Puschtra Nr. 21 vom 04. November 2015

Page 6

titel Hilfe für die Helfer

Wenn Pflege zur Überforderung wird Quelle: Shutterstock

Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich in Südtirol zwischen 1983 und 2013 bei Männern um 10,2 und bei Frauen um 7,6 Jahre erhöht. Das ist erfreulich – wenn man sein Alter bei guter Gesundheit genießen kann. Doch mit der Lebenserwartung nehmen die Erkrankungen zu, die eine teils intensive Pflege notwendig machen. Die helfende Hand: Auch sie braucht oft Hilfe

D

as ist im Pustertal nicht anders: Die Gesellschaft muss sich auf immer mehr und immer länger pflegebedürftige Menschen einstellen. Die Sozialdienste und die Sozialgenossenschaft ITACA/ASSIST begleiten im Pustertal mit ihren 110 Fachkräften 900 Personen ambulant – davon 553 Frauen und 347 Männer. Von diesen sind nur 150 unter 70 Jahre alt – die große Mehrheit der Menschen wird also im Alter pflegebedürftig. Insgesamt leben 518 Menschen dauerhaft in den sieben Pustertaler Pflege- und Wohnheimen, weitere 1.243 werden im Pustertal – soweit dem zuständigen Landesamt bekannt – zu Hause versorgt: 552 in der Pflegestufe eins, 413 bzw. 229 in den Stufen zwei und drei. Die höchste Stufe vier nehmen 49 Personen in Anspruch. Es sind also zumeist die Angehörigen, die sich um die Pflegebedürftigen kümmern, sehr häufig auf sich allein gestellt.

Immer intensiver, immer länger

6

Martha Gruber, die Leiterin der Infostelle „Infostelle für pflegende Angehörige“, sagt dazu: „Die Pflege wird zunehmend intensiver und wird auch im Pustertal vorwiegend von Frauen geleistet, und zwar durchschnittlich 15 Jahre lang. Im Alter sind sie es oft, die übrig bleiben, und wenn sie dann selber der Pflege bedürfen, stehen sie – und die Gesellschaft – vor einem Problem.“ Und die eigentliche demographische Bombe stehe

auch dem Pustertal erst bevor: „Bedenklich ist der überaus starke Anstieg der Single-Haushalte, auch bei älteren Personen. Wenn man bedenkt, dass heute vier von fünf Pflegebedürftigen zu Hause versorgt werden, dann kann man sich vorstellen, was die vielen Singlehaushalte in einer Generation für die Pflegedienste bedeuten

Martha Gruber: „Gestiegenes Bewusstsein für Gewalt in der Pflege“

werden.“ Dazu Zahlen des Statistikamtes: 1994 gab es im Pustertal nur 4.445 Haushalte mit nur einer Person. Zwanzig Jahre später sind es schon 9.913, davon 3.893 im Alter über 60 Jahren.

Unterstützung von auSSen nötig Zwar dürften viele Familien auf mehr oder weniger professionelle einheimische oder ausländische Hilfskräfte – die sogenannten „badanti“ – zurückgreifen, doch

können diese die Arbeit nur erleichtern, nie abnehmen. Daten zur Anzahl der ausländischen Pflegekräfte im Pustertal gibt es nicht. Martha Gruber merkt dazu aber an: „Bei den Beratungsgesprächen merken wir, dass mehrere Familien ausländische Pflegekräfte in Anspruch nehmen. Ohne diesen humanen Ressourcen wäre die häusliche Pflege für viele Betroffene nicht möglich.“ Trotzdem nehmen bei weitem nicht alle Betroffenen Hilfe von außen in Anspruch. Die Folge ist eine zunehmende Erschöpfung und Überforderung, die nicht selten auch zu Aggressionen führen kann. Martha Gruber beobachtet dies schon lange: „Gewalt in der Pflege gab es immer schon, aber in den letzten Jahren ist das Problembewusstsein gestiegen, ebenso wie die Bereitschaft, etwas dagegen zu tun.“

Tabuthema Gewalt in der Pflege Zur Bewusstseinsbildung beigetragen hat auch eine Vortragsreihe, die am 15. Oktober unter dem Motto „Gewaltig überfordert“ in Dietenheim stattgefunden hat. Siebzig Teilnehmer, Pfleger und pflegende Angehörige vorwiegend aus dem Pustertal haben sich in Vorträgen und Referaten namhafter Experten und in Workshops über Krisen im Pflegealltag, das richtige Verhalten in aggressiven Situationen und über Möglichkeiten informiert, Gewalt schon am Entstehen zu verhindern. Die Veranstaltung hat augenscheinlich

einen wunden Punkt aufgegriffen, denn das Problem komme auch im Pustertal öfter vor, als es der Öffentlichkeit bewusst ist, sagt Martha Gruber: „Im Jahr 2014 habe ich 1.400 Beratungsgespräche geführt. Bei 10% dieser Gespräche war das Thema Gewalt in den verschiedenen Erscheinungsformen sehr präsent.“

Evi Ferrarini: „Schmaler Grat zwischen notwendigem Eingriff und Machtspiel“

Ein schmaler Grat „Fälle eklatanter, physischer Aggression sind bei uns relativ selten. Es gibt finanzielle, sexuelle, verbale, vor allem aber solche in subtiler Form, die den Pflegenden selber oft nicht einmal bewusst ist“, erklärte die Vortragende Drin Evi Ferrarini bei „Gewaltig überfordert“. Verbreitet – auch bei uns – seien Formen psychischer Gewalt durch bewusste oder unbewusste Vernachlässigung. Allerdings sei eine vollkommen gewaltfreie


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.
Puschtra Nr. 21 vom 04. November 2015 by Bezirksmedien GmbH - Issuu