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EINLEITUNG
DER WEG ZUR KUNSTSTOFFARCHITEKTUR
1.1 Titelblatt der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Kunststoffe“, erschienen am 1. Januar 1911
Das erste Wohngebäude aus Kunststoff wurde 1956 in Frankreich gebaut. In Zusam-
1.2 Geodätische Kuppel aus GFK-Elementen, R. Buckminster Fuller, 1954 1.3 Mobile Hotelkabine,
menarbeit mit dem französischen Chemieunternehmen Camus et Cie. entwickelten
I. Schein, R.- A. Coulon, Y. Magnant, 1956. Die GFK-Kunststoffzelle wurde modular konzipiert und für den Transport optimiert.
die Architekten Ionel Schein und René-André Coulon zusammen mit dem Ingenieur 1.3
1.1
Yves Magnant verschiedene Wohnzellen und ein Gebäude aus dem neuen Werkstoff. Das wegen seiner Grundrissgeometrie als „Schneckenhaus“ bezeichnete Gebäude
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wurde aus einer Kombination von ebenen und einachsig gekrümmten GFK-Sandwichplatten mit GFK-Stegen konstruiert. In der organisch geformten Sanitärzelle des Schneckenhauses und der noch im selben Jahr entwickelten mobilen Hotel kabine ist bereits das gestalterische Potenzial des neuen Werkstoffs erkennbar. Ein bedeutsamer Schritt war die Entwicklung von Bauteilkomponenten in Sandwichbauweise, bei denen die faserverstärkten Kunststoffe mit PUR-Dämmstoffen kombiniert wurden. Mit dieser Technologie, bei der dünne GFK-Schichten mit einer wärmedämmenden Kernschicht verbunden wurden, standen leichte und gleichzeitig steife Sandwichelemente zur Verfügung, die für einen Einsatz in selbsttragenden 1.4
Gebäudehüllen hervorragend geeignet waren. Das „Monsanto House of the Future“ (Architekten: Richard Hamilton, Marvin Goody, Ingenieur: Albert Dietz, USA, 1957) machte sich dieses Prinzip zunutze. Es war das erste bis zur Serienreife entwickelte Kunststoffhaus. Es sollte industriell produziert werden, tatsächlich wurde jedoch
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nur der Prototyp realisiert. Es stellte nicht nur die statisch-konstruktive und bauphysikalische Leistungsfähigkeit von Kunststoffkonstruktionen, sondern mit seiner futuristischen Formensprache vor allem auch die gestalterischen Möglichkeiten des neuen Werkstoffs unter Beweis. In der Folge erwachte weltweit das Interesse an Kunststoffhäusern. Ingenieure und Architekten erforschten das Material und entwickelten eine Vielzahl von Projekten, in denen die Vorzüge der Kunststoffe zum Tragen kamen. Insbesondere die 1960er Jahre sind geprägt von vielfältigen architektonischen Experimenten auf der Suche nach einer dem Material angemessenen Form. Der Einsatz der neuen WerkDie besonderen Eigenschaften der faserverstärkten Kunststoffe, insbesondere das geringe Gewicht, die hohe Witterungsbeständigkeit und die hervorragende
sind runde Formen und gekrümmte Bauteile in unterschiedlich starker Ausprägung
Formbarkeit in Verbindung mit einer vergleichsweise hohen Festigkeit, ließen sie
zu finden. Neben einer zeitgeistigen Vorliebe für abgerundete Formen kann der Ein-
sehr schnell auch interessant für Anwendungen in der Architektur erscheinen. Die
satz von gekrümmten Bauteilen auch auf das Bestreben zurückgeführt werden, die
ersten Projekte für Kunststoffhäuser wurden bereits in den 1940er Jahren in Groß-
vergleichsweise geringe Steifigkeit des Materials durch Krümmung und / oder Auf
britannien entwickelt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollten die für eine
kantungen zu kompensieren und die dünnwandigen Gebäudehüllen durch eine ent-
Serienproduktion vorgesehenen Gebäude aus vorgefertigten Bauelementen den
sprechende Formgebung zu stabilisieren. Eine entscheidende Rolle spielten aber
kriegsbedingten Mangel an herkömmlichen Baustoffen kompensieren helfen. Eine
auch die Möglichkeit der Vorfertigung und ein niedriger Unterhaltungsaufwand für
Realisierung des geplanten Vorhabens fand jedoch nicht statt.
Gebäude aus Kunststoffen. Einen Höhepunkt der Kunststoffarchitektur bildete die
Nach dem Krieg versuchten verschiedene Kunststoffhersteller auf der Suche nach neuen Absatzmärkten in der Architektur Fuß zu fassen. Die ersten Architekten
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stoffe führte auch zu einer neuen Formensprache. Bei vielen Kunststoffhäusern
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Internationale Kunststoffhaus-Ausstellung in Lüdenscheid, auf der ab 1971 und in den folgenden Jahren eine Reihe von Prototypen für Wohn- und Ferienhäuser prä-
und Ingenieure experimentierten mit den neuen Werkstoffen. Die erste Anwendung
sentiert wurden, unter anderem „Futuro“ (Architekt: Matti Suuronen, Ingenieur: Yrjö
im Bauwesen für glasfaserverstärkten Kunststoff (GFK) waren 1954 Hüllen für mili
Ronkka), „Rondo“ (Architekten: Casoni & Casoni, Ingenieur: René Walther), „fg 2000“
tärische Radarstationen. Die von Richard Buckminster Fuller entwickelten geodä
(Architekt: Wolfgang Feierbach, Ingenieure: Gerhard Dietrich, Carsten Langlie) und
tischen Kuppeln waren eine optimale Anwendung für die leichten, transluzenten und
„Bulle Six Coques“ (Architekt: Jean Benjamin Maneval, Ingenieur: Yves Magnant).
für elektromagnetische Strahlung durchlässigen GFK-Elemente. Bauteile aus faserverstärktem Polyesterharz können im Gegensatz zu thermo-
Produktionstechnische Anforderungen der Serienfertigung bildeten häufig die Grundlage der Planungsüberlegungen, obwohl die Prototypen selbst in arbeitsinten
plastischen Kunststoffen ohne großen maschinellen Aufwand gefertigt werden und
siver Handarbeit hergestellt wurden. Die Absicht der Planer bestand in der Nutzung
eignen sich daher hervorragend zur Herstellung von Prototypen.
bestehender Herstellungsmethoden für eine kostengünstige Produktion von Kunst-
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