L I F E 3.0

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03 EDITORIAL 05 I LIKE BIG BUDS AND I CANNOT LIE Kolumne über altmodische Lebenseinstellungen 06 DIE WURZELN DES LIFE‐UPGRADES Entwicklungen der letzten 1000 Jahre

Liebe Leser, das zweite Jahrtausend bewegt sich mit bestimmten Schritten dem Ende zu, was Grund zur Überlegung bietet: Was war wichtig, und was wird? Mit dieser Ausgabe lassen wir die letzten 100 Dekaden Revue passieren.

09 ABOUT LIFE 3.0 12 REVOLUTION DER EVOLUTION Ein Märchen 14 DAS DILEMMA DER PHILANTROPEN Wenn Nächstenliebe zu ersticken droht

Außerdem nehmen wir uns im FotoFocus diesmal das Städtchen Stevia zur Brust, die Hochburg der Koexistenz von Regulars und Hybriden. Mit seiner kulturellen Diversität und dem weltweit einzigen Hybrid Museum, aber auch mit den wachsenden Attacken der jüngeren Regularbevölkerung auf hybride Lebens‐ formen, ist Stevia momentan oft im Brennpunkt der Cloud. Grund genug, einmal genauer hinzusehen.

20 SEHNSUCHT NACH POPCORN Wie das Kino wieder Einzug in die Welt fand

Die evolutionären Prozesse sind im Umbruch, immer rasanter geht die Entwicklung von Natur, Tierreich, Mensch und den bunten Kreuzungen dieser drei Bereiche vonstatten. Die ethischen Grenzen fangen seit einiger Zeit zu

22 DIE RENAISSANCE DER INFOGRAFIK Diagramme, die das Leben schreibt 24 HYBRID MUSEUM OF 30TH CENTURY ART 26 ICH SHOPPE DIE REALITÄT VORAUS Biggie Schulz im Interview 29 FEEDBACK 30 ABOUT & CV

verschwimmen an. Wenn das Lebensmittelverbot für hochentwickelte Pflanzen durchgeht, wird es äußerst unruhig in der Cloud werden. Mit den Folgeproblemen der Hybridisierung haben wir wohl genug Stoff für die kommenden Jahre gefunden. Aber nicht alles ist schwarz‐weiß, Life 3.0 hat den Anspruch, Vorurteilen entgegenzuwirken und aufzuklären. Life 3.0 verhilft Ihnen hoffentlich zu einem alternativen Blick.


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I LIKE BIG BUDS AND I CANNOT LIE

Ich geb's ja zu. Ich bin Hybrid der alten Schule. Meine Haare zur Seite

Ärmeln. Da braucht man sich dann nicht wundern, wenn die

gekämmt, die Lederriemchen locker um meine braunen Hörner zu einer

Blütenfänger zuschlagen. Nein, das tut mir leid, das darf man ja nicht

Schleife gebunden, die Fühler nach hinten über den Rücken gelegt. Und

sagen. Vielleicht bin ich auch einfach schon zu welk. Oder gar

ja, meine Knospen bleiben unter Verschluss.

neidisch? Die Knospen meiner Frau habe ich seit Jahren nicht mehr zum

Aber es ist ja so modern! Auf dem Weg ins Büro saß ich gegenüber

Blühen gebracht. Und ich könnte ja auch von den Kids lernen... Moment

zwei unreifen Larven. Merkwürdige Mischungen aus Orchideen, Mohn

mal, ich geh kurz in die Cloud. Da ist bestimmt ein freies Unterhaltungs‐

und

fenster offen... Aah, hier. Sekunde...

Wolf.

Mit

menschlichen

Brüsten.

Offensichtlich

vertieft

im

nonverbalen Cloudgespräch, bemerkten sie meine gerümpfte Nase nicht einmal. Über die dreiste Zurschaustellung ihrer Nackensporen sah ich

Julle Naaiers: „Hey Kids, was bringt eure Knospen so zum Platzen?“

sogar hinweg, aber was ist das heute mit diesen Knospen überall? Der

BigBud3000: „Fokkit alt man, yo perv boi ja.“

einen hing eine pralle Kapsel fast bis zum Anschlag aus der Brust. Auch mit Branding und dem ganzen Schnickschnack.

Woher sie das wohl wusste?

Ich erinnere mich an Zeiten, da wusste man erst, was Knospen sind, bis einem selbst welche wuchsen. Ganz verschämt hat man sich dann sein erstes Hygienetuch dafür gekauft. Und jetzt? Jetzt hängen den Larven die Knospen aus allen Blusen und

DER AUTOR Gentleman Julle Naaiers hat nicht nur ein Problem mit Knospen, auch für den Kauf seines ersten Hygienetuches bat er Freunde um Hilfe.


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ohin führte uns die technische Entwicklung? Das erste Youtube‐

Menschen, die anstelle der technischen auf die biologische (R)evolution

Video feiert in 6 Jahren seinen 1000. Geburtstag, das erste Mainstream

setzten. Man vergisst nämlich gern, auch hier stand die Zeit nicht still. Das

Computer‐Brain‐Interface wird 800. Die Technik entwickelte sich zu

Prinzip „Leben“ ist kein starres. Alle Organismen befinden sich in

Beginn des Jahrtausends rasant. Wer weiß eigentlich, dass die In‐Vitro‐

ständigem Wandel und reagieren unmittelbar auf ihre Umwelt. Mitte des

Brain‐Mechanisierung beinahe aller Föten bereits seit 2300 standard‐

3. Jahrtausends entwickelten sich Prozesse, die der Mensch nicht mehr zu

mäßig praktiziert wird? Ohne Johannes von Siemens würden wir wohl

steuern, geschweigedenn aufzuhalten vermochte.

heute noch vor unseren Computern sitzen. Dass es einmal eine kurze Phase gab, in der zur Telekommunikation tragbare Geräte, die

Nicht lange, und ein Crossover menschlicher Zellen mit denen von Tieren

„Mobiltelefone“ verwendet wurden, ist den Wenigsten bewusst und kaum

und Pflanzen fand statt. Vor der Öffentlichkeit lange unter Verschluss

noch vorstellbar. Und auch die Konservierung des menschlichen Bewusst‐

gehalten, ist die Existenz dieser Hybridwesen zwar seit nun über 100

seins in der Cloud war für Generationen von Menschen vor uns nicht

Jahren bekannt, wurde aber nicht viel ernster genommen, als das Wissen

möglich. Ja, es gab ein Leben vor der Cloud, welche ihre Babyjahre

um die Existenz einer x‐beliebigen religiösen Sekte. Dass es sich hierbei

sogar als reines Speichermedium für anorganische Daten verbrachte.

aber mittlerweile um eine hochentwickelte Subspezies handelt, die sich durch die Ausbildung eines regenerativen Wurzelgehirns ebenfalls

Aber natürlich, mit jeder Entwicklung kommen auch die Entwicklungs‐

Zugang zu ewigem Leben verschafft hat, dies gelangte erst vor kurzem ins

gegner. Die für ein ewiges Bewusstsein notwendige Verschmelzung der

Auge der Wissenschaft.

Psyche mit der Cloud wurde von einer Randgruppe als Bedrohung empfunden.

Da wir von Life 3.0 bekanntlich gegen das Verdrängen der Natur aus

Dem ewigen Leben aktiv zu entsagen (man erinnere sich: vom Ethikrat

unserem Gedächtnis bemüht sind [schließlich gab es vor der Cloud

gleichgesetzt mit einem Suizidversuch!), das scheint fremd und unsinnig.

weitläufige Areale auf der Erde, die ausschließlich von Flora und Fauna

Doch bereits Mitte des Jahrtausends gab es eine Strömung von

besetzt waren], möchten wir diesem Thema ein Sondermagazin widmen.


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ie viele historische Begriffe wurde auch Life 3.0 ursprünglich

Vorteile mit sich. Die Pilzfäden, die sich bis tief in die Organe zogen,

etwas abfällig für die Symbiose von Mensch, Tier und Pflanze verwendet.

stellten sich als extrem gute Wasserspeicher heraus. Einige Betroffene

„3.0“, deutlicher konnten es damalige Kritiker nicht machen, dass es sich

kamen nach einer regulären Dusche mehrere Tage ohne Trinkwasserzufuhr

in ihren Augen um Pseudofortschritt handelte.

aus.

Aber das Label blieb hängen, und die neuartigen Hybride entwickeln sich

Jedoch blieb es nicht nur bei den Pilzen. Die Körper öffneten sich immer

konstant fort und passen sich an. Trotzdem werden sie durch die

weiteren Organismen, zogen die Überlebens‐ und Abwehrstrategien

Weltregierung

anderer Arten förmlich an und integrierten diese im eigenen System. Dies

aktiv

vom

Bewusstsein

der

Allgemeinbevölkerung

verdrängt.

führte so weit, dass 2900 an den Fingerspitzen von Alpha‐Patient Paige Presley kleine Widerhaken diagnostiziert wurden, die denen der

Aber woher kommen diese neuen Menschen? Sind es noch Menschen?

Schlupfwespen auf Zellebene glichen.

In den 80er Jahren des 28. Jahrhunderts entdeckten südamerikanische

Von hier an ging die Evolution rasant vonstatten. Die Patienten gaben ihre

Wissenschaftler in einem Patienten HIV4‐resistente Pflanzengene, welche

DNA an ihre Nachkommen weiter. Es entstand eine schnell wachsende

sich in der menschlichen DNA eingenistet hatten.

Randgruppe von Mischwesen, die sich immer weiter und schneller

Nach und nach tauchten weitere Patienten auf, deren Körper empfänglich

transformierten, alles nach Darwins Prinzip natürlicher Selektion.

für alle Sorten von pflanzlichen Stoffen waren. Ganze Zellstrukturen

Als Regular fühlt man sich da fast ein wenig unterentwickelt.

bestimmter Pilzarten wurden durch ihren bloßen Verzehr in ihre DNA übertragen. Zuerst als unabhängig entstandene Hautirritation behandelt, wurden die plötzlich wachsenden Sporen an den Gliedmaßen der Patienten

später

als

Schimmelbewuchs

erkannt.

Interessanterweise

Schimmel, der aus dem Körper selbst zu stammen schien. Diese unangenehme Veränderung brachte aber auch deutliche evolutionäre


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s war einmal ein Akazienbäumchen, das sich mit seiner Familie und seinen Freundinnen ein schönes Plätzchen am südlichen Breitenrand teilte. Jedes Jahr zur gleichen Zeit im Herbst, wenn die Regenfälle sich häuften und die Kleidchen der Akazien besonders schön wurden, statteten die Antilopen ihnen einen Besuch ab. Die Bäumchen standen diesem Besuch sehr ambivalent gegenüber, einerseits waren sie von der Aufmerksamkeit, die ihnen die Antilopen entgegenbrachten, geschmeichelt, da die Vierbeiner immer betonten, wie wohlschmeckend und schön anzusehen sie waren, andererseits erwarteten die Tiere immer etwas mehr als die Akazien zu geben bereit waren. Als sich auch dieses Jahr der Geruch der Antilopen ankündigte, war bei den Akazien viel los: Die Blättchen wurden in Form gebracht, doch nicht so sehr, dass es zu bemüht wirkte, die alten toten Knospen wurden abgeschüttelt und die Älteren klärten die kleinen, frisch Geschlüpften auf und rieten ihnen, auf kein Angebot einzugehen, zu dem sie sich noch nicht reif genug fühlten. Als dann die Antilopen angeritten kamen, sahen die Bäumchen wieder besonders lecker und einladend aus. Die alten Bekannten begrüßten sich freudig und die ausgehungerten Antilopen begannen ohne weiteren Austausch von Höflichkeiten, von den saftigen Blättern zu kosten. Der früh einsetzende Regen hatte die Knospen dieses Jahr besonders frisch werden lassen und die Tiere wurden immer gieriger. Ihre Hörner schmiegten sich an die Blätter, immer tiefer in den Baum hinein. Die Schnauzen berührten die intimen Stellen der Knospen und sogar die kleinen süßen Nachkömmlinge wurden abgeleckt. Als die Tiere schon fast an der empfindsamen Rinde angelangt waren, sprachen sich die Wurzeln der Bäumchen in synchronen Phasen durch in Wasser gelöste,

Weiterführende Literatur: ‐ Chamovitz, Daniel: Was Pflanzen wissen: Wie sie sehen, riechen und sich erinnern. Carl Hanser Verlag München. ‐ Koechlin, Florianne: Pflanzenpalaver: Belauschte Geheimnisse der botanischen Welt. Lenos Basel. ‐ Scheppach, Joseph: Das geheime Bewusstsein der Pflanzen: Botschaften aus einer unbekannten Welt. Droemer. ‐ Scheppach, Joseph: Die Natur schlägt zurück: Wenn Pflanzen zu Mördern werden. In: P.M. Magazin.


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oszillierende Botenstoffe ab. Erschrocken von dem unsittlichen Verhalten,

So oder so ähnlich hört man immer wieder die Geschichte von den Ur‐ur‐

das die Antilopen an den Tag legten, überlegten sie, wie sie sich schützen

ur‐ur‐ur‐ur‐ur‐ur‐ur‐Großeltern, wie die Menschheit das erste Mal verwundert

könnten. Der Bitterstoff Tannin, den die Akazienbäumchen in ihren Blättern

auf die Pflanzenintelligenz stieß. Heute ist man naturseidank weiter in der

bildeten und die Antilopen sonst von einer solchen Gier abhält, schien

Forschung und unterschätzt die Pflanzen mit ihren Wurzelgehirnen nicht

nichts zu bringen, denn sonst wären die Tiere nie so weit gegangen. In

mehr. Trotzdem trifft man auf immer außergewöhnlichere Eigenschaften,

ihrer Überraschung über das arge Verhalten der Antilopen, setzten

die sich Gewächse über die Jahre angeeignet haben. Denn im

besonders die älteren Knospen alles daran, mehr Bitterstoffe zu bilden.

Gegensatz zum Menschen 1.0 entwickelt sich die Natur immer weiter

Gleichzeitig sonderten sie das süßlich riechende Gas Ethylen ab, das der

und es fällt ihr auch leichter, sich an Umweltveränderungen anzupassen.

Wind zu den anderen Bäumen trug, die somit vor den gierigen Antilopen

Brauchte ein ausgewachsener Ahornbaum im Jahr 2000 noch knapp

gewarnt wurden und genügend Zeit bekamen, ihre Giftstoffproduktion

20mg Sauerstoff/1g Trockengewicht pro Tag, hat er seinen Verbrauch

ebenfalls zu erhöhen. Durch diesen Rachefeldzug, der die kleinen

heute um ein Drittel reduziert. Der menschliche Körper der Generation 1.0

Knospen vor weiteren Vergewaltigungen schützen sollte, wurde eine Welle

ist da leider unflexibler.

von Tannin freigesetzt und die plötzliche Ausschüttung in großen Mengen

Diese

erledigte die Tiere. Dank dieser chemischen Reaktion hatten die

vollständigen Verstehen der Naturvorgänge, denn was er selbst nicht

Akazienpflanzen nun wieder ihre Ruhe und konnten ihre Nachkömmlinge

erfährt, kann er auch schlecht nachvollziehen. Wann begreifen endlich

zu schönen Knospen großziehen. Und wenn sie nicht verwelkt sind, leben

alle, dass es Wahrnehmung auch ohne konventionelle Sinnesorgane, und

sie noch heute.

Geist ohne ein differenziertes Gehirn geben kann?

fehlende

Eigenschaft

hindert

den

Menschen

auch

beim


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ebewesen dürfen aufgrund ihrer Rassenzugehörigkeit nicht ausgegrenzt werden! Dieser Leitsatz ist seit 2942 wieder frischer denn je ins Bewusstsein der Menschheit geraten. Nachdem die globalen Unruhen ihren Höhepunkt in den Schweizer Aufständen fanden – Fleming hielt eine halbe Million Asylbewerber im subterranen Frachthafen gefangen – wurden die Gesetze aufs Äußerste verschärft. Heute

wird

kein

Baby

mehr

geboren,

ohne

das

moralische

Serviceupgrade „Doctrinae De Moribus CSC“ installiert zu bekommen. Dennoch schleicht sich allmählich Verdrossenheit in die Cloud ein. Es werden antisoziale Tendenzen spürbar, die sich gezielt gegen hybride Lebensformen richten. Und wenn wir ehrlich sind, irgendwo ist es sogar verständlich. Mit der zunehmenden Hybridisierung von Flora und Fauna werden die Lebensmittel von Tag zu Tag knapper. Seit die soziale Gleichstellung von Hybriden und Menschen im Prozess „Lunic gegen Missouri“ eingeklagt worden ist, dürfen selbst hybride Pflanzenteile nicht mehr verzehrt werden. Sogar das Verspeisen von Knospen, die auf dem eigenen Körper herangereift sind, wird geahndet. Was bleibt also noch? Die letzte Sojabohne wurde vor 150 Jahren gegessen, Weizen reicht noch etwa 10 Jahre, bis auch diese Pflanze eine vollständige Symbiose mit höheren Lebewesen eingegangen sein wird.

Werbekampagne "United Parents Initiative for a hybrid‐free wold"


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Also nieder mit den Hybriden? So einfach ist es nicht. Da die Kreuzungen durch evolutionäre Prozesse ermöglicht wurden, ist die zukünftige Entwicklung bereits in allen Genen dieses Planeten eingraviert. Da hilft es nicht, Hybride Opfer von hate crimes werden zu lassen.

Erst wird die Nahrung knapp, nun geht uns auch noch die Luft aus? Das ist ein beliebtes Argument der blaugeritzten Szene. Nachdem voriges Jahr der

Werbekampagne "UPI for a hybrid‐free world"

"Medical Council of Human Hygiene and Health" Laborergebnisse an die Öffentlichkeit dringen ließ, die suggerierten, dass hybridisierte Pflanzen ihre Fähigkeit zur Photosynthese nach nur drei Generationen verlieren würden, kam es weltweit zu Krawallen, Anschlägen und Aufständen. Klar ist, dies stellt ein mehr als ernst‐ zunehmendes Problem dar, eine Bedrohung für das Konzept Leben an sich. Denn auch Hybride benötigen Luft zum Atmen. Die Sauerstoffkonzentration der Atmosphäre ist heute nur noch halb so dicht wie vor 500 Jahren. Aber Abhilfe ist in Sicht, die erste flächendeckende Installation von Sauerstofftanks wird in diesen Wochen abgeschlossen. Bald gibt es nicht mal mehr einen Geräteschuppen ohne EBT (Notfall‐Reserve‐Tank).

Was, wenn die Buffer Tanks im Notfall versagen? Was, wenn die künstliche Sauerstoffgewinnung in einer Krisensituation nicht ausreicht? Dann wachsen uns vielleicht endlich Kiemen.

Werbekampagne von "Freedo2m" EBTs


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chon im Jahre 2010 wurde der Niedergang des Kinos von vielen

Raum des Kinos trotzdem obsolet. Wer braucht schon einen großen Saal mit

Filmemachern und Wissenschaftlern prognostiziert. Wichtig für die Verbreitung

einer Leinwand, wenn man auch in der Cloud gemeinsam Filme schauen und

dieser Annahme waren nicht nur die damaligen Vereinigten Staaten (heute

sich darüber verständigen kann? Zugegeben, es ist nervig aus all diesen

ILLKAS, Anm. d. Redaktion), sondern auch Lars Henrik Gass. Nicht weniger als

Gedanken zu filtern ‐ besonders wenn jemand den Film schon gesehen hat ‐ und

130 Publikationen veröffentlichte der Festivalleiter und Autor, damals noch in

es bedarf Übung, Spoiler aus dem Kollektivgedächtnis vollständig auszublenden,

sogenannten Büchern bis zu seinem Tod 2211. Eine seiner Leitthesen, dass die

dafür wird einem zu jedem Film aber auch der perfekte Austausch mitgeliefert.

Ästhetik

andere

Und wie oft gab es schon eine ergiebige Diskussion nach einem Kinobesuch?

Auswertungsformen in den Vordergrund drängen, fand viele Sympathisanten.

Das Zeitalter des Filmschauens, Popcornessens und dem anschließenden

Das Kino als Vorführraum und die damit gemeinsame Rezeption verschwindet,

Heimweg ist aber trotzdem noch nicht ganz vorbei. Eine Umfrage im Jahre

da der Film allgegenwärtig und zu jeder Zeit rezipierbar ist. Würde Gass heute

2852 ergab, dass 80% aller Lebewesen sich das Kino aus Nostalgiegründen

noch leben, wüsste er, dass er mit seinen Mutmaßungen ins Schwarze traf,

zurückwünschen. Besonders der Geruch des verbotenen Popcorns stand im

allerdings zu anderen Konditionen als den beschriebenen. Während die

Vordergrund dieses Verlangens. Sie können sich vorstellen wie abwegig der

gemeinsame Rezeption heutzutage nicht mehr wegzudenken ist, wurde der

Gedanke war, wieder ein Kino zu bauen und dort einen Film zu projizieren. Seit

des

Kinos

aus

den

Filmen

verschwindet,

weil

sich


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den

Hunderterjahren

wurde

keine

Filmhardware

mehr

hergestellt,

die

Neben den organisatorischen Problemstellungen galt es auch noch inhaltliche

Meeresverschmutzung konnte dadurch um 12% abgebaut werden, und auch

Entscheidungen zu treffen. Hier mussten Experten gefunden werden, die sich

weniger dritte Weltkinder mussten an der Rohlingproduktion sterben. Es wirkte so,

imstande fühlten, passende Filme auszuwählen, die weder Pflanzen, Hybride

als wären alle mit dieser Umstellung glücklich, und nun sollte man aus einem

oder Menschen in ihren Persönlichkeitsrechten verletzten. Zeitgenössische Filme in

Luxusverlangen heraus wieder das Kino einführen und das Leben von Kindern

das Programm mit aufzunehmen ist zwar wünschenswert, gestaltet sich aber

aufs Spiel setzen?

aufgrund der Filmproduktion von etwa 20 Filmen pro Jahr (Tendenz fallend)

Ein weiteres Problem um das man sich kümmern musste, war der Verkauf von

schwierig.

Popcorn. Pflanzenessen war noch nicht verboten, wurde aber auch nicht gern

Oh Natur, glücklicherweise bin ich nicht die arme Kreatur, die über das

gesehen: Es bestand die Gefahr des Publikumsverlustes beim Verkauf der

Förderbudget der zu produzierenden Filme entscheiden muss. Diese Aufgabe

originalen Maisware. So wurde auf ein Replikat gesetzt, für das kein Saft

stelle ich mir noch undankbarer vor, als der monatliche Parasitencheck bei der

vergossen wurde und trotzdem im Geschmack gleicht. Das Produkt hat sich gut

Wurzelwäsche. Da wünscht man sich doch kurz das alte Jahrtausend zurück, in

bewährt, und letzte Woche veröffentlichte die produzierende Firma auch die

dem jeder, der die Energie dazu hatte, einen Film machen konnte. Mit 1100

Lösung für die Nebenwirkung des schnellen Haar/Wurzelwachstums.

Jahren Filmgeschichte im Rücken ist es fast unmöglich auf neue Ideen zu kommen. Mir geht es zumindest so... wenn ich versuche an ein Filmthema zu denken, tauchen immer wieder Asylkinder auf.

Nun wird produziert, was Erfolg verspricht, und heraus kommt "Rocky ‐ The Prequel", in dem Sly auch Pflanzen das Fürchten lehrt. Immerhin die CGI‐Technik ist endlich ausgereift genug, um tote Darsteller zu reanimieren. Über Dirty Dancing Nr. 9 habe ich mich aber ehrlich gesagt gefreut ‐ auch wenn ich es immer noch bedaure, dass Swayze nicht erhalten werden konnte. Mein Tip also für nächste Woche: Dirty Dancing von Dienstag bis Donnerstag um 20:00 Uhr in "The Last Cinema" mit dem resurrigierten Elton John als fabulöse Neubesetzung.


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Das Bedürfnis, alte, längst vergessene Dinge wieder aufleben zu lassen, ist in der Bevölkerung deutlich spürbar. So wurde neben dem Retrostil vieler Plakate auch das Potenzial der Infografik wiederentdeckt. Dank ihrer öffnen sich "Sinneskanäle, über die man Einsicht und Erkenntnis ohne Worte direkt erzeugen kann." Die vielen Veränderungen in der heutigen Zeit riefen in den Wesen den Wunsch hervor, komplexe Abläufe und Neuerungen in simplen Grafiken festzuhalten, die schnell erklären und nicht zur Verwirrung beitragen. Für diese Ausgabe haben wir innovative Hybride, Menschen und Pflanzen eingeladen, persönliche und lustige Grafiken zum Thema Life 3.0 beizusteuern. Vielen Dank dafür!


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Auch wenn der Stellenwert von Religion und Politik durch die Bereinigung der Cloud extrem gelitten hat, so ist naturseidank die bildende Kunst nachwievor auf unserer täglichen Agenda.

„Hybrids Through A Hundred Eyes“ lautet der Titel der aktuellen Themen‐ ausstellung, die vom 19. ‐ 28. Juli im Hybrid Museum Of 30th Century Art zu sehen ist. Wirken hundert Augen vielleicht etwas übertrieben, so spielt der Titel tatsächlich auf die teilnehmende Künstlerin Amorpha Fruticosa an, die mit ihren knapp 40 Augenpaaren die Welt anders als andere wahrzunehmen scheint. Sie erschafft mittels handwerklicher Collagentechnik Lebens‐ formen, wie es sie bisher noch nicht zu sehen gab. Høëk Flåmgard lässt es sogar noch klassischer angehen und zeichnet seine ihn umgebende Umwelt mit beschwingten Kohlestrichen. Dass er die Kohle aus seinem eigenen Körper gewinnt, dürfte allen bekannt sein. Jefferson & Lilly Bloon griffen zu Lebzeiten weit zurück und schlossen eine 1000‐jährige Klammer, indem sie sich formal auf Bernd und Hilla Becher bezogen. Bäume, Büsche, Blumen: Die Relikte der Natur waren die bevorzugten Motive

der

Bloons.

Sie

prägten

gleich

mehrere

Generationen

erfolgreicher Fotografiekünstler. Beide begeisterten sich schnell für die


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Naturvorkommnisse in der mittlichen Welt, „die eigentümlichen Kreaturen“, wie Lilly sagte. Auf das junge Künstlerpaar wirkten die mächtigen Stämme wie „anonyme Skulpturen“. Im VW‐Bus und mit der EOS 1n im Gepäck brachen die beiden auf, um erinnerungswürdige Baumdenkmale zu dokumentieren: Kastanie, Ahorn, Weide, Buche, Linde. Aber ohne glasklares Konzept wäre diese Mammutaufgabe zerfranst: Jefferson und Lilly Bloon wählten die Methode typologischer Bildserien, die als oberstes Gebot Sachlichkeit und Neutralität aufweisen: Bilder, aus immer dem gleichen Blickwinkel, die nie eine Spur von Arbeit zeigen und keine Dramatik durch Schattenspiele oder Wetterwirkung zulassen. Bloons konzentrierte „Schule des Sehens“, die objektbezogene Sachlichkeit obenan stellte und den Zufall sowie Schnappschüsse ausschließt, erzieht zu nüchterner Distanz und brillanter Tiefenschärfe. Medienkünstler Biggie Schulz schafft dagegen neue Assoziationszusammenhänge durch krude Gegenüberstellungen von Mensch und Natur. Genaueres über seine Person und sein Schaffen im anschließenden Interview auf Seite 26. Ausblickend dürfen wir uns ab 07. August über die Ausstellung „1000 Years“ von Matthew Barney freuen. Als einer der ersten Celebrities ließ er sich Anfang des Jahrtausends für die Ewigkeit erhalten und blickt nun auf ein Millenium an Meisterwerken zurück. Und wir sind eingeladen, mitzublicken.


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Als seine Familie im Krieg alles verlor, war Biggie Schulz elf Jahre alt. Er lernte Photoshop, um Geld zu verdienen.

LIFE 3.0: Herr Schulz, seit über 180 Jahren schaffen Sie wundervolle Photoshoparbeiten, die überall auf der Welt ausgestellt wurden. Haben Sie ein Rezept für den Erfolg Ihrer Arbeiten? Biggie: (Lacht) Leider gibt es in der Kunst kein Rezept wie beim Kochen, wenn man Schaschlikblätter machen möchte. Lustigerweise habe ich früher aber jeden Tag 30 Minuten die Zeit gestoppt und versucht, einen gleichen Ablauf mit Pinsel und Farbe hinzubekommen. Es ging mir um die ephemer synästhetische Dynamik von Farbe und Form, um den Versuch, identische Bilder ‐ sozusagen nach Rezept ‐ zu kreieren. Das ist aber schon lang her... Es wundert mich sowieso, dass die Malerei so lange durchgehalten hat. LIFE 3.0: Warum haben Sie sich von der Malerei abgewandt? Biggie: Eigentlich fand ich das Malen schon immer unzeitgemäß. Mal ehrlich, gab es nach den Neo‐Post‐Naturalisten überhaupt noch ernstzunehmende Malerei? Besonders der Sinn der regressiven Malerei hat mir noch nie eingeleuchtet, zumindest als Kunstströmung nicht, aus dekorativen Gründen kann ich das Kaufen solcher Bilder leider gut nachvollziehen. Ich mochte trotzdem den Vorgang des Malens, dieses Schicht für Schicht auftragen. Irgendwann hat sich dann aber meine Arbeitsweise langsam verändert, ich war eingesperrt in einem langweiligen Tunnel. Das ewige Hinarbeiten auf ein Endprodukt, das man auch so viel schneller haben könnte, strengte mich unglaublich an. Ich veränderte mich und legte plötzlich mehr Wert darauf, reale Elemente zu verfremden.


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LIFE 3.0: In Ihren frühen Photoshoparbeiten haben Sie die phänotypischen Merkmale der Hybride vorweggenommen, bevor es überhaupt zu der Kreuzung Mensch‐Pflanze kam. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen? Biggie: Für mich war das die logische Weiterentwicklung. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal in der Cloud die Information bekam, dass die Verbindung zwischen Mensch und Tier nun rechtmäßig sei. Der Gedanke einer Gleichheit zwischen allen Lebewesen beflügelte mich so sehr, dass ich mir wünschte, es gäbe auch Hybride aus Menschen und Pflanzen. Um diese Fantasie in die Realität umzusetzen, fing ich an, mir meine eigene Welt aufzubauen. Es freut mich sehr, dass sich meine Entwürfe bewahrheitet haben. LIFE 3.0: Wurden Sie angefeindet für Ihre Arbeiten und deren Provokation? Biggie: Nein, zu keinem Zeitpunkt. Anfangs war es ja nur meine Konzeption, die ich gleichwertig machte, und die Gesellschaft nahm dies als Utopie auf. Erst seit 100 Jahren ist die Kreuzung zwischen allen Wesen wirklich spruchreif. LIFE 3.0: Woran arbeiten Sie jetzt im Moment? Biggie: Ehrlich gesagt arbeite ich gerade an einer sehr selbstreferentiellen Aktion. Wie schon gesagt, wünschte ich mir früher schon Hybridwesen aus Pflanzen und Menschen. Jetzt wo es welche gibt, finde ich es schade, dass ich selbst nicht die Möglichkeit habe, Mensch und Pflanze zu sein. Mit dem Wissenschaftler Daniel L. Brook arbeite ich aber gerade daran, mich als Sohn einer Pflanze wiedergebären zu lassen. Dies wurde zwar schon gemacht, aber wir wissen ja, wie es mit Mordecai ausgegangen ist... LIFE 3.0: Welche Pflanzensorte wird Ihre Mutter werden? Biggie: Gute Frage. Noch gibt es leider keine Freiwillige. Aber vielleicht hat ja nach der Lektüre des Interviews eine liebe Akazie oder ein Korianderstrauch Lust bekommen?


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30 Impressum: Copyright 2013 Bianca Kennedy & Felix Kraus Auflage: 1000

LIFE 3.0 Auf 10 Quadratmetern Fläche erstreckt sich ein Architektur‐ und Land‐ schaftsmodell, welches sich zeitlich kurz vor der dritten Jahrtausendwende befindet. Nachdem die Evolution nie zum Stillstand gekommen ist, leben nun neben den Menschen neuartige Hybride: Mischwesen aus Pflanze, Tier und Mensch. Die Hybridisierung führt zu ungeahnten Problemen. Sauerstoffmangel und Nahrungsverknappung sind bedrohliche Aussichten. Was passiert, wenn Pflanzen ihre Rechte einfordern und die Photosynthese einstellen? Wenn der Mais auf dem Teller das Weinen anfängt, wenn die Mischung aus Mohn und Wolf meinen Job ergattert? Das Modell gibt mittels integrierter Screens, Projektionen, Sounds, Gerüchen und einem limitierten Begleitmagazin nach und nach seine Hintergrund‐ geschichte preis. Stop‐Motion‐ und 3D‐Animationen hauchen dem starren Modellbau Leben und Dynamik ein.


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FELIX KRAUS

BIANCA KENNEDY

*1986 in München

*1989 in Leipzig

seit 2007

Studium an der AdbK München

seit 2011

Studium an der AdbK München

seit 2012

Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes

seit 2013

Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes

2010

1. Platz auf dem Bundesfestival Video Ludwigsburg

2013

Bronzemedaille ‐ Filmfestival Rostock

2012

Einzelausstellung "Sex Through Death"

2013

Themenwettbewerb "Konsumieren wider aller Vernunft"

Akademiegalerie München

Galerie Stephan Stumpf

2012

Freshfields Bruckhaus Deringer München

2012

Kunst‐Stoffe ‐ Freshfields Bruckhaus Deringer München

2012

Aaber Award München

2012

INSIDE | OUTSIDE ‐ Nürnberg, Kooperation mit der

2012

Kunsthalle Schweinfurt

2011

Kloster Roggenburg

2002‐2012

Verschiedene Kurzfilme auf Festivals in Amsterdam,

Prinzhornsammlung Heidelberg 2011

Textiles Unbehagen ‐ Galerie Stephan Stumpf

Berlin, London und München

Kontakt:

www.felixkraus.com / info@felixkraus.com

www.biancakennedy.com / info@biancakennedy.com

01577 45 15 191 / #Cloud_EternalFelixKraus

0176 56 80 36 95 / #Cloud_KinkyKennedy



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