Sehnsucht - Benjamin Rose

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Durch das offene Fenster hallt der Lärm der Straße herein. Ich schrecke auf. Setze mich senkrecht auf die Couch und wische mir über das Gesicht. Mein Rücken schmerzt. In der Wohnung stinkt es nach getrocknetem Bratfett und einer Art Muff aus Hitze und Schlaf. Ich stehe auf und bewege mich langsam ins Badezimmer. Drehe den Wasserhahn mit kaltem, klaren Wasser auf und wasche mir Hände und Gesicht. Ich stütze mich mit beiden Armen am Handwaschbecken ab und schaue in den Spiegel vor mir und sage: »Bitte. Bitte, lass heute ein besserer Tag sein«. Die vergangenen Wochen sind wie Brei in meinem Kopf. In mir drin ist nichts als Moder, der immer dunkler und schwerer wird, der mich immer tiefer runter zieht und meinen Körper schwach und träge macht. Ich kann schlecht einschlafen. Habe Angst vor dem Aufwachen. Angst davor nie wieder aufzuwachen. Ich fühle mich wie 60! Lebe in den Tag hinein! Bilde ich mir das ein? Wurde ich erst geliebt und dann über Nacht gehasst? Ich habe es satt, mir täglich diese Demütigungen abzuholen. Ich will nicht mehr jammern, einfach niemanden mehr gehören! Ich fühlte mich wie eine Glühbirne, die einsam von der Decke hängt. Nackt. Für jedermann sichtbar. Unter mir war nichts. Ich weiß, ich brauche einen Neuanfang, einfach rebooten, das gesamte System defragmentieren. Ein normaler Mensch werden. Doch wie geht das: normal sein? Ich werde Passbilder machen und meinen Ausweis verlängern. Mich zum Einwohnermeldeamt begeben, eine Wartenummer ziehen, mich setzen und warten, bis ich dran bin. Vielleicht werde ich das Abendblatt abonnieren. Ich will wissen, ob sie diesen Sommer die Beach-Clubs wieder an einem anderen Ort am Hafen einquartieren. Vielleicht sollte ich mal umstellen. Obwohl ich zur Zeit nicht gern daheim bin, war ich seit Tagen nicht mehr draußen. Habe das Haus nicht verlassen. Heute ist es so weit.

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