Zukunftsfähige Lebensräume
Grundlagen für urbane Transformation
Robert BraissantVorwort
Seit 1950 wurde mehr Bauvolumen erstellt als in der gesamten Kulturgeschichte der Menschheit zuvor. Die vorausschauende und sorgende Transformation dieses immensen Gebäudebestandes zu inklusiven und nachhaltigen Siedlungsbausteinen ist eine der großen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Transformation findet stets innerhalb gebauter und gelebter Siedlungsstrukturen statt. Das Vorhandene ist das Fundament dessen, was werden kann. Der Umgang mit dem Bestehenden stellt das Formen urbaner Räume vor ungewohnte Herausforderungen: physische in der Beziehung zwischen Alt und Neu, kulturelle durch das Weiterschreiben oder Neudeuten und soziale durch die Anteilnahme der Menschen am Prozess.
Tabula rasa ist heute keine Option mehr. Ohne diese Strategie mit der Möglichkeit einer reinen Schreibtischplanung müssen die Akteur:innen damit leben, dass sie das Resultat erst im Verlauf des Prozesses kennenlernen. Dazu braucht es eine Schärfung der verschiedenen Rollen und eine neue Prozessstruktur, welche Kooperation, Vertrauen und Zuversicht befördert.
Die vorliegende Planungs- und Entwurfsmethodik setzt sich mit der Transformation von siedlungsräumlichen Situationen auseinander. Im Fokus des integralen Planens und Entwerfens liegt die Verflechtung zwischen dem gebauten Raum und den zukunftstragenden Faktoren eines gesellschaftlichen Tragwerks, den «urbanen Qualitäten». Im Rahmen des vorliegenden theoretischen Ansatzes werden die Begriffe und ihre Definitionen, wie sie die Forschungsgruppe des Nationalen Forschungsprogramms NFP 65 unter dem Titel «Urbane Qualitäten» publizierte,1 zur Beschreibung der sozialräumlichen Eigenschaften weitgehend übernommen.
Integrales Planen und Entwerfen erfordert inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit und den Blick über die Parzellengrenze. Die einzelnen Disziplinen unterscheiden sich bereits in der Kultur der Ausbildung, lernen eine eigene Fachsprache und prägen dadurch Haltungen, die sich in der Praxis etablieren. Die Sichtweisen können sehr unterschiedlich sein und Widersprüche erzeugen. In der Praxis gilt es, solche Widersprüche aufnehmen zu können, sie zu gewichten und Lösungen im Dialog herbeizuführen.
Anhand eines vierstufigen Prozesses wird eine nachvollziehbare Methodik für das integrale Planen und Entwerfen von Siedlungsentwicklungen nach innen vorgestellt. Die vier Prozessstufen zeigen auf, wie die Zusammenarbeit und die Ideenfindung stattfinden kann, um den unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden. In einem iterativen Prozess werden Varianten getestet, Zielsetzungen geschärft, Möglichkeiten zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit aufgezeigt und zielführende Maßnahmen abgeleitet. Zwischenresultate ermöglichen einen Gewinn an Sicherheit. Die klare Struktur erlaubt, mittels begrenzter iterativer Schlaufen einen Teilaspekt zu schärfen, ohne den gesamten Prozess zu destabilisieren.
Zwischendurch werden einzelne Akteur:innen unsicher sein und Fragen haben. Anhand jedes Zwischenresultats stellt sich die nächste Frage. Auf diese Weise baut sich ein Wissensgerüst auf. Dabei erleichtert die Strukturierung des Prozesses das Problem, welche Entscheidungen man fällen soll und welche man besser in eine spätere Phase verschiebt oder sogar einer nächsten Generation überlässt. Durch die systematische und nachvollziehbare Abfolge der vier Prozessstufen wird die Komplexität des Entwurfs transparent.
Die Methodik bietet in unterschiedlichen Arbeitssituationen eine sichere Navigationshilfe, im beruflichen Alltag wie auch im studentischen Atelier. Die Entwurfsarbeit ist diskursiv. Das Pendeln zwischen Analyse und Synthese, zwischen divergierendem und konvergierendem Denken, zwischen objektiven und subjektiven Kriterien bildet dabei Methode und Grundlage des Denkens und Machens. Ausgehend von dieser Fragestellung und der Suche nach dem Selbstverständnis einer Architektur der Transformation verknüpft die vorliegende Methodik die drei Betrachtungsebenen «Ort», «Gebäude» und «Gesellschaft» mit den Handlungsfeldern Weiterbauen, Umbauen, Transformieren, Initiieren, Aktivieren und Vernetzen.
1.1 Strukturelle Informationen verfügbar machen
Um einen Ort zu beschreiben, ist es hilfreich, Strukturen und datenbasierte Informationen systematisch zu analysieren, darzustellen und zu überlagern. In der Architektur meint der Begriff Struktur die Anordnung, die innere Ordnung und das Zusammenwirken der Teile. Gebäude- und Siedlungsstrukturen bilden ein Abbild des kulturellen, sozialen und klimatischen Umfeldes. Durch das schichtweise Freilegen dieser Strukturen lassen sich ehemalige und heutige Entwicklungen ablesen und Zusammenhänge verorten. Erst das Aneignen von Wissen führt zu Handlungsfähigkeit und Objektivität im weiteren Planungsund Entwurfsprozess. Die strukturelle Analyse schafft die materiellen Grundlagen für den Entwurf.
Betrachtungsebene «Ort»
Auf der Betrachtungsebene «Ort» werden die Siedlungsstrukturen, bestehend aus Bebauung, Freiräumen und Netzen, untersucht. Mittels thematischer Skizzen können die strukturellen Eigenschaften und Besonderheiten der Siedlungsstruktur dokumentiert und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Siedlungsstruktur nimmt je nach Nutzungsart, Nutzungsdichte, Topografie, Immissionen und Besonnung unterschiedlichste typologische und formale Ausprägungen an.
Die Bebauung gliedern wir auf dieser Betrachtungsebene in offene, geschlossene und hybride Bebauung. Quantifizierbare Merkmale der Bebauung sind die Bebauungsdichte und die Parzellierung. Die Parzellierung ist ein oft unterschätzter, aber entscheidender Faktor für die Körnung der Siedlungsstruktur und damit für das Ortsbild. Darüber hinaus geben Archive Auskunft über wichtige Phasen der Siedlungsentwicklung.
Die Freiräume unterscheiden wir nach Typologie (Straße, Gasse, Weg, Promenade, Platz, Park, Privatgarten, Hof, Landschaftsraum), nach Öffentlichkeitsgraden (öffentlich, gemeinschaftlich, halbprivat, privat) und nach Funktion (Friedhof, Badeanlage, Sportanlage, Quartiergarten etc.). In heterogenen Siedlungsgebieten können die Typologien auch unklar, undefiniert oder verwischt sein. Quantifizierbare Merkmale der Freiräume sind die Geometrien, die Orientierung, die Immissionen, die Besonnung, die Materialisierung, der Grad und die Art ihrer Durchgrünung sowie ihr Beitrag zur Kühlung des Umfeldes.
Die Netze bilden die Interaktion innerhalb der Siedlungsstruktur ab. Die meisten Netze lassen sich den Mobilitäts- und Infrastruktursystemen zuordnen. Ebenso wichtig und oft vernachlässigt sind jedoch die Netzwerke der Freiraumstrukturen. Die
Vernetzung der Freiräume untereinander sowie die Vernetzung zwischen der Bebauung und den Freiräumen ist für die Lebenswelten von Mensch, Tier und Pflanze von zentraler Bedeutung.
In der Siedlungsstruktur aus Bauten und Freiräumen und ihrer Vernetzung liegt die kulturelle Identität eines Ortes. Siedlungsstrukturen sind äußerst träge. Sie haben ein großes Beharrungsvermögen. Der Verlauf von ehemaligen Feldwegen ist noch Jahrhunderte später im Straßenverlauf unserer Städte sichtbar. Der diagonal verlaufende Broadway in New York beispielsweise war ein indianischer Trampelpfad. Er ist in der Siedlungsstruktur als diagonale Ausnahme im orthogonalen Raster auch heute noch sichtbar.
Siedlungsstrukturen werden geformt durch die Suche nach dem kürzesten räumlichen oder zeitlichen Weg, durch das Bedürfnis nach Orientierung und Ordnung sowie durch das Bedürfnis nach Abwechslung und gesellschaftlicher Differenzierung.
Siedlungsstrukturen sind langlebig. Durch ihre Unverwechselbarkeit generieren sie Identität. Trotz unterschiedlicher Siedlungsstrukturen haben die traditionellen europäischen Städte etwas gemeinsam: Die öffentlichen Freiräume sind stets mehrdeutig nutzbar und multifunktional. Sie bilden den wichtigsten Rahmen für soziale Interaktionen.
Bebauung und Freiräume
1.2 Urbane Qualitäten der Sozialräume erfassen
Für das Entstehen von Urbanität sind geeignete Freiraumkörper als Orte der sozialen Interaktion unverzichtbar. Es sind die Plätze, Gassen und Parks, in denen die verschiedenen Individuen und Gruppierungen einer Gesellschaft sichtbar werden. Die Sozialräume unserer Siedlungen und Städte sind die wichtigsten Orte des Interessenausgleichs. Zur Beschreibung und Beurteilung der Qualitäten von Sozialräumen dienen sechs Begriffe, welche die Forschungsgruppe NFP 65 im Rahmen eines Nationalen Forschungsprogramms unter dem Titel «Urbane Qualitäten» publizierte: Zentralität, Diversität, Interaktion, Zugänglichkeit, Adaptierbarkeit und Aneignung.17
Als Sozialräume bezeichnen wir Orte, an denen Menschen interagieren. Es sind Orte, die für eine Gruppe von Menschen eine Bedeutung haben. Sozialräume können überall entstehen, sie sind nicht an eine Funktion gebunden. Die Wahrnehmung der Qualitäten eines Sozialraums ist von Individuum zu Individuum unterschiedlich. Sie ist unter anderem Resultat der individuellen Sozialisation, des kulturellen Hintergrundes und der sozialen Situation.
Die immateriellen Eigenschaften des Sozialraums zeigen sich unter anderem in den räumlichen und funktionalen Ausprägungen der Haltungen und Wertmaßstäbe der ansässigen Menschen: Wer lebt da? Wie lebt man da? Warum lebt man da? Als Informationsquelle können neben Beobachtungen, Begehungen und Befragungen auch die sozialen Medien dienen.
Zentralität
«Zentralität ist eine grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanität: Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benötigen und besuchen, desto zentraler ist dieser Ort.»18 Der Begriff ist nicht eindeutig messbar.
Die logistische Zentralität beschreibt die Lage eines Ortes in Bezug auf Mobilitätsnetzwerke und Brennpunkte von Aktivitäten. Kriterien zur Beurteilung sind gute Erreichbarkeit und hohe Besucherfrequenzen.
Die funktionale Zentralität beschreibt die Präsenz von unterschiedlichen Nutzungen, Angeboten und Aktivitäten an einem Ort. Kriterien zur Beurteilung sind die Anzahl der Angebote und die Effekte, die sich aus ihrer Überlagerung ergeben.
Die symbolische Zentralität beschreibt die Bedeutung eines Ortes für die kollektive Identifikation durch öffentliche Einrichtungen (Konzerthallen, Stadien, Parks etc.) oder durch wichtige Ereignisse (Feste, Märkte, Rituale, Sportanlässe etc.). Kriterien zur Beurteilung sind Sinnstiftungen auf symbolischer Ebene.19
Logistische und funktionale Zentralität: Am Bahnhof Bern verbinden sich hohe Besucherfrequenzen und Mobilitätsnetzwerke mit unterschiedlichen Nutzungen und Angeboten.
Diversität
«Diversität bedeutet, dass unterschiedliche Nutzungen, Nutzergruppen, soziale Milieus und räumliche Ausprägungen in einem Raum präsent sind.»20 Der Begriff ist nicht eindeutig messbar.
Nutzungsdiversität bezeichnet die Vielfalt verschiedener öffentlicher und privater Angebote und Aktivitäten. Kriterien zur Beurteilung sind die Anzahl der Angebote und Aktivitäten und die Frage, ob sie sich ergänzen, komplementär befruchten oder zeitlich abwechseln.
Soziale Diversität bezeichnet die Vielfalt unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen, Milieus und Kulturen in einem urbanen Raum. Kriterien zur Beurteilung sind die Sichtbarkeit der Milieus, ihre Bereitschaft zum Austausch, ihre Neugier gegenüber Differenzen und die Fruchtbarkeit der Interaktionen.
Eigentumsdiversität bezeichnet die Vielfalt von Eigentumsstrukturen und Investitionsmodellen. Kriterien zur Beurteilung sind die Größe und die Mischung der Investitionseinheiten.21 Für eine gute Eigentumsdiversität braucht es eine Mischung von kleinen Eigentumseinheiten wie Eigentumswohnungen oder Reihenhäusern und größeren Eigentumseinheiten wie Mehrfamilienhäusern oder Genossenschaftswohnungen. Konventioneller Investorenstädtebau mit Großüberbauungen bringt keine Eigentumsdiversität und damit auch keine Urbanität zustande. Urbanität entsteht nicht einfach aus baulicher Dichte. Urbanität entsteht aus der Vielfalt und der Intensität miteinander interagierender Nutzungen und Lebensformen.
Eine Vielfalt von Klein und Groß fördert Diversität: Nutzungsdiversität (Wohnen, Arbeiten, Verkauf), soziale Diversität (Miete, Eigentum), Eigentumsdiversität (unterschiedliche Parzellengrößen für Klein- und Großinvestor:innen). Wettbewerb Transformation Areal Industriestrasse Luzern, 2018; Rolf Mühlethaler mit Christoph Schläppi.
Interaktion
Das Leben der meisten Menschen ist eine disperse Landschaft von Interaktionsräumen. «Interaktion bedeutet, dass unterschiedliche Menschen wechselseitig aufeinander einwirken und sich gegenseitig produktiv beeinflussen.»22 Der Begriff ist nicht eindeutig messbar.
Die soziale Dichte beschreibt die Anzahl der Menschen, die sich an einem Ort aufhalten. Beurteilungskriterium ist die Bevölkerungsdichte (Wohnbevölkerung, Arbeitsbevölkerung, Besucher:innen). Die soziale Dichte wird dann fruchtbar, wenn die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in eine friedliche
Interaktion treten. Dafür braucht es geeignete Freiräume. Die Anforderungen an diese Freiräume sind abhängig von Ort und Kultur.
Die Interaktionsintensität beschreibt die Anzahl der Austauschbeziehungen an einem Ort. Kriterien zur Beurteilung sind die Anzahl und die Deutlichkeit der Interaktionsprozesse.
Die Interaktionsdauer beschreibt die zeitliche Ausdehnung der Interaktion. Beurteilungskriterien sind die Aufenthaltsqualität und die Möglichkeit, in längere Gespräche verwickelt zu werden.23
Interaktion braucht geeignete Freiräume, in denen unterschiedliche Menschen wechselseitig aufeinander einwirken und sich gegenseitig produktiv beeinflussen. Platz in der Altstadt von Prag.
Prozesse des integralen Planens und Entwerfens
Ein starker Raumkörper: Die Baukörper begrenzen zwar den Platz, die einzelnen Gebäude sind aber sekundär. Der Raumkörper ist die primäre Figur. Plaza Mayor, Madrid, 1619.
Starke Raumdefinition durch allseitige räumliche Fassung des Raumes mit raumdefinierenden Elementen. Kreuzgasse, Bern.
Schwache Raumdefinition durch Brüstung und Baumreihe als raumdefinierende Elemente. Der Belagswechsel zoniert den Raum zusätzlich in Zirkulations- und Aufenthaltszone. Münsterplattform, Bern.
Auch ein Feuer mit Menschen im Kreis definiert einen Raum.
Übersicht Prozess 1
Ziel: Bestehende Strukturen, Räume und Atmosphären erfassen
— Vermitteln komplexer Informationen und Erkenntnisse mit grafischen Mitteln.
Aneignen von Wissen. Erlangen von Objektivität.
Erspüren und Verstehen der Schichten, Strukturen und Zusammenhänge des Ortes als Voraussetzung für kreative Eingriffe in das komplexe Gefüge des Ortes.
Schritt 1: Wissenschaftliche Spaziergänge35 machen Planerische Fragestellungen anhand von Beobachtungen typischer und alltäglicher Situationen zu beantworten versuchen: Was sehe ich? Warum sehe ich das? Sehen andere Menschen das anders? Eingeschliffene Wahrnehmungsmuster erweitern.
Wirkungsweise zwischen Menschen und Raum im Betrachtungsperimeter wahrnehmen: Wer lebt da? Wie lebt man da? Warum lebt man da? Perspektive der Benutzer:innen erfassen: sehen, hören, riechen, tasten und fühlen.
Schritt 2: Thematische Skizzen erstellen
— Strukturelle, immaterielle und sozialräumliche Einzelaspekte des Ortes mit verschiedenen thematischen Skizzen isoliert betrachten. Besonderheiten grafisch hervorheben, überhöhen und inhaltlich verdichten. Die Wahl der Themen und das Hervorheben einzelner Aspekte ist bereits ein selektiver Entwurfsvorgang. Beispiele dazu finden sich unter anderem bei Kevin Lynch (the city image and its elements: path, node, edge, landmark, district)36, bei der gestaltpsychologischen Annäherung von Max Wertheimer (Figur-Grund-Phänomene, Zusammenhänge und Unterschiede von Formen), im Handbuch «Urbane Qualitäten»37 oder in «Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait»38 Siedlungs-, Gebäude- und Nutzungsstruktur als Abbild des kulturellen, gesellschaftlichen und klimatischen Umfeldes entschlüsseln. Einflüsse von Nutzungsart, Nutzungsdichte, Topografie, Immissionen und Besonnung aufzeigen.
Schritt 3: Spannungsfelder sichtbar machen Thematische Skizzen überlagern und assoziativ zueinander in Beziehung setzen. — Aus einer Überlagerung der thematischen Skizzen die Spannungsfelder des Ortes herausarbeiten: Defizite (strukturelle, räumliche, bauliche und sozialräumliche Mängel) und Potenziale (schlummernde Möglichkeiten) für die Transformation des Ortes in Phase 2 ableiten und kommunizierbar darstellen.
Themenfelder
Strukturelle Spannungsfelder des Ortes: Bebauungstypologie (offen, geschlossen, hybrid), Bebauungsdichte, Nutzungsdichte, Nutzungsart, Nutzungsmix, Bewohner:innendichte, Flächenverbrauch, Siedlungsentwicklung, Parzellierung, Ortsbildinventar, Grundeigentum, Bau- und Planungsrecht.
Immaterielle Spannungsfelder des Ortes (Genius Loci): Identität, Wahrzeichen, Topografie, Belebtheit (Pflanze, Tier, Mensch), Gestalt (Formen, Oberflächen, Gerüche, Geräusche), Geschichte und Geschichten.
Spannungsfelder der Netze und der Infrastruktur: Orientierung, Erschließung (Langsamverkehr, öffentlicher Verkehr, motorisierter Individualverkehr), Durchwegung und Vernetzung im Siedlungsgefüge, öffentliche Einrichtungen für Versorgung, Betreuung und Bildung.
Strukturelle Spannungsfelder der öffentlichen und privaten Freiräume: Freiraumtypologie (Straße, Gasse, Weg, Promenade, Platz, Park, Privatgarten, Hof, Landschaftsraum), Öffentlichkeitsgrad (öffentlich oder privat), Funktion (Friedhof, Badeanlage, Sportanlage, Quartiergarten etc.), Art und Grad der Durchgrünung, sommerlicher Wärmeschutz, Materialisierung, Topografie, Immissionen und Besonnung.
Immaterielle Spannungsfelder der öffentlichen und privaten Freiräume: Identität und sozialräumliche Bedeutung im Siedlungsgefüge, Gestalt, räumliche und atmosphärische Qualitäten (Raumdefinition, Raumeigenschaften), Verhältnis zwischen Baukörpern und Raumkörpern, Vernetzung der Freiräume untereinander.
Strukturelle Spannungsfelder der bestehenden Bauten: Gebäudetypologie, Nutzungsart, Erdgeschossnutzung, Geschossigkeit, Bauweise, Materialien, Adressierung, inneres Erschließungskonzept, Gebäudezustand, Restwert, Denkmalpflegeinventar, Besonnung und Immissionen.
Immaterielle Spannungsfelder der bestehenden Bauten: Identitätsbildung, soziokulturelle Bedeutung, historische Kontinuität, Bezug zum Kontext (Volumetrie, Porosität, Vernetzung, Maßstäblichkeit, Höhenentwicklung), gestalterische Ausprägung der Grenzen und Schwellenräume zwischen öffentlich und privat.
Spannungsfelder im Sozialraum: urbane Qualitäten39 (Zentralität, Diversität, Interaktion, Zugänglichkeit, Adaptierbarkeit, Aneignung), demografische Entwicklung und gesellschaftlicher Wandel, Bedarf und Nachfrage, Treiber und Akteur:innen, bestehende identitätsstiftende Nutzungen und soziale Netzwerke, räumliche und funktionale Ausprägungen der Haltungen und Wertmaßstäbe der ansässigen Menschen.
14
Muck Petzet, Florian Heilmeyer (Hrsg.): Reduce, Reuse, Recycle. Ressource Architektur, Hatje Cantz, Ostfildern 2012, S. 9
15 Der Begriff «as found» (wie vorgefunden) entstand als Reaktion auf die Straßenbilder des Künstlers Nigel Henderson.
16 Vgl. Urs Hettich, Giorgio Macchi: Nachdenken und umdenken. Über das dreiteilige Modell des Wettbewerbs INO Inselspital Bern, in: Schweizer Ingenieur und Architekt, Band 116, 1998
17 Vgl. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016
30 Christian Norberg-Schulz: Neues Bauen in alter Umgebung, in: Bayerische Architektenkammer (Hrsg.): Neues Bauen in alter Umgebung, München 1978
31 Vgl. Christian Norberg-Schulz: Genius loci. Landschaft. Lebensraum. Baukunst, Klett-Cotta, Stuttgart 1982
32 Hans-Jörg Müller: Genius Loci und Genialogie, in: Johannes Heimrath, Lara Mallien (Hrsg.): Genius Loci. Der Geist von Orten und Landschaften in Geomantie und Architektur, Drachen Verlag, Klein Jasedow 2009, S. 115
33 Vgl. Christian Norberg-Schulz: Genius loci. Landschaft. Lebensraum. Baukunst, Klett-Cotta, Stuttgart 1982
34 Hans-Jörg Müller: Genius Loci und Genialogie, in: Johannes Heimrath, Lara Mallien (Hrsg.): Genius Loci. Der Geist von Orten und Landschaften in Geomantie und Architektur, Drachen Verlag, Klein Jasedow 2009
35 Vgl. Lucius Burckhardt: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, hrsg. von Markus Ritter, Martin Schmitz, Martin Schmitz Verlag, Berlin 2006
Vgl. Kevin Lynch: The Image of the City, The MIT Press, Cambridge/Massachusetts 1960, S. 47 f.
Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016
ETH Studio Basel (Hrsg.): Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait, Birkhäuser, Basel 2005
Vgl. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der
Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016
Prozess 2: Die Transformation evaluieren
In der Architektur gibt es ein Vorher, ein Nachher und einen Prozess dazwischen. Um zu entwerfen, muss man in erster Linie den Prozess zwischen dem Vorher und dem Nachher verstehen.40 Denn: «Das, was ist, ist verursacht durch das, was war, und das, was sein wird, hat das, was ist, zur Ursache» (Remy de Gourmont).
Eine nachhaltige Planungs- und Baukultur muss in der Lage sein, in diesem Prozess zwischen dem Vorher und dem Nachher unterschiedlichste räumliche, soziale und ökonomische Parameter mit einer großen Diversität von Interessen, Bedürfnissen und Bedingungen zu vereinigen und mit Vergangenem und Zukünftigem abzustimmen. Die Planungsaufgaben sind komplex und nur teilweise determiniert. Der Prozess erfordert deshalb eine paradoxe Mischung aus Genauigkeit und Unbestimmtheit. Es braucht die Fähigkeit, in Prozessen der Kooperation und Integration mit Unsicherheiten und offenen Fragen umzugehen. Logik allein genügt nicht. Das macht es anspruchsvoll.
Der Wunsch, die Zukunft mit klaren Bildern und Formen abschließend planen zu können, hat der Erkenntnis Platz gemacht, dass ein Denken in Lösungen zu starr ist. Entwicklungstrends und gesellschaftlicher Wandel sind heute weniger ortsgebunden und damit volatiler.
Als Beispiel sei die aktuell zu beobachtende Auflösung der Trennung von Wohnen und Arbeiten erwähnt. Die Digitalisierung ermöglicht, dass die räumliche Nähe von Arbeitsort und Wohnort weniger relevant ist. Die Menschen verhalten sich zunehmend posträumlich, was sich darin zeigt, dass sie ihren Lebensmittelpunkt freier nach persönlich gewichteten Attributen wie Wohnumfeldqualität oder der Nähe zu Naherholungsgebieten und nicht nach dem Arbeitsort wählen. Unabhängig vom Ort führen sie ein weitgehend urbanisiertes Leben. Städtisch und ländlich sind als gegensätzliche Lebensformen kaum mehr vorhanden. In gewachsenen Dörfern führt dies zu Konflikten, weil sich Neubauten weder strukturell noch formal auf den ortstypischen Kontext einlassen mögen.
Posträumliches Verhalten verstärkt den Trend zur Individualisierung unserer Gesellschaft, weil die Ortsgebundenheit und damit die Verwurzelung schwindet. Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage des Bundes aus dem Jahr 2019 ergab, dass ein Drittel der in der Schweiz lebenden Bevölkerung sich einsam fühlt. Einsamkeit gehört heute zu den größten Gesundheitsrisiken.41
Bei der Entwicklung der Szenarien zur Transformation eines Ortes übernehmen wir Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit unserer Entwürfe. In unserer städtebaulichen Haltung drücken wir als Architekt:innen stets auch gesellschaftliche, kulturelle und ökologische Werte aus. Architektur ist nie nur persönlich. Architektur hat immer eine öffentliche Bedeutung. Die Transformation soll den Menschen dienen. Daraus ergeben sich vielfältige Fragestellungen: In welcher Gesellschaft und in welcher Nachbarschaft wollen wir leben? Mit welchen räumlichen Ausprägungen und mit welchen programmatischen Setzungen fördern wir eine inklusive Gesellschaft, in der unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse friedlich interagieren können? Wie priorisieren wir integrale Nachhaltigkeit, Suffizienz, kulturelle Werte und langfristige Investitionen gegenüber kurzfristigem wirtschaftlichem Gewinn? Wie sieht die Nachbarschaft der Zukunft aus? Wer lebt in diesem Kontext, was zeichnet diese Menschen aus, wie leben sie? Welches private und gesellschaftliche Umfeld benötigen sie, um ihren Tätigkeiten nachzugehen?
Weil Räume und ihre Programmierung unseren Alltag formen, können neue räumliche Situationen und neue Angebote für die Bewohner:innen und ihre Lebensführung neue Perspektiven und neue Bedeutungen entstehen lassen. Das kann dem Ort und seinen Gebäuden eine robuste Identität und einen starken Charakter verleihen.
Um die oft divergierenden Interessen zwischen Auftraggeber:innen, Planer:innen und Öffentlichkeit ausbalancieren zu können, sollte die Arbeit aus einer Haltung der Verbundenheit mit den Menschen und ihrem gesamten Lebensumfeld erfolgen. Eine integrale Entwurfshaltung befähigt uns, soziale, kulturelle, ökologische, wirtschaftliche und politische Aspekte in unser Denken und in den Entwurfsprozess zu integrieren und zu einem ganzheitlichen Leitbild zur Transformation eines Ortes zu verdichten, um damit dessen räumliche, bauliche und gesellschaftliche Entwicklung nachhaltig zu steuern.
Doch leider werden Planungs- oder Bauaufträge bisweilen nicht genügend sorgfältig formuliert. Im Gegenteil: Bei der Formulierung eines Auftrags haben Auftraggeber:innen oft das Gefühl, sie würden die Lösung bereits kennen. Um den Auftrag zu formulieren, mussten sie sich mit der Materie befassen. Auch wenn sie keine Fachpersonen sind, haben sie dabei erste Schlüsse gezogen und formulieren den Planungsauftrag oft zu eng. Sie berauben sich damit der Chance, unerwartete und kreative Alternativen vorgelegt zu bekommen.
Es sollte deshalb zum Selbstverständnis der Planenden gehören, auch ohne Auftrag Szenarien zu testen. Dies gilt für jede transformative Projektentwicklung, unabhängig davon, ob das Projekt groß oder klein ist. Szenarien sind niederschwellig: Ohne allzu großen Aufwand lässt sich damit ein ganzer Fächer von möglichen Wirklichkeiten, Lösungsansätzen und Haltungen testen.
Durch einfache Maßnahmen lässt sich diese nur 72 Quadratmeter große Wohnung für eine große Diversität von Bedürfnissen adaptieren: als Wohnung für ein Paar, für eine Familie oder für Alleinerziehende mit zwei Kindern, als Wohngemeinschaft für zwei oder drei Personen oder als Wohnung mit Homeoffice. Zwicky Süd, Dübendorf, 2016; Schneider Studer Primas.
Grundrisse von Clusterwohnungen. Heizenholz, Zürich, 2012; Adrian Streich. Kalkbreite, Zürich, 2014; Müller Sigrist. Hunziker-Areal, Zürich, 2014. Futurafrosch und Duplex Architekten. Stadterle, Basel, 2017; Bucher Bründler.
Ein vierter Faktor, um die Diversität des Wohnungsangebots zu fördern, liegt in ergänzenden Raumangeboten wie Dienstleistungs- und Gewerbeflächen, welche zu günstigen Konditionen zugemietet werden können. Damit sich das Leben in diesen Möglichkeitsräumen einnisten kann, ist darauf zu achten, dass sie vor den Wohnungen geschützt werden (und nicht umgekehrt). Ansonsten werden sie durch Lärmklagen über kurz oder lang Einschränkungen ausgesetzt sein, welche ihr Fortbestehen und ihre Entfaltung infrage stellen.
Ein fünfter und sicher nicht letzter Faktor, um die Vielfalt unserer Lebensentwürfe in ein Projekt einfließen zu lassen, ist eine möglichst niederschwellige und barrierefreie Partizipation aller beteiligten oder betroffenen Parteien, also nicht nur der zukünftigen Bewohner:innen, sondern auch der Kapitalgeber:innen, der Nachbar:innen und der Vertreter:innen sozialer Netzwerke vor Ort. Wenn Menschen einen Ort beeinflussen oder gar mitgestalten können, verstärkt das die Identifikation mit dem Projekt und damit die nachhaltige Verankerung in der Nachbarschaft. Identifikation befördert Aneignung. Und Aneignung befördert soziale Vernetzung (siehe auch Kapitel «Porosität oder die Durchdringung von öffentlich und privat» in Prozess 4).
Partizipation verstärkt die Identifikation der beteiligten Personen mit einem Projekt. Wenn auch die Nachbarschaft einbezogen werden kann, verstärkt das darüber hinaus die Verankerung des Projekts im sozialen Kontext. Wohnbaugenossenschaft Warmbächli, Bern.
3.4 Urbane Transformation braucht mehr als farbiges Straßenleben
Integrales Planen und Entwerfen erfordert die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Qualitäten eines zeitgenössischen Siedlungsraums. Beim integralen Planen und Entwerfen suchen wir nach architektonischen Lösungen, welche als Tragwerk die gesellschaftliche Entwicklung steuern können. Dies stellt eine Erweiterung der klassischen Entwurfsmethoden dar, bei denen die gebäudebezogene Struktur, die Nutzungsorganisation und die Form im Vordergrund stehen.
Urbanität bezeichnet eine besondere Qualität der aufgeklärten Stadt und damit eher eine gesellschaftliche Lebensform als eine städtebaulich-räumliche Struktur. Der Begriff Urbanität ist gekoppelt mit Eigenschaften wie tolerant, weltoffen, weltläufig, geistig beweglich, neugierig und vernetzt. Er darf also nicht nur mit dem Bild eines farbigen Straßenlebens mit Cafés, Warenund Dienstleistungsangebot verbunden werden.
Wichtig sind Raum und Atmosphäre für Begegnung sowie die Möglichkeit, Anlässe im öffentlichen Raum zu inszenieren. Die urbane Stadt dient gleichzeitig als Bühne, Werkstatt und Heimat. Multifunktionale und öffentliche Stadträume, Nutzungsvielfalt und Nutzungsmischung ermöglichen eine sozialräumliche Integration und sichern die prinzipielle Anschlussfähigkeit für verschiedene Akteur:innen. Lebendige und ruhige Bereiche koexistieren in unmittelbarer Nachbarschaft.
Der heute oft beklagte Verlust an Urbanität ist eine direkte Folge der verbesserten Wohnverhältnisse und Arbeitsbedingungen. Höhere Einkommen ermöglichen mehr Wohnraum, was im Vergleich zu früher zu einer vier- bis fünfmal geringeren Belegungsdichte und damit zu einer Verdünnung der möglichen Sozialkontakte führt. Zudem wurden die Gassen gesäubert. Gassen dienen beispielsweise nicht mehr als Erweiterung der Werkstätten im Erdgeschoss. Auf der Gasse wird auch nicht mehr gearbeitet.
Das Wieder-Auslagern eines Teils typisch häuslicher Aktivitäten in öffentliche Räume könnte einen Teil des Verlustes an Urbanität durch die verbesserten Wohnverhältnisse und Arbeitsbedingungen kompensieren. Einrichtungen für Freunde-Empfangen, Essen, Amüsieren und Körperpflege könnten in einfacher, durchaus aber auch in luxuriöser Form als gemeinschaftliche Angebote geplant werden.
In Agglomerationen sind urbane Qualitäten schwieriger zu generieren als in Innenstädten. Meistens fehlt die räumliche und soziale Dichte. Die attraktiven Freiräume sind privat und damit nicht zugänglich. Die zugänglichen Freiräume beschränken sich auf Verkehrswege, die durch Immissionen beeinträchtigt sind.
Urbanität ist nicht an bestimmte Raumformen, sondern an eine Lebensform gebunden: dichte Wohn- und Arbeitssituation mit entsprechenden Vor- und Nachteilen im Basar in Delhi, Indien.
Schwellenräume
Schwellenräume sind raumhaltige Grenzen. Als Puffer vermitteln sie zwischen privat und öffentlich, zwischen der Sphäre des Individuums und seiner Rolle in der Gesellschaft. Poröse, raumhaltige Fassaden mit Balkonen oder Terrassen als Schwellenräumen steuern die Interaktion zwischen Individuum und Gemeinschaft.
Die Qualität einer Fassade zeigt sich in der bewusst gestalteten Durchdringung von Freiraum und Baukörper. Je mehrdeutiger und poröser die räumlichen Grenzen zwischen den beiden sind, desto stärker verschränken sie sich. «Dabei entscheiden im Wesentlichen die Reliefs von Fenstern und Türen über die gegenseitige Zugewandtheit von Innen- und Außenräumen. […] Wie ‹offen› sich ein Haus (und damit seine Bewohner) nach außen geben will, kann allerdings nicht nur über die Größe der Öffnungen entschieden werden. Es muss sich um andere Modelle des Zeigens und Verbergens, des Schweigens und des Sich-Äußerns handeln, die wohl immer neu zu entwickeln sind. […] Die gezielte Sichtbarmachung von Phänomenen des Privaten und des Öffentlichen durch die Wandmembran lässt sich möglicherweise als Hinweis auf eine gegenseitige Verantwortung des Einzelnen für das Allgemeine sowie der Gesellschaft für das Individuum
In Schwellenräumen zwischen privat und öffentlich kann der Grad der Zugewandtheit zwischen Individuum und Gemeinschaft abgelesen werden. Auch Fensterlaibungen können als Schwellenräume angeeignet und so Ausdruck des Privaten im Öffentlichen werden. Junkerngasse, Bern.
interpretieren. Deshalb kann das Relief der ‹Gewände› zu einer neuen Sprache der Architektur und damit zu einer neuen Verständigungsform der Gesellschaft unserer Zeit werden.»74 Diese Haltung ist Ausdruck eines erweiterten Verständnisses von Kontextintegration. Sie ist Abbild der gegenseitigen Zugewandtheit zwischen den Menschen und ihrem Umfeld.
In einer dichten Nachbarschaft muss ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen nachbarschaftlichem Kontakt und sozialer Distanz. Dies wird erreicht durch drei Maßnahmen: klare Definition der Öffentlichkeitsgrade, präzise Gestaltung der Übergänge von einem Öffentlichkeitsgrad zum nächsten und Aneigenbarkeit der Schwellenräume.
Schwellenräume an der Grenze zwischen Innen und Außen ermöglichen gegenseitige Anteilnahme. Der Grad von Interaktion oder Rückzug kann entsprechend den persönlichen Vorlieben, der Tageszeit oder der Saison verändert werden. Flankierende Maßnahmen wie die teilbare Tür, unterschiedliche Brüstungshöhen, Vorhänge, Sitzbank und Witterungsschutz erweitern die Benutzbarkeit. Altersheim «De Overloop», Almere, Niederlande, 1984; Herman Hertzberger.
Robert Braissant: Erfolgreiche Nachbarschaften sind ein Gemeinschaftswerk. Sie sind die Bausteine unserer Siedlungen und Städte. Mit welchen Mitteln können die für ein Gemeinschaftswerk fundamentalen sozialen, räumlichen und formalen Mehrdeutigkeiten und Diversitäten im Planungsprozess gefördert werden?
Philippe Cabane: Ich frage mich, warum wir so drauf versessen sind, ein soziales Leben zu animieren. Nachbarschaft entsteht überall, wo es überschaubar bleibt. Das heißt: kleinere Einheiten mit vielen Möglichkeiten für hybride Flächen, wo Menschen selbst entscheiden können, was sie da machen wollen. Man muss den Menschen nur Raum geben und die Freiheit, sich dort entfalten zu können. Dazu braucht es ein paar wesentliche Spielregeln, jemand, der sich kümmert, und eine Ombudsstelle. Nachbarschaft ist in erster Linie keine gestalterische, sondern eine organisatorische Frage.
Burgfeldenpark Basel: Vom Fragment zum integralen Park (zu Prozess 1)
Daniel Baur, Bryum Landschaftsarchitektur, BaselDer Burgfeldenpark liegt zwischen der Stadt Basel und SaintLouis (Frankreich). Was heute als Park erlebbar ist, war bis vor wenigen Jahren ein fragmentiertes Nebeneinander an Nutzungen, die man nicht in der Stadt haben wollte. Dazu gehören unter anderem die Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK), Familiengärten, das Casino, die Klinik REHAB und das Bürgerspital. Jede dieser Organisationen hat sich auf ihrer Parzelle eingerichtet und einen eigenen Kosmos geschaffen. Durch das Projekt Burgfeldenpark wurden die teilweise hochwertigen Areale über den Freiraum zu einem Park zusammengefügt. Es entstand ein stimmungsvoller Stadtraum, der Arbeiten, Erholung, Genesung, Begegnung und Integration gleichermaßen ermöglicht.
Den Hinweis auf das Potenzial dieses Stadtraums gaben die Nutzungsspuren, die vor Ort gefunden wurden. Abkürzungen und Schleichwege zeigten, dass das Alltagsleben die Parzellengrenzen seit längerem überwunden hat. Beispielsweise wies der Grenzzaun seit Jahren aufgeschnittene Bereiche auf und die Spuren zeigten, dass pendelnde, joggende und spazierende Personen den Raum grenzübergreifend nutzen. Die Spuren des Ortes haben maßgeblich Aufschluss über das Potenzial und die Planung gegeben.
Abkürzungen und Schleichwege als Nutzungsspuren des Ortes.
Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis
Als Planende haben wir die Spuren in perspektivische Szenarien übersetzt. So wurden aus den Spuren Bilder und aus den Bildern ein Bedürfnis nach Transformation. Konkret wurden aus Trampelpfaden Wege und aus Grünflächen ein gemeinsamer Park.
Da die Organisationen nun Teil des Parks, aber nach wie vor autonom in ihrer Entwicklung sind, erarbeitet die Interessengemeinschaft Burgfeldenpark ein gemeinsames Leitbild. Dieses beschreibt das Entwicklungsziel und lässt gleichzeitig die Maßnahmen und den Entwicklungshorizont offen. Das Leitbild stellt ein zentrales Kommunikationsmittel nach innen und nach außen dar.
Nutzungs- und Raumtransformationen werden nun anhand des Leitbildes geführt. So entstehen trotz der Verschiedenartigkeit der vertretenen Organisationen immer mehr Räume, welche die Gestalt des Burgfeldenparks ausmachen. Aus Organisationen entstanden Nachbarn – aus Raumfragmenten ein integraler Park.
181 Burgfeldenpark Basel: Vom Fragment zum integralen Park (zu Prozess 1)
Vom Fragment zum integralen Park: Das Leitbild kommuniziert das Entwicklungsziel, lässt aber die Maßnahmen und den Entwicklungshorizont offen.
Autor
Robert Braissant
Robert Braissant studierte Architektur an der ETH Zürich bei Bernhard Hoesli, Franz Oswald und Mario Campi sowie an der CEPT School of Architecture in Ahmedabad, Indien. In jungen Jahren arbeitete er bei Olson/Walker Architects in Seattle, Mario Campi in Lugano, Andrea Roost und Franz Oswald in Bern. 1990 gründete er mit Freunden das Büro B Architekten in Bern. Neben der Arbeit im Büro ist er in diversen Expertenkommissionen und Jurys tätig. Seit 2015 unterrichtet er als Professor für Architektur und Städtebau an der Berner Fachhochschule, wo er auch Forschungsprojekte im Kompetenzbereich Dencity – Urbane Entwicklung und Mobilität betreut. In seiner Brückenstellung zwischen Praxis, Forschung und Lehre setzt er sich für eine Synthese von Praxisnähe und progressiven, zukunftsfähigen Werthaltungen ein.
robert@braissant.ch
Die vorliegende Publikation ist eine vollständige Überarbeitung des methodischen Lehrgerüsts für die Module Entwurfstheorie und Atelier «Areal» an der Berner Fachhochschule, Fachbereich Architektur.
Ich danke Donat Senn für die intensive und fruchtbare Zusammenarbeit beim Entwickeln der Methodik und für wichtige Textbausteine. Ich danke Daniel Baur für seine stets inspirierenden Beiträge. Regula Sommer und Marianne Martignoni danke ich für ihre Unterstützung während meiner Arbeit.