Bleiben in Breslau (Leseprobe)

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Potsdamer JĂźdische Studien Herausgegeben von Thomas Brechenmacher und Christoph Schulte Bd. 3


Anja Schnabel

Bleiben in Breslau JĂźdische Selbstbehauptung und Sinnsuche in den TagebĂźchern Willy Cohns 1933 bis 1941


Das Manuskript hat der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam 2016 als Dissertation vorgelegen (Gutachter: Prof. Dr. Thomas Brechenmacher, Universität Potsdam, Prof. Dr. Dr. h.c. Norbert Conrads, Universität Stuttgart). Der Druck wurde ermöglicht durch die Axel Springer Stiftung, Berlin, und die Stiftung Irène Bollag-Herzheimer, Basel.

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgegenstand – Festlegungen – Vorgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Potenzial und Grenzen autobiografischer Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Prolog: Annäherung an eine verschwundene Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Biografischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Breslau Willy Cohns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensgeschichtliche Erfahrungen 1888–1932 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Kind im Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generation Frontkämpfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Jüdische Renaissance« in der Weimarer Republik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaft als Leidenschaft: Der verhinderte Gelehrte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Incipit Hitler« – Nationalsozialistische Bewegung und Antisemitismus in Breslau vor 1933 Antijüdisches Klima in Breslau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der politische Aufstieg der NSDAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Veränderte Lebenswelt 1933–1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aushandlungen: Bleiben oder Auswandern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Emigration nach 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Willy Cohn und die Frage der Auswanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Räume: Zwischen Einengung und Aneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Breslau: Uneinheitliche Stadtbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlesien: Gegenräume auf Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Private Räume: Auflösungen, Verdichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die fragmentierte Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Die Wohnung ist das letzte, was einem das Leben behaglich macht«: Die Wohnung als bedrohter Schutzraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdisch-nichtjüdische Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alte Pfade – neue Pfade: Berufliche Tätigkeiten unter der Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeiten im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufliche Aktivitäten nach dem Novemberpogrom 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jüdische Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Nirgends ist mehr Recht in Deutschland«: Die antijüdische Politik des NS-Regimes. Das jüdische Binnenverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Orte und Räume: »Der Glaube ist mein größter Halt«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Palästina – »Wäre man dort, hätte man vielleicht Sehnsucht nach Deutschland« . . .

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Epilog: Eine Welt wird zerstört . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Stammbaum (vereinfacht). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsnamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Anfang 1933 notiert Willy Cohn – Breslauer Jude bürgerlicher Herkunft, Gymnasiallehrer, Geschichtsgelehrter aus Leidenschaft, Liebhaber deutscher klassischer Literatur, aktiver Sozialdemokrat, überzeugter Zionist und zugleich frommer Jude – angesichts der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten in sein Tagebuch: »[T]rübe Zeiten, besonders für uns Juden!«1 Er schreibt: »Nirgends ist mehr Recht in Deutschland!«2 Cohn will aber »die Zähne zusammenbeißen«, um »durch diese Zeit hindurch[zu]kommen«.3 Er wird als politisch unzuverlässig aus dem Schuldienst entlassen, seine Kinder4 verlassen Deutschland, auch weil sie als Juden Morddrohungen erhalten. Cohn plant auszuwandern. Nicht zuletzt zu diesem Zweck reisen er und seine Frau Gertrud 1937 nach Palästina. Doch sie kehren zurück und bleiben. Wäre man dort, so schreibt Cohn, hätte man doch nur »Sehnsucht nach Deutschland«5. Dabei ahnt er: Die Juden sitzen »in der Mausefalle«6. Nach dem Novemberpogrom 1938 veranstaltet Cohn in seiner Wohnung eine Lesereihe zu Goethes »Faust«. Gleichzeitig scheint ihm, »als ob es die Deutschen auf unsere Vernichtung angelegt hätten«7. Zuletzt arbeitet er unentwegt im jüdischen Gemeindearchiv, um das jüdische Wissen vor dem Untergang zu bewahren, auch deshalb, weil er noch nie »eine jüdische Sache im Stich«8 gelassen hat. Ende März 1940 erkennt Cohn: Er ist der »letzte der jüdischen Studienräte [seines Gymnasiums], der heute noch hier ist u[nd] der es nicht verstanden hat, für sich eine Zukunft zu schaffen.«9 Einmal, kurz nach dem Novemberpogrom, klingelt es an der

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Tgb v. 30.01.1933, CAHJP P88 Nr. 51. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich die Tagebuchangaben im Folgenden auf die Tagebücher Willy Cohns. Die zeitbedingte Orthografie wurde behutsam angeglichen (z. B. -ß in -ss), an anderer Stelle bewusst beibehalten. Tgb. v. 24.02.1933, CAHJP P 88 Nr. 52. Tgb. v. 01.02.1933, CAHJP P 88 Nr. 51. Cohns Söhne aus erster Ehe, Wolfgang (geboren 1915) und Ernst (geboren 1919), sowie seine Tochter aus zweiter Ehe, Ruth (geboren 1924), emigrierten in den 1930er-Jahren. Die beiden kleinen Töchter Susanne (geboren 1932) und Tamara (geboren 1938) blieben bei den Eltern in Breslau und wurden gemeinsam mit ihnen deportiert. Siehe Anhang, Stammbaum. Tgb. v. 24.02.1933, CAHJP P 88 Nr. 52. Tgb. v. 30.01.1933, CAHJP P 88 Nr. 51; Tgb. v. 05.04.1933, CAHJP P 88 Nr. 53; Tgb. v. 06.08.1933, CAHJP P 88 Nr. 54. Tgb. v. 12.10.1941, CAHJP P 88 Nr. 108. Tgb. v. 21.10.1939, CAHJP P 88 Nr. 91. Siehe auch Tgb. v. 01.08.1939, CAHJP P 88 Nr. 89. Tgb. v. 29.03.1940, CAHJP P 88 Nr. 94.

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Wohnungstür und Cohn ist sicher, die Gestapo holt ihn ab.10 Das ist ein Irrtum. Im November 1941 aber wird er schließlich verhaftet, deportiert und von den Nationalsozialisten ermordet.

Forschungsgegenstand – Festlegungen – Vorgehen Gehen oder bleiben – so lautete eine der zentralen Fragen jüdischer Existenz im nationalsozialistischen Deutschland in den Jahren zwischen 1933 und 1938.11 Dennoch war für die Mehrheit der deutschen Juden eine Emigration keine oder jedenfalls keine vordringliche Option,12 eine Zukunft in Deutschland dagegen zumindest bis Anfang 193813 denkbar. Die vornehmliche Herausforderung bestand für sie nicht darin, die inneren und äußeren Widerstände zum Auswandern zu überwinden, sondern darin, das eigene Leben in Deutschland mit den neuen Bedingungen für sich in einen möglichst erträglichen Ausgleich zu bringen14 – mithin das Bleiben in Deutschland auszuhandeln. Dieser Aspekt des jüdischen Lebens im Deutschland der NS-Zeit ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Er betrifft damit eine Dimension des Bleibens, die in dieser Form in der Geschichtswissenschaft bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Der Aspekt des Bleibens ist bislang häufig als Bestandteil eines binären Systems der Entscheidung für oder gegen eine Auswanderung untersucht worden. Hierbei wurde die Entscheidung selbst nicht selten als eine Bilanzrechnung von Gründen für und gegen die Auswanderung betrachtet.15 Dabei wurde das Bleiben zuallererst als Nichtgelingen des Auswanderns begriffen und in der Konsequenz in seinem Eigenwert vernachlässigt.16 Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass ein Großteil der For-

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Tgb. v. 19.11.1938, CAHJP P 88 Nr. 84. Vgl. Jürgen Matthäus: Abwehr, Ausharren, Flucht. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und die Emigration bis zur »Reichskristallnacht«, in: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hrsg.): Jüdische Emigration zwischen Assimilation und Verfolgung, Akkulturation und jüdischer Identität. München 2001, S. 18–40, hier S. 18. Vgl. David Jünger: Jahre der Ungewissheit. Emigrationspläne deutscher Juden, 1933–1938. Göttingen 2016 (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts; Bd. 24), S. 389. Vgl. Michael R. Marrus: Die schwärzeste Stunde, in: Nicholas de Lange (Hrsg.): Illustrierte Geschichte des Judentums. Frankfurt/New York 2000, S. 281–329, hier S. 305. Vgl. Marion A. Kaplan: Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland. Berlin 2003, S. 325. Dieser Ansatz liegt etwa den Ausführungen von Trude Maurer: Vom Alltag zum Ausnahmezustand. Juden in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, 1918–1945, in: Marion Kaplan (Hrsg.) im Auftrag des Leo Baeck Instituts: Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945. München 2003, S. 347–470, hier S. 447–449, zugrunde. Vgl. Marion Kaplan: Gehen oder Bleiben?, in: Stiftung Jüdisches Museum Berlin/Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Heimat und Exil. Emigration der deut-

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schung diesen Aspekt aus einer anachronistischen Perspektive heraus untersucht und bewertet. Beispielhaft deutlich wird dies an John Dippels Arbeit »Die große Illusion. Warum deutsche Juden ihre Heimat nicht verlassen wollten«17, welche die jüdischen Reaktionen im Lichte des Holocausts betrachtet. Gewiss erscheint bei der Erforschung dieser Thematik eine solche Perspektive eigentlich unüberwindbar. Michael Brenner hat diesen Umstand treffend beschrieben: »Jede Studie zur modernen jüdischen Geschichte der letzten fünfzig Jahre wird im unauslöschlichen Wissen um das Schicksal der europäischen Juden geschrieben und muss mit anderen Augen gelesen werden als ein Geschichtswerk, das vor den dreißiger Jahren entstand.«18 Dennoch kann eine vorbehaltlose Einnahme einer solchen Perspektive »zur Verengung führen, da sie das Verständnis zeitgenössischer Wahrnehmungen verstellt.«19 Oder in den Worten Moshe Zimmermanns: »Dass [...] die Zeit nach [dem Novemberpogrom] 1938 die radikalste Bankrotterklärung der Menschheit herbeiführen würd[e], konnte im Voraus niemand wirklich wissen.«20 Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund verlässt die vorliegende Untersuchung das binäre System der Betrachtung Auswanderung: Ja oder nein? zugunsten eines dynamischeren, prozesshaften Verständnisses des Bleibens mit geschichtswissenschaftlichem Eigenwert: dem Bleiben als Selbstbehauptungsleistung21. Das Leitbild, an dem sich die Untersuchung ausrichtet, ist zu diesem Zweck das Aushandeln des Bleibens. Dieses Bild beschreibt einen Prozess der Bewältigung jener Herausforderungen, die mit dem Umstand des Bleibens verbunden waren, einschließlich der sich möglicherweise ständig erneuernden Entscheidung, nicht auszuwandern. Die Herausforderungen sind die vielfältigen, alle Bereiche des Lebens berührenden und beeinträchtigen-

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schen Juden nach 1933. Frankfurt a. M. 2006, S. 31–33; Avraham Barkai: Vom Boykott zur »Entjudung«. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich, 1933–1943. Frankfurt a. M. 1988, S. 60; Günter Schubert: Erkaufte Flucht. Der Kampf um den Haavara-Transfer. Berlin 2009, S. 7. John V. H. Dippel: Die große Illusion. Warum deutsche Juden ihre Heimat nicht verlassen wollten. München 2001. Michael Brenner: Von einer jüdischen Geschichte zu vielen jüdischen Geschichten, in: ders./David N. Myers (Hrsg.): Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen. Ein Schloss Elmau-Symposion. München 2002, S. 17–35, hier S. 23. Jünger: Jahre, S. 22. Siehe auch Cornelia Hecht: Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik. Bonn 2003 (Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 62), S. 11. Moshe Zimmermann: Deutsche gegen Deutsche. Das Schicksal der Juden, 1938–1945. Berlin 2008, S. 16. Dieser Begriff meint in Anlehnung an eine Definition Katharina Friedlas die Verteidigung aller bestehenden, tatsächlichen und ideellen Zusammenhänge, mit denen sich ein Mensch in Bezug zu seiner Lebenswelt setzt. Vgl. Katharina Friedla: Juden in Breslau/Wrocław, 1933–1949. Überlebensstrategien, Selbstbehauptung und Verfolgungserfahrungen. Köln/Weimar/Wien 2015 (Lebenswelten osteuropäischer Juden; Bd. 16), S. 32.

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den Folgen der Judenverfolgung: der Verlust von Rechten und Bezugspersonen, die Einschränkung realer Bewegungsräume, die Vernichtung der ökonomischen Existenzgrundlage, aber auch die radikale Infragestellung von Werten und Gegenständen der Identifikation22. Im Falle Willy Cohns, des historischen Akteurs dieser Untersuchung, umfasste der Prozess der Aushandlung des Bleibens verstanden als Selbstbehauptungsleistung etwa Elemente des Festhaltens, der Wiederaneignung, der erneuten Sinnsuche23, der Vereinnahmung und des Loslassens. Prozesse der Bewältigung, so die Annahme dieser Arbeit, waren die charakteristischen Merkmale des deutsch-jüdischen Alltags im Nationalsozialismus – und zwar unabhängig davon, ob eine Option zum Auswandern bestand. Die gewählte Vorgehensweise besteht darin, die Innenansicht einer jüdischen Lebenswelt aus den Augen eines einzelnen historischen Akteurs über den Zeitraum seines Lebens darzustellen. Erwartet wird hiervon eine um die Elemente des Individuellen verdichtete Beschreibung davon, wie das Bleiben im »Dritten Reich« über die Zeit hinweg ausgehandelt wurde. Die Untersuchung lässt sich mit ihrem biografischen Ansatz einer Reihe von Studien an die Seite stellen, die sich dem Aspekt der Judenverfolgung über jüdische Einzelschicksale in dem Bestreben annähern, »das eigentlich Unbegreifliche fassbarer«24 zu machen. Hiermit setzt sie sich zugleich ab von der traditionellen Biografik, die sich überwiegend auf die »großen Männer« der Geschichte konzentriert hat.25 Methodisch lehnt sich die Untersuchung zudem an das Konzept der »Lebenswelt« an, wie es von Heiko Haumann in die Geschichtswissenschaft eingeführt wurde.26 Im

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Identität wird in dieser Arbeit nicht als feststehende, abgeschlossene Größe aufgefasst, sondern als vielgestaltig und wandelbar. Klaus Hödl schreibt: »Es gibt zahlreiche Identitätsfacetten, die durch unterschiedliche Positionierungen artikuliert werden. Eine Positionierung ist als eine Bezugsetzung des Selbst zum Anderen zu verstehen.« (Klaus Hödl: Wiener Juden – jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert. Innsbruck/Wien/Bozen 2006 (Schriften des Centrums für Jüdische Studien; Bd. 9), S. 41.) Zum Prozess der Sinnbildung vgl. Heiko Haumann: Geschichte, Lebenswelt, Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen, in: Brigitte Hilmer/Georg Lohmann/Tilo Wesche (Hrsg.): Anfang und Grenzen des Sinns. Weilerswist 2006, S. 42–54. Dieter Fricke: Jüdisches Leben in Berlin und Tel Aviv 1933 bis 1939. Der Briefwechsel des ehemaligen Reichstagsabgeordneten Dr. Julius Moses. Hamburg 1997, S. 12. Vgl. Simone Lässig: Die historische Biographie auf neuen Wegen?, in: GWU 60 (2009), S. 540–553, hier S. 542. Der Begriff »Lebenswelt« stammt ursprünglich aus der Philosophie. Einen entscheidenden Beitrag zu seiner Verbreitung leistete die Phänomenologie Edmund Husserls. Husserl ging davon aus, dass jede menschliche Erkenntnis subjektbezogen und damit auch die Lebenswelt durch Menschen erfahrene Welt sei. Zur Begriffsgeschichte und den unterschiedlichen Lebenswelt-Konzepten in der Geschichtswissenschaft vgl. Ekaterina Emeliantseva: Osteuropa und die Historische Anthropologie. Impulse, Dimensionen, Perspektiven, in: Osteuropa 3 (2008), S. 125–140.

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Mittelpunkt der lebensweltlichen Betrachtung steht nach Haumann der Mensch, der historische Akteur, einschließlich seiner Interaktionen27. »Von ihm aus fällt der Blick auf die Milieubedingungen sowie die symbolischen Ordnungen, Deutungsmuster, Ideologien, Normen und Werte, die das Denken und Handeln des Menschen, seine Praxis, seine Kultur bestimmen. Mit diesen überindividuellen Faktoren schließt eine Analyse der Lebenswelt die Analyse von strukturellen Bereichen – materiellen, mentalen, emotionalen, symbolischen – ein.«28 In Anlehnung an ein jüngeres Verständnis des lebensweltlichen Ansatzes29 bilden Räume, in denen das Leben in dieser Zeit und unter Berücksichtigung ihrer Eigengesetzlichkeiten überwiegend stattfand, die primären Ordnungskriterien der Darstellung. Es sind dies neben dem öffentlichen Raum der private, der berufliche und der jüdische Raum. Hierbei handelt es sich nicht nur um Räume im eigentlichen Sinne des Wortes. Raum wird für den Zweck der vorliegenden Untersuchung definiert als eine in räumlicher, zeitlicher, personeller oder ideeller Hinsicht verdichtete Situation. Dieser weite Begriff erlaubt eine Betrachtung etwa von Ehe und Familie unter dem Aspekt des privaten Raumes und der Idee Palästinas unter dem Gesichtspunkt des jüdischen Raumes. Dieses sehr weite Verständnis von Raum ist aus dem Zweck der vorliegenden Untersuchung entwickelt. Es ist zudem von den Überlegungen inspiriert, die von Vertretern des spatial turn30 angestellt werden. Dem räumlichen Ansatz liegt allgemein die Überlegung zugrunde, dass »der Ort [...] der angemessenste Schauplatz und Bezugsrahmen [ist], um sich eine Epoche in ihrer ganzen Komplexheit zu vergegenwärtigen«31. Der Begriff »Raum«, der dieser methodischen Schule zugrunde liegt, ist nicht eindeutig.32 Das für die vorliegende Arbeit entwickelte Verständnis von Raum

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Darunter sind mit Daniela Tschudi jegliche Formen von sozialen Beziehungen zu verstehen, also auch unbeabsichtigte, zeichenhafte oder potenzielle. Vgl. Daniela Tschudi: Auf Biegen und Brechen. Sieben Fallstudien zur Gewalt im Leben junger Menschen im Gouvernement Smolensk, 1917–1926. Zürich 2004 (Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas; Bd. 10), S. 30. Haumann: Geschichte, S. 48. Vgl. Julia Richers: Jüdisches Budapest. Kulturelle Topographien einer Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2009 (Lebenswelten osteuropäischer Juden; Bd. 12), S. 47. So wird die in den letzten Jahren in verschiedenen geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen vollzogene Hinwendung zur Kategorie »Raum« bezeichnet. Für die deutschsprachige Geschichtswissenschaft vgl. Jürgen Osterhammel: Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 374–397. Zum spatial turn in den Jüdischen Studien vgl. Julia Brauch/Anna Lipphardt/Alexandra Nocke (Hrsg.): Jewish Topographies. Visions of Space, Traditiones of Place. Ashgate 2008. Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 2011, S. 10. Vgl. Alexander Mejstrik: Welchen Raum braucht Geschichte? Vorstellungen von Räumlichkeit in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 17 (2006), S. 9–64. Zur Begriffsvielfalt in der jüdischen Raumforschung vgl. Anna Lipphardt/Julia Brauch: Gelebte Räume – Neue Perspektiven auf jüdische Topographien, in: Pe-

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ist am ehesten mit der Vorstellung Henri Lefèbvres vergleichbar, wonach der Raum keine feststehende, geschlossene Größe, sondern als situativ und relational, fluid und dynamisch zu begreifen ist.33 In Lefèbvres Konzept vom »gelebten Raum« rückt der Prozess der Raumgenerierung in den Vordergrund.34 Es geht davon aus, dass eine übergeordnete Macht Räume vorgibt und das Leben der untergeordneten Individuen dadurch prägt. Demgegenüber betrachtet Michel de Certeau die Konstruktion von Räumen als Ergebnis eines Taktierens von Individuen gegenüber den Strategien der übergeordneten Macht.35 Beide Ansätze lassen sich auf die Situation der deutschen Juden im Nationalsozialismus – die Verdrängung aus bestimmten Räumen auf der einen und ihre hierauf Bezug nehmenden Handlungen auf der anderen Seite – übertragen. Dies hat Guy Miron 2013 in einem Artikel anschaulich dargelegt.36 Inwiefern lassen sich diese Überlegungen für die vorliegende Arbeit nutzen? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Quellen einem räumlichen Ansatz besonders zugänglich sind, da die konkrete Ortswahrnehmung in den Tagebüchern des historischen Akteurs einen hervorgehobenen Stellenwert besitzt. Erst der Umstand, dass dieser räumlich dachte und schrieb, ermöglicht die räumliche Betrachtung seiner Texte. Der Nutzen einer räumlichen Perspektive für die vorliegende Fragestellung ist insbesondere darin zu sehen, dass sie erlaubt, Veränderungen von Raumzuschreibungen zu erfassen und auf diese Weise etwas über die Dynamik von Aneignungs- und Entfremdungsprozessen als wichtigen Bestandteilen des Selbstbehauptungsprozesses zu erfahren.37 Dadurch dass verschiedene Räume nebeneinander betrachtet werden, können auch solche Prozesse erkannt werden, die sich über verschiedene Räume erstrecken. Der historische Akteur ist Willy Cohn. Er wurde im »Dreikaiserjahr« 1888 in Breslau geboren, wo er aufwuchs und das humanistische Gymnasium besuchte. Anschließend studierte er Geschichte, Germanistik und Erdkunde in Breslau, Heidelberg und

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tra Ernst/Gerald Lamprecht (Hrsg.): Jewish Spaces. Die Kategorie Raum im Kontext kultureller Identitäten. Innsbruck/Wien/Bozen 2010 (Schriften des Centrums für Jüdische Studien; Bd. 17), S.13–32, hier S. 28. Vgl. Henri Lefèbvre: Die Produktion des Raumes, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2006, S. 330– 342, hier S. 340. Zum relationalen Raumkonzept vgl. Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001. Vgl. Brauch/Lipphardt/Nocke: Space, S. 2; Lipphardt/Brauch: Räume, S. 24. Vgl. Michel de Certeau: The Practice of Everyday Life. Berkeley 1984. Vgl. Guy Miron: «Lately, Almost Constantly, Everything Seems Small to Me”. The Lived Space of German Jews under the Nazi Regime, in: Jewish Social Studies: History, Culture, Society 20 no. 1 (2013), S. 121–149, insb. S. 122f. Zur Dynamik räumlicher Orientierungen vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 297.

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München. Danach kehrte Cohn nach Breslau zurück und blieb hier, unterbrochen nur vom Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg, bis zur Deportation im November 1941. Die zentralen Orte seiner Lebenswelt sind somit Breslau und das schlesische Umland. Über diesen Gesichtskreis hat er sich nur für wenige Jahre hinausbewegt. Diese Aspekte bilden den biografischen Rahmen und Ausgangspunkt für die Analyse der lebensweltlichen Veränderungen nach 1933.

Potenzial und Grenzen autobiografischer Quellen Die Arbeit stützt sich auf den Nachlass Willy Cohns.38 Kernstücke des Nachlasses sind der 1940/41 entstandene Erinnerungsbericht im Umfang von 1.048 Schreibmaschinenseiten und die rund 120 Tagebuchhefte aus den Jahren zwischen 1899 und 1941, die einen Gesamtumfang von rund 10.000 handschriftlichen Seiten haben.39 Willy Cohn gilt damit als einer »der unermüdlichsten Tagebuchschreiber seiner Zeit«40. Die vorliegende Untersuchung beruht im Wesentlichen auf der Auswertung der Tagebücher. In Einzelpunkten werden die Lebenserinnerungen ergänzend herangezogen. Tagebuch und Erinnerung sind autobiografische Quellen, deren verbindendes Merk-

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Der Großteil ist heute in den Central Archives for the History of the Jewish People (CAHJP) in Jerusalem hinterlegt. Noch zu Lebzeiten hat Cohn die Dokumente, die seinen Nachlass bilden, zusammengestellt und Vorkehrungen für ihren Erhalt getroffen. Kurz vor seiner Verhaftung im November 1941 gelang es ihm, seinen Nachlass an Berliner Verwandte zu schicken: Paul Zeitz, einen »arischen« Bahnbeamten, und seine jüdische Frau Else, eine Verwandte der ersten Ehefrau Willy Cohns. Dieses Vorgehen war wenige Wochen zuvor während eines Besuchs in Breslau verabredet worden (vgl. Norbert Conrads: Einleitung, in: Willy Cohn: Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums, 1933–1941. Band 1. Hrsg. v. Norbert Conrads. Köln/Weimar/ Wien 2007, S. IX–XXX, hier S. XIV). Bei Familie Zeitz in Berlin überdauerte der Nachlass den Krieg und gelangte anschließend an die überlebenden Kinder Willy Cohns nach Frankreich und Israel. Zu den Tagebüchern vgl. CAHJP P 88 Nr. 1–108, 110–111, 118–126; zu den Lebenserinnerungen vgl. CAHJP P 88 Nr. 113–114, 116–117. Sowohl die Erinnerungen als auch die Tagebücher der Jahre 1933–1941 liegen heute als umfassende Edition vor: Willy Cohn: Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang. Hrsg. v. Norbert Conrads. Köln/ Weimar/Wien 1995 (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte; Bd. 3); ders.: Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums, 1933–1941. Band 1 und 2. Hrsg. v. Norbert Conrads. 3. Aufl. Köln/Weimar/Wien 2007 (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte; Bd. 13,1 und 13,2). Neben der zweibändigen Originalausgabe gibt es eine einbändige Leseausgabe sowie eine damit weitgehend übereinstimmende Studienausgabe: ders.: Kein Recht, nirgens. Breslauer Tagebücher, 1933–1941. Eine Auswahl. Hrsg. v. Norbert Conrads. Köln/Weimar/Wien 2008; ders.: Kein Recht – nirgends. Breslauer Tagebücher, 1933–1941. Eine Auswahl. Hrsg. v. Norbert Conrads. Bonn 2009 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; Bd. 768). Dem vorausgegangen war die Veröffentlichung von Tagebuch-Auszügen des Jahres 1941: ders.: Als Jude in Breslau – 1941. Hrsg. v. Joseph Walk. Jerusalem 1975; ders.: Als Jude in Breslau – 1941. Hrsg. v. Joseph Walk. Gerlingen 1984. Conrads: Einleitung, S. XIV.

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mal es ist, dass in ihnen eine Person Aspekte des eigenen Lebens beschreibt.41 Im Speziellen zeichnen sich Tagebücher durch eine fortlaufende, zeitnahe und zumeist auch kleinteilige Betrachtungsweise aus, während Erinnerungen in der Regel mit einem größeren zeitlichen Abstand geschrieben und dabei zusammenfassend die großen Linien des eigenen Lebens beleuchtet werden,42 wobei sich die individuelle mit der kollektiven Erinnerung vermengen kann.43 Die frühesten Tagebuchaufzeichnungen datieren aus dem Jahr 1899, als Willy gerade einmal zehn Jahre alt war.44 Es folgen wenige Seiten umfassende Tagebuchhefte aus den Jahren 1901 bis 1903 sowie Aufzeichnungen aus den Jahren 1907, 1908, 1910 und aus dem Winter 1913/14.45 Eine kontinuierliche, regelmäßige Niederschrift setzte erst mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs und der Versetzung Cohns an die Westfront ein.46 In der Weimarer Zeit wurde diese Praxis fortgeführt. Die Untersuchung konzentriert sich auf die Aufzeichnungen ab 1933. Ihnen ist eigen, dass sich die Intensität des Tagebuchschreibens nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten merklich steigerte. Dies entspricht der Beobachtung des Schriftstellers und Tagebuchschreibers Gerhard Nebel, wonach die NS-Zeit ein »Zeitalter der Tagebücher«47 war. In den Tagebüchern Willy Cohns begegnet uns »ein denkendes und handelndes Subjekt, wo wir – im Wissen um den Holocaust – vielleicht erwarten, ein Opfer zu finden, einen Menschen, der sich den Ereignissen mehr oder weniger hilflos

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Vgl. Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse?. Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462–471, hier S. 463. Der Begriff der »Selbstzeugnisse« ist somit abzugrenzen vom Begriff der »Ego-Dokumente«, der auch solche Texte umfasst, in denen das ›Selbst‹ unfreiwillig thematisiert wird (vgl. Winfried Schulze: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Vorüberlegungen für die Tagung »Ego-Dokumente«, in: ders. (Hrsg.): Ego-Dokumente. Berlin 1996, S. 11–30.), sowie vom Begriff der »Autobiografik« (Eva Kormann), der betont, dass »ein Autor seinen Text mit Hilfe textueller und paratextueller Merkmale als Beschreibung seines Lebens markier[t]« (Julia Herzberg: Autobiographik als historische Quelle in ›Ost‹ und ›West‹, in: dies./Christoph Schmidt (Hrsg.): Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 15–62, hier S. 16). Vgl. Arno Dusini: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München 2005, S. 75f. Vgl. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Mit einem Geleitwort zur deutschen Ausgabe von Heinz Maus. Frankfurt a. M. 1985, S. 368. Siehe hierzu auch die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann, die mit ihrer Theorie des »kulturellen Gedächtnisses« den Diskurs in den letzten Jahren bestimmt haben: Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 7. Aufl. München 2013, insb. S. 29–66; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 5., durchgeseh. Aufl. München 2010. Vgl. CAHJP P 88 Nr. 119. Vgl. CAHJP P 88 Nr. 1a, 2, 110, 118, 121, 123, 124, 125. Vgl. CAHJP P 88 Nr. 3–17, 111, 120, 126; für die Weimarer Zeit: CAHJP P 88 Nr. 18–50, 118–120. Gerhard Nebel: Bei den nördlichen Hesperiden. Tagebuch aus dem Jahr 1942. Wuppertal 1948, S. 5.

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ausgeliefert fühlt, eine Person ohne Wahlmöglichkeiten, emotional in einer aussichtslosen Situation gefangen«48. Der Leser trifft auf einen Tagebuchschreiber, der bei aller Verzweiflung selbst aktiv auf die nationalsozialistische Judenverfolgung reagierte, nach Auswegen suchte und sich selbst behauptete – soweit er dies konnte. Was macht die Tagebücher Willy Cohns so besonders? Ein jüdisches Tagebuch vergleichbaren Umfangs gibt es nach gegenwärtigem Kenntnisstand weder für Schlesien noch für Deutschland – sieht man von den Tagebüchern Victor Klemperers (1881– 1960)49 ab.50 Anders als Klemperer, der häufig einige Tage verstreichen ließ, ehe er die Ereignisse rückblickend zusammenfasste, sind Cohns Tagebücher jedoch von einer gewissen Unmittelbarkeit der Dokumentation geprägt. Cohn schrieb täglich, häufig mehrmals am Tag. Der zeitliche Abstand zwischen dem Erlebten und der Niederschrift war somit geringer.51 Von den heute bekannten deutsch-jüdischen Verfassern ähnlich umfangreicher Tagebücher der NS-Zeit – neben Cohn und Klemperer gehört hierzu auch Kurt Rosenberg (1900–1977)52 – war Willy Cohn zudem der einzige, der ein ausgeprägt jüdisches Selbstverständnis besaß und lebte. Cohn und Klemperer stammten zwar beide aus liberaljüdischen Elternhäusern mit vergleichbaren religiösen und kulturellen Ansichten. Doch Klemperer konvertierte bereits als junger Mann zum Christentum und heiratete eine nichtjüdische Frau.53 Kurt Rosenberg wurde während seiner Schulzeit von einem Rabbiner in das Judentum eingeführt, besuchte aber auch den protestantischen Religionsunterricht, weshalb er sich im Ergebnis »weder der einen noch der anderen Religion innerlich verbunden«54 fühlte. Demgegenüber verortete

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Beate Meyer: »Ich leide als Deutscher wie als Jude«. Kurt F. Rosenberg: Seine Tagebücher, 1933– 1937, sein Leben und die Geschichte seiner Familie, in: Kurt F. Rosenberg: »Einer, der nicht mehr dazugehört«. Tagebücher, 1933–1937. Hrsg. v. Beate Meyer u. Björn Siegel. Göttingen 2012 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. XLI), S. 9–25, hier S. 10. Vgl. Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945. Hrsg. v. Walter Nowojski u. Mitarb. v. Hadwig Klemperer. Berlin 1999. Conrads: Einleitung, S. XV. Zu den beiden autobiografischen Hauptquellen des Lebens deutscher Juden im »Dritten Reich« vgl. Walter Laqueur: Three Witnesses: The legacy of Victor Klemperer, Willy Cohn, and Richard Koch, in: Holocaust and Genocide Studies 3 (1996), S. 253–266. Dennoch gilt auch für die Tagebücher Willy Cohns, dass die darin niedergelegten Erinnerungen nicht das unmittelbar Erlebte wiedergeben. »Die Erinnerung eines Menschen spiegelt nicht das unmittelbar Erlebte. Bereits während des Speichervorgangs wird dieses verarbeitet und damit zu einer Erfahrung. In der Erinnerung wird deshalb aus dem Gedächtnis eine gespeicherte Erfahrung mobilisiert. Spätere Erfahrungen, neue Sichtweisen, Einflüsse von außen verändern das Gespeicherte ebenso wie jeder Erinnerungsvorgang selbst aufgrund des komplizierten Aufbaus und der Arbeitsweise des Gehirns mit seinen Milliarden Zellen und Verknüpfungen.« (Haumann: Geschichte, S. 42). Vgl. Kurt F. Rosenberg: »Einer, der nicht mehr dazugehört«. Tagebücher, 1933–1937. Hrsg. v. Beate Meyer u. Björn Siegel. Göttingen 2012 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. XLI). Vgl. Laqueur: Witnesses, S. 254. Meyer: Deutscher, S. 11.

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sich Willy Cohn nach Ende des Ersten Weltkriegs in einem dezidiert jüdischen, nämlich zionistischen und religiösen Umfeld, sodass gesagt werden kann, dass das jüdische Selbstverständnis auch schon vor 1933 eine komplementäre Facette zur deutschen Teilidentität darstellte. Die Tagebücher des Breslauer Juden Walter Tausk (1890–1941)55 sind demgegenüber von deutlich geringerem Umfang, nur fragmentarisch überliefert und reichen bis Anfang März 1940.56 Tausk besaß ebenfalls keine ausgeprägt jüdische Identität, sondern führte ein Leben als bekennender Buddhist.57 Ein weiterer und – wie sich zeigen wird – entscheidender Unterschied besteht in der Generationszugehörigkeit der Tagebuchschreiber. Während Willy Cohn und der 1881 geborene Klemperer während des Ersten Weltkriegs zumindest phasenweise als Soldaten an der Front dienten, erlebte der im Jahr 1900 geborene Rosenberg den Krieg an der »Heimatfront«. Schließlich unterscheiden sich die drei Verfasser auch in ihrem Schicksal erheblich voneinander. Während Rosenberg 1938 in die USA auswanderte, blieben Cohn und Klemperer in Deutschland. Klemperer entging knapp der Ermordung, Cohn wurde Ende November 1941 verhaftet, nach Kaunas deportiert und kurze Zeit später ermordet. Walter Tausk teilte Willy Cohns Schicksal.58 Bei der Auswertung der Aufzeichnungen sind neben den allgemeinen Grundsätzen im Umgang mit Tagebüchern als historischen Quellen59 im Hinblick auf den besonderen Kontext der deutsch-jüdischen Geschichte im »Dritten Reich« folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Unter dem Eindruck der bestehenden Bedrohungslage für Juden und politisch Verfolgte war auch das Tagebuch kein Ort, an dem Willy Cohn den letzten inneren Vorbehalt aufzugeben bereit war. Deutlich wird dies etwa an den Eintragungen im Zusammenhang mit dem jüdischen Rechtsanwalt und linken Politiker Ernst Eckstein, der nach dem Reichstagsbrand im Konzentrationslager Dürrgoy inhaftiert wurde, wo er nach schweren Folterungen am 8. Mai 193360 starb. Obwohl Willy Cohn an der offiziellen Darstellung der Todesursache zweifelte – der Polizeibericht

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Vgl. Walter Tausk: Breslauer Tagebuch, 1933–1940. Hrsg. v. Ryszard Kincel. Berlin 1988. Vgl. Conrads: Einleitung, S. XXV. Vgl. ebd., S. XXV. Vgl. Ryszard Kincel: Vorwort, in: Walter Tausk: Breslauer Tagebuch, 1933–1940. Hrsg. v. Ryszard Kincel. Berlin 1988, S. 5–20, hier S. 15–17. Vgl. Susanne zur Nieden: Alltag im Ausnahmezustand. Frauentagebücher im zerstörten Deutschland, 1943 bis 1945. Berlin 1993; Katharina Friedla: Ego-Dokumente als Quellen zu Lebenswelten der Breslauer Juden [www.bkge.de/Downloads/Zeitzeugenberichte/Friedla_Egodokumente.pdf; abgerufen am 18.10.2017]. Arno Herzig gibt fälschlicherweise den 7. März 1933 als Sterbedatum an. Vgl. Arno Herzig: Die NS-Zeit in Breslau im Spiegel der jüdischen Memoirenliteratur, in: Mark H. Gelber u. a. (Hrsg.): Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Hans Otto Horch zum 65. Geburtstag. Tübingen 2009, S. 269–282, hier S. 274.

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sprach von Lungen- und Nierenentzündung sowie beginnender Geisteskrankheit –, wagte er nicht, dies im Tagebuch offenbar zu machen: »Man kann ja nicht einmal hier das aufschreiben, was man empfindet und denkt! Armer Eckstein!«61 Die Tagebuchaufzeichnungen unterlagen in diesem Punkt aber einer offenbar nur punktuell gesteigerten Gefahrenwahrnehmung, wie folgendes Beispiel zeigt: Nach dem Novemberpogrom 1938 war die Gefahr einer Verhaftung und Wohnungsdurchsuchung, bei der auch das Tagebuch gefunden worden wäre, sehr groß. Dementsprechend überlegte Cohn genau, wieviel seiner Gedanken und Beobachtungen er im Tagebuch preisgab. Deutlich wird dies etwa im Zusammenhang mit den Aufzeichnungen zum Besuch seines ehemaligen Schülers Heinrich Schulz, mit dem dieser seinem jüdischen Lehrer seine Anteilnahme bekunden wollte. Für Willy Cohn hatte dieser Besuch einen großen Stellenwert, den er im Tagebuch auch zum Ausdruck bringen wollte. Offenbar um seinen ehemaligen Schüler zu schützen, anonymisierte er dessen Namen durch die Verwendung der Anfangsbuchstaben.62 Ein knappes halbes Jahr später scheint das Risiko seiner Einschätzung nach abgenommen zu haben. Als Schulz erneut zu Besuch kam, schrieb Cohn den Namen aus.63 Ganz allgemein stellt sich die schwierige Frage, welchen Aussagewert das Tagebuch hat, wenn ein bestimmter Sachverhalt nicht geschildert wird, auch wenn keine Gefahrenlage besteht. Hier ist im Einzelfall zu hinterfragen, ob es sich um eine Form des beredten Schweigens handelt, und welche Aussage in diesem Schweigen liegt. Das »Dritte Reich« war das Zeitalter des Tagebuchs. Und auch im Falle Willy Cohns diente es einem existenziellen Bedürfnis nach Selbsterhaltung im Angesicht der nationalsozialistischen Herrschaft. Die Tagebuchaufzeichnungen waren im totalitären Staat häufig die einzige Möglichkeit zu einer jedenfalls weitgehenden, wenn auch nicht in letzter Konsequenz vorbehaltlosen Auseinandersetzung mit den drängenden Themen der Zeit. Insbesondere in Momenten augenscheinlich großer seelischer Anspannung verlassen die Tagebuchaufzeichnungen Willy Cohns die üblichen Bahnen der Schilderungen, äußeren Beobachtungen, Reflexionen und Selbstreflexionen. Sie tragen dann Züge der Autosuggestion, des inneren Zwiegesprächs, der Erbauung, des Appells und der Ermutigung seiner selbst – Aspekte, die ebenfalls Quellenwert haben.64 Welch existenzielle Bedeutung das Führen eines Tagebuchs haben kann, hat Victor Klemperer anschaulich geschildert: »Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder meine

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Tgb. v. 09.05.1933, CAHJP P 88 Nr. 53. Vgl. Tgb. v. 19.11.1938, CAHJP P 88 Nr. 84. Vgl. Tgb. v. 22.06.1939, CAHJP P 88 Nr. 88. Vgl. Peter Pulzer: Warum scheiterte die Emanzipation der Juden?, in: Peter Alter/Claus-Ekkehard Bärsch/Peter Berghoff (Hrsg.): Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. München 1999, S. 273–284, hier S. 273.

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Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, [...] in Momenten äußerster Schmach, bei physisch versagendem Herzen – immer half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht.«65 Die Einschätzung, dass Cohns Tagebücher nicht »in der Absicht angelegt [waren], sie als Teil des schriftstellerischen Werkes vorzusehen, das einmal für die Öffentlichkeit gedacht war«66, mag zutreffen. Dennoch entsteht in zahlreichen Tagebuchpassagen der Eindruck, dass Willy Cohn bewusst oder unbewusst in einen Dialog mit der Nachwelt eintrat. Jedenfalls führte er Tagebuch in dem Bewusstsein, ein exemplarisches Schicksal zu erleiden – ein Bewusstsein, das gerade in den Hochphasen judenfeindlicher Propaganda und Gewalt im Sommer 1935 und nach dem Novemberpogrom 1938 deutlich zum Ausdruck kam: »Oft schreibe ich jetzt in dieses Buch; wenn es die Zeiten überdauern sollte, wird es vielleicht einmal späteren Generationen sagen, was ein jüdischer Mensch in dieser Zeit gelebt und gelitten hat.«67 Ergänzend zu den Tagebüchern werden die Lebenserinnerungen Willy Cohns herangezogen. Wie sind sie zu charakterisieren? Sie orientieren sich am klassischen Vorbild der Autobiografie Johann Wolfgang von Goethes68, nicht an der für die Moderne richtungsweisenden autobiografischen Schrift »Berliner Kindheit um neunzehnhundert«69 von Walter Benjamin. Benjamin präsentiert einzelne Bilder und Fragmente, er hält sich nicht an die Chronologie und geht ins Detail. Goethe hingegen wählt eine teleologische Perspektive, legt eine zusammenhängende Entwicklungsgeschichte in chronologischer Reihenfolge vor. Diese Differenzierung ist erwähnenswert, weil sie für die Person Willy Cohn bezeichnend ist. Die Entscheidung für die klassische Variante entsprach seiner generellen Geisteshaltung. Cohn identifizierte sich mit der Epoche der deutschen Weimarer Klassik und lehnte moderne Strömungen, etwa den Expressionismus in der Malerei, ab.70 Hinzu kommt, dass er mit den Erinnerungen auch eine dokumentarische Absicht verband. Im Vorwort heißt es, die Erinnerungen seien eine »geschichtliche Quelle«71. Die chronologische Reihung erschien daher als die natürliche Darstellungsform. Außerdem sah sich Cohn als Zeitzeuge, der Informationen in

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Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Nach der Ausgabe letzter Hand herausgegeben und kommentiert von Elke Fröhlich. 25., durchgeseh. Aufl. Stuttgart 2015, S. 19. Conrads: Einleitung, S. XIV. Tgb. v. 30.11.1938, CAHJP P 88 Nr. 84. Siehe auch Tgb. v. 19.08.1935, CAHJP P 88 Nr. 65. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit. Hrsg. v. Walter Hettche. Durchgeseh. u. bibliografisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2012. Vgl. Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno. Frankfurt a. M. 2006. Vgl. Cohn, Lebenserinnerungen, CAHJP P 88 Nr. 114, S. 732. Ebd., S. 1.

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einem Moment des Auseinanderdriftens und möglichen Verlusts zusammenhielt. Den Entstehungskontext seiner Erinnerungen beschrieb er demnach als Epoche der Auflösung und des Niedergangs: »Eine bedeutsame Epoche des Judentums in Deutschland neigt sich ihrem Ende zu. Jüdische Menschen gehen seit sieben Jahren in alle Teile der Welt, und vieles, was eben noch Gegenwart war, ist nun schon Vergangenheit.«72 Willy Cohn wollte in seinen Erinnerungen die Strukturen darlegen, die ihn prägten. Dazu musste er die chronologische Erzählweise gelegentlich verlassen. »Es lässt sich [...] nicht vermeiden, dass man über die Jahre und Jahrzehnte hinausspringt, um die Linien zu finden.«73 In den nachfolgenden thematischen Analysen wird sich der Blick gerade auf jene Passagen lohnen, die besonders weitschweifig sind und somit »aus dem Gewohnten herausfallen«74. Im Gegensatz zur Privatheit des Tagebuchs spielt die Öffentlichkeit bei den Erinnerungen eine große Rolle. Das klingt bereits im Vorwort an, wo es heißt, es handele sich hier um eine geschichtliche Quelle. Außerdem widmete Willy Cohn die Aufzeichnungen nicht nur seiner Familie, sondern auch dem »neuen jüdischen Geschlecht in Erez Israel«75, was ebenfalls auf eine gewollte Öffentlichkeit hindeutet. Dass die Erinnerungen womöglich veröffentlicht würden, hatte Cohn schon wesentlich früher in Erwägung gezogen. Im Widmungsblatt einer Fassung vom 10. Dezember 1935 legte er die Verantwortung für eine spätere teilweise oder vollständige Veröffentlichung in die Hand seines ältesten Sohnes Wolfgang.76 Ein weiterer Umstand erscheint bei der Charakterisierung der Lebenserinnerungen erwähnenswert. Willy Cohn hat die Erinnerungen nicht, wie die Tagebücher, mit eigener Hand geschrieben, sondern diktiert. Dies führt zu einer gewissen Distanz zum Geschriebenen. »Man schreibt«, so die treffende Beobachtung, »anders, wenn man diktiert. Man ist nicht alleine mit dem Geschriebenen, das durch das Medium des Schreibers seine Unmittelbarkeit, den reinen Herzensausdruck, verliert.«77 In den Lebenserinnerungen ist diese Distanz mitunter deutlich vernehmbar. Ehe Cohn diktierte, überlegte er genau, nahm seine alten Tagebücher zur Hand und filterte Lebensumstände und Stimmungen heraus. Dies erinnert an das rational gesteuerte, weil methodische Vorgehen des Wissenschaftlers. Die Lebenserinnerungen enden mit dem Jahr 1933. Dieser Schlusspunkt war bewusst gewählt. Er könne, so schrieb Willy Cohn, die Auswirkungen der nationalsozia-

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Ebd. Cohn, Lebenserinnerungen, CAHJP P 88 Nr. 113, S. 89. Siehe auch ders., Lebenserinnerungen, CAHJP P 88 Nr. 114, S. 806. Haumann: Geschichte, S. 48. Cohn, Lebenserinnerungen, CAHJP P 88 Nr. 114, S. 1. Vgl. ders., Lebenserinnerungen, CAHJP P 88 Nr. 113, S. 1. Rüdiger Safranski: Goethe. Kunstwerk des Lebens. Frankfurt a. M. 2015, S. 233.

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listischen Herrschaft noch nicht voll umreißen. »[E]s will mir scheinen, als ob die Zeit noch nicht reif wäre, dies darzustellen.«78 Lebensgeschichtliche Erzählungen geben Aufschluss über die »retrospektive Deutung erlebter Geschichte und die auf ihr basierende Identitätsbildung in der Gegenwart«79. Dies gilt auch für die Erinnerungen Willy Cohns. Sie waren der Rahmen, in dem er die eigenen Erfahrungen vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus deutete, Erklärungen suchte und dem Sinn seines Seins und Handelns nachspürte. Die Untersuchung der Lebenserinnerungen auf diese Fragen hin verlangt im Falle Willy Cohns eine Transferleistung. Die Schilderung der Lebenserinnerungen endet formal betrachtet 1933 und damit zeitlich vor dem hier im Wesentlichen interessierenden Geschehen. Eine unmittelbare Antwort auf die aufgeworfenen Fragen nach der eigenen Sicht auf das Aushandeln seines Bleibens in Deutschland ist den Erinnerungen daher nicht zu entnehmen. Der Zeitpunkt ihrer Entstehung, der gleichzeitig den Erfahrungshorizont des Autors beschreibt, liegt indes erst im Jahr 1941 und damit am Ende des hier untersuchten Zeitabschnitts. Diese Erfahrungen wurden in die Schilderung des eigenen Lebens bis 1933 hineintransportiert. So enthalten die Schilderungen bis 1933 Aussagen über die vom Autor wahrgenommenen Sinnzusammenhänge, die über den unmittelbaren Gegenstand der Lebenserinnerung hinausreichen und damit auch Rückschlüsse auf seine Sicht der NS-Zeit zulassen. Ergänzend zu diesem Quellenbestand wurden die private80 und wissenschaftliche81 Korrespondenz sowie zahlreiche Artikel82 Willy Cohns in verschiedenen jüdischen Pe-

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Cohn, Lebenserinnerungen, CAHJP P 88 Nr. 114, S. 1048. Jan Arend: Jüdische Lebensgeschichten aus der Sowjetunion. Erzählungen von Entfremdung und Rückbesinnung. Köln/Weimar/Wien 2011 (Lebenswelten osteuropäischer Juden; Bd. 13.), S. 20. Es existieren mehrere Dutzend Briefe Willy Cohns und anderer Angehöriger an Erna Proskauer, Willys Schwester, aus den späten 1930er und frühen 1940er-Jahren. Sie befinden sich heute in Privatbesitz. Bei derartigen Quellen zu beachten ist, dass die Briefe im Wissen um die Zensur mit großer Vorsicht abgefasst wurden. Für die Quellenanalyse bedeutet dies: »Die Briefe Breslauer Juden aus dieser Zeit sind [...] auf ihre versteckten Botschaften hinter dem als scheinbar ›normal‹ geschilderten Alltag zu befragen.« (Norbert Conrads: Nachwort des Herausgebers, in: Willy Cohn: Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums, 1933–1941. Band 2. Hrsg. v. Norbert Conrads. 3. Aufl. Köln/Weimar/Wien 2007 (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte; Bd. 13,1 und 13,2), S. 1009–1012, hier S. 1010). Die entsprechenden Briefe sind eher zufällig in den Nachlässen der Korrespondenzpartner zu finden. Um diese aufzuspüren, wurden im Vorfeld zahlreiche Anfragen an Archive in Israel, Italien, Polen und Deutschland gerichtet. Eine große Zahl dieser Anfragen erbrachte keinen Treffer. Einzelne oder mehrere Briefe Cohns sind u. a. in den Nachlässen der Historiker Markus Brann, Karl Hampe, Eduard Sthamer, Paul Fridolin Kehr, Theodor Goerlitz und Guido Kisch sowie in den Unterlagen der »Historischen Gesellschaft zu Berlin« und der »Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft« erhalten. Die Archivrecherche erfolgte im Bestreben, einen Eindruck von der Vielfalt und der Intensität der wissenschaftlichen Korrespondenz Willy Cohns zu erhalten. Sie erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Mehrzahl der relevanten Artikel ist auf dem Wissenschaftsportal Compact Memory der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main (http://sammlungen.

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riodika ausgewertet. Letztere können als Beitrag zum zeitgenössischen Diskurs den privaten Äußerungen im Tagebuch vergleichend gegenübergestellt werden. Eine ähnliche Funktion kommt den Tagebüchern und Erinnerungen anderer deutscher und Breslauer Juden zu.83 Sie liefern, jedenfalls zum Teil, andere Einschätzungen und Perspektiven auf die zentralen Aspekte dieser Arbeit und sind eine wichtige Vergleichsfolie für die Analyse der Lebenswelt Willy Cohns. In diesem Zusammenhang sind die »Mitteilungen des Verbandes ehemaliger Breslauer und Schlesier in Israel« (MVBI) besonders hervorzuheben, die zwischen 1961 und 2011 erschienen und zahlreiche Erinnerungsberichte und persönliche Dokumente ehemaliger Breslauer Juden enthalten.84 Um das Vorgehen aufseiten der lokalen Behörden zu erschließen, wurden zudem die relevanten Aktenbestände, unter anderem der Regierung von Breslau, im Staatsarchiv in Wrocław (Archiwum Państwowe we Wrocławiu, APW) eingesehen.85

Forschungsstand Die vorliegende Arbeit kann auf Grundlagenforschungen zur Geschichte der Breslauer Juden in der NS-Zeit zurückgreifen. Gerade in den letzten Jahren wurden hier wichtige Untersuchungen vorgelegt. Hervorzuheben ist etwa die 2015 publizierte Dissertation von Katharina Friedla, die das jüdische Leben in Breslau zwischen der Weimarer Republik und den ersten Jahren der Volksrepublik Polen aus der Perspektive der jüdischen Akteure analysiert.86 Nicht zuletzt aufgrund der umfangreichen Quellenbasis – veröffentlichter und unveröffentlichter Erinnerungen, lebensgeschichtlicher Interviews sowie zahlreicher Zeitungen, Zeitschriften und Mitteilungsblätter – und der Einbeziehung polnischsprachiger Forschungsliteratur ist Friedlas Studie ein wichtiges Werk. Die 2007 erschienene Arbeit von Abraham Ascher stellt das Schicksal der Breslauer Juden im Nationalsozialismus aus einer auch autobiografischen Perspektive

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ub.uni-frankfurt.de/cm/nav/index/title/) abrufbar. Das »Jüdische Nachrichtenblatt« (1938–1941) kann über die Internetseite der Deutschen Nationalbibliothek (http://deposit.d-nb.de/online/ jued/jued.htm) eingesehen werden. Die in Breslau erschienene »Jüdische Zeitung (für Ostdeutschland)« (bis 1937) sowie das »Breslauer Jüdische Gemeindeblatt« (bis 1938) sind u. a. in der Gedenkstätte »Haus der Wannseekonferenz« zugänglich. Neben den bereits erwähnten Tagebüchern Victor Klemperers, Kurt Rosenbergs und Walter Tausks sind dies die Erinnerungen von Anita Lasker-Wallfisch, Fritz Stern und Günther Anders, die alle aus Breslau stammen. Vgl. Anita Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz. Erinnerungen. 11. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2011; Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München 2009; Günther Anders: Besuch im Hades. Auschwitz und Breslau 1966; nach »Holocaust« 1979. 3., unveränd. Aufl. München 1996. Dieses Periodikum ist vollständig digitalisiert und auf Compact Memory (http://sammlungen. ub.uni-frankfurt.de/7411685 sowie http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/7506414) abrufbar. Zur Quellenlage zur Geschichte der Breslauer Juden in der NS-Zeit siehe auch Prolog. Vgl. Friedla: Juden.

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dar. Der amerikanische Historiker Ascher war zehn Jahre alt, als er Breslau 1939 in Richtung Amerika verlassen musste.87 Daneben sind vor allem in den letzten Jahren einige Monografien veröffentlicht worden, die sich mit Teilaspekten88 des jüdischen Lebens im nationalsozialistischen Breslau beschäftigen oder die NS-Zeit im Rahmen einer übergeordneten Fragestellung89 behandeln. Außerdem liegen zahlreiche Aufsätze zu Einzelaspekten90 oder zum gesamten Komplex91 der Geschichte der Breslauer Juden im Nationalsozialismus vor. Auch in Bezug auf das schlesische Judentum ist in der jüngeren Forschung eine verstärkte Aufmerksamkeit für die NS-Zeit zu verzeichnen.92 Dies betrifft beispielsweise die Lage der jüdischen Bevölkerung in Oberschlesien93 oder

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Vgl. Abraham Ascher: A Community under Siege. The Jews of Breslau under Nazism. Stanford 2007, S. 3. Vgl. Ramona Bräu: »Arisierung« in Breslau. Die »Entjudung« einer deutschen Großstadt und deren Entdeckung im polnischen Erinnerungsdiskurs. Saarbrücken 2008. Vgl. Andreas Reinke: Judentum und Wohlfahrtspflege in Deutschland. Das jüdische Krankenhaus in Breslau, 1726–1944. Hannover 1999; Mirosława Lenarcik: A Community in Tansition. Jewish Welfare in Breslau – Wrocław. Opladen/Farmington Hills, MI, 2010; Joseph Walk: Die »Jüdische Zeitung für Ostdeutschland«, 1924–1937. Zeitgeschichte im Spiegel einer regionalen Zeitung. Hildesheim/New York 1993. Vgl. Christian Andree: Die Ausschaltung jüdischer Mediziner der Universität Breslau und die Gleichschaltung der Ärzteschaft durch den Reichsärzteführer Gerhard Wagner, in: Lothar Bossle (Hrsg.): Nationalsozialismus und Widerstand in Schlesien. Sigmaringen 1989, S. 105–120; Knut Bergbauer: Jüdische Jugendbewegung in Breslau, 1912–1938, in: Andreas Brämer/Arno Herzig/ Krzysztof Ruchniewicz (Hrsg.): Jüdisches Leben zwischen Ost und West. Neue Beiträge zur jüdischen Geschichte in Schlesien. Göttingen 2014 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. 44), S. 287–302; Karol Jonca: Die Deportation und Vernichtung der schlesischen Juden, in: Helge Grabitz (Hrsg.): Die Normalität des Verbrechens. Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Festschrift für Wolfgang Scheffler zum 65. Geburtstag. Berlin 1994, S. 150–170; ders.: Judenverfolgung und Kirche in Schlesien, 1933–1945, in: Stefi Jersch-Wenzel (Hrsg.): Deutsche – Polen – Juden. Ihre Beziehungen von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Beiträge zu einer Tagung. Berlin 1987 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; Bd. 58), S. 211–227; Kai Kranich: Die bürgerliche Entrechtung. Die Aberkennung von Doktorgraden und die Folgen für Juden am Beispiel der Universität Breslau, in: Andreas Brämer/Arno Herzig/Krzysztof Ruchniewicz (Hrsg.): Jüdisches Leben zwischen Ost und West. Neue Beiträge zur jüdischen Geschichte in Schlesien. Göttingen 2014 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. 44), S. 102–119. Vgl. Moshe Ayalon: Jüdisches Leben in Breslau, 1938–1941, in: MVBI 65 (1998), S. 2–7, 14–17; Herzig: NS-Zeit. Vgl. Winfried Irgang: Neuere deutsche Forschungen zur Geschichte der Juden in Schlesien seit den 1990er-Jahren, in: Andreas Brämer/Arno Herzig/Krzysztof Ruchniewicz: Jüdisches Leben zwischen Ost und West. Neue Beiträge zur jüdischen Geschichte in Schlesien. Göttingen 2014 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. 44), S. 521–545, hier S. 531–533. Vgl. Philipp Graf: Die Bernheim-Petition 1933. Jüdische Politik in der Zwischenkriegszeit. Göttingen 2008; Julia Cartarius: Schutz und Verfolgung. Die oberschlesischen Juden in den Jahren 1933–1938, in: Heike Müns/Matthias Weber (Hrsg.): »Durst nach Erkenntnis ...«. Forschungen zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. München 2007, S. 119–138.

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das schlesische Konzentrationslager Groß-Rosen, einschließlich seiner Außen- und Zwangsarbeitslager94. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der »Perspektive der Verfolgten«. Eine solche Herangehensweise war – insbesondere was die Holocaustforschung betrifft – lange Zeit eher unüblich.95 Inzwischen liegen aber auch hier einige Forschungsbeiträge vor, von denen diese Arbeit in besonderer Weise profitiert hat. Dies ist zum einen ein von Francis R. Nicosia und David Scrase im Jahr 2010 herausgegebener Sammelband, der anhand verschiedener Gruppen von Juden – organisatorischer (»Reichsvereinigung der Juden in Deutschland«, »Kulturbund«), politischer (Zionisten) und sozialer (Familie, »Mischlinge«) – »dilemmas and responses« eines Lebens im nationalsozialistischen Deutschland in den Blick nimmt.96 Zum anderen ist dies ein von Susanne Heim, Beate Meyer und Francis R. Nicosia ebenfalls 2010 herausgegebener Sammelband, der »Jüdische Perspektiven auf die Jahre der ›forcierten Auswanderung‹ bis zur Ghettoisierung und Deportation der Juden aus dem Deutschen Reich (1938/39 bis 1941)« – so der Titel des zugrunde liegenden internationalen Workshops – darstellt.97 In Marion Kaplans Studie »Between Dignity and Despair«98 über das Leben jüdischer Frauen in der NS-Zeit steht das Motiv der Bewahrung der individuellen und kollektiven Würde im Zentrum. Kaplan begreift den Versuch, die eigene Würde aufrechtzuerhalten, als »Abwehrmechanismus«99 und Ausdruck des Wunsches, »selbst in außergewöhnlichen Zeiten [...] einigermaßen normal zu leben«100. Allerdings wird dieser Aspekt nicht mit der Aushandlung des Bleibens in Verbindung gebracht, im Gegenteil: »Das Festhalten an der eigenen Lebensweise lenkte nur selten von Auswande-

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Vgl. Isabell Sprenger: Groß-Rosen. Ein Konzentrationslager in Schlesien. Köln/Weimar/Wien 1996 (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte; Bd. 6); Peter Hayes: The Ambiguities of Evil and Justice. Degussa, Robert Pross, and the Jewish Slave Laborers at Gleiwitz, in: Jonathan Petropoulos/John K. Roth (Hrsg.): Gray Zones. Ambiguity and Compromise in the Holocaust and its Aftermath. New York/Oxford 2005, S. 7–25; Nils Seidel: Die KZ-Außenlager Görlitz und Rennersdorf. Ein Beitrag zur Aufklärung der Geschehnisse im Konzentrationslager Groß-Rosen. Dresden 2008. Vgl. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung, 1933–1939. München 2000, S. 12. Vgl. Francis R. Nicosia/David Scrase (Hrsg.): Jewish Life in Nazi Germany. Dilemmas and Responses. New York/Oxford 2010. Vgl. Susanne Heim/Beate Meyer/Francis R. Nicosia (Hrsg.): »Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht sein Leben«. Deutsche Juden 1938–1941. Göttingen 2010 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. 37). So der Originaltitel der bereits zitierten Studie Kaplan: Mut: dies.: Between Dignity and Despair. Jewish Life in Nazi Germany. New York/Oxford 1998. Dies.: Mut, S. 327. Ebd., S. 325. Siehe auch Francis R. Nicosia: Introduction, in: ders./David Scrase (Hrsg.): Jewish Life in Nazi Germany. Dilemmas and Responses. New York/Oxford 2010, S. 1–14, hier S. 2.

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rungsbemühungen ab.«101 Anders ausgedrückt erscheint die Bewahrung der eigenen Würde bei Kaplan als Reaktion auf die Verfolgung, nicht als eine Bedingung des Bleibens. Der Aspekt der Aufrechterhaltung der persönlichen Integrität findet auch im Kontext der Überführung von Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager Beachtung. Kim Wünschmann legt diesen Gesichtspunkt ihrer Analyse der Erfahrungen deutsch-jüdischer Männer mit der KZ-Haft nach dem Novemberpogrom 1938 zugrunde.102 Andrea Löw behandelt diese Frage in ihrer Dissertation über die Juden im Getto von Lodz.103 Wichtig für die vorliegende Arbeit ist zudem die Studie »Numbered Days« von Alexandra Garbarini.104 Tagebuchschreiben verortet Garbarini einerseits im Bürgertum des 19. Jahrhunderts, andererseits in der jüdischen Tradition und stellt dessen verschiedene Funktionen anhand von vier Typen von Diaristen dar: »Historians and Martyrs«, »News Readers«, »Family Correspondents« und »Reluctant Messengers«. Das Tagebuchschreiben konnte für sie ein Mittel des Rückzugs, des Trosts, der Kontrolle, der Bestätigung sowie der Sinnsuche sein. Von diesem Forschungsbeitrag hat die vorliegende Arbeit nicht zuletzt deshalb profitiert, weil er, anders als vergleichbare Arbeiten105, auch die Zeit vor Beginn des Holocausts beleuchtet. In jüngster Zeit ist die Kategorie »Raum« für die Erforschung des jüdischen Lebens im Nationalsozialismus zwar verwendet worden, allerdings, soweit ersichtlich, nicht im Rahmen einer eigenständigen Arbeit. Dabei wird der Erkenntnisgewinn eines solchen Fokus in zahlreichen Studien hervorgehoben. Für die NS-Zeit erscheint eine räumliche Betrachtung bedeutsam, wenn man in Verfolgung und Ausgrenzung nicht nur »Bezeichnungen für symbolische, gesellschaftliche Mechanismen« sieht, sondern in Rechnung stellt, dass sie »auch topographisch ihren Ausdruck und dort manchmal auch ihre deutlichste Form [finden]«.106 So hat etwa Karl Schlögel betont, dass das »nationalsozialistische Projekt« in hohem Maße »räumlich-anschaulich ausformuliert und

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Kaplan: Mut, S. 327. Vgl. Kim Wünschmann: Die Konzentrationslagererfahrungen deutsch-jüdischer Männer nach dem Novemberpogrom 1938. Geschlechtergeschichtliche Überlegungen zu männlichem Selbstverständnis und Rollenbild, in: Susanne Heim/Beate Meyer/Francis R. Nicosia (Hrsg.): »Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht sein Leben«. Deutsche Juden 1938–1941. Göttingen 2010 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. 37), S. 39–58, hier S. 40. Vgl. Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten. Göttingen 2006. Alexandra Garbarini: Numbered Days. Diaries and the Holocaust. New Haven/London 2006. Vgl. Zoë Vania Waxman: Writing the Holocaust. Identity, Testimony, Representation. Oxford/New York 2006. Richers: Budapest, S. 40f.

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ausgestattet« gewesen sei.107 Die damit einhergehende Umgestaltung und Ausgrenzung fand an einem konkreten Ort und in einer vertrauten, mit eigenen Erinnerungen und positiven Assoziationen verbundenen Umgebung statt.108 Dass ein Zusammenhang zwischen der subjektiven Verfolgungserfahrung und dem Grad der Ortsbindung besteht, ist ebenfalls bereits allgemein hervorgehoben worden.109 Dies lenkt den Blick auf die persönlich-emotionale Dimension jüdischer Verfolgungserfahrungen. Joachim Schlör hat auf allgemeiner Ebene dafür plädiert, die Gefühle von Menschen gegenüber Orten stärker in die historische Betrachtung einzubeziehen.110 Ein Beispiel für die gewinnbringende Anwendung der räumlichen Perspektive auf die Situation der Juden in der NS-Zeit ist die Arbeit von Lina-Mareike Dedert über die jüdische Familie Weill-Sonder. Dedert kann zeigen, dass die nationalsozialistischen Maßnahmen und Regelungen Bewegungsmuster veränderten, indem sie den zuvor genutzten Raum einschränkten und so das Finden neuer Wege erforderlich machten.111 Willy Cohns Lebenserinnerungen, vor allem aber seine Tagebücher werden inzwischen in vielen Monografien zitiert. Diese Einbeziehung in geschichtswissenschaftliche Untersuchungen dürfte künftig noch zunehmen, da Cohns Tagebücher inzwischen auch in polnischer, englischer und hebräischer Übersetzung vorliegen.112 Des Weiteren beschäftigen sich mehrere Aufsätze mit Cohns Erfahrungen in der NS-Diktatur.113 107 108

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Schlögel: Zeit, S. 53. Vgl. Anne Clara Schenderlein: Zwischen-Orte. Dimensionen von Identität deutsch-jüdischer Migranten, in: Michal Kümper u. a. (Hrsg.): Makom. Orte und Räume im Judentum. Real. Abstrakt. Imaginär. Essays. Hildes-heim/Zürich/New York 2007 (Haskala; Bd. 35), S. 311–320, S. 314. Darin unterscheiden sie sich nicht nur von den Orten der Vernichtung, den Konzentrationslagern und Massenerschießungen in Osteuropa, die in der Regel außerhalb des vertrauten Bewegungsund Wahrnehmungsradius‹ deutscher Juden lagen. Yosef Hayim Yerushalmi: Exil und Vertreibung in der jüdischen Geschichte, in: ders.: Ein Feld in Anatot. Versuche über Jüdische Geschichte. Berlin 1933, S. 21–38, hier S. 29. Vgl. Joachim Schlör: Makom. Eine Einleitung im Gehen, in: Michal Kümper u.a. (Hrsg.): Makom. Orte und Räume im Judentum. Real. Abstrakt. Imaginär. Essays. Hildesheim/Zürich/New York 2007 (Haskala; Bd. 35), S. 15–21, hier S. 18. Zur Einbeziehung der emotionalen Lage bei der Analyse jüdischer Antworten auf den Holocaust vgl. Garbarini: Days, S. 4. Vgl. Lina-Mareike Dedert: Durch Zeit und Raum. Die Familie Weill-Sonder zwischen Emanzipation und Restitution. Berlin 2014, S. 183. Vgl. Willy Cohn: Żadnego prawa – nigdzie. Dziennik z Breslau, 1933–1941. Hrsg. v. Norbert Conrads. Wrocław 2010; ders.: No Justice in Germany. The Breslau Diaries, 1933–1941. Edited by Norbert Conrads. Stanford 2012; ders.: [Be-tsiporne ha-Raykh ha-shelishi. Yomano shel Vili Kohen, 1933–1941] In the Talons of the Third Reich. Willy Cohn’s diary, 1933–1941. Edited by Tamar Cohen Gazit. Jerusalem 2014. In umgekehrt chronologischer Reihenfolge: Norbert Conrads: Ein Zeuge des deutschen Judentums in Breslau. Willy Cohn (1888–1941) und seine bewegenden Tagebücher, in: Maximilian Eiden (Hrsg.): Von Schlesien nach Israel. Juden aus einer deutschen Provinz zwischen Verfolgung und Neuanfang. Eine Veröffentlichung des Schlesischen Museums zu Görlitz. Görlitz 2010, S. 23–33; Tamar Gazit: Life under Nazi Rule. The Jewish Community of Breslau, 1933–1941. Based on Documents and the Diaries of Dr. Willy Cohn, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 37

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2009 hat Tamar Gazit, die Enkelin Willy Cohns, eine hebräischsprachige Monografie über die Breslauer jüdische Gemeinde im Nationalsozialismus vorgelegt, in der aber insgesamt keine neuen Fragen an den Untersuchungsgegenstand gestellt werden.114 Eine Darstellung, die Cohns gesamte autobiografische Hinterlassenschaft in den Blick nimmt, gibt es dagegen bislang nicht. Hier setzt die vorliegende Arbeit an, indem sie sich des Potenzials bedient, das die lang andauernde, kontinuierliche Tagebuchüberlieferung in sich birgt.

Gliederung Die Untersuchung beginnt mit einer kurzen Darstellung der quellenspezifischen Herausforderungen einer Beschäftigung mit dem deutschen Judentum Breslaus vor 1945, einer heute nicht mehr existierenden Welt. Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptkapitel. Im ersten Hauptkapitel wird der biografische Rahmen dargestellt. Das erste Unterkapitel enthält eine historische und stadträumliche Beschreibung Breslaus, Willy Cohns »Heimatstadt«115. Das zweite Unterkapitel zeichnet ein individuelles Profil Cohns als akkulturierter Jude, Frontkämpfer, Teilnehmer an der »jüdischen Renaissance« und Wissenschaftler. Das dritte Unterkapitel untersucht Cohns Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und der nationalsozialistischen Bewegung vor 1933. Im zweiten Hauptkapitel werden die lebensweltlichen Veränderungen nach 1933 unter dem Gesichtspunkt des Aushandelns des Bleibens untersucht. Das erste Unterkapitel gibt einen Überblick über die dem Bleiben entgegen gerichtete Handlungsoption

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(2009), S. 299–304; Evelyne A. Adenauer: Büchertausch 1941. Der katholische Priester Hermann Hoffmann und der jüdische Lehrer Willy Cohn, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 65 (2007), S. 279–283; Peter Maser: Das Ende des schlesischen Judentums im Spiegel der Tagebücher von Walter Tausk und Willy Cohn, in: Beiträge zur ostdeutschen Kirchengeschichte 8 (2007), S. 278–299; Arno Herzig: Der Historiker Willy Cohn (1888–1941); in: Miriam Gillis-Carlebach/ Wolfgang Grünberg (Hrsg.): »… der den Erniedrigten aufrichtet aus dem Staube und aus dem Elend erhöht den Armen«. Die Fünfte Joseph Carlebach-Konferenz. Unvollendetes Leben zwischen Tragik und Erfüllung. Hamburg 2002, S. 98–107. Petra Lidschreiber drehte 2008 einen Dokumentarfilm über Cohns Erfahrungen im Nationalsozialismus, der unter dem Titel »Ein Jude, der Deutschland liebte – das Tagebuch des Willy Cohn« 2009 mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde. Vgl. Tamar Cohn Gazit: Life under Nazi Rule. The Jewish Community of Breslau, 1933–1941. Based on Documents and the Diaries of Dr. Willy Cohn. Tel Aviv 2009 [Hebräisch]. Die lokal- und alltagsgeschichtliche Arbeit behandelt klassische Themen – wirtschaftliche Ausgrenzung, jüdisches Kulturleben, Emigration, deutsch-jüdische Identität, jüdisch-nichtjüdische Beziehungen – und ist in drei Zeitabschnitte gegliedert: von der »Machtergreifung« 1933 bis zu den »Nürnberger Gesetzen« 1935, von 1935 bis zum Pogrom 1938 und von 1938 bis zu den ersten Deportationen 1941. Tgb. v. 16.06.1940, CAHJP P 88 Nr. 96; Tgb. v. 14.09.1940, CAHJP P 88 Nr. 98.

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der Emigration aus Deutschland. Im zweiten Unterkapitel wird der öffentliche Raum betrachtet. Dieser war davon geprägt, dass der Macht- und Deutungsanspruch des NS-Regimes hier einerseits früh deutlich zum Ausdruck kam und sich Willy Cohn andererseits mit Breslau und vor allem mit Schlesien besonders stark identifizierte. Das dritte Unterkapitel behandelt private Räume – die Familie, die Wohnung sowie die privaten Sozialkontakte –, die ebenfalls starken Einschnitten unterworfen waren. Im vierten Unterkapitel werden die Veränderungen der beruflichen Betätigung dargestellt. Die Erwerbsmöglichkeiten der Juden wurden nach 1933 massiv eingeschränkt und nach dem Novemberpogrom 1938 fast gänzlich unterbunden. Das fünfte Unterkapitel widmet sich jüdischen Räumen. Dazu gehören die Auseinandersetzung mit der antijüdischen Politik im Allgemeinen, das Verhältnis Cohns zur jüdischen Gemeinschaft, die Bedeutung religiöser Orte und Räume sowie Palästina als Idee und potenzielles Emigrationsziel. Die Untersuchung schließt mit einer Darstellung der Verhaftung und Deportation Willy Cohns am 25. November 1941. Diese erste Deportation Breslauer Juden in den Osten markiert den Beginn der völligen Zerstörung des deutsch-jüdischen Lebens in der Stadt.

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Prolog: Annäherung an eine verschwundene Welt

Das »alte Breslau«1 ist 1945 untergegangen. Nach schweren Kämpfen um die »Festung Breslau« war die Stadt bei Kriegsende nahezu vollständig zerstört. Die deutschen Einwohner wurden binnen weniger Jahre nach Westen »umgesiedelt« und Repatrianten aus den ehemals polnischen Ostprovinzen in der Stadt angesiedelt.2 Aus Breslau wurde Wrocław. Die Spuren der deutschen Vergangenheit wurden beseitigt, im Zuge des sozialistischen Wiederaufbaus erhielt die Stadt ein teilweise völlig neues Aussehen.3 Die Auslöschung des jüdischen Breslaus setzte nicht erst mit dem Krieg ein, sondern bereits 1933. Das jüdische Leben wurde schrittweise zerstört und ein Teil der jüdischen Bevölkerung in die Emigration gedrängt. Ein Großteil der Breslauer Juden wurde im Holocaust ermordet, die wenigen Verbliebenen in alle Welt zerstreut. Im Sommer 1947 lebten in Wrocław nur noch etwa 30 deutsche Juden.4 Dies bedeutet eine Herausforderung für die Auseinandersetzung mit der Geschichte des jüdischen Breslaus. Manches Quellenmaterial ist vernichtet worden.5 Der Bestand des Archivs der Synagogengemeinde Breslau ist zwar erhalten,6 allerdings ist er für die Zeit zwischen 1938 und 1945 nur fragmentarisch überliefert. Das Aktenmaterial des Staatsarchivs in Wrocław wurde infolge der Kriegshandlungen ebenfalls stark dezimiert, ein Teil zusätzlich durch das Oderhochwasser von 1997 beschädigt oder vernichtet.7 Lebenserinnerungen und Zeitzeugenberichte sind zwar vorhanden und geben wichtige Aufschlüsse.8 Allerdings ist ihr Aussagewert durch die Erfahrung

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Vgl. Klaus Garber: Das alte Breslau. Kulturgeschichte einer geistigen Metropole. Köln/Weimar/ Wien 2014. Vgl. Norman Davies/Roger Moorhouse: Breslau – Die Blume Europas. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt. München 2002, S. 519–548. Zu den baulichen Veränderungen im Breslauer Stadtzentrum vgl. Stern: Deutschland, S. 13–15. Vgl. Friedla: Juden, S. 355–363. Zur Orientierung vgl. Stefi Jersch-Wenzel: Quellen zur Geschichte der Juden in polnischen Archiven. Bd. 2: Ehemalige preußische Provinz Schlesien. Bearb. v. Claudia Nowak/Sabine Rüdiger-Thiem. München 2005. Der digitalisierte Bestand (Archivnummer 105) ist auf der Homepage des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau einsehbar (Direktlink: http://cbj.jhi.pl/?q=105, abgerufen am 18.10.2017). Letzteres gilt u. a. für die Akten des Polizeipräsidiums Breslau (APW, PPW z. B. Nr. 42, 43, 47– 180) und des Finanzamts Breslau-Süd (APW, Urząd Skarbowy Wroclaw-Poludnie). Anlaufstellen hierfür sind die Archive von Yad Vashem in Jerusalem und des Leo Baeck Instituts in New York. Die hier hinterlegten Zeugenberichte Breslauer Juden entstanden überwiegend im

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der Vertreibung und den »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) des Holocausts zum Teil deutlich beeinträchtigt. Auch der Gang durch Wrocław eignet sich nur bedingt für eine räumlich-topografische Rekonstruktion des alten Breslaus.9 Dies gilt sowohl für die im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörte Südstadt – Willy Cohns Lebensmittelpunkt – als auch für zahlreiche »jüdische Orte«, von denen heute nur noch wenige erhalten sind.10 Ein anschauliches Beispiel hierfür liefern die Berichte zweier ehemaliger Breslauer, des Philosophen Günther Anders (1902–1992) und des Historikers Fritz Stern (1926– 2016), über ihre Besuche im Wrocław der 1960er- und 1970er-Jahre. Als Anders 1966 in seine Geburtsstadt zurückkehrte, sah er sich einem völlig veränderten Stadtraum gegenüber. Der »Unstimmigkeit«11 im Stadtbild und der daraus resultierenden Desorientierung im Raum setzte Anders ein Netz räumlich-biografischer Koordinaten12 seiner Kindheit in Breslau entgegen, das ihm als Orientierung seiner Bewegungen und Gedanken in der Gegenwart diente: »Wenn du hier stehst: zur Rechten die Anlagen und die Basilika [...,] quer gegenüber das Stadttheater, [...] ganz zur Linken die ritterburgartigen Rundtürme des Landgerichts – dann lass dir nicht einreden, dass sich, seit du zum letzten Male hier gestanden hast, [...] irgendetwas zugetragen habe. [...] [L]ass dir nichts einreden, lass dir nichts weismachen, geh weiter, weiter in Richtung ›Ring‹, zwölfjährig bist du, im besten Falle dreizehn, weiter vorbei am Kaufhaus Barasch, bis zu Vaters Institut, denn dort wartet er ja auf dich, um mit dir auf Umwegen, über die Weißgerberlohe und über die Neue Graupenstraße nach Hause zu gehen.«13

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Zweiten Weltkrieg oder unmittelbar danach in der Zeit bis Anfang der 1950er-Jahre. Vgl. Friedla: Juden, S. 25. Zum »Hinausgehen in die Welt« als Mittel der historischen Erkenntnis im Kontext des spatial turn vgl. Schlögel: Zeit, S. 10. Die jüdischen Friedhöfe an der Lohestraße und an der Flughafenstraße, die erst kürzlich restaurierte Synagoge »Zum Weißen Storch« sowie die dem Gotteshaus benachbarten Gebäude der jüdischen Gemeinde sind ebenso erhalten wie die Geschäftshäuser einiger bedeutender jüdischer Firmen, z. B. das Gebäude des Warenhauses Barasch am Ring oder der imposante Bau des ehemaligen Kaufhauses Wertheim an der Schweidnitzer Straße und am Tauentzienplatz. Vgl. Leszek Ziątkowski: Erinnerungsorte der Juden in Schlesien, in: Marek Czapliński/Hans-Joachim Hahn/Tobias Weger (Hrsg.): Schlesische Erinnerungsorte. Gedächtnis und Identität einer mitteleuropäischen Region. Görlitz 2005, S. 78–93, hier S. 88–90; Friedla: Ego-Dokumente, S. 2. Das aktuell zu verzeichnende wachsende Interesse an der jüdischen Vergangenheit der Stadt geht einher mit einer Neuformierung des jüdischen Lebens, der Restauration jüdischer Orte, der Entstehung von Restaurants mit traditionellen jüdischen Speisen und der Ausrichtung des jüdischen Kulturfestivals SIMCHA, das jeden Sommer zahlreiche Besucher anzieht. Anders: Besuch, S. 50. Vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 2003, S. 72, 76. Anders: Besuch, S. 59.

PROLOG: ANNÄHERUNG AN EINE VERSCHWUNDENE WELT | 29


Nicht, was nicht mehr da war, erschreckte Anders, nicht die »Lücke«, sondern umgekehrt »das, was im eigentlich erwarteten Nichts zufällig doch noch da ist«.14 Und Fritz Stern schreibt, er habe sich bei seinem Besuch davon überzeugen wollen, »dass mein Elternhaus zerstört war und dass das Land meiner Geburt nicht mehr existierte«15. In beiden Fällen ist das zerstörte Breslau Symbol einer Vergangenheit, die von der Gegenwart abgeschnitten ist und lediglich in Erinnerungsfragmenten ins Bewusstsein dringt. Und dennoch bietet sich das jüdische Breslau als Untersuchungsgegenstand an. In ihm manifestieren sich »viele Probleme und Konstellationen des Verhältnisses von Juden und Nichtjuden in anschaulichen und aufschlussreichen Erscheinungsformen«, bündeln sich »zentrale Entwicklungslinien und Konfliktfelder der politischen und sozialen Geschichte Deutschlands im 19. und frühen 20. Jahrhundert«.16

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Ebd., S. 53. Stern: Deutschland, S. 11. Vgl. Manfred Hettling/Andreas Reinke: Handlungslogiken und Sinnkonstruktionen. Juden im Breslau der Neuzeit, in: dies./Norbert Conrads (Hrsg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit. Hamburg 2003 (Studien zur jüdischen Geschichte; Bd. 9), S. 7–21, hier S. 16, 20.

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