübeck In allen drei offenbar unabhängigen Überlieferungssträngen (Esser 2, Rara Ib, 31 und die verschollene Vergleichsquelle für Peters IX) wird das Werk J . S . Bach zugeschrieben . Zudem entstand die zuverlässige Handschrift Esser 2 offenbar noch zu Bachs Lebzeiten (wenn auch der Schreiber bislang noch nicht identifiziert ist) Das Thema scheint von Buxtehude beeinflusst; schon Spitta wies auf die Verwandtschaft zur Fuga in C BuxWV 174 und zur Schlussfuge des Praeludiums in e BuxWV 142 hin 59 Die erste Hälfte des Themas kann als Paraphrase zweier Elemente aus BuxWV 174 betrachtet werden (Beispiel a) Buxtehudes Fuge, die nur in ABB erhalten ist, also wohl über Bach selbst überliefert wurde, ist ein manualiter konzipiertes Werk BuxWV 142 stellt dagegen mit BWV 577 vergleichbare Ansprüche an das Pedalspiel Es ist nicht so sehr

54 Karl Heller, Die Klavierfuge BWV 955. Zur Frage ihres Autors und ihrer verschiedenen Fassungen, in: Das Frühwerk Johann Sebastian Bachs (wie Anm . 32), S 130–141 . Vgl auch Zehnder 2009 (wie Anm 7), S 129f

55 Das hat vielleicht auch Konsequenzen für das BWV 955(a) am nächsten verwandte Stück, nämlich die Canzona in d BWV 588 Auch hier erscheint auf dem ersten Blick und von den Quellen aus betrachtet „punktuelle“ Pedalanwendung angesagt (vgl Jean-Claude Zehnder in NA Bd 4, S 13 und 179), aber vielleicht war trotzdem in beiden mit der Bassstimme beginnenden Stücken eine durchgehende Pedaliter-Ausführung beabsichtigt

56 Vgl dazu ausführlich Breig 1999 (wie Anm 30), S 639–642

57 Ablehnend gegenüber Bachs Autorschaft verhalten sich Spitta Bd 1 (wie Anm 10), S 451 und Zehnder 2009 (wie Anm 7), S 528 Zu einer eher positiven Sicht neigen Hermann Keller, Unechte Orgelwerke Bachs, Bach-Jahrbuch 1937, S 63; Hermann Keller, Die Orgelwerke Bachs, Leipzig 1948, S 70; NBA IV/8, Freie Orgelwerke und Choralpartiten aus unterschiedlicher Überlieferung – Kritischer Bericht von Ulrich Bartels und Peter Wollny, Kassel etc 2003; S 27; Bernhard Billeter, Bachs Klavier- und Orgelmusik, Winterthur 2010, S 446f

58 So noch in BWV 2a (wie Anm 9), wo es unter „Werke zweifelhafter Echtheit“ geführt wird (S 461)

59 Spitta Bd 1 (wie Anm 10), S 320

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das Eröffnungsthema des Schlussteils von BuxWV 142, ein eher locker geschriebenes Fugato, das hier von Relevanz ist, sondern vor allem eine bestimmte Passage im Verlauf des Satzes (Beispiel b)

Beispiel 6 a. BWV 577:

BuxWV 174, Thema

b.

Beispiel 6 a. BWV 577: b.

BuxWV 142 T 140–143

Diese Stelle zeigt, dass die „kurze“ Notation mit Achtel statt Viertel auf den Taktschwerpunkten (Esser 2) in den sehr ähnlichen Parallelstellen in BWV 577 (T 29–32 und 71–74) wohl Bachs Intention entspricht, weshalb diese Lesart in der NA übernommen wurde

Die Quellen lassen das Pedal nach dem langen Manualiter-Binnenteil erst in T 63 unthematisch einsetzen (zusammen mit der thematischen Wiederkehr des Soprans), der Basseinsatz des Themas T 57 wäre dann also noch manualiter zu spielen Dies geschah offensichtlich nur, um das (auf vielen Orgeln fehlende) hohe e1 (T 57) im Pedal zu vermeiden . Eine solche Aufteilung des Basses über Manual und Pedal ist bei Bach undenkbar, auch ist der dreistimmige Satz T 57–62 manualiter sehr unbequem zu spielen – im Gegensatz zum Rest der Manualpartien dieser Fuge Zudem tritt im vierten Thementakt (hier T 60, wie schon in T . 28) die modifizierte Fassung für alternierende Füße auf, die manualiter gespielt sinnlos wäre . (Das dritte Pedalthema am Ende der Fuge hat diese abgewandelte Form aber auffälligerweise nicht [T 80f ], was wohl mit seiner Eigenschaft als letztem Themeneinsatz zusammenhängt; sollte hier das Tempo etwa ein wenig zurückgehalten werden?)

Das somit gesicherte Pedal-e1 vereint BWV 577 mit einer Reihe anderer (früher) Weimarer Orgelwerke (BWV 528/2 [Frühfassungen], 536, 550, 593, 653a und b) Besonders die in derselben Tonart stehende Fuge BWV 550/2 steht stilistisch BWV 577 nahe, sowohl in der etwas „mechanisch“ anmutenden Gestaltung des Themas als auch in den komplexen Figurationen und den daraus resultierenden schnellen Harmoniewechseln und der virtuos geführten Pedalstimme . In der sehr bewegten Schlussgestaltung beider Werke zeigt sich die besondere Übereinstimmung Seit dem Umbau

der Weimarer Schlosskirchenorgel durch Johann Conrad Weisshaupt (1707/08) wies diese das hohe Pedal-e1 auf 60 Bach war im Juni 1708 eingeladen worden, die Arbeit zu prüfen und das Einweihungskonzert zu spielen Bei diesem Anlass erklang wohl eines (oder gar beide?) der möglicherweise speziell auf die erneuerte Orgel zugeschnittenen Demonstrationswerke BWV 550 oder 577, die stilistisch allerdings noch eher der Mühlhausener Periode zuzurechnen sind 61

Beispiel 7

Lassmich gehn, denn dortkommt mei ne Mut ter her

Die Fuga in g BWV 578 lässt sich aufgrund der Aufzeichnung im ABB vor 1713/14 einordnen und passt stilistisch gut ins Bild der frühen Weimarer Jahre 62 Der Bach-Sammler Franz Hauser (1794–1870) erwähnt ein Praeludium zu dieser Fuge, worüber aber nichts weiteres bekannt ist 63 Dass das liedhafte Thema, geigerisch aufgebaut auf der Tonika und der darunter liegenden leeren D-Saite, tatsächlich auf einem Volkslied beruht, wurde jüngst von Russel Stinson bestätigt: 64 Auf dem Titelblatt einer verkürzten Manualiter-Bearbeitung von der Hand des Bach-Schülers Johann Georg Schüblers (geb . um 1725) wird das Textincipit „Lass mich gehn, denn dort kommt meine Mutter her“ angeführt, das sich auf die ersten zwei Takte des Themas beziehen lässt: Vielleicht erklärt sich vor diesem Hintergrund die eher lockere Polyphonie dieser Fuge Das Thema wird zwar von zwei Kontrasubjekten begleitet, wovon aber eines lediglich ein dominantischer Liegeton ist, der die schon starke Präsenz dieser Stufe im Thema noch weiter betont Ähnlich klanglich unbefriedigend stellt sich das Aufeinandertreffen der beiden Manualstimmen in T 27f dar, die Akzentoktaven (mit zwei Oktaven Distanz!) zwischen Sopran und Tenor in T . 46–48 (jeweils 3 Zählzeit) und die eher „schwankende“ Harmonik in T 49–51 Obwohl grundsätzlich als vierstimmige Pedaliter-Fuge konzipiert, ist das Stück überwiegend dreistimmig – sogar in der Exposition . Trotz der wohlproportionierten Form65 ist insgesamt eine gewisse Naivität feststellbar Damit in Zusammenhang stehen auch einige möglicherweise sogar auf Bach zurückgehende Ungenauigkeiten im überlieferten Notentext, einschließlich der als Primärquelle bewerteten Abschrift von Johann Christoph Bach in ABB (vgl . den Kommentar auf S 155 zu T . 11, 19, 27, 51, 58 und 62) Hatte Bachs Autograph vielleicht einen skizzenhaften, etwa für eine besondere Gelegenheit schnell hingeworfenen Charakter?

60 Wolff/Zepf, Die Orgeln J. S. Bachs (wie Anm 25), S 105

61 Zehnder 2009 (wie Anm 7), S 292f

62 Jean-Claude Zehnder, Zu Bachs Stilentwicklung in der Mühlhäuser und Weimarer Zeit, in: Das Frühwerk Johann Sebastian Bachs (wie Anm 32), S 335

63 Yoshitake Kobayashi, Franz Hauser und seine Bach-Handschriftensammlung, Göttingen 1973, S 331

64 Russel Stinson, J.S. Bach at his Royal Instrument. Essays on his Organ Works, New York 2012, S 20–27

65 Breig 1999 (wie Anm 30)

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c.

Auch bei der Fuga in g BWV 542/2 gibt es einen Volkslied-Bezug, denn bekanntlich basiert BWV 542/2 auf einem niederländischen Lied (Beispiel a) Auch führt eine Spur zu einem Capriccio des Hallenser Organisten Friedrich Wilhelm Zachow (Beispiel b),66 sowie – bisher unbeachtet – zu einem „Thema Legrenzianum“ (Beispiel c) 67 Johann Mattheson zitiert 1731 im Zusammenhang mit einer Organistenprobe am Hamburger Dom im Jahr 1725 eine Variante des Themas (Beispiel d) und bemerkt dazu: „Ich wuste wohl, wo dieses Thema zu Hause gehörte und wer es vormahls künstlich zu Papier gebracht hatte“ 68

c.

c.

Beispiel 8 a.

Compositions-Wissenschaft innerhalb zweer Tage nach gespielter Probe schrifftlich ausgearbeitet aufzuweisen“ hatten; vielleicht traf dies auch bei Bachs Auftritt im November 1720 zu Zweifellos steht der Topos „g-moll-Fuge“ bei Bach mit dem seit seiner Jugend verehrten Reincken in Beziehung: die frühe Orgelfuge BWV 535a/2 basiert auf einem „Thema Reinckenianum“,69 und der Fuge aus der Cembalo-Toccata BWV 915 liegt ein Giguenthema aus Reinckens Hortus Musicus zugrunde 70 Überdies weist die Manualiter-Fuge Reinckens in derselben Tonart in ihrer Treppenfiguration Verwandtschaft zu BWV 542 auf,71 so wie auch ein weiteres Thema aus Hortus Musicus (Beispiel e) Vielleicht gehört auch BWV 578 in diesen Hamburger Kontext 72 Das „Nachfolgewerk“ BWV 542/2 korrigiert dabei einige Inkonsequenzen des früheren Werkes: die Vierstimmigkeit wird strenger gehandhabt und das Thema wird nicht –wie in BWV 578 – für das Pedalspiel vereinfacht

„Ik ben gegroet van“ (1700), 1 . Hälfte

b.

b.

b.

c.

b.

b.

c.

d.

d.

Beispiel 8 a. e.

d.

e.

Beispiel 8 a. e.

d.

d.

Beispiel 8 a. e.

Beispiel 8 a. e.

Johann Mattheson 1731: „Fugen-Thema“, „dabey folgenden Gegensatz zugleich einzuführen“ Johann Adam Reincken, Hortus Musicus, Sonata V Matthesons Themenfassung, dessen Kontrasubjekt und sein Kommentar stehen zweifellos in Beziehung zu Bachs Fuge und deuten auf den Hamburger Besuch von 1720 . Der niederländische Hintergrund des Themas wird mit dem aus Deventer stammenden Hamburger Katharinen-Organisten Johann Adam Reincken (1643–1722) in Verbindung gebracht Möglicherweise fungierte aber die Melodie schon länger als Improvisationsthema bei Hamburger Organistenproben Mattheson fügt noch hinzu, dass die Kandidaten die improvisierte Fuge „zum sichtbaren Zeugnis ihrer

66 Max Seiffert in Friedrich Wilhelm Zachow: Gesammelte Werke (Denkmäler Deutscher Tonkunst, 1 Folge, Bd 21/22, Leipzig 1905), S X und 335f Zachows Capriccio könnte darüber hinaus auch das Modell für die Cembalofantasie BWV 906 abgegeben haben

67 Giovanni Legrenzi, Sonate a due e tre, Libro I, Venedig 1655

68 Johann Mattheson, Grosse Generalbass-Schule. Oder: Der exemplarischen Organisten-Probe, 2 Auflage Hamburg 1731, S 34f

Die breit gestreute Überlieferung dokumentiert verschiedene Entwicklungsphasen der Fuge, die höchstwahrscheinlich auf zwei (verlorengegangene) Autographe zurückzuführen sind; das erste Autograph wurde offenbar mehrfach revidiert . 73 Keine der Abschriften basiert aber nachweislich direkt auf einem Autograph Wichtigster Zeuge der zweiten autographen Fassung ist die Abschrift von Johann Tobias Krebs in P 803 . Sie wird traditionell mit Bachs letzten Weimarer Jahren in Verbindung gebracht,74 doch hat Krebs, der in Weimar auch Bachs Unterricht genoss, noch bis nach Bachs Tod Werke von ihm kopiert, wie die offensichtlich erst posthum angefertigte Kopie von BWV 537 belegt (vgl oben, S 11) Im Gegensatz zu dem gemeinsam mit Johann Gottfried Walther angelegten Konvolut P 801 und der Sammelhandschrift P 802 enthält das Konvolut P 803 einige nach-Weimarer Bachwerke von der Hand von Tobias Krebs (vor allem BWV 807, 811, 903 und 537) 75 So beantwortet sich die Frage nach der angeblichen „Weimarer“ Quelle und Überlieferung der späteren Version Diese Fassung wird weitgehend auch durch die Abschrift Johann Friedrich Agricolas (1720–1774) bestätigt, die aus dessen Lehrzeit bei Bach 1738–41 stammt; jedoch weist diese Kopie Varianten auf (z B . T 68–71) die möglicherweise nicht authentisch sind 76 Obwohl die Abweichungen nicht so tiefgreifend sind wie in anderen Fugen und nur Einzelheiten in den Stimmführungen betreffen, hält es der Herausgeber wegen des Fehlens einer von Bach autorisierten Fassung einerseits und der Tatsache, dass es

69 Pieter Dirksen, Zur Frage des Autors der A-Dur-Toccata BWV Anh. 178, Bach-Jahrbuch 1998, S 121–135 (hier S 133)

70 Peter Wollny, Traditionen des phantastischen Stils in Johann Sebastian Bachs Toccaten BWV 910–916, in: Sandberger 2002 (wie Anm 52), S 252f

71 Williams 1980 (wie Anm 9), S 124 .

72 Vgl dazu umfassend Ulf Grapenthin, Bach und sein „Hamburgischer Lehrmeister“ Johann Adam Reincken, in: Bachs Musik für Tasteninstrumente Bericht über das 4. Dortmunder Bach-Symposion 2002, hrsg von Martin Geck, Dortmund 2003, S 9–50

73 Vgl Kilian 1978/79 (wie Anm 20), S 458–468 und 725; Bates 2008 (wie Anm 20), S 5 und 13–33

74 Hermann Zietz, Quellenkritische Untersuchungen an den Bach-Handschriften P 801, P 802 und P 803, Hamburg 1969, S 98 und 100; Kilian 1978/79 (wie Anm 20), S 458; Breig 1999 (wie Anm 30), S 614; Siegbert Rampe (Hg ), Bach-Handbuch IV: Klavier- und Orgelwerke, Laaber 2007, S 774

75 Vgl auch Stephen Daw, Copies of J.S. Bach by Walther and Krebs: a Study of the Mss P 801, P 802, P 803, The Organ Yearbook 7 (1976), S 31–58

76 Vgl Kilian 1978/79 (wie Anm 20), S 459 und 463f

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Friedrich Wilhelm Zachow, Capriccio in d Giovanni Legrenzi, Thema aus Sonata La Frangipana

sich um eines der zentralen Werke der Orgelliteratur handelt andererseits, für notwendig, alle bis etwa 1800 überlieferten Varianten dem Spieler zur Verfügung zu stellen Statt aufwändiger Beschreibungen im Kritischen Bericht werden diese in synoptischer Ansicht online dargestellt Dies geschieht auf der Basis der mutmaßlich ältesten greifbaren Fassung nach Johann Peter Kellner (P 288/5 in der Fassung ante correcturam), die dadurch zugleich zur Gegenüberstellung der im Notenband edierten „Spätfassung“ nach P 803 dienen kann Die sicherlich nicht von Bach stammende Transposition dieser Fuge nach f-moll,77 die aber in verschiedenen zuverlässigen Quellen aus der zweite Hälfte des 18 . Jahrhunderts auftaucht, wird ebenfalls auf der Website angeboten Alle Quellen vor 1800 (also auch diejenigen, die auf das zweifellos in Leipzig entstandene zweite Autograph zurückgehen) notieren das Werk „dorisch“ mit nur einem j, was auf eine Entstehung vor etwa 1717 hindeutet 78 Werner Breig hat gezeigt, dass sich die singuläre, äußerst differenzierte Struktur der Fuge BWV 542/2 nicht den zwei Hauptformen der Bach’schen Orgelfugen zuordnen lässt, sondern offenbar (auch chronologisch) zwischen der vierteiligen (Weimar und früher) und dreiteiligen Form (Leipzig) anzusetzen ist; in ihr sind überdies auf einzigartige Weise „Volkstümlichkeit, stupende Pedalvirtuosität und komplizierte Fugenarchitektur zusammengeführt“ 79

Eine zentrale Frage bleibt nach wie vor die Zusammengehörigkeit von Fantasie und Fuge Das stärkste Argument dagegen ist die Tatsache, dass alle Quellen der Fuge aus Bachs direktem Umfeld sowie lange danach keine Hinweise auf die Fantasie aufweisen und das Werkpaar auch in Forkels Verzeichnis der „Grossen Praeludien und Fugen für Orgel“ fehlt 80 Bis weit in das 19 Jahrhundert hinein wurde die Fuge als Einzelstück kopiert, und auch so in der Erstausgabe von BWV 542 bei Breitkopf & Härtel von Adolf Bernard Marx um 1833 ediert . Dort erscheinen die beiden Stücke getrennt und in unterschiedlichen Bänden Außerdem gibt es Unterschiede in der Notation („dorische“ Notation für die Fuge, „moderne“ Notation für die Fantasia) und beim Tastenumfang (das d 3 der Fantasia wurde in der Fuge offenbar vermieden: der ComesEinsatz auf d 2 in T . 44 wird nach einem halben Takt zur Vermeidung von d 3 nach unten oktaviert) Die beiden Stücke wurden zweifellos nicht zur gleichen Zeit konzipiert Aber auch für die Zusammengehörigkeit gibt es schwerwiegende Argumente . Obwohl Griepenkerl 1845 meinte: „Beide sind hier zum ersten Male miteinander in Verbindung gebracht, da sie sonst nur einzeln vorkommen“,81 begegnet uns das Werkpaar schon in einigen Quellen aus der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts Allerdings stammt die wohl älteste dieser Quellen (zugleich auch die älteste für die

Fantasie), AmB 531, von einem anonymen Kopisten und die beiden Sätze stehen nicht hintereinander, sondern wurden ursprünglich durch drei (jetzt entfernten) Folien voneinander getrennt 82 Eine Berliner Überlieferung scheint vorzuliegen, denn ein weiteres Werk in dieser kleinen Sammelhandschrift (BWV 907) zeigt durch die Autorangabe die korrigierende Hand des Berliner Bachschülers Johann Philipp Kirnberger (1721–1783) Ein ähnliches Problem stellt sich in der um 1800 von Ambrosius Kühnel (1770–1813) geschriebenen Quelle (P 1071), wo die Fantasia merkwürdigerweise nach der Fuge erscheint Eine AmB 531 nah verwandte Quelle, die ebenfalls anonyme Sammelhandschrift P 595/1, ist wohl das älteste Zeugnis des zusammenhängenden Satzpaars mitsamt dem korrespondierenden Titel „Fantasia con Fuga con pedale Gj“ . Des Weiteren gibt es jene verlorene Quelle, die zu Griepenkerls Erstausgabe von BWV 542 als Werkpaar führte: „Zu dieser Verbindung hat uns eine alte Abschrift der Fantasia aus meiner Sammlung bewogen, nach deren Schluss sich das Thema der Fuge, als zu ihr gehörig, angedeutet findet“ Die Beziehnung beider Stücke zum Hamburger Besuch des Jahres 1720 bilden ein weiteres wichtiges Argument zugunsten ihrer Zusammengehörigkeit Jedenfalls steht es dem heutigen Spieler frei, BWV 542 sowohl als Ganzes als auch die beide Sätzen getrennt zu musizieren Da es in der Literatur unterschiedliche Darstellungen betreffend den Schlussakkord sowohl von Fantasia als auch der Fuga gibt, sei hier eine Quellenübersicht gegeben:83 Dur Moll

Fantasia P 595, AmB 531, III.8.20, P 288/9 Rara II 134, P 1071

Fuga P 290, P 598, P 288/9, P 287, P 288/5, P 320, Ms. 4/2, P 803, P 1100, AmB 531, ND VI 3327e, Peters IIb Hahn 1, P 595, P 1071, Rara II 134, Le 21081

Daraus ist ersichtlich, dass die Fantasie in allen maßgeblichen Quellen auf Dur endet . Nur eine einzelne, ziemlich späte Quelle gibt Moll an, was wohl als ein Versehen gedeutet werden muss Grundlegend anders liegen aber die Verhältnisse bei der Fuge . Obwohl auch hier der Dur-Schluss in den Quellen dominiert, gibt es eine wichtige Quellengruppe, die eine Moll-Endung überliefert . Darunter befinden sich verschiedene für die früheren Fassungen wichtige Quellen, einschließlich P 288/5 (Kellner), wie auch die vom zweiten Autograph abhängige f-moll-Tradition (hier repräsentiert von P 287 und P 320) Agricola (P 598) und Krebs (P 803) lesen jedoch Dur . Dass

77 Zur Problematik und Authentizitätsfrage der f-moll-Fassung, vgl Kilian 1978/79 (wie Anm . 20), S 459–461

78 Stauffer 1980 (wie Anm . 24), S 27

79 Breig 1999 (wie Anm 30), S 675f

80 Johann Nikolaus Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, S 60 und Fig 16

81 Johann Sebastian Bach’s Compositionen für die Orgel, Band II, hrsg von Friedrich Conrad Griepenkerl und Ferdinand Roitzsch, Leipzig: C F Peters, 1844, S II

82 In diesem Zusammenhang sei an die These von Hans Klotz erinnert (Bachs Orgeln und seine Orgelmusik, Die Musikforschung 3, 1950, S 202), das einzeln stehende Trio in d-moll BWV 583 sei aufgrund der thematischen Verwandschaft mit der g-moll-Fuge als Mittelsatz zu BWV 542 beabsichtigt Obwohl schon längst widerlegt (vgl Dietrich Kilian, Dreisätzige Fassungen Bachscher Orgelwerke, in: Bach-Interpretationen, hrsg von Martin Geck, Göttingen 1969, S 14), besteht die Möglichkeit, dass ein Mittelsatz in AmB 531 vorhanden war (Die aus der gleichen Sammlung herrührende Abschrift von BWV 583, AmB 501,4, entspricht jedenfalls nicht den entfernten Seiten )

83 Vgl zu diesem Thema auch Hans Musch, Dur- oder Mollterz? Zum Schlussakkord der Fantasia g-Moll BWV 542, Ars Organi 30 (1982), S . 160–162

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aber nicht nur für die Fantasie, sondern auch für die Fuge ein Schluss in Dur wohl authentisch ist, wird von der Tatsache unterstrichen, dass in den zwei Schlusstakten beider Werke offenbar jeweils die BACH-Signatur erscheint (wobei das „H“ natürlich Dur bewirkt) – in der Fantasie verborgen in der drittobersten Stimme (b1-a1, c 2/h1), in der Fuge im Schlusstakt und dessen Auftakt (Alt), wobei a1 und c 2 zusammenfallen

Die Fuge aus der Sonate in g-moll für Violine solo BWV 1001 ist in zwei zeitgenössischen Bearbeitungen erhalten, für Laute (BWV 1000) und für Orgel (BWV 539/2) Die ausschließlich posthume Quellenlage der Fuga in d BWV 539/2 stellt sich aufgrund der Identifizierung des Schreibers der beiden wichtigsten Quellen (AmB 606 und P 213) wesentlich besser dar Der Kopist, Carl August Hartung (1723–1800) – 1752 bis 1760 Organist in Köthen, danach bis zu seinem Tod in Braunschweig – war offenbar ein eifriger Sammler von Bachs Musik und stand in Köthen in engem Kontakt zum Bach-Schüler Bernhard Christian Kayser 84 Aber auch ohne diese neue Erkenntnis erweisen sich die mehrmals geäußerten Echtheitszweifel85 angesichts der hohen Qualität dieser Bearbeitung der geigerischen Vorlage als wenig stichhaltig Die Identität von Komponist und Bearbeiter des mit Hinblick auf die höchste Note der Violinfassung (f 3) in die Unterquarte transponierten Satzes erschließt sich sogleich am Anfang: Für einen thematischen Pedaleinsatz wurde die Exposition um einen Takt erweitert Dieser Eingriff in die Originalsubstanz und dessen makellose Ausführung ist wohl niemand anderem als Bach selbst zuzutrauen Die Bearbeitung weist auch sonst in zahllosen Einzelheiten und harmonischen Anreicherungen durchgehend hohen Einfallsreichtum auf,86 wobei keinesfalls eine strenge Weiterführung der Fünfstimmigkeit der Exposition angestrebt, sondern vielmehr der freipolyphone Duktus des Originals noch weiter gesteigert wird Dabei behält Bach die kurz angerissenen Begleitstimmen der Violinvorlage weitgehend bei Das Ergebnis ist eine in ihrem Charakter einmalige, dynamische Orgelfuge, die neue Klangmöglichkeiten der Orgel erforscht

Wahrscheinlich Ende des 18 . Jahrhunderts wurde die Fuge durch ein kurzes ManualiterPraeludium (BWV 539/1) ergänzt Diese Gestalt kennen wir nur aus Quellen des 19 Jahrhunderts Merkwürdigerweise aber wurde dieses Werkpaar in Forkels thematisches Verzeichnis großer zweiteiliger Orgelwerke aufgenommen, obwohl einige andere Werke mit obligatem Pedal wie BWV 532, 536, 550 und BWV 542 darin fehlen . Es scheint aber ausgeschlossen, dass dieses Werkpaar auf Bach selbst zurückgeht, denn die Kombination Manualiter–Pedaliter wäre bei Bach singulär, und auch die Proportionen wären sehr ungewöhnlich (die Fuge ist fast fünfmal so lang wie das Praeludium) für Bach Aufgrund der Quellenlage ist die Fuge deshalb als Einzelwerk ediert, während das Praeludium im Anhang erscheint

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Sie bietet zum einen Fassungen von drei Werken des Hauptteils: die Variantensynopse der Fuga in g BWV 542/2, deren (bisher nur schwer erreichbare) f-moll-Fassung nach P 287 sowie die ,Erselius‘-Fuge in B (BWV 955) in der verzierten Fassung nach P 425 Zum anderen finden sich vier Werke – BWV 561, 576, 580 und BWV Anh . 90 –, die zwar in Quellen aus dem 18 Jahrhundert mit Zuschreibung an J . S Bach vorhanden sind, bei denen aber erhebliche Echtheitszweifel bestehen Die einzelnen Werkkommentare dazu finden sich ebenfalls auf der Website

Für wertvolle Hinweise und hilfreiche Auskünfte sei den Herren Jean Claude Zehnder, Werner Breig, Russel Stinson, Rodolfo Zitellini und Peter Wollny herzlich gedankt

84 Vgl Andrew Talle, Die „kleine Wirthschafft Rechnung“ von Carl August Hartung, Bach-Jahrbuch 2011, S 51–80; Peter Wollny, Carl August Hartung als Kopist und Sammler Bachscher Werke, Bach-Jahrbuch 2011, S 81–101

85 Ulrich Siegele, Kompositionsweise und Bearbeitungstechnik in der Instrumentalmusik Johann Sebastian Bachs, Neuhausen-Stuttgart 1975, S 86f ; Dietrich Kilian, Präludium und Fuge d-moll, BWV 539. Ein Arrangement aus dem 19. Jahrhundert?, Die Musikforschung 14 (1961), S 323–328

86 Vgl dazu vor allem Williams 1980 (wie Anm 9), S 99–103

18
Culemborg, Frühjahr 2016 Pieter Dirksen

Fantasia in C

* Quelle P286 /Source P286 : 16 12 7 Breitkopf EB 8802 Edition Breitkopf 8803 © 2010 by Breitkopf&Härtel, Wiesbaden
2 1 BWV570

* Zur Ausführung auf zwei Manualen vgl. den Kommentar./See the Kommentar for execution on two manuals.

38
30 26 21 Breitkopf EB 8803 20 33
34

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* Zur Ausführung auf zwei Manualen vgl. den Kommentar./See the Kommentar for execution on two manuals.

19 13 7 Adagio g c c c Breitkopf EB 8803 Fantasia
c 34 23 BWV1121
in

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Zur Ausführung auf zwei Manualen vgl. den Kommentar./See the Kommentar for execution on two manuals.

49 43 37 31 25 Breitkopf EB 8803 20 35
*
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* Zur Ausführung auf zwei Manualen vgl. den Kommentar./See the Kommentar for execution on two manuals.

12 6
Breitkopf EB 8803 Fantasia
36 23 BWV562/1
Ped:
in c
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* Zur Ausführung auf zwei Manualen vgl. den Kommentar./See the Kommentar for execution on two manuals.

36 30 24 18 Breitkopf EB 8803 20 37
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* Zur Ausführung auf zwei Manualen vgl. den Kommentar./See the Kommentar for execution on two manuals.

54 48 42 Breitkopf EB 8803 38 23
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* Zur Ausführung auf zwei Manualen vgl. den Kommentar./See the Kommentar for execution on two manuals.

Breitkopf EB 8803
77 72 66 60 20 39
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page

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* Zur Ausführung auf zwei Manualen vgl. den Kommentar./See the Kommentar for execution on two manuals.

12 6
Breitkopf EB 8803
40 23 BWV562/1 Frühfassung
Ped:
Fantasia in c

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* Zur Ausführung auf zwei Manualen vgl. den Kommentar./See the Kommentar for execution on two manuals.

36 30 24 18 Breitkopf EB 8803 20 41
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* Zur Ausführung auf zwei Manualen vgl. den Kommentar./See the Kommentar for execution on two manuals.

56 49 42 Breitkopf EB 8803 42 23
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* Zur Ausführung auf zwei Manualen vgl. den Kommentar./See the Kommentar for execution on two manuals.

76 70 63 Breitkopf EB 8803 20 43
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Sämtliche

Orgelwerke in 10 Bänden

Band 1 EB 8801

Präludien und Fugen I (D . Schulenberg)

Band 2 EB 8802 Präludien und Fugen II (D Schulenberg)

Band 3 EB 8803 Fantasien · Fugen (P . Dirksen)

Band 4 EB 8804 Toccaten und Fugen · Einzelwerke (J .-Cl . Zehnder)

Band 5 EB 8805 Sonaten · Trios · Konzerte (P . Dirksen)

Band 6 EB 8806

Clavierübung III · Schübler-Choräle Canonische Veränderungen über „Vom Himmel hoch“ (W . Breig)

Band 7 EB 8807

Orgelbüchlein (S . Hiemke)

Band 8 EB 8808

Orgelchoräle der Leipziger Handschrift („Achtzehn Choräle“) (J .-Cl . Zehnder)

Band 9 EB 8809

Choralpartiten · Einzeln überlieferte Choralbearbeitungen I (R Emans / M . Schneider)

Band 10 EB 8810

Einzeln überlieferte Choralbearbeitungen II (R Emans / M . Schneider)

Complete Organ Works in 10 Volumes

Volume 1 EB 8801 Preludes and Fugues I (D Schulenberg)

Volume 2 EB 8802 Preludes and Fugues II (D Schulenberg)

Volume 3 EB 8803 Fantasias · Fugues (P . Dirksen)

Volume 4 EB 8804 Toccatas and Fugues · Individual Works (J -Cl Zehnder)

Volume 5 EB 8805 Sonatas · Trios · Concertos (P . Dirksen)

Volume 6 EB 8806 Clavierübung III · Schübler-Choräle Canonische Veränderungen über „Vom Himmel hoch“ (W . Breig)

Volume 7 EB 8807 Orgelbüchlein (S Hiemke)

Volume 8 EB 8808 Organ Chorales of the Leipzig manuscript (“Great Eighteen Chorales”) (J .-Cl . Zehnder)

Volume 9 EB 8809

Chorale Partitas · Individually transmitted Organ Chorales I (R Emans / M . Schneider)

Volume 10 EB 8810 Individually transmitted Organ Chorales II (R Emans / M . Schneider)

Johann
Sebastian Bach

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Johann Sebastian Bach

Sämtliche Orgelwerke in 10 Bänden | Complete Organ Works in 10 Volumes

- Quellentreuer Notentext auf dem aktuellen Stand der Bachforschung

- Entwickelt für die Praxis durch das Zusammenwirken von Wissenschaftlern und Interpreten

- Mit allen „Clavierwerken“ Bachs, die ein selbstständiges Pedal erfordern

- Mit allen authentischen Frühfassungen und fragmentarisch überlieferten oder zweifelhaften Werken, die mit einiger Sicherheit Bach zugeschrieben werden können

- Mit umfassenden Einleitungen, ausführlichen Quellenbeschreibungen und textkritischen Anmerkungen

- Mit ergänzendem Material, teils in synoptischer Darstellung online verfügbar

- Music text faithful to the sources and reflecting the current status of Bach research

- Developed for musical practice through the cooperation of scholars and performers

- Contains all of Bach’s “clavier” works that require an independent pedal

- Contains all authentic early versions and fragmentarily transmitted or dubious works that can be attributed to Bach with a fair amount of certainty

- Features comprehensive introductions, extensive source descriptions and text-critical notes

- Features supplementary material illustrated partly synoptical online

1 Präludien und Fugen I (D. Schulenberg) Preludes and Fugues I EB 8801

2 Präludien und Fugen II (D. Schulenberg) Preludes and Fugues II EB 8802

3 Fantasien | Fugen (P. Dirksen) Fantasias | Fugues EB 8803

4 Toccaten und Fugen | Einzelwerke (J.-C. Zehnder) Toccatas and Fugues | Individual Works EB 8804

5 Sonaten | Trios | Konzerte (P. Dirksen) Sonatas | Trios | Concertos EB 8805

6 Clavierübung III | Schübler-Choräle | Canonische Veränderungen über „Vom Himmel hoch“ (W. Breig) EB 8806

7 Orgelbüchlein (S. Hiemke) EB 8807

8 Orgelchoräle der Leipziger Handschrift („Achtzehn Choräle“) (J.-C. Zehnder) Organ Chorales of the Leipzig Manuscript (“Great Eighteen Chorales“) EB 8808

9 Choralpartiten | Einzeln überlieferte Choralbearbeitungen I (R. Emans, M. Schneider) Chorale Partitas | Individually transmitted Organ Chorales I EB 8809

10 Einzeln überlieferte Choralbearbeitungen II (R. Emans, M. Schneider) Individually transmitted Organ Chorales II EB 8810

Band Volume

www.breitkopf.com

9790004183748 9790004183748

ISMN979-0-004-18374-8 EB8803 C 23
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