Und abends in die Scala! (Leseprobe)

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Potsdamer JĂźdische Studien Herausgegeben von Thomas Brechenmacher und Christoph Schulte Bd. 4


Fabian Riedel

Und abends in die Scala! Karl Wolffsohn und der Varietékonzern SCALA und PLAZA 1919 bis 1961 Aufstieg, »Arisierung«, »Wiedergutmachung«


Der Druck wurde ermöglicht durch die Stiftung Irène Bollag-Herzheimer, Basel.

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Inhalt

Vorwort von Michael Wolffsohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Forschungsstand und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methode und Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aufstieg, Erfolg und Expansion des Konzerns (1919 bis 1929) . . . . . . .

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Aufstieg der SCALA: Der Beginn einer europäischen Legende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alles auf Anfang: Der Eispalast in Berlins »Neuem Westen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unternehmensgründung der SCALA in Berlin-Schöneberg 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kauf des Berliner Eispalasts und Umbau zum Varietétheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Überblick: Geschichte des Varietés bis zum Ende der Kaiserzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . Erteilung der Konzession und Gründung der Pachtgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbruch in die Moderne: Kulturpolitik in der Epoche der Weimarer Republik . . . . . . . »…Und abends in die SCALA«: Eröffnung des größten Varietétheaters im Deutschen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftlicher Erfolg der SCALA während der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufschwung und Boom des Konzerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragwürdige Firmenpolitik: Geldentnahmen und Fremdfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . Neuausrichtungen: Wechsel der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Expansionen der SCALA: Das Varietétheater PLAZA und andere Beteiligungen . . . . . . . . . . Das erste Volksvarieté im Deutschen Reich: Kauf und Umbau des ehemaligen Ostbahnhofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Die höchsten Leistungen zu niedrigsten Preisen!« – Eröffnung der PLAZA im Februar 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Expansion in Rekordzeit: Neue Provinztheater für Österreich, Deutschland und die Niederlande. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategische Allianzen: Gründung des »Embassy Clubs« und profitabler Buchungsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Konzern in der Krise (1929 bis 1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Markante Zäsur: Die Weltwirtschaftskrise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs 1930. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschärfung der Finanzsituation und Bankenkrise 1931. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Haftungsentziehung der SCALA-Gesellschafter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Bestand des Konzerns ernstlich gefährdet«: Die wirtschaftliche Situation 1932 . . . . . . . Griff zur Macht: Das »Stillhalteabkommen« der SCALA-Gesellschaften. . . . . . . . . . . . . . . . Dramatische Zuspitzung der Illiquidität des Konzerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schicksalsjahr 1933: Machtkampf im Konzern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Vorboten des Niedergangs: Antisemitismus in Gesellschaft und Varieté . . . . . . . . . . . . . . . . Judenboykott in der SCALA: Machtergreifung versus Machterhalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Absetzung der Geschäftsführung der SCALA: »Direktion nunmehr rein christlich« . . . »Im Stich gelassen«: Jules Marx’ erzwungene Flucht nach Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückzug auf die Sicherheiten: Strategiewechsel der Dresdner Bank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gescheitert: Widerstand gegen das Diktat der Gläubiger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die »Arisierung« des Konzerns (1934/35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Die »Arisierung« der SCALA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Klage Moritz Löwenthals: Beginn des Wettlaufs der Gläubigerbanken. . . . . . . . . . . Jules Marx’ erzwungene Abberufung »aus wichtigem Grund« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versuchte Ausschaltung der jüdischen Gesellschafter durch die Deutsche Unionbank Endgültiger Bruch: Absetzung der untreuen Geschäftsführung und juristische Schritte Der Blatzheim-Konzern: Rettung in »letzter Sekunde«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Letzter Akt: Die Zwangsversteigerung des SCALA-Grundstücks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »Arisierung« der PLAZA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drohende Zahlungsunfähigkeit: Das Scheitern der Verhandlungen mit der Dresdner Bank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollusives Zusammenwirken von Dresdner Bank und Propagandaministerium zur »Arisierung« der PLAZA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Konzern der Varietétheater SCALA und PLAZA in der NS-Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Profiteure der Macht: Die nationalsozialistische Führung der SCALA . . . . . . . . . . . . . . . Staatliche Kontrolle: Die PLAZA zwischen Propagandaministerium und »Kraft durch Freude« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abserviert: Die jüdischen Gesellschafter und die Inanspruchnahme durch die Dresdner Bank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die von Karl Wolffsohn initiierten Wiedergutmachungsprozesse nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Karl Wolffsohn zwischen Identitätssuche und Konfliktmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Unter der Decke besteht der Nazi weiter«: Rückkehr nach Deutschland Ende 1949. Zeitraubende Vorbereitung: Auseinandersetzung mit den Mitgesellschaftern. . . . . . . . Das Wiedergutmachungsverfahren der SCALA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ahndung vergangenen Unrechts: Die Initiierung der SCALA-Verfahren . . . . . . . . . . . . .

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Showdown vor dem Wiedergutmachungsamt: Die Frage nach einem möglichen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Man muss nur viel Geduld haben«: Niederlage in erster Instanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wiedergutmachungsverfahren der PLAZA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Die Zeche zahlen«: Rückerstattungsforderungen gegen die Dresdner Bank . . . . . . . . Gegenangriff: Dresdner Bank verklagt Karl Wolffsohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Nicht für die Sünden des Nazi-Regimes verantwortlich«: Rückschlag vor dem Landgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidung über die Wiedergutmachungsverfahren SCALA und PLAZA . . . . . . . . . . . . . . Letzte Chance: Vergleich oder Überprüfung durch das Oberste Rückerstattungsgericht? Endgültige Niederlage im SCALA-Verfahren: Keine Haftung der Unionbank . . . . . . . . . Vergleich im PLAZA-Verfahren: »Gefühlte Niederlage« gegen Dresdner Bank . . . . . . . Neustart der SCALA im Nachkriegsdeutschland?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Resümee: Der Konzern der Varietétheater SCALA und PLAZA 1919 bis 1961 . . . . 334 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über den Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort von Michael Wolffsohn

Karl Wolffsohn war mein Großvater. Ich habe ihn als Kind bewundert. Ich bewundere ihn heute, nach der Lektüre von Fabian Riedels Studie, mehr denn je, denn jetzt weiß ich auch warum. Ich war zehn Jahre alt, als Karl Wolffsohn starb, kannte ihn nur aus seinen und der Familie Erzählungen und einigen Dokumenten aus seinem Nachlass. Fabian Riedel hat nicht nur diesen Nachlass intensiv ausgewertet, sondern eigentlich alle verfügbaren Dokumente. So entsteht, fokussiert auf die seinerzeit weltberühmte »Scala« und die Person Karl Wolffsohn, ein Zeitpanorama des späten Kaiserreichs, der Republik von Weimar, des Dritten Reiches, des Exils in Britisch Palästina und der frühen Bundesrepublik Deutschland. Bei der Lektüre dieser Studie leben sie auf: die Berliner letztlich doch melancholische Lebens- und Liebeslust der Goldenen 20er Jahre, wie wir sie aus Christopher Isherwoods »Farewell to Berlin« kennen, der Filmvorlage für »Cabaret« mit Liza Minelli. Die »Comedian Harmonists« undundund. Im Vergleich zum damaligen Berlin ist das heutige trotz der Selbstbeweihräucherung doch recht mickrig, auch bezüglich der Glimmer- und Schimmerwelt, die ja mehr Ablenkung brachte als Hinlenken zum Wesentlichen des Seins. Oder war, ist das Nebensächliche, das Vergnügen, doch die Hauptsache im Leben? Das mag jeder selbst entscheiden. Unterhaltungsindustrie war und ist Business. Auch Business kann man ethisch oder skrupellos betreiben. Mir scheint, jenseits meiner familiären Parteilichkeit, dass Karl Wolffsohns Geschäftsethik auch einer nachträglichen, kritischen Prüfung standhält – nicht »nur«, weil die »Scala« und andere seiner Vermögensteile von den Nationalsozialisten brutal »arisiert«, also enteignet wurden. Fabian Riedels Buch zeigt uns, dass und wie manche, die Macht und Geld »riechen«, trotz ihrer Verbalethik schwach werden (oder immer schon waren). Zivilcourage? Mangelware. Damals, heute, morgen. Auch bezogen auf Zivilcourage schneidet Karl Wolffsohn alles andere als schlecht ab. Selbst als strukturell wehrloses NS-Opfer wehrte er sich situationell so lange er konnte. Nach 1945/49 kämpfte er gegen die Windmühlen der braun-bundesdeutschen Justiz, die im Kalten Krieg Westwind bekam. Wie die rotdeutsche Justiz in der DDR Ostwind. Recht besehen, wurde die Scala nach 1945 »rechtlich wasserdicht« noch einmal arisiert. Karl Wolffsohn wurde nicht nur nicht entschädigt, er bzw. sein Sohn Max,

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mein Vater, musste die Dresdner-Bank-Arisierer finanziell »entschädigen« und eine »Ehrenerklärung« abgeben. Absurdes Theater, aber wahr. Zivilcourage hier, opportunistische Profiteure dort. In diesem Buch findet man Lehrstücke. Manche sind so absurd, dass sie nur aus dem wirklichen Leben stammen können. Man denke an Ignatz Bubis, den langjährigen Präsidenten des deutschjüdischen Zentralrats. Er kaufte 1965 den »Scala«-Grund vom Arisierungsprofiteur. So richtig koscher war das nicht. Man sieht: Fabian Riedels Studie präsentiert Menschliches, allzu Menschliches – auf neue, informative Weise.

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Einleitung

»… und abends in die SCALA!« Das war in den sogenannten Goldenden Zwanzigern der einschlägige Werbeslogan für vergnügungssüchtige Berliner, denen das Varietétheater ermöglichte, für einen Abend den beschwerlichen Alltag hinter sich zu lassen. Tatsächlich wurden die 1919 gegründete SCALA in Schöneberg und das 1928 etablierte Varietétheater PLAZA im vormaligen Ostbahnhof in Berlin-Friedrichshain zu Wahrzeichen einer sich neu bildenden Gesellschaft. Beide hatte eine Gruppe jüdischer Kaufleute aus Berlin und Übersee gegründet, die zunächst durch den Umbau des ehemaligen Berliner Eispalasts das SCALA-Theater zur ersten Adresse einer neuen Art der Varieté-Revue entwickelten. Zu den Gründungsgesellschaftern gehörten der Verleger und Kinopionier Karl Wolffsohn sowie acht weitere Geschäftspartner, darunter der Bankkaufmann Jules Marx, der Flugzeugindustrielle Anton Fokker, der Modeunternehmer Ernst Strelitz und der US-amerikanische Filmunternehmer Ben Blumenthal. Die SCALA feierte in den 1920er Jahren große Erfolge. Sie wurde schon bald nach ihrer Gründung zu einem weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannten Varietétheater, in dem Showgrößen wie der Jongleur Enrico Rastelli, die berühmten Clowns Grock und Charlie Rivel oder die Comedian Harmonists auftraten. Seinen jüdischen Gesellschaftern glückte mit der SCALA sowohl ein künstlerischer als auch – und dies vielleicht in höherem Maße – ein wirtschaftlicher Coup. In den späteren Jahren der Weimarer Republik kam es infolge der Weltwirtschaftskrise seit dem Herbst 1929 und der immer instabileren politischen Verhältnisse zu einer anhaltenden wirtschaftlichen Degression. Noch kurz davor, im Jahr 1928, hatten die erfolgsverwöhnten und zukunftsorientierten Gesellschafter der SCALA die Expansion ihres Unternehmens gewagt und als Pächter der Reichsbahn im einstigen Ostbahnhof Berlins unter Aufbringung erheblicher finanzieller Mittel ein 3.000 Plätze fassendes, innovatives Volksvarieté gegründet. Auch die PLAZA war in ihren ersten Jahren – trotz der allgemeinen Wirtschaftskrise – ein Erfolgsmodell, das erstmals die Arbeiterschaft als Zielgruppe ins Visier nahm und zahlreich ins Varietétheater lockte. Ab 1930 betrieb der Konzern der SCALA und PLAZA weitere Theater in Hamburg, Leipzig, Mannheim, Dortmund und Rotterdam. Den Höhepunkt des Unternehmenserfolgs stellt der Sommer 1931 mit der Gründung einer internationalen Buchungsgemeinschaft für weltbekannte Künstler in Partnerschaft mit der UFA und führenden Varietés in Paris und London dar. Zur Finanzierung des laufenden Betriebs nahm der Konzern der Varietétheater SCALA und PLAZA hypothekarisch und durch persönli-

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che selbstschuldnerische Bürgschaften der jüdischen Gesellschafter gesichertes Fremdkapital der Bayerischen Vereinsbank München, der Vereinsbank Nürnberg, der Deutschen Unionbank und der Dresdner Bank auf. Das wurde notwendig aufgrund hoher Entnahmen der Gesellschafter und auch wegen des enorm kostspieligen Umbaus des Berliner Ostbahnhofs, der gleichzeitig mit einer Expansion in zahlreiche weitere Theater erfolgte. Ab Ende des Jahres 1931 traf der seit der Weltwirtschaftskrise anhaltende Niedergang der Varietébranche den im Aufbau befindlichen Konzern hart und führte zu schwer überwindbaren Zahlungsschwierigkeiten. Gründe dafür waren neben dem Fernbleiben des sich jegliches Kulturvergnügen sparenden Publikums auch geänderte Ansprüche. Vor allem der Aufstieg des Kinos, das sich mithilfe des Tonfilms zu einer neuen Kulturgattung entwickelte, führte zu immer leereren Rängen in den klassischen Varietébühnen. Hinzu kamen harte Rückschläge bei einigen Engagements in der Provinz, die sich als Fehlspekulation erwiesen. In der Folge musste weiteres, hochverzinsliches Fremdkapital aufgenommen werden, was die Handlungsspielräume des Konzerns immer weiter einschränkte. Die Gläubigerbanken wurden zusehends nervöser und richteten im Februar 1932 einen Kontrollausschuss ein, der die Geschäftsführung ähnlich wie der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft kontrollierte. Dafür erklärten sich die Banken, allen voran die Dresdner Bank und die Deutsche Unionbank, bereit, bis auf Weiteres mit ihren Forderungen stillzuhalten. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 gerieten die jüdischen Gesellschafter des prominenten Berliner Großunternehmens mit mehreren Hundert Angestellten auch politisch unter Druck. Schon im April 1933 wurde die gesamte jüdische Geschäftsführung gleichgeschaltet und alle jüdischen Mitarbeiter wurden entlassen. Dabei wurde die SCALA boykottiert und mehrfach von randalierenden nationalsozialistischen Unruhestiftern heimgesucht. Der Direktor der SCALA, Jules Marx, musste Berlin fluchtartig nach Paris verlassen. Anstatt der jahrelang im Unternehmen befindlichen jüdischen Geschäftsführer installierten die Gläubigerbanken ihnen nahestehende, fachfremde Autodidakten an den Machtpositionen des Konzerns. Die Folge waren noch höhere Verluste bei der SCALA und wegbrechende Einnahmen bei der PLAZA. Zudem setzte ab 1933 das NS-Regime, insbesondere das Propagandaministerium und die Gewerkschaften, die Hauptkreditgeber Dresdner Bank und Deutsche Unionbank zunehmend unter Druck, das in jüdischer Hand befindliche Unternehmen zu »arisieren«. Schon im Jahr 1934 wurde die SCALA wegen Rückständen bei der Hauptsteuerkasse und drohender Klagen unter Zwangsverwaltung gestellt. Kurze Zeit später kam es zur Kündigung eines wichtigen Vertrages zwischen der Betriebsgesellschaft der SCALA und ihrer Immobiliengesellschaft. Eine neue Betriebsgesellschaft, finanziert durch die Deutsche Unionbank und geführt von den durch die Banken installierten NS-Mit-

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gliedern, schloss kurzerhand einen neuen Pachtvertrag mit der Immobiliengesellschaft ab und eliminierte damit die Einflussnahme der jüdischen Gesellschafter auf ihr Unternehmen. Bereits im Jahr 1935 wurde das SCALA-Grundstück zwangsversteigert und ebenfalls von der neuen »judenfreien« Betriebsgesellschaft mit Mitteln der Deutschen Unionbank gekauft. Die jüdischen Gesellschafter gingen leer aus. Dagegen gelang es den neuen nationalsozialistischen Inhabern, die SCALA aus der Krise zu führen. Durch regelmäßige Besuche oberster Parteikader der NSDAP, inklusive Adolf Hitler und Joseph Goebbels, gelangte das Varietétheater in den 1930er Jahren zu erneutem, aber zweifelhaftem Ruhm. Im Jahr 1944 wurde es vollständig ausgebombt. Die PLAZA dagegen wurde durch Kredite der Dresdner Bank finanziert, die sich schon 1929 für ihr Engagement die Anteile der Betriebsgesellschaft der PLAZA pfandweise übertragen ließ. Als im Jahr 1934 der Konzern am Rand des Zusammenbruchs stand und auch keine Aussicht auf eine kurz- bis mittelfristige Besserung bestand, zog sich die Dresdner Bank auf ihre Sicherheit zurück. Hintergrund war ein Pakt mit dem Reichspropagandaministerium, das die »Arisierung« des Konzerns forderte. Im August 1934 versteigerte die Dresdner Bank die ihr pfandweise überlassenen Anteile der Betriebsgesellschaft – jedoch ohne Erfolg: Die Bank musste die Anteile selbst übernehmen und wurde in der Folge Eigentümer eines langfristigen Pachtvertrages mit der Deutschen Reichsbahn Gesellschaft zum Betrieb des Theaters. Da jegliche Versuche, das Theater anderen interessierten Unternehmen oder auch der Organisation »Kraft durch Freude« und dem Propagandaministerium zu überlassen, scheiterten, sah sich die Bank im Sommer 1935 gezwungen, keine weiteren Mittel zur Aufrechterhaltung der am Boden befindlichen Betriebsgesellschaft des Theaters zur Verfügung zu stellen. Über die Betriebsgesellschaft wurde Konkursantrag gestellt und die Dresdner Bank verlor ihr knapp zwei Millionen RM hohes Engagement. Die NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« übernahm 1938 schließlich doch noch das Theater, bis es 1944 kriegsbedingt schließen musste. Im Jahr 1938 kam Karl Wolffsohn, Mitgründer und Mitgesellschafter des Konzerns, in monatelange Schutzhaft der Gestapo. Da ihm kurz nach der Haftentlassung eine weitere Inhaftierung wegen Steuervergehen drohte, musste er im Frühjahr 1939 über Nacht aus Deutschland fliehen und emigrierte nach Palästina. Im Nachkriegsdeutschland kämpfte Wolffsohn um »Wiedergutmachung« für das ihm zugefügte Unrecht. Dabei wurde ihm schnell klar, wie enorm langwierig und kompliziert die Beweisführung für die verwickelten Vorgänge der Vorkriegszeit werden würde. Zwei Verfahren strengte Wolffsohn mitsamt den ehemaligen Gesellschaftern oder deren Erben gegen die untreuen früheren Geschäftsführer der SCALA, die neue Betriebsgesellschaft der SCALA und die Deutsche Unionbank an, die er beide nach Urteilen des Landgerichts Berlin, des Kammergerichts Berlin und des Obersten Rückerstattungsgerichts verlor. Außerdem nahmen Wolffsohn und seine Mitgesellschafter

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die Dresdner Bank wegen der PLAZA in Anspruch. Die Bank reagierte, indem sie ihrerseits Wolffsohn aufgrund seiner selbstschuldnerischen Bürgschaft aus dem Jahr 1929 verklagte. Im Sommer 1956 gewann die Dresdner Bank den jahrelangen Bürgschaftsprozess mit einem Urteil des Bundesgerichtshofs: Karl Wolffsohn wurde dazu verurteilt, einen Teilbetrag seiner damaligen Bürgschaft von 6.100 DM zu zahlen. Nur ein Jahr später starb er infolge eines Herzinfarkts. Die nervenaufreibenden Verfahren hatten ihn zunehmend an der Gerichtsbarkeit der noch jungen Bundesrepublik zweifeln lassen. Sein Sohn Max Wolffsohn beendete schließlich den Prozess mit der Dresdner Bank durch einen Vergleich, da er befürchten musste, weiterhin aus der Bürgschaft seines Vaters in Anspruch genommen zu werden. Dabei mussten die ehemaligen Gesellschafter der PLAZA im Dezember 1961 sogar eine Ehrenerklärung abgeben, in der sie die Inanspruchnahme der Dresdner Bank ausdrücklich bedauerten. Heute erinnert eine Gedenktafel am Franz-Mehring-Platz 1 in Berlin-Friedrichshain an den Konzern der Varietétheater SCALA und PLAZA und dessen Mitgründer Karl Wolffsohn und Jules Marx.

Forschungsstand und Fragestellung Die vorliegende Fallstudie behandelt die »Arisierung« jüdischen Eigentums und ihre »Wiedergutmachung«. Diese Themenfelder werden anhand der Unternehmensgeschichte des Konzerns der Varietétheater SCALA und PLAZA und des Einzelschicksals Karl Wolffsohns über den Zeitraum von 1919 bis 1961 untersucht, also vom Gründungsjahr der SCALA bis zum Vergleich mit der Dresdner Bank. Der Blick richtet sich im ersten Teil zunächst auf die Gründung und den Erfolg des Varietés SCALA und die Expansion des Unternehmens mit dem Volksvarieté PLAZA. Die SCALA begeisterte ihre Zuschauer mit innovativen Varieté-Revuen und gelangte schon während der Weimarer Republik zu großer nationaler und internationaler Bekanntheit; hier sangen erstmals die berühmten »Comedian Harmonists« vor. Nach zehn erfolgreichen Jahren expandierte das Unternehmen und schuf im Berliner Osten das Volksvarieté PLAZA sowie weitere in Pacht übernommene Theater in Deutschland und den Niederlanden. Damit schrieb das bis dahin zum Konzern gewachsene Unternehmen Varietégeschichte und wurde zu einer der prominentesten Berliner Kulturinstitutionen. Schon die Gründung des Konzerns wirft interessante Forschungsfragen auf. Warum schloss sich die Gruppe jüdischer Unternehmer mit unterschiedlichen Biografien zusammen, um ein Varietétheater unter großem finanziellen Aufwand zu errichten? Besonderes Augenmerk wird auf die Ursachen des Erfolges der SCALA in der Weimarer Republik gelegt. Welche Innovationen im Varieté machten die SCALA im Vergleich zu anderen Einrichtungen dieser Art so einzigartig? Lässt sich der Erfolg der

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SCALA in der Weimarer Republik auf ebendiese Innovationen zurückführen? Warum entschieden sich die Gesellschafter der SCALA im Jahr 1928, mit der PLAZA ein weiteres Großvarieté zu errichten, wo sich doch gerade zu dieser Zeit eine dramatische Abschwächung der Konjunktur bemerkbar machte? Noch heute sind zahlreiche Menschen fasziniert von den gesellschaftlichen Strömungen der 1920er Jahre. Jüngstes Beispiel ist die bislang teuerste deutsche Fernsehproduktion »Babylon Berlin«, die mit einem Budget von ca. 40 Millionen Euro die »rauschhafte Welt der untergangsgeweihten Weimarer Republik« in zwei Staffeln porträtiert.1 Vorlage war der erste Band einer erfolgreichen Reihe von inzwischen sechs Historienkrimis um den Berliner Kommissar Gereon Rath zwischen 1929 und 1933, veröffentlicht von Volker Kutscher2 im Jahr 2007. Ein weiteres Beispiel ist die von ARD/ARTE produzierte dokumentarische Dramaserie »14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs«3 von 2014 und ihre Fortsetzung »18 – Krieg der Träume«4, die im Herbst 2018 zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkrieges ausgestrahlt wurde. Sie handelt von der turbulenten Geschichte Europas von 1918 bis 1939. Berlin wurde in diesen Jahren zum kulturellen Zentrum Europas. Die Varietés SCALA und PLAZA waren zwei seiner Aushängeschilder. Eine demokratische Massenkultur entstand, die alle freiheitsliebenden Menschen in ihren Bann zog. Damit wurde Berlin zu einem Schmelztiegel ernsthafter, aber auch leichter Kunst. Christopher Isherwoods5 weltberühmter Roman »Goodbye to Berlin« von 1939 als autobiografische Wiedergabe der Lebenssituation verschiedener Berliner in den frühen 1930er Jahren verewigte diese Zeit literarisch. Musikalisch diente sein Buch in den 1960er Jahren als Vorlage für das nicht minder bekannte Musical »Cabaret« mit Liza Minnelli. Die Liebesromanze »Und abends in die Scala«6 von 1957, produziert von Erik Ode und mit der berühmten Caterina Valente in der Hauptrolle, versuchte, an das Stimmungsbild der legendären Berliner SCALA anzuknüpfen. Die Gründung und der Erfolg des Konzerns sind auch ein Teil der Geschichte der deutschen Varietélandschaft. Eine erste Darstellung zu diesem Thema veröffentlichte der Varieté- und Zirkusagent Robert Wilschke im Jahr 1941, der durch seine Artistenvermittlungen einzigartige Einblicke in die Berliner Varietélandschaft erhielt.7 Seine unter dem Titel »Im Lichte des Scheinwerfers« herausgegebenen Erinnerungen und Erzählungen

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Vgl. https://www.babylon-berlin.com/de/ueber-babylon-berlin/das-setting/ (abgerufen am 10.1.2018). Volker Kutscher: Der nasse Fisch, Köln 2007. Vgl. http://www.14-tagebuecher.de/ (abgerufen am 1.10.2018). Vgl. https://krieg-der-traeume.de/ (abgerufen am 1.10.2018). Christopher Isherwood: Goodbye to Berlin, London 1939. Klaus Brühne (Hrsg.): Lexikon des internationalen Films, Band 8, Hamburg 1990, S. 3940. Robert Wilschke: Im Lichte des Scheinwerfers, Erinnerungen und Erzählungen eines Varieté- und Zirkusagenten, Berlin 1941 (künftig zitiert: Wilschke, Im Lichte des Scheinwerfers).

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waren eine Zusammenstellung zahlreicher Anekdoten aus Varieté und Zirkus. Am Rande wurden auch die in der SCALA auftretenden Künstler porträtiert. Das 1963 von Jean-Pierre Moulin und Ervin Kindler aus dem Französischen übersetzte Varietébuch »Eintritt frei – Varieté«8 blieb im Grundsätzlichen verhaftet, ohne die SCALA zu erwähnen. Im Jahr 1983 legte Ernst Günther mit der »Geschichte des Varietés«9 nach zehnjähriger Forschungsarbeit die erste umfassende, wissenschaftliche Studie zur Varietégeschichte vor. Günther ging dabei vor allem auf die Hauptgenres des Varietés, darunter Zauberkünstler, Akrobaten und Conférenciers, in ihrer jeweiligen geschichtlichen Entwicklung und auch auf die zahlreichen internationalen Varietéströmungen ein. Die SCALA wurde von Günther zwar immer wieder erwähnt, jedoch meist beiläufig und oberflächlich. Eine weitere, umfassende und reich illustrierte Darstellung wurde 1990 von Wolfgang Jansen10 vorgelegt, die erstmals auch die Geschichte der SCALA und der PLAZA eingehender beleuchtete. Jansen musste sich jedoch größtenteils auf zeitgenössische Presseartikel als Quellenbasis beschränken, was ihm einen näheren Blick auf die Unternehmensgeschichte der SCALA und PLAZA verwehrte und teilweise zu unrichtigen Darstellungen führte. Schon im folgenden Jahr 1991 legte Karl H. Pütz11 in Zusammenarbeit mit Wolfgang Jansen eine erste Einzeldarstellung zum Konzern der Varietétheater SCALA und PLAZA vor. Der Fokus der Arbeit lag auf dem fotografischen Nachlass Josef Donderers, dem Meisterfotografen der SCALA. Der einzigartige Bildnachlass Donderers konnte mithilfe des Bildarchivs Preußischer Kulturbesitz (bpk) vom Trödel gerettet und von Pütz als kommentierte Fotosammlung veröffentlicht werden. Jansen hatte in diesem Band erneut Gelegenheit, über die Geschichte der SCALA zu schreiben, ebenfalls größtenteils auf der Basis zeitgenössischer Presseartikel und einiger weniger Handelsregisterakten. Jansen und Pütz haben mit ihren Veröffentlichungen von 1990 und 1991 trotz der eher belletristisch gehaltenen Texte eine wertvolle Basis für die vorliegende Arbeit geschaffen. Dort, wo die Auswertung auf sachliche Geschäftsberichte eingeschränkt war, halfen diese Veröffentlichungen, der Unternehmensgeschichte der SCALA Leben einzuhauchen. Der zweite Teil der vorliegenden Dissertation beleuchtet die Krise des Konzerns, die sich mit dem Ende der Weimarer Republik überlagerte. Die Kultur Berlins als Sinnbild vieler positiver Tendenzen, die die Weimarer Republik zum Blühen brachte, war zu Beginn der 1930er Jahre dem Untergang geweiht. Das Lebensmodell vieler Berliner

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Jean-Pierre Moulin/Ervin Kindler: Eintritt frei – Varieté, Lausanne 1963. Ernst Günther: Geschichte des Varietés, Berlin 1981 (künftig zitiert: Günther, Geschichte des Varietés). Wolfgang Jansen: Das Varieté. Die glanzvolle Geschichte einer unterhaltenden Bühnenkunst, Berlin 1990 (künftig zitiert: Jansen, Das Varieté). Karl H. Pütz (Hrsg.): … und Abends in die Scala. Fotografien von Josef Donderer, Berlin 1991 (künftig zitiert: Pütz, … und Abends in die Scala).

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polarisierte und wurde zur Projektionsfläche konservativer Gegenmodelle. Gleichzeitig hatte das Varieté seinen Zenit überschritten. Neue kulturelle Strömungen wie Radio und Kino traten plötzlich in Konkurrenz zum Varieté. Spätestens mit Beginn der Weltwirtschaftskrise und dem Erstarken der Nationalsozialisten geriet auch der SCALA und PLAZA Varietékonzern in eine ernsthafte Schieflage. Hier stellt sich die Forschungsfrage nach den Ursachen der Krise. War die mutige Expansionsstrategie zu risikoreich in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Instabilität? Warum machten sich die potenten Gesellschafter des Konzerns von den Gläubigerbanken abhängig? Über die Weltwirtschaftskrise, die seit 1929 auch mitursächlich für die Krise der SCALA und PLAZA war, wurden bereits zahlreiche Studien veröffentlicht. Beispielhaft gilt bis heute die von dem Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith12 1989 vorgelegte grundlegende Arbeit. Die Stimmung der Berliner Bevölkerung während der Krise beschrieb Hans Fallada13 in seinem berühmten Roman »Kleiner Mann – was nun?« aus dem Jahr 1932. Eingehend werden im Hauptteil der Fallstudie das Schicksalsjahr 1933 und die sich anschließende »Arisierung« des Konzerns 1934/35 analysiert. Im Frühjahr 1933 wurde die SCALA als eine der ersten kulturellen Einrichtungen Berlins von nationalsozialistischen Agitatoren boykottiert. Der Konzern sah sich schon kurze Zeit später aufgrund fortwährender Repressalien der neuen nationalsozialistischen Machthaber gezwungen, seine jüdischen Angestellten zu entlassen. In den folgenden Jahren 1934/35 wurde zunächst die SCALA und dann die PLAZA unter Beteiligung ihrer Gläubigerbanken Deutsche Unionbank und Dresdner Bank sowie mithilfe weiterer Profiteure »arisiert«. Wie vollzog sich die »Arisierung« des Konzerns im Detail? Welche Rolle spielten die Gläubigerbanken und welche die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft? Welche Personen profitierten persönlich von der »Arisierung« des Konzerns und welche Rolle spielten staatliche Einrichtungen? Wie versuchten die jüdischen Gesellschafter des Konzerns, sich gegen die »Arisierung« zu wehren? Welches Schicksal ereilte sie nach der »Arisierung«? Wurden die Verfolgten gar persönlich vernichtet? Der Begriff »Arisierung« bezeichnet die Übertragung von Vermögenswerten aus jüdischem in »arisches« Eigentum.14 Dabei wird das Wort »Jude«, »Jüdin« oder »jüdisches Unternehmen« der nationalsozialistischen Judenpolitik und -gesetzgebung entsprechend eng definiert, bei der das Selbstverständnis des Betroffenen unerheblich war.15 Gesamtdarstellungen zur wirtschaftlichen und juristischen Verdrängung der Juden aus der Ge-

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John Kenneth Galbraith: Der große Crash 1929: Ursachen, Verlauf, Folgen, München 1989. Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun?, Berlin 1932. Vgl. Frank Bajor: »Arisierung« in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933– 1945, Hamburg 1997, S. 9 (künftig zitiert: Bajor, »Arisierung« in Hamburg). Ebd.

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sellschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft wurden bereits zahlreich publiziert. Nach der Pionierarbeit Raul Hilbergs16 von 1961 folgten die »Arisierungs«-Studien von Helmut Genschel17 von 1966 und Avraham Barkai18 von 1988 als wichtige Beiträge zur Erforschung des unvorstellbaren Ausmaßes der Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden. Diese Darstellungen konzentrieren sich auf eine politikhistorische Analyse, ohne jedoch näher auf jüdische Unternehmer und ihre Betriebe einzugehen. Ab Ende der 1980er Jahre richtete sich das Interesse der Wissenschaft zunehmend auch auf jüdische Unternehmen. Werner E. Mosse19 und Johannes Ludwig20 veröffentlichten 1989 erste Darstellungen, die sich näher mit der »Entjudung« der deutschen Wirtschaft beschäftigten. Weitere Beiträge lieferten Frank Bajor21 1997 und Saul Friedländer22 mit seiner zweibändigen Gesamtgeschichte des Holocaust von 1998 und 2006. Hinzu kam neben anderen Veröffentlichungen ein von Irmtrud Wojak und Peter Hayes23 herausgegebener Sammelband aus dem Jahr 2000 und eine Studie von Constantin Goschler und Philipp Ther24 aus dem Jahr 2003. Allen diesen Studien ist gemein, dass sie sich nicht mit Einzelfällen, sondern mit der generellen Verdrängung der Juden aus Unternehmen beschäftigten. Daneben wurde die Marginalisierung und Ausschließung der Juden aus Gesellschaft und Wirtschaft auch vom juristischen Blickwinkel aus begutachtet. Beispielhaft zu nennen sind die Arbeiten von Tarrab-Maslaton 199325, Rethmeier 199526, Blanke 199827, Freudiger 200228 und Stolleis 200629.

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Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1961. Helmut Genschel: Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Göttingen 1966 (künftig zitiert: Genschel, Die Verdrängung der Juden). Avraham Barkai: Vom Boykott zur »Entjudung«. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933–1943, Frankfurt am Main 1988 (künftig zitiert: Barkai, Vom Boykott zur »Entjudung«). Werner E. Mosse: The German-Jewish Economic Elite 1820–1935. A Socio-Cultural Profile, Oxford 1989. Ludwig 1989. Bajor, »Arisierung« in Hamburg. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Erster Band. Die Jahre der Verfolgung 1933– 1939, München 1998 (künftig zitiert: Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden); ders.: Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945. Zweiter Band. Die Jahre der Vernichtung, München 2006. Irmtrud Wojak/Peter Hayes (Hrsg.): »Arisierung« im Nationalsozialismus: Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt am Main 2000. Constantin Goschler/Philipp Ther: Raub und Restitution: »Arisierung« und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa, Frankfurt am Main 2003. Martin Tarrab-Maslaton: Rechtliche Strukturen der Diskriminierung der Juden im Dritten Reich, Berlin 1993. Andreas Rethmeier: »Nürnberger Rassegesetzte« und Entrechtung der Juden im Zivilrecht, Frankfurt am Main 1995. Thomas Blanke: Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-Staats, Baden-Baden 1998. Kerstin Freudiger: Die juristische Aufarbeitung von NS- Verbrechen, Tübingen 2002. Michael Stolleis: Recht im Unrecht: Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2006.

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In den 1990er Jahren sah sich eine Reihe deutscher Unternehmen wegen ihrer Involvierung in den Nationalsozialismus in den USA mit Klagen konfrontiert. Daraufhin wurden Wirtschaftshistoriker aufgrund des öffentlichen Drucks vermehrt mit der – teilweise unfreiwilligen – Aufarbeitung der Beteiligung deutscher Konzerne an der Ausschaltung jüdischer Unternehmen beauftragt. Neue Regelungen für Restitution und Entschädigung in den neuen Bundesländern nach dem Ende des »Kalten Krieges« begünstigten die Welle der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Im Zuge des öffentlichen Interesses am Eigentumstransfer entstanden 2001 erste Studien über die Allianz AG von Gerald D. Feldmann30 oder auch die Deutsche Bank AG von Harold James31. In den darauffolgenden Jahren vergaben führende deutsche Konzerne zunehmend Auftragsarbeiten an einzelne Historiker oder auch Historikerkommissionen, um ihre Verstrickungen mit dem NS-Regime zu beleuchten. So beschrieb Stefan H. Lindner32 im Jahr 2005 das Werk Hoechst im »Dritten Reich« als Teil des I.G.-Farben-Konzerns, Constanze Werner33 2006 Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft bei der BMW AG und Norbert Frei u. a.34 2011 die belastete Geschichte des Flick-Konzerns. Aktuellere Studien befassen sich mit Dr. Oetker im Nationalsozialismus (Jürgen Finger u. a.35, 2013), dem Freudenberg-Konzern (Joachim Scholtyseck36, 2016), dem Familienunternehmen C&A (Mark Spoerer37, 2016) und der Deutschen Lufthansa AG (Lutz Budrass38, 2017). Während sich diese bedeutenden Unternehmen mit ihrer Geschichte auseinandersetzten, haben einige andere sich bis heute der Aufarbeitung ihrer Unternehmensgeschichte nicht gestellt. Der Historiker Lutz Budrass analysierte im August 2016 im Auftrag der WirtschaftsWoche den Stand der Forschung zu den 100 größten Arbeitgebern

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Gerald D. Feldmann: Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft 1933–1945, München 2001. Im Jahr 2015 entstand eine weitere, umfassende Studie zur Geschichte der Allianz, in der auch ihre NS-Zeit aufgearbeitet wird. Vgl. Barbara Eggenkämper/Gerd Modert/Stefan Pretzlik: Die Allianz: Geschichte des Unternehmens 1890–2015, München 2015. Harold James: Die Deutsche Bank und die »Arisierung«, München 2001. Die teilweise skrupellose Rolle, die deutsche Banken in der NS-Zeit spielten, beleuchteten: Michael Grübnau-Rieken: Der Reibach mit den enteigneten Juden: wie sich Banken an der »Arisierung« jüdischer Unternehmen bereicherten, Marburg 2008; Wolff Geisler: Bankiers überm Hakenkreuz. Ziel der Geldgeber Adolf Hitlers, Köln 2014. Stefan H. Lindner: Hoechst. Ein I.G. Farben-Werk in Dritten Reich, München 2005. Constanze Werner: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW, München 2006. Norbert Frei/Ralf Ahrens/Tim Schanetzky: Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht, München 2011. Jürgen Finger/Sven Keller/Andreas Wirsching: Dr. Oetker und der Nationalsozialismus. Geschichte eines Familienunternehmens 1933–1945, München 2013. Joachim Scholtyseck: Freudenberg, Ein Familienunternehmen in Kaiserreich, Demokratie und Diktatur, München 2016. Mark Spoerer: C&A. Ein Familienunternehmen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien 1911–1961, München 2016. Lutz Budrass: Adler und Kranich. Die Lufthansa und ihre Geschichte 1926–1955, München 2017.

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der NS-Zeit und kam zu dem Ergebnis, dass die Involvierung deutscher Großkonzerne in das NS-Regime noch heute ein Desiderat bildet.39 Von 71 der 100 größten Arbeitgeber der NS-Zeit bzw. ihren juristischen Erben liegt immer noch keine wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit vor. Bei 41 der 100 Unternehmen wird die Verstrickung in die NS-Zeit als besonders schwerwiegend eingeschätzt. Eine erste Studie über die Kontinuitäten und Brüche der Vergangenheitsbearbeitung deutscher Unternehmen seit 1945 hat Sebastian Brünger40 2017 mit den Beispielen Bayer, Deutsche Bank, Daimler und Degussa vorgelegt. Er zeichnet eine Geschichte der bewussten Verdrängung. Die Komplexität der Aufarbeitung und vor allem die prosperierende Wirtschaft der Nachkriegszeit verhinderten eine zügigere öffentliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Arisierungen«. Bei mittelständischen, inhabergeführten Unternehmen liegt das Hindernis einer transparenten Aufarbeitung oft auch daran, dass die Generation, die im »Dritten Reich« Verantwortung trug, bis heute unter einem Rechtfertigungszwang steht. Unabhängig davon sind viele wichtige Unterlagen bislang unentdeckt, in Lagerräumen verpackt oder aufgrund datenschutzrechtlicher Regelungen mit Schutzfristen belegt, die eine wissenschaftliche Aufarbeitung verhindern. Die zeithistorische Forschung zur konkreten Umsetzung einer »Arisierung« im Einzelfall und zur Praxis im Handeln der Profiteure und der Verfolgten ist ebenfalls noch in ihren Anfängen begriffen. Bislang liegen erst sehr wenige Studien zu Einzelschicksalen deutsch-jüdischer Unternehmen vor. Das liegt vor allem daran, dass gerade aus der Perspektive der Verfolgungsopfer selten umfangreiches Quellenmaterial zur Verfügung steht. Schließlich war es einzelnen Unternehmern oftmals nicht möglich, ihre Unterlagen über die Kriegswirren zu retten. Die Dokumentation der »Arisierung« des Berliner Unternehmers und Lackfabrikanten Heinrich Richard Brinn wurde 2002 von Nea Weissberg-Bob und Thomas Irmer41 vorgelegt. Hennig Kahmanns42 rechtshistorische Fallstudie zur »Arisierung« des Berliner Bankhauses Jacquier & Securius aus dem gleichen Jahr war eine der ersten Studien zum Schicksal der zahlreichen Berliner Privatbanken. Ferdinand von Weyhe43

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WirtschaftsWoche, 28.8.2016. Sebastian Brünger: Geschichte und Gewinn. Der Umgang deutscher Konzerne mit ihrer NS-Vergangenheit, München 2017. Nea Weissberg-Bob/Thomas Irmer: Heinrich Richard Brinn (1874–1944). Fabrikant – Kunstsammler – Frontkämpfer, Berlin 2002. Henning Kahmann: Die Bankiers von Jacquier & Securius 1933–1945: eine rechtshistorische Fallstudie zur »Arisierung« eines Berliner Bankhauses, Frankfurt am Main 2002 (künftig zitiert: Kahmann, Die Bankiers von Jacquier & Securius). Ferdinand von Weyhe: A.E. Wassermann: eine rechtshistorische Fallstudie zur »Arisierung« zweier Privatbanken, Frankfurt am Main 2007 (künftig zitiert: von Weyhe, A.E. Wassermann). Bereits 2005 legte Ingo Köhler eine grundlegende Studie zur »Arisierung« der Privatbanken im Dritten Reich vor. Vgl. Ingo Köhler: Die »Arisierung« der Privatbanken im Dritten Reich. Verdrängung,

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folgte 2007 auf Anregung Kahmanns mit einer weiteren rechtshistorischen Studie zum Bankhaus A. E. Wassermann. Götz Aly und Michael Sontheimer44 beschrieben 2007 das Schicksal von Julius Fromm und dessen Berliner Kondomfabrik anhand weniger überlieferter Quellen. Simone Ladwig-Winters45 legte im gleichen Jahr eine umfangreiche Dissertation zum bekannten Berliner Warenhausunternehmen Wertheim vor, in der am Rande auch die »Arisierung« des Unternehmens dargestellt wurde. Den ersten grundlegenden Beitrag zur Aufarbeitung zahlreicher »Arisierungsfälle« in der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin erbrachten 2007 Christoph Biggeleben, Beate Schreiber und Kilian J. L. Steiner.46 Die Autoren konstatierten ein erhebliches Forschungsdesiderat über das ganze Ausmaß der Enteignung und Verdrängung jüdischer Bankiers, Industrieller und Kaufleute aus Berliner Unternehmen.47 Jochen Kleining48 beschrieb 2008 die »Arisierung« des Berliner Traditionsunternehmens M. Kempinski & Co. und beklagte ebenfalls das Fehlen unternehmenshistorischer Fachstudien aus der Opferperspektive. 2009 wurde die interessierte Öffentlichkeit im Rahmen einer Ausstellung mitsamt begleitender Publikation über die Ergebnisse einer seit 2005 begonnenen Studie des Lehrstuhls für Zeitgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Titel »Verraten und Verkauft. Jüdische Unternehmen in Berlin 1933–1945«49 informiert. Christoph Kreutzmüller50, der die Ausstellung 2009 kuratierte, fasste schließlich 2012 erstmalig eingehender die strukturelle Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin von 1930 bis 1945 zusammen. Regionalstudien über »Arisierungen« in deutschen Städten wurden bereits vorgelegt, beispielsweise zu Frankfurt am Main oder

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Ausschaltung und die Frage der Wiedergutmachung, München 2005. Götz Aly/Michael Sontheimer: Fromms. Wie der jüdische Kondomfabrikant Julius F. unter die deutschen Räuber fiel, Frankfurt am Main 2007. Simone Ladwig-Winters: Wertheim – ein Warenhausunternehmen und seine Eigentümer, Münster 2007 (künftig zitiert: Ladwig-Winters, Wertheim). Christof Biggeleben/Beate Schreiber/Kilian J. L. Steiner (Hrsg.): »Arisierung« in Berlin, Berlin 2007. Ebd., S. 12. Jochen Kleining: M. Kempinski & Co.: die »Arisierung« eines Berliner Traditionsunternehmens, Hamburg 2008 (künftig zitiert: Kleining, M. Kempinski & Co.). Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin e.V. (Hrsg.): Verraten und Verkauft. Jüdische Unternehmen in Berlin 1933–1945, Berlin 2009. Christoph Kreutzmüller: Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930–1945, Berlin 2012 (künftig zitiert: Kreutzmüller, Ausverkauf). Regionalstudien über Berlin im Nationalsozialismus wurden veröffentlicht von: Sven Felix Kellerhoff: Berlin unterm Hakenkreuz, Berlin 2006; Rüdiger Hachtmann: Berlin im Nationalsozialismus: Politik und Gesellschaft 1933–1945, Göttingen 2011. Zuletzt erschien 2013 der eindrückliche Sammelband »Berlin 1933– 1945«, der ebenfalls von Christoph Kreutzmüller herausgegeben wurde. Vgl. Michael Wildt/ Christoph Kreutzmüller (Hrsg.): Berlin 1933–1945, München 2013 (künftig zitiert: Wildt/Kreutzmüller, Berlin).

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Leipzig51, jedoch bestehen auch hier noch Forschungslücken. Die in den letzten Jahren erschienenen Fallstudien über »Arisierungen« in Berliner jüdischen Unternehmen legten Maximilian Elsner von der Malsburg52 2013 über die jüdische Privatbank E. J. Meyer, Monika Schmidt53 2014 über die jüdischen Aktionäre des Zoologischen Gartens zu Berlin und Bernhard Taubenberger54 2015 über die S. Roeder OHG, einen der ehemals führenden Hersteller von Schreibfedern im Deutschen Reich, vor. Zur »Arisierung« des Konzerns der Varietétheater SCALA und PLAZA erschien bereits 2002 eine Diplomarbeit von Jens Schnauber.55 Die Arbeit wurde ermöglicht durch die Initiative eines Nachfahren des ehemaligen Gesellschafters des Konzerns Karl Wolffsohn: Dessen Enkel Michael Wolffsohn genehmigte Schnauber die Einsichtnahme in Teile seines privaten Familienarchivs, das auch Unterlagen zu Karl Wolffsohn enthielt. Die Dresdner Bank war neben weiteren Akteuren an der »Arisierung« des Konzerns der Varietétheater SCALA und PLAZA beteiligt. Die Bank zählte mit knapp 12.000 Mitarbeitern zu den größten Arbeitgebern des Deutschen Reiches und arbeitete, so wurde jahrelang vermutet, eng mit den Machthabern des NS-Regimes zusammen. Entsprechend groß war in den 1990er Jahren der öffentliche Druck, zur NS-Geschichte des Bankhauses Stellung zu nehmen. Michael Wolffsohn bemühte sich schon seit Juli 1997, die Akten der Dresdner Bank über den Konzern der Varietétheater SCALA und PLAZA einsehen zu dürfen – jedoch vergeblich. Denn im November 1997 beauftragte die Dresdner Bank das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT) an der Technischen Universität Dresden, ihre Geschichte von 1933 bis 1945 zu erforschen. Das Kreditinstitut weigerte sich fortan, Wolffsohn Einsicht in die Akten zu gewähren, da, so der ehemalige Vorstandsprecher Bernhard Walter, »wir die laufenden Forschungsarbeiten des Hannah-Arendt-Instituts nicht stören wollen«56. Damit war

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Nicht abschließend zu Hamburg: Bajor, »Arisierung« in Hamburg. Zu München: Wolfram Selig: »Arisierung« in München. Die Vernichtung jüdischer Existenz 1937–1939, Berlin 2004; Angelika Baumann/Andreas Heusler (Hrsg.): München »arisiert«. Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München 2004. Zu Köln: Britta Bopf: »Arisierung« in Köln. Die Wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden 1933–1945, Köln 2004. Zu Würzburg: Hans Steidle: Neckermann & Co. Die Ausplünderung der Würzburger Juden im Dritten Reich, Würzburg 2014. Einen Sammelband zur »Arisierung« und »Wiedergutmachung« in deutschen Städten gaben Christiane Fritsche und Johannes Paulmann heraus. Vgl. Christiane Fritsche/Johannes Paulmann (Hrsg.): »Arisierung« und »Wiedergutmachung« in deutschen Städten, Köln 2014. Maximilian Elsner von der Malsburg: »Arisierung« von Privatbanken am Beispiel des Bankhauses E. J. Meyer in Berlin, Regensburg 2013. Monika Schmidt: Die jüdischen Aktionäre des Zoologischen Gartens zu Berlin, Berlin 2014. Bernhard Taubenberger: S. Roeder OHG 1841–1952. Aufstieg und Untergang eines deutsch-jüdischen Unternehmens, München 2015 (künftig zitiert: Taubenberger, S. Roeder OHG). Jens Schnauber: Die Arisierung der Scala und Plaza. Varieté und Dresdner Bank in der NS-Zeit. Berlin 2002 (künftig zitiert: Schnauber, Die Arisierung der Scala und Plaza). Walter an Wolffsohn, 23.8.1999, Privatarchiv Michael Wolffsohn.

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Jens Schnauber, der ebenfalls keine Genehmigung zur Einsichtnahme erhielt, darauf beschränkt, die »Arisierung« des Konzerns lediglich aus der Perspektive des Opfers Karl Wolffsohn zu beleuchten. Schnauber bezeichnete die ausstehende Analyse der Akten aus den Archiven der Dresdner Bank als wichtige Erweiterung, um deren Rolle besser zu verstehen.57 Nach achtjähriger Arbeit einer zehnköpfigen Historikerkommission unter Vorsitz von Klaus Dietmar Henke58 legte die Dresdner Bank im Jahr 2006 eine umfangreiche, vierbändige Studie über ihre NS-Vergangenheit vor. Die Forschungen ergaben, dass die Zusammenarbeit der Bank mit dem NS-Regime viel umfangreicher gewesen war als gedacht und diese bei der NS-Rassenpolitik eine Komplizenrolle eingenommen hatte.59 Als eine von lediglich drei Fallstudien der »Arisierung« von Kapitalgesellschaften stellte Dieter Ziegler60 im zweiten Band der Studie auch den Konzern der Varietétheater SCALA und PLAZA vor. Ziegler wiederum beschränkte sich bei seinem Gutachten auf die sich im Archiv der Dresdner Bank befindlichen Akten des Konzerns, obwohl Michael Wolffsohn ihm damals angeboten hatte, die Akten aus dem »Nachlass Wolffsohn« im IfZ für die Studie zur Verfügung zu stellen. Der Impuls, die vorliegende Dissertation zu verfassen, geht auf ein Gespräch mit Michael Wolffsohn im Jahr 2011 zurück. Da die Erforschung der »Arisierungs- und Wiedergutmachungsgeschichte« des Konzerns der Varietétheater SCALA und PLAZA hauptsächlich auf einer Analyse gesellschaftsrechtlicher, betriebswirtschaftlicher und prozessualer Primärquellen beruht, erschien deren Auswertung gerade für einen Juristen interessant. Dabei entstand der Gedanke, möglicherweise erstmals den »Arisierungsprozess« des prominenten Berliner Konzerns sowohl mithilfe der Quellen des Opfers Karl Wolffsohn als auch der Quellen der möglichen »Arisierer« aus der Dresdner Bank begutachten zu können. Michael Wolffsohn erteilte dem Autor 2011 die Genehmigung zur Einsichtnahme in das Familienarchiv, das seit 2008 als »Nachlass Wolffsohn« dem Institut für Zeitgeschichte in München überlassen worden war. Im Herbst 2011 ergab sich die Gelegenheit, mit der Historikerin Christiane Kuller den am 29. November 2011 ausgestrahlten Beitrag »Rauben im Staatsauftrag« des ZDF-Magazins »Frontal 21« über die Arbeitsweise der Finanzbehörden bei der Enteignung jüdischer Mitbürger zu recherchieren.61 Beispielhaft wurde Karl Wolffsohn

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Schnauber, Die Arisierung der Scala und Plaza, S. 120. Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Die Dresdner Bank im Dritten Reich (4 Bände), München 2006. Vgl. Die Zeit, Nr. 8/2006, 16.2.2006. Dieter Ziegler: Die Dresdner Bank und die deutschen Juden (künftig zitiert: Ziegler, Die Dresdner Bank und die deutschen Juden), in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Die Dresdner Bank im Dritten Reich (4 Bände). Band 2, München 2006. Der Beitrag ist abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=p4v2kC_NhII (abgerufen am 1.10.2018).

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porträtiert, dem die Finanzbehörden 1939 ein, wie sich aus dem »Nachlass Wolffsohn« ergab, ungerechtfertigtes Steuervergehen aufgrund seiner Eigentümerschaft der Wohnanlage Gartenstadt Atlantic in Berlin-Wedding anlasteten. Im April 2012 veröffentlichte der Autor nach weiterer Recherche im »Nachlass Wolffsohn« einen Aufsatz über personelle Kontinuitäten und die »Arisierung« der Gartenstadt Atlantic.62 Die »Arisierung« erfolgte mithilfe des NSDAP-Mitglieds und Juristen Walter Neye, der ungesühnt im Nachkriegsdeutschland eine Wissenschaftskarriere verfolgte und es bis zum Rektor der Humboldt-Universität zu Berlin brachte. Über die »Arisierung« des von Karl Wolffsohn gepachteten Großkinos Lichtburg in Essen gab Christoph Wilmer63 2006 eine Arbeit heraus. Der Filmhistoriker Ulrich Döge64 veröffentlichte 2016 eine Studie zu Wolffsohns Schaffen als Filmunternehmer und Verleger, ohne auf den Konzern der Varietétheater SCALA und PLAZA einzugehen. Michael Wolffsohn65 legte 2017 mit seiner Familiengeschichte den jüngsten Beitrag über den Familienmenschen Karl Wolffsohn vor. Im November 2012 genehmigte auch das Historische Archiv der Commerzbank AG in Frankfurt, in dem das Historische Archiv der Dresdner Bank nach der Fusionierung der beiden Kreditinstitute 2009 aufgegangen war, dem Autor, die Bestände zum Konzern der Varietétheater SCALA und PLAZA einzusehen und auszuwerten. Im Februar 2013 sichtete der Autor erstmals die historischen Akten der Dresdner Bank und begann, sie zu den Akten aus dem »Nachlass Wolffsohn« in Bezug zu setzen. Das somit gewonnene Material versprach, die Geschichte der »Arisierung« des Konzerns der Varietétheater SCALA und PLAZA erstmals aus zwei Blickwinkeln und damit realitätsnah zu begutachten. Es war anzunehmen, dass die vergleichende Analyse der Akten neue Erkenntnisse zur Rolle der Hauptakteure bei der »Arisierung« der SCALA, Boguslav von Garczynski-Rautenberg und Eduard Duisberg, und auch der Deutschen Unionbank liefern könnte. Bei der »Arisierung« der PLAZA versprach das Material der

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Fabian Riedel: »Braun« und »Rot« – Akteur in zwei deutschen Welten. Der Jurist Dr. Walter Neye (1901–1989). Eine Fallstudie (künftig zitiert: Riedel, »Braun« und »Rot«), in: Deutschland Archiv (DA), Heft 1/2012 und Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), http://www.bpb.de/ geschichte /zeitgeschichte/deutschlandarchiv /132929/braun-und-rot-akteur-in-zwei-deutschenwelten?p=all (abgerufen am 1.10.2018); Gerwin Zohlen gab bereits 2006 eine Studie zu Rudolf Fraenkel, dem Architekten der Gartenstadt Atlantic heraus. Vgl. Gerwin Zohlen (Hrsg.): Rudolf Fränkel, die »Gartenstadt Atlantic« und Berlin, Zürich 2006 (künftig zitiert: Zohlen, Rudolf Fraenkel). Christoph Wilmer: »Karl Wolffsohn«, in: Christoph Wilmer (Hrsg.), Karl Wolffsohn und die Lichtburg. Die Geschichte einer Arisierung, Essen 2006 (künftig zitiert: Wilmer, Karl Wolffsohn). Ulrich Döge: »Er hat eben das heiße Herz«. Der Verleger und Filmunternehmer Karl Wolffsohn, Hamburg 2016. Michael Wolffsohn: Deutschjüdische Glückskinder. Die Geschichte meiner Familie, München 2017.

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Dresdner Bank eine wichtige Erweiterung zur vorhandenen Quellenlage, da insbesondere die internen Aktenvermerke des Kreditinstituts Erkenntnisse zu den Motiven der Geldgeber des Konzerns ermöglichten. Mit der Frage, ob der beispielhaft dargestellte »Arisierungsprozess« unter Federführung zweier Großbanken, die ihre Geschäftspolitik juristisch größtenteils korrekt, aber moralisch fragwürdig durchsetzten, überhaupt als herkömmlich verstandene »Arisierung« zu bewerten oder eventuell neu zu definieren ist, geht die vorliegende Fallstudie über den Einzelfall hinaus und betritt den Bereich eines Desiderats der Forschung. Besonders stellt sich die Frage, ob auch Unterlassen, wie beispielsweise die Einstellung einer jahrelangen Geschäftsbeziehung, als »Arisierung« zu bewerten ist. Zu fragen ist außerdem, ob die vorliegende Fallstudie eines jüdischen Konzerns, der gegen Ende der Weimarer Republik in Schieflage geraten war, nicht symptomatisch ist für eine schon sehr früh erfolgte und diese Situation ausnutzende »Arisierung«. Neben den beschriebenen Kreditinstituten waren auch die Regionalbanken Vereinsbank Nürnberg und Bayerische Vereinsbank, über die Horst Möller66 2015 eine Studie verfasst hat, an der »Arisierung« des Konzerns beteiligt. Alfred Gottwaldt67 publizierte 2011 eine wichtige Arbeit über die Beteiligung der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft an der Ermordung der europäischen Juden. Diese war die Verpächterin des PLAZA-Volksvarietés und Nutznießerin der »Arisierung« des Konzerns. Ab 1938 nutzte die Deutsche Arbeitsfront (DAF) die PLAZA für ihre Propagandazwecke. Das Wirtschaftsimperium der DAF beschrieb Rüdiger Hachtmann68 in einer umfangreichen Studie von 2012. Die Berliner Steuer- und Finanzverwaltung setzte die SCALA 1933/34 mit ihren nicht prolongierbaren Steuerbescheiden unter Druck. Daneben wurden die Gesellschafter der SCALA und PLAZA, Jules Marx und Karl Wolffsohn, in ungerechtfertigte Reichsfluchtsteuerverfahren verwickelt. Über diese Praxis der fiskalischen Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung Berlins berichtet Martin Friedenberger69 in seiner Studie von 2008. Christiane Kuller70 legte 2013 eine erste umfassende Publikation zur antisemitischen Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland vor.

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Horst Möller: Regionalbanken im Dritten Reich. Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank, Bayerische Vereinsbank, Vereinsbank in Hamburg, Bayerische Staatsbank 1933 bis 1945, Berlin 2015. Alfred Gottwaldt: Die Reichbahn und die Juden 1933–1939. Antisemitismus bei der Eisenbahn in der Vorkriegszeit, Wiesbaden 2011. Rüdiger Hachtmann: Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront: 1933–1945, Göttingen 2012. Martin Friedenberger: Fiskalische Ausplünderung. Die Berliner Steuer- und Finanzverwaltung und die jüdische Bevölkerung 1933–1945, Berlin 2008. Christiane Kuller: Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im Nationalsozialistischen Deutschland, München 2013.

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Der letzte Teil der vorliegenden Forschungsarbeit beschreibt die durch den Mitgesellschafter des Konzerns Karl Wolffsohn initiierten Wiedergutmachungsverfahren ab dem Jahr 1950. Wolffsohn hatte nicht nur Schwierigkeiten, die Verfahren im zerbombten Berlin der Nachkriegsjahre einzuleiten, sondern auch, die divergierenden Ansprüche seiner ehemaligen Mitgesellschafter oder deren Erben zu koordinieren. Mit der Einreichung der Ansprüche begann für Wolffsohn und seinen Rechtsbeistand ein jahrelanger, zermürbender Prozess mit schwieriger Beweisführung gegen übermächtige Gegner. Was bewog Karl Wolffsohn, der nach seiner Emigration in Palästina ansässig wurde, nach Deutschland zurückzukehren? Welche Hindernisse galt es zu überwinden, um die angestrebten Klagen einreichen zu können? Warum gelang es nicht, die Gerichte vom Erlebten zu überzeugen? Stand die eigene Wahrnehmung möglicherweise gar im Widerspruch zu den Fakten? Wie verhielten sich die Beklagten? Gab es am Ende der Prozesse tatsächlich eine Art »Wiedergutmachung« oder erlebten die Kläger wiederholtes Unrecht? Über die politische und juristische Auseinandersetzung mit Entschädigungsleistungen für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung legte Cornelius Pawlita71 1993 eine Studie vor. Ein Sammelband unter der Herausgeberschaft der Redaktion Kritische Justiz72 befasste sich 1998 erstmals eingehend mit der Frage nach der Zerstörung des Rechtsstaats durch das NS-Regime und der Praxis der juristischen Aufarbeitung nach 1945. Zur Versachlichung der kontrovers geführten öffentlichen Diskussion sollte der von Constantin Goschler und Jürgen Lillteicher73 2002 herausgegebene Band zur unterschiedlichen Behandlung von »Arisierung« und Rückerstattung in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich dienen. Ein weiterer Sammelband, herausgegeben 2003 von Günter Hockerts und Christiane Kuller74, griff die bis dahin geführte Diskussion zu Fragen der »Wiedergutmachung« auf und versuchte Handlungsempfehlungen zu geben. Constantin Goschler75 legte 2005 eine erste umfassende Studie zur Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte in der Bundesrepublik und der DDR vor. Die Geschichte der Entschädigung von NS-Verfolgten in 15 Ländern des westlichen und östlichen Europas wurde 2006 von Günter Hockerts, Claudia Moisel und Tobias Win-

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Cornelius Pawlita: »Wiedergutmachung« als Rechtsfrage?: die politische und juristische Auseinandersetzung um Entschädigung für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung (1945 bis 1990), Frankfurt am Main 1993. Redaktion kritische Justiz (Hrsg.): Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-Staats, Baden Baden 1998. Constantin Goschler/Jürgen Lillteicher (Hrsg.): »Arisierung« und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002. Hans Günter Hockerts/Christiane Kuller: Nach der Verfolgung: Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland?, Göttingen 2003. Constantin Goschler: Schuld und Schulden: die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005.

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stel76 herausgegeben. Jürgen Lillteicher77 beschrieb in einer grundlegenden Studie von 2007 die politischen, gesetzgeberischen und gesellschaftlichen Prozesse sowie die Praxis der Rückerstattung. Konkrete und gut dokumentierte Fallbeispiele von »Wiedergutmachungsverfahren« nach der »Arisierung« jüdischer Unternehmen bleiben bis heute ein Desiderat der Forschung. Zumeist werden die Verfahren als Annex im Rahmen umfassenderer Analysen zu »Arisierungen« behandelt. So geschah es auch bei der Studie von Jens Schnauber über den Konzern der Varietétheater SCALA und PLAZA von 2002, die auf wenigen Seiten zu den von Karl Wolffsohn initiierten »Wiedergutmachungsverfahren« Stellung bezog. Genauso knapp berichtete Ralf Ahrens78 2007 im Rahmen seiner Studie zur Dresdner Bank in den Jahren 1945 bis 1957 über die »Wiedergutmachungsverfahren« zum Varietékonzern SCALA und PLAZA. Die bestens von beiden Prozessparteien der »Wiedergutmachungsverfahren« der SCALA und PLAZA dokumentierten jahrelangen Streitigkeiten ermöglichen es, beispielhaft typische Muster der Verfahrensführung der Parteien und der Verfahrensleitung der Justiz in der noch jungen Bundesrepublik nachzuzeichnen. Damit ist der »Wiedergutmachungsfall« SCALA und PLAZA mitsamt dem Einzelschicksal seines Initiators Wolffsohn ein über den Einzelfall hinausgehendes Exempel eines Wiedergutmachungsverfahrens. Denn das vorliegende Quellenmaterial zeigt den Instanzenzug des ehemaligen jüdischen Konzerns vom Wiedergutmachungsamt bis zum Obersten Rückerstattungsgericht dokumentarisch auf.

Methode und Quellen Seit Januar 2008 überließ Michael Wolffsohn dem Münchner Institut für Zeitgeschichte nach und nach umfangreiche Aktenkonvolute von und über seinen Großvater Karl Wolffsohn. Bei der Sichtung des Materials im Archiv des IfZ zeichnete sich rasch ab, dass hier Unterlagen in einer bisher kaum gekannten Dichte vorhanden waren. Sie umfassen den Zeitraum 1843 bis 2006 und belaufen sich auf insgesamt 217 Bände.79

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Hans Günter Hockerts/Claudia Moisel/Tobias Winstel: Grenzen der Wiedergutmachung: Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945–2000, Göttingen 2006. Jürgen Lillteicher: Raub Recht und Restitution: die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2007 (künftig zitiert: Lillteicher, Raub Recht und Restitution). Ralf Ahrens: Die Dresdner Bank 1945–1957. Konsequenzen und Kontinuitäten nach dem Ende des NS-Regimes. München 2007 (künftig zitiert: Ahrens, Die Dresdner Bank 1945–1957), S. 382ff. Die Dokumente werden als »Nachlass Wolffsohn« unter der Signatur ED 230 vom IfZ archivarisch aufbewahrt und fortlaufend digitalisiert. Der »Nachlass Karl Wolffsohn« gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil (Band 1–99) beinhaltet unter anderem Material zur Biografie und persönliche Dokumente der Familie Wolffsohn: Band 1–12: Urkunden, Testamente, persönliche Korrespondenz, Unterlagen zur Wiedergutmachung und Entschädigungsfragen; Band 37–46: Unterlagen zu den

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Die aus dem »Nachlass Karl Wolffsohn« gewonnene inhaltlich einzigartig dichte Dokumentation der Unternehmensgeschichte des Varietékonzerns SCALA und PLAZA und des Einzelschicksals ihres Mitgründers und Gesellschafters Karl Wolffsohn wurde für die vorliegende Studie erstmals grundlegend ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass der »Nachlass Wolffsohn« schwerpunktmäßig die Wiedergutmachungskorrespondenz zum SCALA und PLAZA Konzern dokumentiert. Immer dort, wo während der Wiedergutmachungsprozesse Originalakten aus der Vorkriegszeit als Beweismittel herangezogen wurden, konnte der Autor die komplexen Vorgänge der Gründungs-, Krisen- und »Arisierungszeit« des Unternehmens nachverfolgen. Karl Wolffsohn hatte Deutschland im Frühjahr 1939 fluchtartig verlassen müssen und daher keine persönlichen Gegenstände mitnehmen können. Wohl auch aus diesem Grund beschränkt sich der »Nachlass Wolffsohn« hauptsächlich auf die Wiedergutmachungsakten ab dem Jahr 1949. Die Dokumente aus dem »Nachlass Wolffsohn« wurden durch weitere Primärquellen der Familie Wolffsohn ergänzt. Zu nennen ist hier vor allem ein Teil des Privatarchivs Michael Wolffsohns in München. Auch der Vorlass Michael Wolffsohns, das sogenannte »Archiv Wolffsohn«, das zunächst im Münchner Bayerischen Hauptstaatsarchiv (BayHaStA) archiviert war, trug zum Erkenntnisgewinn bei.80 Insgesamt elf Bände mit Korrespondenz zur »Wiedergutmachung« in der Nachkriegszeit halfen, Bezüge zu Karl Wolffsohn und dem SCALA und PLAZA Konzern herzustellen. Die Zweigstelle des Amtsgerichts Schöneberg (AGS) in Berlin-Lichterfelde bewahrt ca. zehn Bände mit Grundbuchakten des Grundstücks der SCALA in Berlin-Schöneberg auf. Anhand dieser Akten konnten wesentliche Vorgänge aus der Gründungszeit der SCALA, die bislang nicht rekonstruierbar waren, aufgeschlüsselt werden. Gleichzeitig förderten die Unterlagen interessante notarielle Urkunden zutage, die die teilweise prominente Eigentümerstruktur des SCALA-Grundstücks bis heute aufdecken. Eine Recherche im Landesarchiv Berlin (LAB) ergab, dass dort 76 Archivalien mit zahlreichen Dokumenten wie Handelsregisterauszügen, Grundbuchakten und Korrespondenzen zum ehemaligen Berliner Eispalast, zu der SCALA, der PLAZA und auch der Hotelbetriebs AG, einem 1935 am Konzern interessierten Unternehmen, archiviert

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Rechtsstreitigkeiten mit der Dresdner Bank bzgl. Rückerstattung des Konzerns der Varietétheater SCALA und PLAZA; Band 88–96: persönliche Korrespondenz Karl Wolffsohns. Der zweite Teil (Band 100–211) befasst sich ausschließlich mit der Gartenstadt Atlantic, während der dritte Teil (Band 212–217) erneut Unterlagen zur Dresdner Bank und dem Varietékonzern SCALA und PLAZA (Band 214–217) enthält. Das »Archiv Wolffsohn«, seit 1977 geführt und 1992 dem BayHaStA übergeben, umfasste ca. 100 Regalmeter Zeitungsartikel, Manuskripte und Korrespondenzen zur Geschichte des Nahen Ostens und Israels. 2013 wurde es aufgeteilt und zur Digitalisierung dem Archiv der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg und dem IfZ übergeben.

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sind. Weiterhin fanden sich Dokumente aus der Zeit der »Wiedergutmachungsverfahren«, die eine wesentliche Ergänzung zum »Nachlass Wolffsohn« darstellten. Die Akten des Historischen Archivs der Dresdner Bank (HADrB), die im Historischen Archiv der Commerzbank AG (HAC) in Frankfurt archiviert sind, enthalten neben dem »Nachlass Wolffsohn« das umfangreichste und damit wichtigste Quellenkonvolut. Zum Konzern der Varietétheater SCALA und PLAZA sind im HAC insgesamt 44 Bände archiviert, von denen 28 Bände die Abwicklung des Engagements der Dresdner Bank (Provenienz Industriebüro, Zeitraum 1926–1943) und 16 Bände die Auseinandersetzung zwischen Karl Wolffsohn und der Dresdner Bank in der Nachkriegszeit (Provenienz Rechtsabteilung, Zeitraum 1950–1962) umfassen. Insbesondere die Akten des Bestands des ehemaligen Industriebüros der Berliner Zentrale der Dresdner Bank dokumentieren zahlreiche Vorgänge aus den 1930er Jahren. Anhand dieser Akten konnte der finanzielle Status des Konzerns ab Mai 1929 exakt nachgezeichnet werden. Das ermöglichte eine wesentliche Ergänzung zu den Gerichtsakten des »Nachlasses Wolffsohn« und den 16 Bänden der Dresdner Bank aus der Nachkriegszeit.

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