und rannte los. Hinter sich vernahm er das Getrappel von schweren Springerstiefeln, doch sie würden ihn nicht einholen und bald schlappmachen, denn Touré war Kenianer, Ausdauerlaufen war ihm quasi in die Wiege gelegt. Auf der Bernauer Straße konnte er in ein Taxi springen oder, wenn keins vorbeikam, ins Polizeirevier flüchten. Was er nur im äußersten Notfall tun würde, denn seine Aufenthaltsgenehmigung war seit einem Monat abgelaufen. Wäre ich bloß mit der U-Bahn gefahren, dachte Touré und drehte sich im Laufen nach seinen Verfolgern um. Dabei übersah er das Plastikband vor einer Baugrube und riss es im Fallen mit sich. Das fliehende Tier spürt keinen Schmerz, doch Touré schrie auf, als das Sprunggelenk seines linken Fußes brach. Er versuchte sich aufzurichten und hörte den kurzatmigen Gesang: »Häschen in der Grube, sahaß und schlief …« Einer der beiden Jugendlichen fuchtelte mit einem Butterflymesser vor seiner Nase herum. Der Afrikaner tastete mit den Händen in der Erde nach einem Stein oder Knüppel, um sich zu verteidigen, und stieß auf einen harten, länglichen, leicht gebogenen Gegenstand. Er zog ihn heraus und hielt ihn den Angreifern entgegen, erntete aber nur höhnisches Gelächter, als der Knochen knapp über seiner Faust brach. Touré grub weiter im Erdreich und förderte etwas Rundes hervor. Seine Angreifer ließen entsetzt von ihm ab, als er den Totenschädel hochhielt und etwas auf Suaheli rief, das wie ein böser Fluch klang. Der Kenianer hob den Kopf und blickte über den Rand der Baugrube. Seine Verfolger waren verschwunden. Er schaute auf den Totenschädel in seiner Hand und murmelte auf Französisch die Worte Hamlets, seiner Lieblingsrolle, die er vor Jahren in Paris bei Peter Brook gespielt hatte: »Sein oder nicht sein. Das ist hier die Frage … Sterben, schlafen, nichts weiter! Und zu wissen, dass ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stöße endet.«
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Berliner Weiße mit Schuss 2012-09-01.indd 8
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