EB 8705 – Couperin, Préludes non mesurés

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Edition Breitkopf

Charles & Louis

couperin Préludes non mesurés für Cembalo for Harpsichord

EB 8705



charles & louis couperin 1638–1679 1626–1661

préludes non mesurés für Cembalo for Harpsichord

Versuch einer Rekonstruktion der verlorenen Autographen An Attempted Reconstruction of the Lost Autographs von | by

Glen Wilson

Edition Breitkopf 8705 Printed in Germany


Anmerkung zur 2. Auflage Übereinstimmend mit der damals herrschenden Meinung erschien die erste Ausgabe dieses Bandes nur unter dem Namen Louis Couperin. In einem vor einigen Jahren von mir publizierten Artikel im Early Keyboard Journal (Bd. 30, 2013; online: http:// www.glenwilson.eu/Wilson_offprint.pdf und www.breitkopf.com) vertrete ich jedoch die inzwischen gewonnene Erkenntnis, dass viele der Louis Couperin zugeordneten Werke eigentlich von seinem jüngeren Bruder Charles komponiert wurden. Reaktionen darauf aus Fachkreisen waren positiv, und eine in jüngster Zeit von Musikwissenschaftlern der Cambridge University durchgeführte computergestützte Analyse stilistischer Merkmale scheint meine Vermutung zu bestätigen. Folgerichtig nennt die Neuauflage nun die Namen beider Brüder als Komponisten, ohne dass ich mich daran gewagt hätte, Mutmaßungen über die Autorschaft einzelner Préludes anzustellen. Die Entscheidung, Charles Couperin

als ersten zu nennen, kann jedoch für sich sprechen. Hinweise im Vorwort, die sich auf Louis Couperin als alleinigen Komponisten beziehen, wurden nicht verändert. Die der ersten Auflage auf einer CD beigefügten Aufnahmen stehen nun als MP3-Dateien auf www.breitkopf.com zum Download bereit. Es liegt in der Natur der Quellen, dass sich die Sichtweise des Herausgebers bezüglich einiger der vielen schwer zu interpretierenden Stellen immer wieder ändert. Umso mehr möchte ich Breitkopf & Härtel dafür danken, dass ich den Notentext an einigen wenigen Stellen ändern durfte. Gerbrunn, Winter 2017

Glen Wilson

Note to the Second Edition The first printing of this book bore the name of Louis Couperin only, in accordance with general thinking at the time. Since then I have published an article in the Early Keyboard Journal (Vol. 30, 2013, online: http://www.glenwilson.eu/Wilson_offprint.pdf and www.breitkopf.com), which casts doubt, in favor of his younger brother Charles, on the authorship of many of the works usually attributed to him. Its resonance with experts has been favorable, and a computer study conducted by a team of researchers at Cambridge University seems to offer confirmation of my findings. Therefore, without venturing any guess as to which of the Préludes is by whom, this new edition simply bears both their names. The priority given to Charles Couperin in this respect

should speak for itself. The references in the preface to Louis alone have been allowed to stand. The recordings which accompanied the first edition on a CD are now available for downloading as MP3 files at www.breitkopf.com. I wish to express my gratitude to the publishers for allowing a few changes to the text; my opinion on some of the many cruxes has changed, and will no doubt continue to do so. Such is the difficult nature of the sources, and of the challenge to any editor. Gerbrunn, Winter 2017

Glen Wilson


Inhalt / Contents Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Preface . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4 6

1 Prélude d-moll / D minor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Prélude D-dur / D major . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Prélude g-moll / G minor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Prélude g-moll / G minor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Prélude g-moll / G minor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Prélude a-moll / A minor „à l’imitation de Mr. Froberger“ . . 7 Prélude a-moll / A minor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Prélude A-dur / A major . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Prélude C-dur / C major . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Prélude C-dur / C major . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Prélude C-dur / C major . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Prélude F-dur / F major . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Prélude F-dur / F major . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Prélude e-moll / E minor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Prélude c-moll / C minor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Prélude G-dur / G major . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 13 16 19 20 22 28 28 30 34 36 37 39 42 43 44

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Bisher sind vier Ausgaben von Louis Couperins Préludes non me­ surés veröffentlicht worden. Alle (außer Brunold/Dart, denen das Parville-Manuskript unbekannt war) geben einen aus beiden Quellen zusammengesetzten Notentext wieder, bewahren dabei aber mehr oder weniger genau das Erscheinungsbild der einen oder der anderen Quelle. Diese Edition wählt einen anderen Zugang. Die Stücke, die zur großartigsten Musik zählen, die je für Tasteninstrumente geschrieben wurde, liegen uns in einer nicht feststellbaren Zahl von mehrmaligen Abschriften des verloren gegangenen Autographs vor. Die beiden Schreiber der Manuskripte, die unter den Namen Bauyn (Paris, Bibliothèque nationale de France, Rés. Vm 7 674) und Parville (Berkeley, University of California Music Library MS 778) bekannt sind, können folglich nicht allein für den äußerst chaotischen Zustand ihrer Arbeit verantwortlich gemacht werden. Indes, hin und wieder fällt es schwer, der Versuchung zu widerstehen zu sagen, dass sie nicht wussten, was sie taten. Ihre Aufgabe war so schwierig, und darum sei ihnen vergeben. Dieser kurzlebige Versuch, „musikalische Prosa“ zu notieren – wie es Couperins Neffe François nannte –, hielt so viel entscheidende Information zurück, und er wurde bei dem, was er aussagen konnte, durch Abschriften oder Auslegungen so verfälscht, dass schon fast jeder Zeitgenosse darüber verzweifelte, wie die beinahe unmittelbar einsetzenden Vorschläge zur Verfeinerung der Notation zeigen. Der Unterschied zur einzigen autographen Quelle solcher Stücke – vier Préludes von Jean-Henry d’Anglebert – könnte nicht größer sein. Dort ist alles absolut klar: die Reihenfolge, in der die Noten gespielt werden müssen, von welcher Note die sogenannten tenues ausgehen und wie lange sie dauern sollen, und nicht zuletzt die Noten selbst. In unseren Quellen für Louis Couperin beginnen die Noten der linken Hand, in ihrem System über weite Flächen leeren Papiers zu wandern – eine Art von horror vacui. Die tenues sind in einem so unordentlichen Zustand, dass man schon von Chaos sprechen kann, und viele sind bei der Überlieferung sogar verloren gegangen. Darüber hinaus wird durch die ungenaue Notation in Verbindung mit der Kühnheit und der relativen Freiheit dieser Gattung das Erkennen falscher Noten komplizierter, als dies in einer klarer strukturierten musikalischen Umgebung der Fall wäre. Angesichts solcher Schwierigkeiten und durch Ehrfurcht vor diesen Denkmälern der Musik des 17. Jahrhunderts zu Recht belastet, sind frühere Herausgeber meiner Meinung nach davor zurückgeschreckt, eine wirklich textkritische Edition vorzulegen. Sie haben heldenhaft versucht, aus diesen Manuskripten, die unseren einzigen Zugang zu dieser Musik darstellen, jede Information zusammenzutragen und zu erhalten. Dabei haben sie jedoch vieles, was offensichtlich verfälscht wurde, übersehen. In Quellen aus dieser Zeit stecken oft erstaunliche Überraschungen – auch das recht maßgebliche Bauyn-Manuskript vermittelt gelegentlich in einfachen Tanzsätzen leichtfertig musikalischen Unsinn. Wieviel wahrscheinlicher ist es, dass dies in einem prélude non mesuré passiert? Wir müssen zunächst akzeptieren, dass es unter solch widrigen Umständen nie irgendeinen zuverlässigen „Urtext“ dieser Präludien geben wird. Dennoch glaube ich, dass es einen besseren Weg geben könnte als bisher, wenn wir alle zur Verfügung stehenden analytischen Mittel zu Hilfe nehmen und hartnäckig versuchen, das Durcheinander zu enträtseln. Diese Mittel betreffen das stilistische Umfeld und die Stücke selbst. Wenn wir die verwandte Literatur untersuchen, können wir die Stilgrenzen genauer umreißen und den Wagemut vom Unsinn trennen. Die Stilkritik bewegt sich auf einem ungesicherten Terrain, aber diese Gratwanderung muss unternommen werden. Die

Stücke existieren nicht im luftleeren Raum, sie sind Teil einer verbreiteten musikalischen Sprache und gar nicht so exotisch, wie einige Passagen in früheren Editionen nahelegen. Andere französische Präludien für Cembalo oder Laute, bestimmte pièces de clavecin, die die Praxis von suspension und Antizipation detailliert zeigen, unmensurierte Präludien aus anderen Ländern von so unterschiedlichen Komponisten wie Purcell und Soler sowie zahlreiche Beispiele des stylus phantasticus mit Titeln wie Toccata, Fantasia, Ricercata usw. sind klar erkennbare Orientierungspunkte. Zur Analyse der Stücke selbst: Je tiefer man in die Präludien eindringt, desto klarer wird, dass sie alles andere als impressionistisch sind – keine „ausgeschriebenen Improvisationen“, wie oft argumentiert wird. Sie wurden offensichtlich nicht ohne reifliche Überlegung niedergeschrieben – sind sie doch auch durchaus qualitätvoll –, ja sie sind vielmehr sorgfältig gearbeitete Werke in einem internationalen, quasi-improvisatorischen Stil, der in typisch barocker Manier die Illusion von Spontaneität erzeugt, um kraftvolle Spannungen zu schaffen. Die Arbeitsspuren des Komponisten liefern verschiedene Kriterien für editorische Entscheidungen: Die Präludien sind voller motivischer Entwicklungen und Sequenzierungen, ihr harmonischer Verlauf ist logisch und klar – sogar die Überraschungen und die plötzlichen Stimmungswechsel sind gut platzierte Fallen, die die ehernen Gesetze der Harmonik bis zum Äußersten strapazieren, wobei bei diesen Sprüngen zugegebenermaßen die Regeln fast übertreten werden. Am wichtigsten indes ist, dass sich das Akkordgerüst wie eine ideale Continuo-Aussetzung bewegt. Die Stimmenzahl variiert von 2 bis 6 oder mehr, wobei die Regeln der Stimmführung streng beachtet wurden. Genau dies wurde wohl von einem Komponisten von Rang erwartet, der Feder und Papier ergriff und wusste, dass seine Arbeit abgeschrieben und kritisch geprüft werden würde. Die außerordentliche Sorgfalt, die Couperin beim Vorbereiten und Auflösen der Dissonanzen und beim Vermeiden von verbotenen Parallelen zeigt, steht im Einklang mit der zeitgenössischen Literatur und ist oft von äußerster Wichtigkeit für die Rekonstruktion seiner Absichten. Bei dieser Notationsform wird im Notenbild die Reihenfolge ersichtlich, in der die Noten gespielt werden sollen („eine nach der anderen“, wie Couperins Zeitgenosse Nicolas Lebègue es in einem Brief an einen verwirrten Amateur auf den Punkt bringt). Es sind Linien hinzugefügt, für die der Begriff tenue allgemein in Gebrauch gekommen ist, um zu zeigen, welche Noten über die nachfolgenden hinaus gehalten werden sollen. Das ist alles. Welche Noten genau gehalten werden müssen und wie lange, ist ziemlich unklar und hängt von der Qualität der Quelle ab. Hier liegt eine der schwierigsten Aufgaben für den Herausgeber. Ich habe versucht, so präzise wie möglich zu zeigen, was Couperin meiner Ansicht nach hier beabsichtigte, möchte dabei aber nicht eine definitive Lösung für mich beanspruchen. Meine Hoffnung ist, frühere Versuche verbessert zu haben. Ich habe mir Mühe gegeben, jede Akkolade mit einer neuen Bassnote beginnen zu lassen, aber die Entscheidung bezüglich dessen, was – wenn überhaupt – von der vorhergehenden Harmonie gehalten werden soll, muss oft vom Spieler getroffen werden. Tenues, die wohl verloren gegangen sind, wurden gestrichelt ergänzt. Die genaue Position von Oktavverdopplungen im Bass ist ebenfalls nicht mit Gewissheit zu bestimmen. Manchmal ist es schwierig genug zu entscheiden, wo im Bereich eines Arpeggios der rechten Hand die neue Bassnote eingeführt werden soll. Ich kann nur betonen, dass ich die Quellen sorgfältig studiert und versucht habe, ausfindig zu machen, wohin diese Verdopplungen und Wiederholungen gehören, die der Kunst des Erzlautenspiels entnom-


men sind. Zweifel und eigenes Quellenstudium sind wärmstens empfohlen. Dem Versuch, dem Studierenden einen Notentext anzubieten, der sich den verlorenen Autographen stärker annähert, möchte ich nur kurz etwas über Interpretation und Ausführung hinzufügen. Beziehungen zwischen diesen Präludien und „normaler“, metrisierter Musik ebenso wie zu dazwischenliegenden Formen, wie sie Frobergers Anweisung con discrezione verkörpert, sind ausführlich belegt. Alle solche Werke basieren auf einem klaren harmonischen Rhythmus, der sich an den Zählzeiten des Taktes orientiert. Gewöhnlich stehen starke Harmonien oder Dissonanzen auf „guten“ Zeiten, schwächere Harmonien und Auflösungen auf „schlechten“. Die Abstände dieser Harmonien sind durch das Metrum in einfache Verhältnisse von 1:1 oder 1:2 geteilt. Die harmonischen Fortschreitungen in Couperins préludes folgen demselben Schema, und dies kann kein Zufall sein. In der Tat glaube ich, dass die stärkste Waffe Couperins (und seiner Interpreten) darin liegt, einen klar verständlichen, gleichmäßigen Pulsschlag zu erzeugen, der dann verändert werden kann, um eine gute Wirkung zu erzielen. Préludes demi­mesurés? So etwas Ähnliches – vielleicht beabsichtigte Couperin sogar eine genau festgelegte Gestalt für jede einzelne Geste, wie es auch von Froberger berichtet wird. In seiner lockeren gallischen Art entschied sich Couperin ganz einfach dafür, weder diese elastische Musik in eine unpassende metrische Zwangsjacke zu stecken, wie es sein deutscher Freund tat, noch denjenigen Details aufzudrängen (oder zu verraten), die seine Einfälle übernehmen wollten. Für mich scheint sich jedenfalls non mesuré nur auf die nicht-metrische Notation zu beziehen. Dieser Begriff fordert keinesfalls das Fehlen dessen, was François Couperin als cadence bezeichnete. Zweifellos aufgrund bitterer Erfahrung mit dem musikalischen Durcheinander, das gewöhnlich aus freien Präludien gemacht wurde, entschied er sich, seine eigenen Präludien, die er in L’Art de Toucher le Clavecin veröffentlichte, metrisch zu notieren. Er verlangte nur, dass „diejenigen, die auf die metrisierten Präludien zurückgreifen, sie locker spielen sollten, ohne das Tempo allzu genau einzuhalten“ (que ceux qui auront recours à ces Préludes­réglés, les jouent d’une manière aisée, sans trop s’attacher à la précision des mou­ vements). Onkel und Neffe bieten uns zwei Seiten derselben Medaille an, wenn sie dasselbe Problem gegensätzlich lösen. Dies ist ein gewichtiger Beweis dafür, dass in allen „freien“ Präludien eine Art verborgener Pulsschlag steckt. Der Notentext informiert nicht darüber, welche Zeit zwischen den aufeinander folgenden Noten verstreichen soll. Ein imaginärer „Taktstrich“ bewegt sich entlang beider Systeme, legt die Reihenfolge fest, bewegt sich aber unglücklicherweise mit trügerischer Gleichmäßigkeit. Es kann nicht oft genug betont werden: ein geringer Abstand schließt dennoch ein erhebliches Warten vor der folgenden Note nicht aus. Ich habe diesen Aspekt von Couperins Notation konsequent bewahrt und vermieden, durch unterschiedliche Abstände meine eigene Auffassung einzuweben – hier beginnt die Freiheit des Interpreten. Wie soll man dann die relative Länge dieser non mesuré-Noten festlegen? Ein großer Teil von ihnen ist zweifellos zu ausgeschriebenen Arpeggios zusammengefasst, der zeitliche Abstand innerhalb dieser Gruppen ist durch den erwähnten harmonischen Rhythmus mehr oder weniger vorgegeben. Wer erst einmal herausgefunden hat, was der Rhythmus ist und auf welche Note der Gruppe der Schlag fallen soll, der hat diesen Teil des Problems im Wesentlichen gelöst. Der Rest der Noten kann in Untergruppen eingeordnet werden: Durchgangsnoten in der Continuo-Aussetzung, relativ einfach gesetzt auf klare Zeitintervalle; übliche Verzierungen wie Triller, Doppelschläge, Schleifer und Vorschläge unterschiedlicher Art; einfache roulades und tirades, lauten-ähnliche Tonwiederholungen und Tremoli.

Es bleibt jedoch eine Gruppe von verbindenden Figuren, die Bruchstücke einer wirklichen Melodie enthalten, Rezitative und affetti, die auf die italienische Tradition verweisen. Hier muss die trügerische und schwer fassbare Tugend, der bon goût, entscheiden. Dabei möchte ich aber hervorheben, dass solches Material in metrisierter Musik klar oder gar scharf akzentuiert rhythmisiert werden kann. Eine schlaffe, sicherheitshalber vereinheitlichende Wiedergabe unter dem Einfluss der harmlos aussehenden Folge von „ganzen Noten“ riskiert die Langeweile der Zuhörer und hintergeht den Komponisten. Der Ausführende ist gut beraten, wenn er sich vorstellt, worauf Couperin hinauswollte. Er wird sich seine eigenen Schlussfolgerungen merken oder im Notentext markieren – am besten mit Bleistift, da er seine Ansicht oft ändern wird – und nicht die Passagen gleichgültig herunterspulen. Diese formlose Masse genauer ins Blickfeld zu nehmen, erfordert Gestaltungswillen, ganz im Gegensatz zu der Leistung, ein Rezitativ, in dem die notierten Achtel und Sechzehntel auch einfach abgesungen werden könnten, mit rhetorischem Leben zu erfüllen – oder doch auch vergleichbar damit. Es liegt nahe, dass keine Version je endgültig sein kann, aber das Streben nach der einen, die alle stilistischen Kriterien am besten erfüllt, kann zu einer lebenslangen Leidenschaft werden. Das aus meiner eigenen Beschäftigung mit Couperins Präludien bis heute hervorgegangene Ergebnis ist auf der beiliegenden CD wiedergegeben. Wer die Präludien möglichst unbeeinflusst von Faktoren jenseits des 17. Jahrhunderts enträtseln will, sollte die CD besser nicht anhören. Sie wird für die Lernenden, die ohne Taktstriche und Balken die Orientierung völlig verloren haben, oder für weiter Fortgeschrittene, die nach einer anderen Meinung suchen, um sie mit der eigenen vergleichen zu können, als eine von zahllosen Möglichkeiten angeboten. Für den vorliegenden Notentext hatte das Bauyn-Manuskript in Zweifelsfällen größeres Gewicht, andererseits sind wir wirklich glücklich, das liebenswert unbeholfene Parville-Manuskript zur Seite zu haben. Alles wirklich Zweifelhafte oder Wissenswerte und alle vorgenommenen Veränderungen an Stellen, wo meiner Meinung nach beide Quellen fehlerhaft sind, wurden vermerkt. Wer den Wunsch nach einer umfangreichen Liste von Varianten verspürt, muss sie selbst verfassen, weil keine im Druck erschienen ist. Diese Aufgabe dürfte jedoch ziemlich sinnlos sein, da so vieles Vermutung bleibt. Die Verzierungen, die durch Standardzeichen angegeben werden, sind aus den Quellen zusammengestellt. Es gibt hier wenig Einheitlichkeit und es scheint auch nichts sehr verbindlich zu sein. Hier ist nicht der Platz für eine ausführliche Abhandlung über Verzierungszeichen. Der Spieler sei aber ermutigt, sich nach eingehender Überlegung frei zu fühlen, nach seinem Geschmack Verzierungen hinzuzufügen, wegzulassen oder zu verändern. Sogar François Couperin, der kleinlichste und doktrinärste der Verzierer, beschließt seine ausführlichen Bemerkungen zu diesem Thema mit dem Satz: „Die anderen Triller können nach Gutdünken behandelt werden.“ (A l’égard des autres tremblements, ils sont arbitraires.) In Abschnitten ohne Taktstriche gelten Vorzeichen nur für eine Note, außer wenn diese sofort wiederholt wird, ohne dass eine andere dazwischen liegt. In metrisierten Passagen gelten moderne Regeln. Im Vertrauen auf die Aufmerksamkeit des Spielers habe ich versucht, Warnvorzeichen auf ein Minimum zu beschränken. Die wenigen, die in den Quellen auftreten, wurden belassen. Vorzeichen, die meiner Meinung nach fehlen, sind in eckigen Klammern in den Notentext eingefügt. Der Dank des Herausgebers gilt der Bibliothèque nationale de France, Paris, und der University of California, Berkeley, für die Erlaubnis zur Veröffentlichung. Würzburg, Herbst 2002

Glen Wilson


Preface At last count, four editions of Louis Couperin’s Préludes non me­ surés have appeared in print. All of them (except Brunold/Dart, to whom the Parville manuscript was unknown) are composite texts from the two sources, and they all preserve, to a greater or lesser degree of exactitude, the look of one or the other. This edition takes a different approach. These pieces, some of the finest music ever written for the keyboard, come down to us at an unknown number of removes from the lost autograph. Thus, the two scribes of the manuscripts known as Bauyn (Paris, Bibliothèque nationale de France, Rés. Vm 7 674) and Parville (Berkeley, University of California Music Library MS 778) cannot be held alone responsible for the extremely chaotic state of their work, although it is sometimes hard to resist the temptation to say that they didn’t know what they were doing. They must be forgiven, because their task was so difficult; this short-lived attempt at notating “musical prose”, as Couperin’s nephew François called it, while withholding so much vital information, and with that which was given being so subject to corruption while being copied and interpreted, must have stumped just about everyone at the time, as witness the almost immediate subsequent attempts to refine the notation of preludes. The contrast with the only autograph source of such pieces – four préludes by Jean-Henry d’Anglebert – could not be more striking. There, all is crystal clear: the order in which the notes are to be played, which notes the so-called tenues originate from and whither these go, and, not least, the very notes themselves. In our sources for Louis Couperin, left-hand notes have begun to wander over the larger expanses of empty paper on that staff, in a sort of horror vacui; the tenues are in a state of disarray sometimes little short of bedlam, and many have been lost along the way; and the vague notation, along with the boldness and relative freedom of this literature, make it far harder to spot wrong notes than in a more structured musical environment. I think that, in the face of such difficulties, and burdened as well by justified reverence for these monuments of seventeenth-century music, previous editors have balked at the problem of presenting a truly critical edition. These manuscripts being our only path to this music, they have tried heroically to preserve every scrap of information in them, but have turned a blind eye to much that is patently corrupt. Sources in this period can be quite astoundingly so – even the relatively authoritative Bauyn manuscript at times blithely transmits musical gibberish in simple dance movements. How much more likely is this to happen in an unmeasured prelude? We must accept at the outset that, under such adverse circumstances, there will never be an “Urtext” of these preludes of any reliability. And yet, I think we might do better than has been done up to now, by seizing all the analytical tools available and trying persistently to unravel the mess. These tools can be external or internal. By studying the surrounding literature, the boundaries of the genre can be more closely delineated, and the daring separated from the absurd. The slopes of stylistic criticism are slippery, but the attempt to scale them must be made. These pieces do not exist in a vacuum; they are part of a common language, and are not quite as exotic as some passages in printed editions would imply. Other French preludes for harpsichord and for the lute, certain pièces de clavecin which show in detail the practice of delaying certain notes (suspension) and anticipating others, unmeasured preludes from other countries by composers as diverse as Purcell and Soler, as well as numerous examples of the stylus phantasticus under such names as toccata, fantasia, ricercata, etc., provide the most obvious starting points.

As to internal analysis: the deeper one penetrates into the preludes, the clearer it becomes that they are anything but impressionistic, “written-out improvisations”, as is often argued. They have obviously not just been dashed off without a second thought – they are a little too good for that – but are, rather, carefully crafted works in an international quasi-improvisatory style which makes a typically baroque use of the illusion of spontaneity to create powerful tensions. Various indicea of the composer’s labors can be used in making editorial decisions: the preludes are full of motivic development and sequences; their harmonic progressions are logical and clear (even the surprises and abrupt changes of mood are well-laid traps exploiting the iron laws of harmony although admittedly the spring could at times hardly be wound tighter); but most importantly, the chordal skeleton moves along like an ideal continuo-realization, varying from two to six voices or more, with absolute respect for the rules of voice-leading. This is as might be expected from a master of music, putting pen to paper and knowing his work would be copied and critically scrutinized. The extraordinary care Couperin takes in preparing and resolving dissonances and avoiding forbidden parallels is in concord with the rest of the literature, and is often of the utmost importance in reconstructing his intentions. In this style of notation, the score gives the order in which the notes are to be played (“one after another” as Couperin’s contemporary Nicolas Lebègue breviloquently puts it in a letter to a puzzled amateur), and adds lines, for which the term tenue has entered common usage, to show which notes are held beyond those subsequent. That is all. Exactly which notes are to be held, and for how long, is now a matter of some obscurity, given the quality of the sources. Here lies one of the editor’s most difficult tasks. I have tried to show as exactly as possible what I think Couperin intended in this matter, without making the least claim to definitiveness, and hoping only to have improved on previous attempts. I have been at pains to begin each line with a new bassnote, but the decision as to what, if anything, to hold over from the previous harmony must often be made by the player. Tenues which I believe to have been lost are dotted. The exact location of octave doublings in the bass is another thing which is impossible to determine with certainty. Sometimes it is difficult enough to decide where, in the region of a right-hand arpeggio, the new bass note is to be inserted. I can only say that I have looked carefully at the sources, and tried to locate as best I could just where these doublings and repetitions, taken from the art of the archlute, belong. Doubt and recourse to the sources are encouraged. To this attempt at offering the student a text more closely resembling the lost autographs, I will add only a brief word about interpretation and performance. Connections between the preludes and “normal”, metered music, as well as to intermediate forms, typified by Froberger’s instruction con discrezione, are well-documented. All such works are built on a clear harmonic rhythm, connected to the beats of the bar, generally with strong harmonies or dissonances on the “good” beats, weaker harmonies and resolutions on the “bad”. The distances between these harmonies are regulated by the meter to simple ratios of 1:1 or 1:2. The harmonic progressions in Couperin’s preludes will be found to answer to the same scheme, and this can hardly be coincidence. Indeed, I believe Couperin’s (and thus the performer’s) strongest weapon to be the setting up of a reasonably clear, regular pulse, which can then be manipulated to good effect. Préludes demi­mesurés? Something like that. In fact, I think Couperin had in mind one fairly fixed shape for every single gesture, as Froberger is reported to have had, and simply chose, in his relaxed gallic way, neither


to force this elastic music into an ill-fitting metrical straitjacket, as his German friend did, nor to impose such details upon (or reveal them to) those wishing to borrow his thoughts. In any case, non­mesuré seems to me to refer only to the non-metrical notation. Nothing in the term itself demands the absence of what François Couperin calls cadence. He, no doubt from bitter experience of the hash usually made of free preludes, decided to notate his own, published in L’Art de Toucher le Clavecin, metrically, and only demanded que ceux qui auront recours à ces Préludes­réglés, les jouent d’une manière aisée, sans trop s’attacher à la précision des mou­ vements (“... that those that have recourse to these measured preludes should play them in a relaxed way, without too much regard to precise tempo.”). Uncle and nephew are presenting us with two sides of the same coin, opposite solutions to the same problem. This is strong evidence that a kind of subterranean tempo prevails in all “free” preludes. The score furnishes no information on the amount of time which is to elapse between the successive notes. An imaginary “bar-line” moves along both staves, giving their order, but it unfortunately moves with deceptive uniformity. It cannot be overemphasized that proximity in the score does not rule out a considerable wait before the next note. I have kept strictly to this aspect of Couperin’s notation and avoided telegraphing my own opinions by varying the spacing, for this is where the performer’s freedom begins. How, then, to organize the relative lengths of these non­me­ suré notes? A large proportion of them are clearly grouped into elaborate arpeggios; the distance in time between these clusters is dictated more or less by the harmonic rhythm discussed above. Once the student has determined what he thinks that rhythm is, and upon which note in the cluster the beat should fall, this part of the problem is largely solved. The rest of the notes fall into a number of subgroups: passing notes in the “continuo realization”, relatively easily placed at measurable intervals; common ornaments such as trills, turns, slides, and appoggiaturas of various kinds; simple runs and tiratas, lute-like restrikes and tremolos. But there remains a group of connecting figures containing snippets of real melody, recitative, and Italianate affetti. Here, that treacherous and elusive virtue, le bon goût, must decide, but I would like to point out that clear, even sharp rhythms are not foreign to such material in metered music, and that a flaccid, safely homogenized rendering of them, under influence of the innocuous-looking series of “whole-notes”, risks boring one’s listeners and betraying the composer. The performer will do well to decide what he thinks Couperin is driving at, and memorize his decryption, or mark it in his score – in pencil, for he will change

his mind often – rather than rattling off passages in a vague way. Bringing this formless mass into sharper focus requires an effort of the will, opposite from but similar to that involved in breathing rhetorical life into recitative, rather than meekly singing the written eighths and sixteenths. Obviously, no version can ever be definitive, but the pursuit of the one that best answers to all the stylistic criteria that can be brought to bear can become an addiction for life. The results to date of my own addiction to Couperin’s preludes is presented on the accompanying CD. It is best left unplayed by those wishing to puzzle them out, as free as possible from influences from beyond the seventeenth century. But to students finding themselves completely at sea without barlines and beams, or for the more advanced who may be looking for an opinion to which they can compare their own, it is offered as one of an infinite number of possibilities. In determining the text, Bauyn has been given greater weight in cases of doubt, but we are fortunate indeed in having the endearingly clumsy Parville manuscript to back it up. Anything really doubtful or interesting, and all changes made where I think both sources are wrong, have been noted. Those desiring an exhaustive list of variants will have to make it themselves, for none has appeared in print, and the task seems to me rather pointless in this case, where so much remains speculative. The ornaments indicated by standard symbols have been collated from the sources. There is little consistency here, nor is there an impression of great authority. This is not the place for a disquisition on ornamentation signs, but I would encourage the performer to feel free, after due consideration, to add to, subtract from, or change them to suit his taste. Even François Couperin, the fussiest and most doctrinaire of ornamenters, closes his detailed remarks on the subject, “A l’égard des autres tremblements, ils sont arbitraires.” (“As far as other trills are concerned, they are arbitrary.”) In the unmeasured sections, accidentals apply to one note only, unless that note is immediately repeated, with no other intervening; in the metered sections, modern rules apply. I have tried to keep “cautionary” accidentals to a minimum, trusting in the student’s vigilance; the few such appearing in the sources have been allowed to stand. Accidentals that I think are missing in the score are in brackets. Thanks are offered to the Bibliothèque nationale de France, Paris, and the University of California, Berkeley, for permission to publish. Würzburg, Fall 2002

Glen Wilson


Préludes non mesurés Louis Couperin

herausgegeben von Glen Wilson

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Edition Breitkopf 8705

© 2003 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden


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