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Politk

Raketen, ein General und das Tom-Tom Vor genau 40 Jahren begann eine der letzten großen Affären in Deutschland, in deren Mittelpunkt die vermeintliche Homosexualität eines Menschen stand. Im März 1984 nahm die Kießling-Affäre ihren Anfang. Die bis heute nicht aufgeklärte Affäre und sein Sturz aufgrund falscher Anschuldigungen war ein großer Skandal in der alten Bundesrepublik. Anlass für den Geheimdienst, mit Ermittlungen zu beginnen. Kießling hatte in Köln gelebt und so gingen sowohl Beamte des Geheimdienstes als auch die Kölner Kriminalpolizei auf Spurensuche. Sie gehen in Lokale der homosexuellen Szene und in zwei Kneipen meinen Gäste, den Mann auf dem vorgezeigten Bild zu erkennen. Das eine Lokal ist das Tom-Tom in der Hühnergasse – besser bekannt als Le Caroussel, einer der ältesten Homotreffs der Domstadt nach dem Krieg – und das andere das Café Wüsten in der Hohen Pforte. Man meint sich an einen Mann mit dem Namen Jürgen oder Günter oder „irgendetwas mit ü“ zu erinnern, der früher öfter da gewesen sei. Mit dem recht dürftigen Dossier wird Kießling im Verteidigungsministerium in Bonn konfrontiert. Er versichert sowohl dem Generalinspekteur der Bundeswehr Wolfgang Altenburg, als auch dem CDUVerteidigungsminister Wörner, dass die Vorwürfe jeder realen Grundlage entbehrten. Trotzdem drängen beide den General, sich bis zur Klärung krank zu melden und auf seine Entlassung im Frühjahr 1984. Doch die Nato-Spitze gibt sich damit nicht zufrieden, drängt Wörner, den General vorzeitig zu entlassen.

Die Bundesrepublik 1984: Ein Land mitten im kalten Krieg, ja auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen den USA und Nato auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite. Die ungebremste Aufrüstung auf beiden Seiten, der Amtsantritt des US-Präsidenten Ronald Reagan, der sich die Zerstörung des roten „Reiches des Bösen“ auf die Fahnen geschrieben hat, treibt – nur einige Jahre nach der durch Willi Brandt eingeleiteten Entspannungspolitik - die Republik in eine schwere Auseinandersetzung. Millionen Menschen demonstrieren gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstrecken-Atomraketen im Rahmen eines Beschlusses der Nato, die den entsprechenden Raketen im Osten Europas gegenüberstehen und die Zeit bis zum nuklearen Holocaust auf 8 Minuten verringern – die Zeit vom Start der Systeme bis zur Detonation der Atomwaffen über ihrem jeweiligen Ziel. Eine der Folgen ist das Ende der sozial-liberalen Koalition aus SPD und FDP,

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die nun seit 1982 in einer Schwarz-Gelben Koalition mit Helmut Kohl regiert, da die SPD-Mitglieder nicht bereit sind, den Kurs ihres Bundeskanzlers Schmidt – ein Befürworter der Aufrüstung – mitzutragen. Diese Auseinandersetzung ist einer der Ursprünge der Grünen, mit ihren Gründungspersonen General Gert Bastian und Petra Kelly. In diese Situation hinein platzt Mitte 1983 eine vermeintliche Lappalie. Der stellvertretende Vorsitzende des Hauptpersonalrats im Verteidigungsministerium tauscht mit einem Regierungsdirektor des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) Klatsch aus: Nach Gerüchten aus dem Nato-Hauptquartier in Brüssel soll der ranghohe General der Bundeswehr und stellvertretende Nato-Oberbefehlshaber Kießling homosexuell sein. Deshalb weigere sich der Nato-Oberbefehlshaber US-General Rogers, mit ihm zusammen zu arbeiten.

In einem weiteren Dossier werden angebliche Belege präsentiert, die beweisen sollen, dass Kießling homosexuell ist. Darunter ein angeblicher Brief des Marinearztes Richarz, in dem dieser davon berichtete, dass Kießling vor einer Behandlung bei ihm nur mit einem Bademantel bekleidet eingetreten sei und sich an den Genitalien berührt habe. Später bestreitet der Marinearzt allerdings, jemals einen solchen Brief verfasst zu haben. Darauf hin stuft Wörner Kießling als „Sicherheitsrisiko“ ein und versetzt ihn vorzeitig in den Ruhestand. Kießling wehrt sich, indem er nun selbst ein Disziplinar-


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