DIE MASKE_Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie #3

Page 39

Queer Innovativ

Q u eer S t u dies

Fachge b iet

„auf Praktiken, Prozesse und Erkenntnisse, die je spezifische

Dieser herrschaftskritische Gestus von queeren Ansätzen

Eingebundenheit in die Strukturen und Mechanismen der

verweist als Ganzes auch darauf, dass sich diese – analog

dominanten Ordnung zu nutzen versucht, um deren Nor-

zu feministischen Theorien – nicht als bloße „akademische“

men und Hierarchien herauszufordern“ (Engel 2002: 40).

Theoriekomplexe verstehen wollen, sondern ausgehend von ihrem politischen Entstehungskontext und wechselseitiger

Eine konsequente und radikale Demaskierung des „Natür-

Bezogenheit auf einen queeren Aktivismus, eine Verbindung

lichen“ scheint aufgrund aktueller politischer und wissen-

von Theorie und Praxis anstreben. Diese politische Verbun-

schaftlicher Entwicklungen auch notwendiger denn je zu

denheit ist ein Potenzial dieser Ansätze, erfordert es doch

sein. Nicht nur haben wir es in der Wissenschaft mit einem

eine ständige Reflexion der eigenen Eingebundenheit in ein

„biologistischen Backlash“ zu tun. Auch auf gesellschafts-

Wissenssystem, das nicht herrschaftsfrei ist; es verlangt nach

politischer Ebene ist die Zementierung von kohärenten und

einer Reflexion der eigenen „Abgehobenheit“ in Sprache

eindeutigen Identitäten noch und wieder vermehrt Aus-

und Begrifflichkeiten. Ich verstehe Queer Theory demzufol-

gangspunkt politischer Partizipation, Artikulation und po-

ge auch weniger als inhaltliche oder methodische Festlegung

litischer Agenden. Queeres Denken versteht sich als Kritik

eines Forschungsbereiches, sondern möchte im Anschluss

gegen Herrschaftsverhältnisse, die mit eindeutigen und in

an die anfängliche Intention ihrer akademischen Etablie-

einer vermeintlich natürlichen oder kulturellen Substanz

rung, queer mehr als kritische Auseinandersetzung mit der

wurzelnden Identitäten operieren. Es betont somit die

Produktion von Wissen, Konstruktion von wissenschaft-

Konstruiertheit derartiger Formationen. Identitäten gelten

lichen Objekten und Absichten sowie der „Natur“ des wis-

demnach als Effekte „komplexer Narrationen, mit denen In-

senschaftlichen Schreibens und Forschens verstanden wissen

dividuen und Kollektive sich politisch, historisch und kultu-

(vgl. Currid 2001: 377).

rell situieren“ (Hark 1999: 65). Queer Theories beschäftigen sich dementsprechend mit der Analyse, wie Homosexuali-

Christine Klapeer, ist freie Sozialwissenschafterin und als Uni-

tät und Hetero­sexualität in wechselseitigem hierarchischen

versitätslektorin an unterschiedlichen Universitäten tätig. 2007

Verhältnis zu einem identitätskonstituierenden Merkmal

erschien ihre aktuelle Publikation „queer. contexts“ im Studienver-

avanciert, wie dieses mit sex und gender verknüpft ist und

lag; Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich feministische,

welche Exklusionsmechanismen und Verwerfungen damit

lesbische und queere Theorie, (sexual) citizenship, Demokratie- und

einhergehen. Gerade in Hinblick auf aktuelle sozialwissen-

Staatstheorien.

schaftliche Arbeiten im Bereich von Multikulturalismus, gesellschaftlicher Pluralität; Demokratie und Annerkennungspolitiken, kann es im Sinne einer radikalen queeren Gesellschaftsanalyse und -­kritik daher nicht um die bloße Argumentation für die Rechte einer schwul-­lesbischen „Minderheit“ oder einer einfachen „Gleichstellung“ von Frauen mit Männern gehen, sondern Geschlecht und Sexualität müssen als produzierte Kategorien der sozialen Differenz in ihrer gesamten strukturierenden Wirkungsweise in den Blick genommen werden. Denn wenn der Geschlechtskörper keine selbstverständliche Basis für gesellschaftliche Grenzziehungen mehr ist, wenn Sexualität als sich veränderndes Kontinuum gedacht wird, dann geht es nicht mehr nur um die Veränderung bestimmter Zuschreibungen,

Literatur Butler, Judith (1991 [1990]): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M, Suhrkamp Currid, Brian (2001): Nach queer? In: Ulf Heidel / Stefan Micheler / Elisabeth Tuider (Hrsg.): Jenseits der Geschlechtergrenzen. Sexualitäten, Identitäten und Körper in Perspektiven von Queer Studies. Hamburg, MännerschwarmSkript. S. 365-385. Engel, Antke (2002): Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation. Frankfurt a. M./New York, Campus. Hark, Sabine (1999): Deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität. Opladen, Leske und Budrich. Klapeer, Christine M. (2007): Queer. contexts. Entstehung und Rezeption von Queer Theory in den USA und Österreich. Innsbruck/Wien/Bozen, Studienverlag. Wagenknecht, Peter (2007): Was ist Heteronormativität? Zu Geschichte und Gehalt des Begriffs. In: Hartmann, Jutta et al. (Hrsg.): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 17-34.

­Stereotypen und Diskriminierun­gen und darauf basierende­ Ausgrenzungen. Es werden dann viel­mehr Ausschlüsse­ aufgrund des Geschlechts und Heteronormativität in einem ganz grundlegenden gesellschaftstheoretischen Sinn zu erklärungsbedürftigen Phänomenen. Es eröffnet sich ein neuer Raum, in dem kritische Gesellschaftstheorien ent­wickelt und betrieben werden können.

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie

39


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.