18 minute read

Botticelli in Thüringen

Next Article
Vorwort

Vorwort

Die Kunstsammlung Bernhard August von Lindenaus

Roland Krischke

Advertisement

Am 4. Januar 1848 war es soweit. Die Kunst- und Gewerbeschule am Altenburger Pohlhof öffnete ihre Pforten. 17 Schüler hatten sich eingeschrieben, fünf für Modellieren bei Hofbildhauer Hesse, sieben für architektonisches Zeichnen bei Modelleur Friedrich Sprenger und fünf weitere für freies Handzeichnen beim Museumsleiter Julius Erdmann Dietrich.1 Nach einer Ankündigung des Stifters Bernhard August von Lindenau im HerzoglichSachsen-Altenburgischen Amts- und Nachrichtenblatt vom 12. November 1847 sollten alle Schüler aus dem Herzogtum Sachsen-Altenburg stammen, »körperlich gesund« sein, »das 15. Altersjahr zurückgelegt und das 25. nicht überschritten haben«. Weitere Eintrittsvoraussetzungen waren, »dass dieselben fertig schreiben und rechnen können, mit den Anfangsgründen des Zeichnens und der Mathematik bekannt, auch mit Befähigung, Lust und Liebe für weitere Ausbildung begabt sind, und sowohl darüber, als über ihre untadelhafte sittliche Aufführung, die erforderlichen Belege und Zeugnisse beibringen«.2 Alle Kurse fanden nacheinander mittwochs in der Dach-Rotunde des eigens dafür errichteten Gebäudes statt. Der Unterricht war kostenfrei, die Bewerber wurden jedoch einer eingehenden Eignungsprüfung unterzogen.

Angesprochen waren natürlich nur Knaben, an junge Frauen wurde damals noch nicht gedacht. Und die Kunstschule richtete sich nicht in erster Linie an angehende Künstler, die gleichwohl nicht ausgeschlossen waren, sondern an junge Menschen, die, wie Lindenau es in einer Rede aus Anlass einer Preisverleihung im Januar 1850 formulierte, »durch Kenntnis der Kunst den Werth einer technisch-gewerblichen Laufbahn zu erhöhen u. zu verzieren gedenken«.3 Mit der Kunst- und Gewerbeschule sollte also in erster Linie eine Ausbildungsstätte für junge Altenburger geschaffen werden, die später im Handwerk, in der Architektur oder in anderen technischen Berufen Nutzbringendes für das Herzogtum Sachsen-Altenburg schaffen würden. Lindenau sah »Kunst als Mittel zur Vervollkommnung des technisch-gewerblichen Antriebs«4 und war überzeugt, dass die technischen Erzeugnisse nur durch eine vorherige intensive kreative Auseinandersetzung mit den Meisterwerken der Weltkunst auf ein ansprechendes Niveau gehoben wer-

Unbekannter Künstler, Ansicht von Altenburg, um 1840.

Unbekannter Künstler, Ansicht von Altenburg, Altenburg-Vedute mit Widmung für Lindenau, um 1840.

den konnten. Insbesondere dafür hatte er über mehrere Jahre eine außergewöhnliche Kunstsammlung zusammengetragen, die ebenfalls im neu errichteten Gebäude am Pohlhof untergebracht war. Sie bildete den Grundstock des heutigen Lindenau-Museums Altenburg. Das Ziel der Kunstsammlung war kein ästhetischer Selbstzweck, sie bildete das Anschauungsmaterial für die Kunst- und Gewerbeschule.

In der Ankündigung der Eröffnung der Kunstschule und des Museums im Pohlhof hatte Lindenau dies in aller Bescheidenheit so formuliert: »Bereits seit mehreren Jahren mit einer kleinen Sammlung für Kunst und Wissenschaft beschäftigt, freue ich mich, diese jetzt so weit ausgestattet und geordnet zu sehen, um damit dem heimathlichen Unterricht in plastischer Kunst förderlich werden zu können. Den damit von mir beabsichtigten Zweck spricht die Aufschrift des neuen Pohlhofsgebäudes in den Worten aus:

Der Jugend zur Belehrung, Dem Alter zur Erholung.

Die ich mit der Bemerkung zu vervollständigen habe, daß Ersteres Haupt- und Letzteres Nebensache ist.

Für junge Männer, die sich der Malerei- Bau-, Bildhauer-Kunst oder der höheren Technik widmen und über das Alltägliche hinausgehen wollen,

Louise Seidler, Bernhard August von Lindenau, 1811, Öl auf Leinwand.

ist eine Bekanntschaft mit den großartig-schönen Formen nothwendig, wie solche vorzugsweise der alt-griechischen und mediceisch-italienischen Zeit angehören.

Dem zeitherigen Mangel dieses Bildungsmittels in meiner Vaterstadt soll das Gesammelte insoweit abhelfen, als dies überhaupt durch eine Vermischung von Original und Nachbildung möglich ist, da allerdings Werke der schönsten griechischen und italienischen Kunst-Epoche mit meinen beschränkten Mitteln nicht erworben werden konnten und daher nur in Nachbildungen vorhanden sind.«5

Antike und Renaissance waren für ihn die Leitsterne. Im Vorwort zu einer Publikation, die aus Anlass der Eröffnung von Kunstschule und Museum 1848 erschien, erläutert Lindenau warum er diese Epochen bevorzugte: »Kann meiner Sammlung nicht mit Unrecht eine gewisse Einseitigkeit vorgeworfen werden, so habe ich dies theils mit der Beschränktheit des Raums und der Mittel, theils mit der Ueberzeugung zu rechtfertigen, dass die Leistungen jener beiden Epochen noch jetzt das Höchste und Schönste sind, was wir für Kunst besitzen, und dass nur auf den Grund einer vertrauten Bekanntschaft mit jenen Vorbildern eine höhere Kunstbildung gelingen kann.«6

Im Folgenden geht er darauf ein, warum sich im Museum nicht nur Originale befinden: »Da die Orginal-Meisterwerke jener Zeit für Skulptur und

Domenico del Ghirlandaio, Bildnis einer unbekannten Frau vor Landschaft, um 1480 –1485, Tempera auf Pappelholz.

Malerei theils ausser dem Verkehr, theils nur um Preise zu haben sind, die meine Mittel bei weitem übersteigen, so musste ich mich sowohl für Büsten, Statuen und Reliefe des griechischen Alterthums, als für die vorzüglichsten Maler der Mediceischen Zeit mit Nachbildungen begnügen, während ich für alte griechisch-etrurische Gefässe und Vor-Raffael’sche Malerei Originale zu erwerben bemüht war.«7

Diese 180 Tafelgemälde der frühen Renaissance sind bis heute das Herzstück des Lindenau-Museums, dem es seinen internationalen Rang verdankt. Der Stifter selbst unterschied kaum zwischen Originalen und Kopien und führte in der fünfteiligen Aufstellung seiner Sammlung zunächst die »Gyps-Abgüsse«, dann die Gemäldekopien nach den Werken großer Meister der Renaissance und erst an dritter Stelle die »Original-Gemälde italienischer Meister des 13ten, 14ten, 15ten Jahrhunderts« an, anschließend die originalen »Alt-griechisch-etrurischen Gefässe« und abschließend die heute ebenfalls als bedeutend eingestufte »Kunst-Bibliothek mit einer zahlreichen Sammlung in- und ausländischer Kupferwerke«.8 Wie sich die Einschätzung der Kopien im Laufe der Zeit veränderte, zeigt sich schon dadurch, dass heu-

te nicht mehr alle Abgüsse erhalten sind und die Sammlung der Gemäldekopien bis auf ganz wenige Einzelstücke in den 1960er-Jahren sogar verkauft wurde.9 Auf der anderen Seite wurde mit dem Verkauf des Kopienbestandes Platz geschaffen für zeitgenössische Kunst, die seither – neben den alten Lindenauschen Sammlungen – einen Schwerpunkt der Museums- und Vermittlungsarbeit des heutigen Lindenau-Museums bildet.10

Auch Lindenau formte seine Sammlung bereits sehr bewusst. So gab er in Vorbereitung der Museumsgründung seine bedeutende, immerhin fast 1.000 Objekte umfassende asiatische Sammlung im Oktober 1845 an die Rüstkammer des Residenzschlosses ab. Sie passte nicht zu dem klassischen Kanon europäischer Meisterwerke, der im Pohlhof-Museum ausgestellt werden sollte.11 Und auch die letztlich für Kunstschule und Museum vorbehaltene, 1.500 Bücher zählende Kunstbibliothek zu Themen der Kunstgeschichte, Gewerbekunde, Geschichte und Geografie war nur ein Ausschnitt der riesigen Privatbibliothek Lindenaus von ca. 20.000 Bänden, die er dem Gymnasium und dem Schullehrerseminar im Altenburger Josephinum überließ.12 Dabei trennte er mitunter sogar Bild- von Textbänden. Für Museum

Der Chimborazo, kolorierter Kupferstich von Jean Thomas Thibaut nach einer Skizze von Alexander von Humboldt, Tafel 25 in Alexander von Humboldt: Vues des Cordillères, Paris 1810.

und Kunstschule stand die Anschauung eindeutig im Vordergrund. Herausragende Beispiele sind die »Antichità Romane« von Giovanni Battista Piranesi, die neun Text- und elf Bildbände der »Description de l’Égypte«, die die wissenschaftlichen Ergebnisse von Napoleons Ägypten-Feldzug zusammenfasst oder Alexander von Humboldts Reisebücher. Die Bibliothek ist exquisit bestückt, es gibt mehrere Werke, die weltweit fast nur in Altenburg zu finden sind.13

Grafische Blätter hat Lindenau kaum erworben, folgte hierbei aber auch immer seiner Vorgabe des Nutzens für den Unterricht in der Kunstschule. Noch ein halbes Jahr vor seinem Tod stand er Ende 1853 mit dem Direktor des Dresdner Kupferstich-Kabinetts Johann Gottfried Abraham Frenzel in brieflicher Verbindung, der für ihn den Kunstmarkt beobachten und Reproduktionen nach Werken alter Meister wie Raphael, Dürer oder Rembrandt »um mäßigen Preis« erwerben sollte. Das Vorhaben scheiterte an den finanziellen Grenzen, hatte Lindenau doch eine Maxime aufgestellt, die er in fast identischer Manier in vielen seiner Briefe anführte: »Zu meinem wahren Bedauern, kann ich auf die mein Gebot übersteigende Forderung darum nicht eingehen, weil es seit langen Jahren fester Grundsatz bei mir ist, bei allen derartigen Kunsterwerbungen, mein erstes Anerbieten nie zu verändern.«14

Bereits in den ersten Jahren nach der Eröffnung von Museum und Kunstschule am Pohlhof wurde deutlich, dass das neu errichtete Gebäude zu klein dimensioniert war für die Präsentation der Sammlungen und den Unterricht. Schon 1846 hatte man mit einem Platz am Fuß des Schlossparks für ein größeres Gebäude geliebäugelt, wo dann 1876 das von Julius Robert Enger, einem Schüler Gottfried Sempers, entworfene Herzogliche Landesmuseum eingeweiht wurde. Die Voraussetzung dafür hatte Bernhard August von Lindenau in seinem Testament geschaffen, indem er die Sammlungen dem Herzogtum Sachsen-Altenburg mit der Auflage vermachte, dass sie nie aus Altenburg entfernt werden dürften und ein Umzug aus dem PohlhofMuseum nur dann in Erwägung zu ziehen sei, wenn dafür ein schöneres und geräumigeres Gebäude in Altenburg zur Verfügung stünde. Dieser 22 Jahre nach dem Tod des Stifters vom Herzogshaus umgesetzte Plan erhielt seinen Rahmen durch die von Lindenau ins Leben gerufene »Lindenau-Zachsche Stiftung«, in deren Stiftungsvermögen von 60.000 Talern neben Lindenaus eigenem Vermögen auch ein Legat seines Mentors, des Astronomen FranzXaver von Zach, einfloss, dessen Universalerbe Lindenau 1832 geworden war. Aus dem Erlös des Betrages sollte der Betrieb der Kunstschule und des Museums finanziert werden und Ankäufe für die Kunstbibliothek. Daneben war das Gehalt für einen Künstler vorgesehen, der zugleich als Kustos der Sammlungen fungieren und Unterricht im Handzeichnen erteilen sollte. Darüber hinaus waren aber auch zahlreiche Reisestipendien und Ausbil-

Lindenau-Museum, Postkarte, um 1890.

dungszuschüsse für die Schüler der Kunst- und Gewerbeschule eingeplant, wobei nach Lindenaus Testament »vorzugsweise die armen Volks-Classen und namentlich redliche Handwerker- und Tagelöhner-Familien berücksichtigt werden mögen«.15 Für ein jedes Jahr am Geburtstag des Stifters, dem 11. Juni, stattfindendes Erinnerungsmahl waren immerhin 30 Taler eingeplant.16

Die Lindenau-Zachsche Stiftung konnte die Kunstschule fast 50 Jahre am Leben erhalten, ehe das Stiftungsvermögen in der Inflation der frühen 1920er-Jahre verloren ging. Im letzten erhaltenen Schülerverzeichnis der von Lindenau begründeten Lehranstalt aus den Jahren 1920 bis 1923 wurde ein Erich Winter als letzter Schüler verzeichnet.17 Erst 1971 wurde die Kunstschule als »Studio Bildende Kunst« wieder gegründet, das bis heute besteht und sich im Jahre 2022 mit der Einrichtung mehrerer neuer Werkstätten (ein Medienlabor, eine Kinderkunstwerkstatt, eine Holzwerkstatt) neu erfindet.

Bernhard August von Lindenau war kein passionierter Sammler, der seine Kunstschätze um ihrer selbst willen zusammentrug. Kunstbesitz gehörte selbstverständlich zum Lebensstil eines Adeligen seiner Epoche und zeitlebens erwarb er Kunstwerke. Eine Sammlung im eigentlichen Sinne legte er jedoch erst an, als er mit dem Aufbau einer Lehrsammlung für die Altenburger Kunst- und Gewerbeschule ein konkretes Ziel vor Augen hatte. Seine Herangehensweise ist dabei einerseits von Beharrlichkeit, aber auch von

einer recht kühlen Zielorientierung gekennzeichnet. Er brannte für seine Idee, ließ sich aber nicht aus Begeisterung für ein spezielles Kunstwerk zu unüberlegten Käufen hinreißen. Bei seinen Erwerbungen setzte er sich stets einen strikten finanziellen Rahmen, den er in keinem Fall zu überschreiten bereit war. In dieser nüchternen Herangehensweise unterscheidet er sich von anderen großen Sammlern seiner Zeit wie Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), August Kestner (1777–1853) oder Johann Friedrich Städel (1728–1816), deren Sammlungen erst postum einer öffentlichen Nutzung zugeführt wurden. Lindenau sammelte Kunst, weil er zutiefst überzeugt war vom moralischen Wert der großen Kunstwerke der Antike und der Renaissance und weil er damit einen ganz bestimmten Zweck zu erreichen hoffte: Die Betrachtung von herausragenden Kunstwerken und die kreative Auseinandersetzung damit sollten die Schüler seiner Ausbildungsstätte, die zugleich Zugang zum Museum und zur Bibliothek des Hauses erhielten, zu besseren und damit für das Herzogtum Sachsen-Altenburg nützlichen Menschen machen. Das ist ein sympathischer moderner Gedanke, der gleichwohl seine Wurzeln in der Aufklärung hat und in der Klassik weiterentwickelt wurde. Die Überzeugung, dass das sinnliche Erleben des (antiken) Kunstwerks für die Bildung von herausragender Bedeutung ist, wird für die nachfolgende Epoche grundlegend von Johann Joachim Winckelmann in seinen »Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst« (1755) ausgeführt. Und auch der damit Immanuel Kants Gedanken fortspinnende Friedrich Schiller spricht in ganz anderem Zusammenhang in seinen Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1795) von der »Veredlung des Charakters« durch die Kunst.18

Lindenau bezieht sich in seinen seltenen Äußerungen zu den Hintergründen seiner Sammlung nicht explizit auf diese Vorbilder, folgt aber in den Grundlagen seiner kunstorientierten Bildungseinrichtung konsequent diesem Kunstbegriff und einer philanthropischen Weltanschauung, wie sie etwa bereits im Dessauer »Philanthropinum« Johann Bernhard Basedows (1724–1790) gelebt wurde. Andere Vorbilder fand er in den seit dem 18. Jahrhundert entstehenden Zeichenschulen und den ersten öffentlichen Museen, von denen er auf seinem Lebensweg mehrere selbst kennenlernte. Stets ließ er sich bei seinen Ankäufen von ausgewiesenen Kunstkennern und Kunstagenten beraten.

Bernhard August von Lindenau wurde am 11. Juni 1779 auf dem Altenburger Pohlhof geboren, einem Rittergut, das sich damals am Stadtrand befand. Von 1793 an (er war also erst 14 Jahre alt!) studierte er an der Universität Leipzig Rechtswissenschaften, Kameralistik und Mathematik. 1801 trat er in den Staatsdienst im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg ein, wurde Assessor im Kammerkollegium in Altenburg und noch im selben Jahr zum Kammerrat ernannt. Lindenau hatte ein Faible für die Astronomie, die

sich damals in ganz Europa großer Beliebtheit erfreute. Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg hatte auf dem Seeberg bei Gotha nach Plänen des renommierten Astronomen Franz-Xaver von Zach eine Sternwarte errichten lassen und diesen zu ihrem Leiter eingesetzt. 1798 fand in Gotha der erste internationale Astronomenkongress statt. Lindenau publizierte 1801 seinen ersten Aufsatz über ein astronomisches Thema, zog aber wahrscheinlich schon vorher die Aufmerksamkeit von Zach auf sich, der ihn zur Mitarbeit nach Gotha einlud. Lindenau ging zu gerne auf dieses Angebot ein, was sich mit Blick auf sein weiteres Leben und seine Sammlung als folgenschwerer Schritt erweisen sollte.19 Zach wurde sein Mentor, überließ Lindenau schon bald die Leitung der Sternwarte. Das vertrauensvolle Verhältnis führte letztlich dazu, dass Zach Lindenau zu seinem Universalerben einsetzte, um sein privates Vermögen gemeinnützigen Zwecken in Altenburg zuzuführen, was Lindenau in seinem Testament durch die Einrichtung der Lindenau-Zachschen Stiftung absicherte.20

Auch wenn seine eigentliche Liebe der wissenschaftlichen Arbeit galt und er sich auf vielerlei Weise auf dem Gebiet der Astronomie hervortat,21 wurde Lindenau mit den Jahren immer mehr vom Staatsdienst in Anspruch genommen. Nebenbei lernte er in Gotha natürlich die hervorragenden Kunstsammlungen des Schlosses Friedenstein kennen, die bereits im 17. Jahrhundert für das örtliche Gymnasium zugänglich gewesen waren. Seit 1804 war mit August von Sachsen-Gotha-Altenburg ein kunstsinniger, aber auch verschwen-

Hedwig von Lindenau, Der Pohlhof, 1875.

Rosa Bacigalupo Carrea, Franz-Xaver von Zach, 1820, Öl auf Leinwand.

derischer Herzog im Amt, dessen Kunstankäufe Lindenau ebenso mit Interesse verfolgt haben dürfte wie seine finanziellen Eskapaden mit Argwohn.

Am Ausgang der Befreiungskriege reiste Lindenau 1812 für acht Monate nach Holland, Frankreich und Italien, wobei er auf dem Wege u. a. Carl Friedrich Gauß in Göttingen und Alexander von Humboldt in Paris traf, mit denen er schon längere Zeit im Austausch stand. Vor allem Italien begeisterte den Kunstfreund: »Ich habe Schätze von Kunst und Litteratur gesehen, wie sie selbst in Paris nicht existieren.«22 1813/14 war Lindenau als Generaladjutant von Großherzog Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach erneut u.a. in Paris unterwegs und lernte die Sammlungen des Louvre (damals noch Musée Napoléon) sehr intensiv kennen. Jahre später entsandte er Künstler wie Karl Moßdorf nach Paris, um bestimmte Kunstwerke aus dem Louvre für die Altenburger Sammlungen zu kopieren. Der Louvre wurde in seiner Einrichtung als öffentliches Kunstmuseum beispielgebend für viele Museen in ganz Europa. Hier wurde erstmals eine Kunstsammlung didaktisch aufbereitet. Es gab erklärende Beschriftungen, Kataloge zum Selbststudium und Führungen zur Erläuterung der Werke.23

Nach dem Tod Herzog Augusts von Sachsen-Gotha-Altenburg übernahm Lindenau 1822 die Staatsgeschäfte für den regierungsunfähigen Friedrich IV. Bei der Neuaufteilung der Thüringer Herzogtümer nach dessen Tod 1826

Unbekannter Künstler, Sternwarte Seeberg bei Gotha, um 1845.

sorgte Lindenau mit viel persönlichem Einsatz dafür, dass die Friedensteinischen Kunstsammlungen dauerhaft in Gotha verblieben.

Für seine spätere eigene Sammeltätigkeit wurde ein längerer Aufenthalt Lindenaus als Sächsischer Gesandter am Bundestag von 1827 bis 1829 in Frankfurt am Main wichtig. In dieser Zeit wurde nach langen Rechtsstreitigkeiten über das Testament des Bankiers Johann Friedrich Städel (1728–1816) dessen Stifterwille umgesetzt und das Städelsche Kunstinstitut gegründet, das neben einer Kunstsammlung eine Kunstschule enthielt. Lindenau wird mit Interesse verfolgt haben, dass als Voraussetzung für den Eintritt in die Kunstschule vorab Kurse »im Modellieren, architektonischen Zeichnen oder freien Handzeichnen« besucht werden mussten. Dieselben Fächer fanden sich dann 1848 auch im Lehrplan der Altenburger Lehranstalt. Den späteren Inspektor des Städelschen Kunstinstituts Johann David Passavant (1787–1861) lernte Lindenau wohl nicht erst durch seine Schriften kennen, die sich bis heute in der Lindenauschen Kunstbibliothek befinden. Nach 1848 standen Lindenau und Passavant in jedem Fall in einem engen brieflichen Austausch, in dem es insbesondere um den weiteren Aufbau der Altenburger Sammlung ging. Lindenau traf Passavant im Jahr der Altenburger Museumseröffnung, als er sich über mehrere Monate lang als Abgeordneter der Nationalversammlung in Frankfurt am Main aufhielt.

R. Weibezahl, Residenzschloss zu Gotha, um 1850.

Bereits in seinem 1820 erschienenen Buch »Ansichten über die bildenden Künste und Darstellung des Ganges der selben in Toscana …« hatte sich Passavant über seine Vorstellungen vom Kunstunterricht in einer Zeichenschule geäußert: »Bei einer Anstalt zum Unterricht im Zeichnen für die unbemittelte Jugend sollte unverzüglich Rücksicht auf die Classe der Handwerker genommen werden, auf dass, was sie gelehrt werden, auch in seinem Fache seine Anwendung finde. Würden hierfür einige tüchtige Lehrer bestellt, welche im Zeichnen, in den Anfangsründen der Architektur und selbst der Mechanik einen zweckmäßigen Unterricht ertheilen, so würde wohl dieser Zweck erfüllt sein.«24 Dies hatte Lindenau ganz offensichtlich sehr aufmerksam gelesen.

Ende 1829 wurde Lindenau zum Königlich-Sächsischen Geheimrat ernannt und nach Dresden zurückbeordert. Bald erhielt er weitere Ämter übertragen, wurde 1831 sogar Leiter des Gesamtministeriums, was heute in etwa dem Amt eines Ministerpräsidenten entsprechen würde.25 Lindenau verzichtete während seiner Amtszeit auf 80 Prozent seiner Einkünfte. Seine Pension als Minister spendete er für die Förderung der Künste im Königreich Sachsen. Seit November 1829 hatte Lindenau auch die Oberaufsicht über die königlichen Sammlungen und reformierte das Museumswesen der

Johann David Passavant, Selbstbildnis mit Barett vor römischer Landschaft, 1818, Öl auf Leinwand.

sächsischen Landeshauptstadt komplett. Teil dieser Reformen waren feste Öffnungszeiten und freier Eintritt für alle Besucher, aber auch gravierende Umgestaltungen und Modernisierungen der Sammlungen analog dem französischen Modell.26 In besonders engem Kontakt stand Lindenau dabei mit dem Sammler und Mäzen Johann Gottlob von Quandt (1787–1859), in dessen Haus er zunächst auch wohnte. Der Kunstkenner Quandt hat Lindenaus Kunstgeschmack mit seiner Sammlung zeitgenössischer, altdeutscher, niederländischer, aber auch frühitalienischer Malerei, die in mehreren Räumen seines Hauses zu sehen war, maßgeblich beeinflusst.27 Es ist kein Zufall, dass Lindenau ausgerechnet seinen Freund Quandt und Heinrich Wilhelm Schulz, den Inspektor der Dresdener Antikensammlung, bat, die Einrichtung des Pohlhof-Museums zu übernehmen. Beide verfassten anschließend auch die »Beschreibung der im neuen Mittelgebäude des Pohlhofs befindlichen Kunst-Gegenstände«, den ersten Katalog des Museums.

Als Lindenau 1843, nach 16 Jahren im sächsischen Staatsdienst, seine Ämter aufgab, widmete er sich ganz und gar dem Ziel, systematisch eine Kunstsammlung für Kunstschule und Museum im Pohlhof aufzubauen, deren Struktur und künftige Arbeitsweise ihm nun klar vor Augen standen. Während einer ausführlichen Reise nach Italien und Frankreich erwarb Lindenau

Emil Braun, um 1855.

den Grundstock der späteren Museumssammlung, darunter allein über 40 Tafelbilder der frühen Renaissance. Für den Kauf der Mehrzahl an Werken war Lindenau jedoch auf die Mithilfe von Freunden, Bekannten und Kunstagenten in ganz Europa angewiesen, die in seinem Auftrag tätig wurden. Die Korrespondenz des Museumsgründers ist in diesen Jahren sehr beträchtlich. Bei der Zusammenstellung der Sammlung berieten und unterstützten ihn neben Johann David Passavant und Johann Gottlob Quandt der Mailänder Kaufmann Heinrich Mylius (1769–1854) und der Berliner Kunsthistoriker Gustav Friedrich Waagen (1794–1868), der auch Direktor der Berliner Gemäldegalerie war.28 Vor allen anderen aber war der Archäologe Emil Braun (1809–1856), in Rom Sekretär des Instituts für archäologische Korrespondenz, für eine Vielzahl an Ankäufen verantwortlich. Der reiche Briefwechsel zwischen Sammler und Kunstagent verdeutlicht sehr gut, welche Ankäufe Braun realisierte und welche Schwierigkeiten er hatte, die Wünsche seines Auftraggebers zu erfüllen – insbesondere bei der Einhaltung von dessen Budgetvorstellungen. So kündigte Emil Braun am 30. November 1847 die Anfertigung des Korkmodells des Kolosseums durch Luigi Carotti an: »Endlich ist auch das Colosseum in voller Arbeit. Ich habe viele Noth darum gehabt. Zuletzt wollte der Verfertiger nicht mehr Contract halten und die Arbeit ganz zurückweisen. Einige Scudi für den Kork habe ich zulegen müssen. Ich werde Sie Ew. Exc. an etwas anderem zu ersparen suchen.« Bereits einige Monate vorher schrieb Braun am 3. April 1847 von einem besonders verlo-

Alessandro Filipepi, gen. Sandro Botticelli (1444/45–1510), Bildnis einer Dame im Profil, um 1475, Tempera auf Pappelholz.

ckenden Angebot: »Ein sehr charaktervolles Frauenporträt der älteren Mailänder Schule, wahrscheinlich des Andrea [del] Ver[r]occhio, vorzüglich gut erhalten und schön, ist für 50 Scudi zu haben.« Lindenau sagte schließlich zu – es ist das Frauenporträt, von dem wir heute wissen, dass es von Sandro Botticelli stammt.29

Während Lindenau in seiner ersten Gothaer Zeit die Sterne nur durch ein Teleskop betrachtete, holte er sie für seine Heimatstadt Altenburg vom Himmel. Von den Idealen der Aufklärung getragen, lebte Lindenau ein Leben, das vor allem dem Staatsdienst in Sachsen-Gotha Altenburg, in Sachsen-Altenburg und im Königreich Sachsen gewidmet war. Seine persönlichen Neigungen für die Naturwissenschaften und die Astronomie stellte er zeitlebens gegenüber den Aufträgen seiner fürstlichen Dienstherren hintan. Mit seinem Pohlhof-Museum, das die Idee einer Kunstschule mit der Anschauung von Meisterwerken der Antike und Renaissance vereinte, legte er am Ende seines Lebens den Grundstock für das heutige Lindenau-Museum am Fuß des Altenburger Schlossparks, das seine Sammlungen im 20. und 21. Jahrhundert bedeutend vergrößern konnte. Dank einer großzügigen Förderung der Bundesrepublik Deutschland und des Freistaates Thüringen wird das Museum seit 2020 umfassend saniert und erweitert. Der Gedanke Lindenaus, durch die Anschauung von Kunst zur Kreativität anzuregen und damit eine Grundlage für eine lebendige Bildung zu schaffen, wird auch im »neuen« Lindenau-Museum fortleben.

This article is from: