Hauptstadtanspruch und symbolische Politik (Leseprobe)

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Zeitgeschichte im Fokus Bd. 1

Eine gemeinsame Publikation der Historischen Kommission zu Berlin e. V., des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, des Landesarchivs Berlin und der Stiftung Ernst-Reuter-Archiv.

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Michael C. Bienert, Uwe Schaper, Hermann Wentker (Hrsg.)

Hauptstadtanspruch und symbolische Politik Die Bundespräsenz im geteilten Berlin 1949–1990

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Bibliografische Information Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2012 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Matthias Zimmermann, Berlin Gesamtgestaltung: typegerecht berlin Schrift: DTL Romulus 10,5/14pt Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg ISBN 978-3-95410-100-9 ISSN 2194-4318 www.bebra-wissenschaft.de

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Inhalt

Walter Momper

Grußwort

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Michael C. Bienert / Uwe Schaper / Hermann Wentker

Bundespräsenz in Berlin Eine Einführung

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Wolfgang Ribbe

Das gespaltene Berlin Ein historischer Überblick (1945 –1990)

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Dominik Geppert

»Caution over Questions of Status« Die Westmächte und die Präsenz des Bundes in Berlin

97

Matthias Uhl

»Wir erkennen den Einfluss Westdeutschlands auf Berlin nicht an« Die Position Chruschtschows zur Bundespräsenz in Berlin (1955 –1964)

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Werner Breunig

»Die Spaltung Deutschlands wird nicht geschaffen, sie ist bereits vorhanden« Ernst Reuter und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland

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Michael C. Bienert

»Berlin ist die Sache aller Deutschen« Der Deutsche Bundestag, die Regierung Adenauer und die Hauptstadtfrage

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Simone Derix

Der Symbolkomplex Berlin Berlin-Diskurs und Berlin-Praktiken nach 1945

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Frank E. W. Zschaler

Bundeshilfen für Berlin

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Stefan Creuzberger

Psychologische Kriegführung und operatives Einwirken auf die DDR Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen in West-Berlin

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Hermann Wentker

Bundespräsenz in West-Berlin Perzeption, Propaganda und Politik der SED-Führung

241

Michael Lemke

Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR 1949 –1990

263

Nino Galetti

Bonn und Berlin – ein gutes Team Die Hauptstadtdebatte 1989 bis 1991 und ihre Folgen

283

Bianca Welzing-Bräutigam

Quellen des Landesarchivs Berlin zur Bundespräsenz

297

Kerstin Schenke

60 Jahre Bundespräsenz in Berlin Eine Quellenbasis aus dem Bundesarchiv

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Anhang Quellen- und Literaturhinweise Abkürzungsverzeichnis Personenregister Autorinnen und Autoren Abbildungsnachweis

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Walter Momper

Grußwort

Die Geschichte Berlins ist in den letzten 100 Jahren von großen Brüchen geprägt worden. Wie in einem Brennglas spiegelt sich in dem Schicksal der Stadt die deutsche Geschichte: Von der aufstrebenden Metropole und Weltstadt des Kaiserreichs und der Weimarer Republik über die größenwahnsinnigen Phantastereien des verbrecherischen NS-Regimes, die Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg und schließlich die glückliche Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit 1990 – alle diese Kapitel haben ihre Spuren hinterlassen, die sich bis heute im Stadtbild und in der Gesellschaft unseres Landes wiederfinden. Seit der Deutschen Einheit ist bereits eine neue, junge Generation herangewachsen, die den Kalten Krieg nur noch aus den Geschichtsbüchern kennt. Umso wichtiger ist es, die Erinnerung wach zu halten und begreifbar zu machen, dass das Leben im geeinten Deutschland und in einem geeinten Berlin ohne Grenzen und Demarkationslinien keineswegs selbstverständlich ist. Die vorliegende Publikation »Hauptstadtanspruch und symbolische Politik. Die Bundespräsenz im geteilten Berlin (1949 –1990)« widmet sich einem jener wichtigen zeithistorischen Themen, die weitgehend aus dem tagesaktuellen Bewusstsein verschwunden sind. In den Jahrzehnten der deutschen Teilung bestanden zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik Deutschland trotz des komplizierten Rechtsstatus vielfältige enge Beziehungen und Bindungen. Diese Verbundenheit wurde besonders in den 1950er und 1960er Jahren durch symbolische Gesten wie die Abhaltung von Bundesversammlungen oder durch die Einrichtung von Bundesbehörden in der Stadt unterstrichen. Damit kam schon früh der Wunsch zum Ausdruck, dass Berlin als Schlüssel zur Wiedererlangung der staatlichen Einheit dienen sollte. Im gewissen Sinn wurden diese Hoffnungen dann 1989/90 – auf freilich andere Weise als zuvor erwartet – doch noch Realität: Die Friedliche Revolution in der DDR und der Fall der Berliner 7

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Mauer am 9. November 1989 schufen die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes setzen sich in ihren Beiträgen mit einer Vielzahl von Aspekten auseinander, die mit der Bundespräsenz in der geteilten Stadt einhergingen. So ist von den diplomatischen Verwicklungen und Spannungen zwischen Ost und West die Rede, die seit dem Beginn der zweiten Berlin-Krise 1958 nahezu jedwede Form der Anwesenheit bundesdeutscher Einrichtungen in West-Berlin begleiteten. Sie konnten erst im Vier-Mächte-Abkommen über Berlin 1971 beigelegt werden. Ebenso werden Persönlichkeiten wie Ernst Reuter und Jakob Kaiser, Konrad Adenauer und Willy Brandt vorgestellt. Sie gestalteten und prägten die unterschiedlichen Formen der Bundespräsenz. Es zeigt sich aber auch, dass die Bundeshilfen, die Anfang der 1950er Jahre eingerichtet wurden, um die Halbstadt finanziell zu unterstützen und ihr Überleben zu sichern, langfristige Auswirkungen auf die Berliner Haushaltsund Wirtschaftslage gehabt haben. Mit dem nun fertiggestellten Band »Hauptstadtanspruch und symbolische Politik« wird die neue Schriftenreihe der »Stiftung Ernst-Reuter-Archiv« eröffnet. Die Stiftung ist im März 2010 auf Anregung von Edzard Reuter vom Land Berlin mit Unterstützung des Abgeordnetenhauses von Berlin ins Leben gerufen worden. Sie ist beim Landesarchiv Berlin angebunden und hat einen wissenschaftlichen Auftrag. Ausgehend von der historischen Person und dem Wirken des ersten Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Ernst Reuter, versteht sie sich als eine Einrichtung, die einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert sowie der allgemeinen Zeitgeschichte leisten möchte. Ein besonderes Anliegen ist es dabei, die Ergebnisse der Forschungen über den Kreis der Fachleute hinaus an die historisch und politisch interessierte Öffentlichkeit zu vermitteln. Die nächsten Publikationen der Stiftung sind bereits in Planung. Wir dürfen auf sie ebenfalls sehr gespannt sein. Berlin, im März 2012

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Walter Momper Regierender Bürgermeister von Berlin a. D. und Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin a. D.

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Michael C. Bienert, Uwe Schaper und Hermann Wentker

Bundespräsenz in Berlin Eine Einführung

Hauptstadtanspruch und Bundespräsenz Die erste Ausgabe des West-Berliner Magazins Europäische Bilderbogen aus dem Jahr 1959, das als »Wirtschaftsmagazin des Gemeinsamen Marktes« gezielt Unternehmer ansprechen sollte, widmete sich nach eigener Aussage »der interessantesten Stadt der Welt« – Berlin. Auf 64 Seiten wurde dem Leser eine bunte Vielfalt an politisch-historischen Beiträgen, kurzweiligen Anekdoten über das Alltagsleben in der geteilten Stadt, ökonomischen Betrachtungen und lite­ rarischen Miniaturen geboten. Zahlreiche Fotografien und Zeichnungen auf teils bunten Druckseiten rahmten die Artikel ein. Die opulente Ausstattung des Heftes war zu dieser Zeit keineswegs selbstverständlich.1 Der ökonomische Erfolg blieb dem Blatt indes versagt, eine zweite Ausgabe kam nicht zustande. Die Europäischen Bilderbogen gehören somit zu den vielen publizistischen Eintagsfliegen, die der deutsche Pressemarkt in den Jahren des »Wirtschaftswunders« hervorbrachte.2 Trotz des offenkundigen verlegerischen Misserfolgs vermittelt das Heft einen plastischen Eindruck vom Lebensgefühl, das im West-Berlin jener Dekade – nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und vor dem Mauer­bau – herrschte. In nahezu jedem Artikel der Europäischen Bilderbogen wurde auf die außergewöhnliche Lage der Halbstadt und auf die angespannte Situation nach dem »Chruschtschow-Ultimatum« vom November 1958, das die zweite Berlin-Krise eingeleitet hatte, Bezug genommen. In vielen Beiträgen kam der mit großer Selbstverständlichkeit vorgetragene Anspruch zum Ausdruck, dass Berlin zehn Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik immer noch die 1 Europäische Bilderbogen. Das Wirtschaftsmagazin des Gemeinsamen Marktes, H. 1, Juni 1959. 2 Allgemein dazu Heinz Pürer/ Johannes Raabe: Presse in Deutschland, 3. Aufl., Konstanz 2007, S. 118 f.

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wichtigste Stadt Deutschlands sei. Bundespräsident Theodor Heuss, der einen Artikel zu den Bilderbogen beisteuerte, bezeichnete Berlin nicht nur als eine »europäische Position«, sondern unterstrich, dass die Stadt »die geschichtliche Mitte« geblieben und weiterhin Deutschlands Hauptstadt sei.3 Es stand ganz außer Frage, dass die Spreemetropole, wenn die Wiedervereinigung eines nicht allzu fernen Tages erreicht sei, die natürliche Hauptstadtfunktion wiedererlangen und an ihre glorreiche Vergangenheit als das politische, kulturelle und wirtschaftliche Zentrum des Landes anknüpfen werde.4 Solche Vorstellungen entsprachen bis in die 1960er Jahre hinein der vorherrschenden Meinung in der Bevölkerung auf beiden Seiten des »Eisernen Vorhangs«. Die meisten Deutschen in Ost und West betrachteten Berlin trotz der »doppelten Staatsgründung« von 1949 (Christoph Kleßmann) weiterhin als ihre »Hauptstadt«. Was man unter diesem Begriff genau verstand, blieb gleichwohl offen, denn die Funktionen eines gesamtdeutschen Parlamentsund Regierungssitzes erfüllte Berlin schon längst nicht mehr. Tatsächlich lässt sich für die Anfangsjahre der Bundesrepublik eine beachtliche terminologische Vielfalt ausmachen, wenn es darum ging, die Komplexität des Berlin-Problems begrifflich zu fassen. So war von der »Hauptstadt«, der »einstigen Reichshauptstadt«, der »Hauptstadt Deutschlands«, der »deutschen« oder der »natürlichen Hauptstadt« die Rede. Bonn wurde hingegen als »vorläufiger Bundessitz« oder »Bundeshauptstadt« bezeichnet, wobei der letztgenannte Terminus bereits eine wesentliche Einschränkung beinhaltete: Die so gefasste Hauptstadtfunktion reduzierte sich lediglich auf die Bundesrepublik Deutschland. Aufschlussreich ist auch der Blick in die damalige Ausgabe des Großen Brockhaus. Dort war zu lesen: »Als H[auptstadt] Dtls. gilt nach wie vor Berlin.« Bonn wurde hingegen als »die (vorläufige) Hauptstadt der Bundesrep. Dtl.« bezeichnet. 5 Die Verwendung des Verbums »gelten« im Zusammenhang mit dem Hauptstadtanspruch Berlins bot zwar eine durchaus treffende Zustandsbeschreibung seitens der Brockhaus-Redaktion, sie stimmte mit den appellativen Bekundungen der Tagespolitik in den Gründerjahren der Republik aber in keiner Weise überein. Die beiden zitierten Lexikonausschnitte verdeutlichen das große Dilemma, das mit Blick auf die ungelöste Deutsche Frage und Berlin bestand: Auf der einen

3 Theodor Heuß: Berlin ist eine europäische Position, in: Europäische Bilderbogen (wie Anm. 1), S. 2. 4 Karl Schmid: Solange uns die Mitte fehlt, in: ebd., S. 3. – Vgl. auch Hans Funk: Die Freiheit, die sie meinen, in: ebd., S. 9 f.; Friedrich Herzog: Die Psyche der Insulaner, in: ebd., S. 12 –14; Andreas Zock: Ein Panzerschrank für alle. Berlin als Banken- und Versicherungszentrum, in: ebd., S. 25 – 28. 5 Der Große Brockhaus. 16., völlig neubearb. Aufl. in 12 Bänden. Bd. 2, Wiesbaden 1953, S. 242 (Lemma »Bonn«); Bd. 5, Wiesbaden 1954, S. 297 (Lemma »Hauptstadt«).

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Titelblatt der Euro­päischen Bilder­ bogen, Juni 1959.

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Seite existierte die Hoffnung auf Wiedervereinigung, an der unbeirrt festgehalten wurde; auf der anderen Seite stand das unumstößliche Faktum der Teilung, deren Realität man nicht entfliehen konnte. Das geteilte Berlin und das geteilte Deutschland hingen unauflöslich miteinander zusammen. Schon die Väter und Mütter des Grundgesetzes beschäftigten sich mit dem Problem, wie man künftig zumindest den freien Westteil der Stadt in die Bundesrepublik integrieren könnte. Weil die Absicht, West-Berlin als reguläres zwölftes Bundesland in das Grundgesetz aufzunehmen, im Frühjahr 1949 am Einspruch der Westmächte scheiterte, wurde es umso dringlicher, andere Formen der Einbindung zu finden. Der Aufbau und die Aufrechterhaltung von rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bindungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin, für das der 1944/45 festgeschriebene Vier-Mächte-Status galt, erwies sich als eine zentrale Herausforderung: »Unter den gegebenen Umständen war jeder Schritt über die Bundesrepublik hinaus nach Berlin ein Schritt zur Hauptstadt des Reiches, aus dem die Bundesrepublik hervorgegangen war, mit dem sie sich als identisch ansah und das wieder zu entfalten sie als ihre oberste Aufgabe bezeichnete. Indem die Bundesrepublik nach Berlin kam, ging sie gewissermaßen auf Ursprung und Ziel ihrer Existenz zu. Jeder Schritt nach Berlin, wenn er noch so klein war, konnte daher als Fortschritt im Sinne des Wiedervereinigungsziels definiert werden […].«6 In der »Bundespräsenz« fanden diese Bestrebungen ihren sichtbarsten Niederschlag. Dabei gilt es anzumerken, dass der Begriff in den Anfangsjahren der Republik, als die Grundlagen für das Engagement in Berlin gelegt wurden, noch weithin unbekannt war. Erst Ende der 1960er Jahre wurde er gebräuchlich.7 Wie der Jurist Ottfried Hennig bereits vor fast vier Jahrzehnten betonte, handelte es sich bei der »Bundespräsenz« um keinen exakten Rechtsbegriff, sondern um

6 Udo Wetzlaugk: Berlin und die deutsche Frage (= Bibliothek Wissenschaft und Politik, Bd. 36), Köln 1985, S. 117. 7 Zur frühen Verwendung des Begriffs in der Presse siehe u. a.: Wink vom Bruder. Berlin-Gespräche, in: Der Spiegel vom 29. Juli 1968, S. 25 f; Berlin-Status. Trick und Tausch, in: Der Spiegel vom 19. August 1968, S. 20 – 22; Die Sowjets werden deutlich, in: Die Zeit vom 13. Februar 1970; Malta zum Beispiel, in: Der Spiegel vom 26. Oktober 1970, S. 45 f.; Joachim Nawrocki: Moskau blockt. Verwirrungen über Falins Berlin-Formeln, in: Die Zeit vom 26. März 1971, 1. – In dem 1967 publizierten Band »Hauptstadtanspruch und Westintegration«, der immer noch als ein Standardwerk zur Bundespräsenz gelten kann, taucht der Begriff nicht auf. Siehe Jürgen Fijalkowski/Peter Hauck/Axel Holst/ Gerd-Heinrich Kemper/Alf Mintzel: Berlin. Hauptstadtanspruch und Westintegration (= Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, Bd. 20), Köln u. a. 1967.

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Rechts: »Macht das Tor auf!« Plakat des Kuratoriums Unteilbares Deutschland, Juni 1959. Links: »Es geht ums Ganze«. Wahlplakat der CDU zur Bundestagswahl 1957.

einen »Ausdruck für einen Tatbestand aus der Berlin-Politik«.8 Lange war sich die Forschung unsicher, was man genau darunter verstehen solle. Konnte man unter dem Terminus die Gesamtheit der bestehenden Verbindungen zwischen der Bundesrepublik und Berlin fassen, fokussierten sich Ottfried Hennig und andere Wissenschaftler wie Ernst R. Zivier hingegen auf den Aspekt der physischen Präsenz des Bundes. In dieser Definition meinte »Bundespräsenz« die »zeitweilige oder dauernde Anwesenheit von Organen der Bundesrepublik in den Berliner Westsektoren«.9 Dieser Lesart zufolge verband sich mit ihr eine demonstrative Funktion. Sowohl die Bundesversammlungen, die zwischen 1954 und 1969 in West-Berlin tagten, als auch die anderen Veranstaltungen des Bundestags, der Parteien sowie weiterer Institutionen sollten die politische Zugehörigkeit Berlins zum Bund bekräftigen. Darüber hinaus existierten weitere Formen der Präsenz. Sie bezogen sich in erster Linie auf die Anwesenheit von Gerichten, Behörden und bundesnahen Forschungsinstituten. Anfang der

8 Ottfried Hennig: Die Bundespräsenz in West-Berlin. Entwicklung und Rechtscharakter (= Bibliothek Wissenschaft und Politik, Bd. 16), Köln 1976, S. 9.   9 Ernst R. Zivier: Der Rechtsstatus des Landes Berlin. Eine Untersuchung nach dem ViermächteAbkommen vom 3. September 1971 (= Völkerrecht und Politik, Bd. 8), 3., erw. Aufl., Berlin (West) 1977, S. 126.

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1970er Jahre unterhielten etwa 85 Einrichtungen einzelne Abteilungen oder Dependancen in der Halbstadt.10 Hinzu traten die vielfältigen anderen Bindungen, welche »die gesellschaftliche und praktisch-politische Integration WestBerlins in den Bund« gewährleisteten.11 Je länger die deutsche Teilung dauerte, desto mehr verlor das übergeordnete Ziel der Wiedervereinigung für die meisten Deutschen seinen Stellenwert. Am Vorabend der großen Umbrüche von 1989/90 glaubte kaum jemand in der Bundesrepublik noch ernsthaft an die Einheit. Von einer »Lebenslüge« oder längst überholten »Illusionen« war die Rede. Wenn man dann vom Hauptstadtanspruch Berlins sprach, wirkte das antiquiert und bisweilen sogar peinlich.12 Eine Episode aus dem letzten Jahr der Teilung illustriert den Wandlungsprozess, der stattgefunden hatte, besonders anschaulich: Seit den 1950er Jahren war es in West-Berlin Brauch, dass jede Sitzung des Abgeordnetenhauses im Schöneberger Rathaus mit einer vom Parlamentspräsidenten gesprochenen Formel eingeleitet wurde. Im Namen des Hohen Hauses bekundete der Vorsitzende den »unbeugsamen Willen, daß Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin in Frieden und Freiheit« vereinigt werden müsse. Diese »Mahnworte« waren im Oktober 1955 von Willy Brandt eingeführt worden.13 Über viele Jahre blieb der Text nahezu unverändert. Ende Mai 1989 sorgte dann die Abgeordnete Hilde Schramm, die für die Alternative Liste im West-Berliner Parlament saß und das Amt der Vizepräsidentin bekleidete, für einen Eklat, als sie sich weigerte, die »Mahnworte« zu sprechen. Sie betrachtete die Erklärung als ein Relikt des Kalten Krieges, das den Realitäten der täglichen Politik widerspreche. Schramms Verhalten löste bei der CDU-Fraktion heftige Empörung aus, woraufhin die Sitzung unterbrochen werden musste.14 Von den Reaktionen der Unionsabgeordneten einmal abgesehen, hielt sich der öffentliche Protest gegen Schramms Verhalten aber selbst im städtischen Bürgertum West-Berlins in Grenzen. Ihre Weigerung wurde vielmehr als Anlass betrachtet, um ernsthaft darüber nach-

10 Dieter Mahncke: Berlin im geteilten Deutschland (= Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., Bd. 34), München u. a. 1973, S. 75 f.; vgl. Zivier: Der Rechtsstatuts (wie Anm. 9), S. 127 f. 11 Mahncke: Berlin im geteilten Deutschland (wie Anm. 10), S. 76. 12 Vgl. dazu Hermann Wentker: Der Westen und die Mauer, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung, München 2011, S. 196 – 210. 13 Berlin. Chronik der Jahre 1955 –1956. Bearb. durch Hans J. Reichhardt, Joachim Drogmann u. Hanns U. Treutler (= Schriftenreihe zur Berliner Zeitgeschichte, Bd. 6), Berlin (West) 1971, S. 313; Wilfried Rott: Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948 –1990, München 2009, S. 406 f. 14 Eklat im Berliner Abgeordnetenhaus um Wiedervereinigungsformel, in: Der Tagesspiegel vom 26. Mai 1989, S. 1.

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Wahl Heinrich Lübkes zum Bundes­ präsidenten in der Ostpreußenhalle am Funkturm, 1. Juli 1959.

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zudenken, ob die Brandt’schen »Mahnworte« tatsächlich noch zeitgemäß seien. Der Abgeordnete Ehrhart Körting (SPD) sprach das aus, was wohl viele dachten: Die Begrifflichkeit der Formel sei historisch überlebt und nicht mehr angemessen. Es ging nun nicht mehr darum, über die Deutsche Frage zu diskutieren, so Körting, sondern darum, »ob man politische Ziele mit hohlem Ritual verkündet«.15 Mit den Stimmen der Sozialdemokraten und der Alternativen Liste wurden die »Mahnworte« per Dringlichkeitsantrag schließlich am 19. Januar 1990 abgeschafft. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Lauf der Geschichte die Diskussion schon längst überholt.16 In den Jahrzehnten der Teilung veränderte sich nicht nur das Verhältnis der Bundesbürger und der West-Berliner zur deutschen Einheit und zur Hauptstadtfrage. Auch die Formen der Bundespräsenz und der Grad ihrer Intensität unterlagen Veränderungen. Standen die 1950er Jahre noch ganz im Zeichen der mit hoher Symbolik aufgeladenen demonstrativen Gesten, wurden diese Formen der Anwesenheit seit der zweiten Berlin-Krise ab 1958 merklich reduziert. Die regelmäßigen Proteste der Sowjetunion und der DDR, die sich gegen die vermeintlichen »revanchistischen Ansprüche der Bundesrepublik Deutschland auf diese Stadt« richteten und die Anwesenheit von Bundeseinrichtungen als »provokatorische Aktion« geißelten,17 ließen es Bonn ratsam erscheinen, die demonstrativen Formen der Bundespräsenz zurückzufahren. Die Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten Anfang März 1969 erwies sich als das letzte bundesdeutsche Großereignis, das in West-Berlin in einem exponierten Rahmen stattfand.18 Solche Akte, die immer wieder das Verhältnis zu den Verhandlungspartnern im Osten strapazierten, standen den Zielsetzungen der internationalen Entspannungspolitik entgegen. Aus diesem Grund nahm die sozial-liberale Koalition von der Durchführung weiterer Bundestagssitzungen in West-Berlin Abstand.19 15 Der Tagesspiegel vom 20. Januar 1990, S. 2. 16 Wilfried Rott: Abschied von West-Berlin, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2010, H. 11, S. 41– 46, hier S. 42. 17 Note der sowjetischen Regierung an die amerikanische Regierung vom 23. März 1965 betreffend Sitzung des Deutschen Bundestags in Berlin, in: Dokumente zur Berlin-Frage 1944 –1966. Hrsg. vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V., Bonn, in Zusammenarbeit mit dem Senat von Berlin (= Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Reihe: Internationale Politik und Wirtschaft, Bd. 52/1), 4. Aufl., München 1987, S. 559 f. 18 Vgl. ebd., S. 132 –143. – Siehe dazu auch Franz Möller: Eugen Gerstenmaier und die Bundesversammlung in Berlin 1969, in: Historisch-Politische Mitteilungen 9 (2002), S. 95 –126. 19 Mahncke: Berlin im geteilten Deutschland (wie Anm. 10), S. 73. – Vgl. auch die Note des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR an das Auswärtige Amt vom 10. Januar 1970, in:

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Das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin vom 3. September 1971 markierte dann das Ende dieser Form der Bundespräsenz. Durften auf der einen Seite die bereits bestehenden »Bindungen zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik Deutschland« aufrechterhalten und entwickelt werden, wurde es auf der anderen Seite den bundesdeutschen Verfassungsorganen fortan untersagt, in der Stadt »Verfassungs- oder Amtsakte« vorzunehmen.20 In einem Schreiben an Bundeskanzler Willy Brandt hielten die Botschafter Frankreichs, Großbritanniens und der USA fest, was mit dieser Formulierung gemeint war: »In den Westsektoren Berlins werden keine Sitzungen der Bundesversammlung und weiterhin keine Plenarsitzungen des Bundesrats und des Bundestags stattfinden. Einzelne Ausschüsse des Bundesrats und des Bundestags können in den Westsektoren Berlins im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung und Entwicklung der Bindungen zwischen diesen Sektoren und der Bundesrepublik Deutschland tagen. Im Falle der Fraktionen werden Sitzungen nicht gleichzeitig abgehalten werden.«21 Die Handlungsmöglichkeiten der Bundesministerien sowie nachgeordneter Bundeseinrichtungen wurden gleichfalls eingeschränkt. Fortan war es den Verfassungsorganen unmöglich, Akte vorzunehmen, »die die Ausübung unmittelbarer Staatsgewalt über West-Berlin bedeuten würden«.22 Ungeachtet der Restriktionen blieben die anderen Formen der Bundespräsenz bestehen. Im Oktober 1973 arbeiteten über 25.000 Menschen in den WestBerliner Dienststellen des Bundes sowie anderer bundesnaher Einrichtungen. Bis zum Fall der Mauer war die Bundesrepublik damit eine der wichtigsten Arbeitgeberinnen in der geteilten Stadt.23

Zur Konzeption des Bandes Die in dem vorliegenden Band abgedruckten Aufsätze basieren auf Vorträgen, die auf einer wissenschaftlichen Tagung am 22. und 23. April 2010 im Landesarchiv Berlin gehalten wurden. Dabei ging es nicht nur um eine BestandsaufnahDokumente zur Berlin-Frage 1967 –1986. Hrsg. von Hans H. Mahnke (= Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Reihe: Internationale Politik und Wirtschaft, Bd. 52/2), München 1987, S. 153 –155. 20 Vier-Mächte-Abkommen über Berlin vom 3. September 1971, Anlage II, in: ebd., S. 202. 21 Brief der Botschafter der drei Westmächte an den Bundeskanzler Willy Brandt vom 3. September 1971, in: ebd., S. 213 f.; vgl. auch Hennig: Bundespräsenz in West-Berlin (wie Anm. 8), S. 90 – 92. 22 Mahncke: Berlin im geteilten Deutschland (wie Anm. 10), S. 91. 23 Hennig: Bundespräsenz in West-Berlin (wie Anm. 8), S. 355 – 358. – Vgl. auch Zivier: Rechtsstatus des Landes Berlin (wie Anm. 9), S. 127 f.

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me der bisherigen Forschung, sondern ebenso um mögliche Perspektiven für die künftige wissenschaftliche Auseinandersetzung. Die Veranstaltung, an deren Organisation neben dem Berliner Landesarchiv das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, die Stiftung Ernst-Reuter-Archiv sowie die Historische Kommission zu Berlin e.V. beteiligt waren, wurde mit Mitteln der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung finanziell unterstützt. Sie stieß sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Fachwelt auf reges Interesse.24 Ein zentrales Anliegen bestand in der Zielsetzung, am Beispiel der Bundespräsenz verschiedene geisteswissenschaftliche Disziplinen zusammenzuführen. Es ging darum, die jeweils spezifischen Herangehensweisen zu vernetzen und sie damit auf interdisziplinärer Ebene fruchtbar zu machen. Gleichwohl lag es in der Natur der Sache, dass neben der Archiv- und der Politikwissenschaft vor allem die zeithistorische Forschung im Mittelpunkt des Interesses stand. Insbesondere die Perspektive der Neuen Politikgeschichte, die seit etwa 20 Jahren das Feld des Politischen mit Fragestellungen der Kulturgeschichte, der Historischen Anthropologie und der Sozialgeschichte bereichert,25 erweist sich bei einem solchen Thema, das Aspekte des symbolischen Handelns, der ritualisierten Inszenierung sowie der Selbst- und Fremdwahrnehmungen aufgreift, als naheliegend. Gleichwohl ist der Band einem Methodenpluralismus verpflichtet, der sich aus der Komplexität des Themas ergibt. Die Bundespräsenz kann nicht ausschließlich mit den Instrumentarien entweder der traditionell ausgerichteten oder der Neuen Politikgeschichte, der Kultur- oder der Verwaltungsgeschichte, der Alltags- oder der Geschichte der internationalen Beziehungen analysiert werden. Die Kombination unterschiedlicher Methoden eröffnet hingegen die Möglichkeit, den Forschungsgegenstand in seiner ganzen Vielschichtigkeit zu erfassen und ihn differenziert zu beurteilen. Die Auswahl der Autorinnen und Autoren folgt diesem Gedanken. 24 Siehe dazu die Tagungsberichte von Stefanie Eisenhuth: Hauptstadtanspruch und symbolische Politik. Die Bundespräsenz im geteilten Berlin (1949 –1990), 22.04.2010 – 23.04.2010, in: H-Soz-uKult, 15. Juni 2010, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3151 (Zugriff am 25. Mai 2011); Martin Otto: Das bleibt auch so, und das hat seinen Sinn. Hauptstadtkulturpolitik: Historiker führen vor, wie die alte Bundesrepublik Präsenz in Berlin zeigte, in: FAZ vom 25. Mai 2010; Klaus Storkmann: Hauptstadtanspruch und symbolische Politik. Die Bundespräsenz im geteilten Berlin (1949 –1990). Tagung in Berlin, 22./23. April 2010, in: Deutschland Archiv 43 (2010), S. 710 – 712. 25 Grundsätzlich siehe dazu Ute Frevert: Neue Politikgeschichte. Konzepte und Herausforderungen, in: dies./Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main 2005, S. 7 – 26; dies.: Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach/ Günther Lottes (Hrsg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 152 –164; Achim Landwehr: Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71–117.

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Dennoch können nicht sämtliche Forschungsansätze in diesem Sammelband Berücksichtigung finden. Beispielsweise spielen die juristischen Gesichtspunkte der Bundespräsenz in West-Berlin nur eine nachgeordnete Rolle. Hierzu sind in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche Publikationen entstanden, als es darum ging, die nach dem Abschluss des Vier-Mächte-Abkommens veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen für Berlin aus wissenschaftlicher Sicht zu interpretieren. Dennoch bieten diese Forschungserträge auch heute noch wichtige Hilfestellungen zum Verständnis der damaligen Rechtssituation.26 Im Gegensatz dazu wird nun dem Teilaspekt der Bundespräsenz als Streitfall im internationalen Beziehungsgeflecht des Kalten Krieges sowie dem deutsch-deutschen Verhältnis besondere Aufmerksamkeit zuteil. Sowohl die Autorinnen und Autoren als auch die Herausgeber stellte die Verwendung des Begriffs der »symbolischen Politik« vor eine besondere Herausforderung. In der allgemeinen Wahrnehmung ist dieser Terminus pejorativ besetzt: Wird auf der einen Seite von »realer« Politik gesprochen, verbindet sich mit »symbolischer Politik« eine negativ bewertende Konnotation. Sie wird als etwas Vorgeschobenes, Fassadenhaftes verstanden. Die wahren Intentionen, die hinter politischen Handlungen stehen, würden dabei durch bedeutungslose symbolische Akte kaschiert. Noch stärker gilt diese Einschätzung für das Kompositum »Symbolpolitik«. Diese wird als Ausdruck einer vermeintlich inhaltsleeren Aktion interpretiert, die bewusst inszeniert ist, um vom wahren Kern eines Problems abzulenken. Aus den politischen Debatten der Gegenwart ist der Begriff inzwischen nicht mehr wegzudenken.27 Wichtige Impulse für die beschriebene Lesart der »symbolischen Politik« gehen auf den US-amerikanischen Politikwissenschaftler Murray Edelman zurück. Seit den 1960er Jahren beschäftigte er sich mit der Bedeutung symbolischen Handelns in der Politik. Seine Werke werden von einem starken Skeptizismus gegenüber jeglicher Form staatlicher, institutionalisierter und parteipolitischer Macht getragen. Geht man wie Edelman davon aus, dass Politik »eine Parade abstrakter Symbole« ist und in einem hohen Maße von der Inszenierung und der »Allgegenwärtigkeit der Konstruktion sozialer und politischer Welten« geprägt wird, dann erscheinen symbolische Handlungen als ein Instrument, um auf die 26 Hennig: Bundespräsenz in West-Berlin (wie Anm. 8); Mahncke: Berlin im geteilten Deutschland (wie Anm. 10); Zivier: Rechtsstatus des Landes Berlin (wie Anm. 9). 27 Gerd Held: Umweltzonen gegen Feinstaub sind Symbolpolitik, in: Die Welt vom 5. Februar 2010; Florian Kain: Symbolpolitik hat Hochkonjunktur. Die Woche im Rathaus, in: Hamburger Abendblatt vom 18. Februar 2006; Claas Tatje: Symbolpolitik ist gefährlich. Ein Kommentar, in: Die Zeit online vom 23. September 2009, in: http://www.zeit.de/wirtschaft/2009-09/kommentar-eu-aufsicht (Zugriff am 24. Mai 2011).

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Bevölkerung manipulativ einzuwirken. Das bedeutet für Edelman jedoch nicht, dass politische Mythen und Rituale bewusst von Eliten lanciert werden, um ihre Interessen durchzusetzen. Das sei auf Dauer gar nicht möglich, weil es irgendwann aufgedeckt werde. Was stattdessen vorliege, sei »eine soziale Rollenübernahme, soziales Rollenverständnis«.28 Ob man Edelmans Sichtweise teilt oder nicht, ist an dieser Stelle nachrangig. Im Zusammenhang mit der Bundespräsenz erscheinen allerdings insbesondere seine Ausführungen zur Klassifikation von Symbolen hilfreich. In Anlehnung an den Anthropologen und Ethnologen Edward Sapir spricht Edelman von Verweisungs- und Verdichtungssymbolen. Während die erstgenannte Kategorie eine einfache Methode sei, um auf objektive Elemente in Gegenständen oder Situationen zu verweisen, weckten die Verdichtungssymbole »Emotionen, die mit einer Situation verknüpft sind. Patriotismus, Ängste, das wehmütige Gedenken an vergangenen Glanz oder einstige Schmach, die Aussicht auf künftige Größe: die Verdichtungssymbole bündeln es zu einem einzigen symbolischen Ereignis, Zeichen oder Akt. Wo Verdichtungssymbole im Spiel sind, unterbleibt die dauernde Überprüfung an der erfahrbaren Wirklichkeit.«29 Überträgt man diese Definition auf das Sujet des vorliegenden Bandes, dann lassen sich die demonstrativen Formen der Bundespräsenz als Verdichtungssymbole im Edelman’schen Sinne verstehen. Die Überlegungen Edelmans übten auf die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften einen großen Einfluss aus – und sie provozierten Widerspruch. Auf die zahlreichen Gegenargumente kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Verwiesen sei lediglich auf Thomas Mergel, der die Auffassung vertritt, dass es keinen Gegensatz zwischen »realer« und »symbolischer« Politik gebe. Vielmehr seien Symbole ein wesentlicher Bestandteil von Politik und nicht lediglich deren Fassade. Mergel geht noch weiter: »Jede Politik muß symbolische Politik sein, will sie überhaupt verstanden werden.« Ohne Repräsentation und Symbolik sei Politik also gar nicht denkbar.30 Zu einem ähnlichen Urteil gelangt Ute Frevert, die mit Verweis auf eine Studie von Andreas Dörner davon spricht, dass Symbole kein »politisches Placebo«, sondern eine »genuine Dimension des Politischen« darstellten.31 Demnach handele es sich bei »symbolischer Politik« um ein wesentliches Element der Wirklichkeits- und Sinnkonstruktion. Sie be-

28 Zitate in Murray Edelman: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt am Main u. a. 1990, S. XIV, 4 u. 16 f. 29 Ebd., S. 5. 30 Thomas Mergel: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574 – 606, hier S. 594. – Vgl. auch ebd., S. 586. 31 Frevert: Neue Politikgeschichte (wie Anm. 25), S. 20.

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stimme den Raum des Politischen mit. Diese Deutung wird seit vielen Jahren durch Forschungen zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit gestützt, hat seit einiger Zeit aber auch in Arbeiten zum 19. und 20. Jahrhundert Eingang gefunden. Dabei übernahm Johannes Paulmanns viel beachtete Arbeit über die Monarchenbegegnungen im 19. Jahrhundert eine Vorreiterrolle.32 Inzwischen liegen mehrere Studien vor, die aus der Perspektive der Neuen Politikgeschichte den Funktionsebenen symbolischer Politik in der Bundesrepublik nachgehen.33

Die Beiträge Am Beginn der hier versammelten Aufsätze steht ein ausführlicher Beitrag von Wolfgang Ribbe (Berlin). Er gibt einen Überblick über die politische Entwicklung Berlins zwischen 1945 und 1990. Damit steckt Ribbe den historischen Rahmen für das Thema des Buches ab. Von den Nachkriegsplanungen der Alliierten und der Errichtung der Vier-Mächte-Herrschaft ausgehend, zeichnet er den Weg in die Teilung der Stadt nach, die schließlich im August 1961 mit dem Bau der Mauer buchstäblich in Beton gegossen wurde. Ribbe verweist insbesondere auf die internationale Dimension der Berlin-Frage: Auf der einen Seite habe sich das Berlin-Problem für die USA und die Sowjetunion als ein wichtiger Baustein ihrer jeweiligen Deutschlandpolitik erwiesen. Auf der anderen Seite müsse man konstatieren, dass die Stadt, obwohl sie als »Prüfstein« der Beziehungen zwischen den beiden Supermächten galt, nur während der beiden Krisen von 1948/49 und 1958/61 wirklich im Mittelpunkt der Überlegungen Washingtons und Moskaus gestanden habe. Die ehemalige Reichshauptstadt war nach 1945 »vom international bedeutsamen Handlungszentrum zum Spielball der Weltpolitik geworden«. Seit dem Abschluss des Vier-Mächte-Abkommens von 1971 spielte sie für lange Zeit auf der internationalen Bühne keine besondere Rolle mehr, sondern rückte erst mit der Friedlichen Revolution in der DDR und dem Fall der Berliner Mauer 1989 wieder in den Fokus der weltweiten Aufmerksamkeit.

32 Johannes Paulmann: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn u. a. 2000. 33 Siehe z. B. Simone Derix: Bebilderte Politik. Staatsbesuche in der Bundesrepublik Deutschland 1949 –1990 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 184), Göttingen 2009; Frieder Günther: Heuss auf Reisen. Die auswärtige Repräsentation der Bundesrepublik durch den ersten Bundespräsidenten (= Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Wissenschaftliche Reihe, Bd. 8), Stuttgart 2006.

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Aufgrund des Vier-Mächte-Status Berlins besaß die Präsenz des Bundes eine wichtige internationale Komponente. Dominik Geppert (Bonn) beschäftigt sich dabei mit der Perspektive der drei Westmächte. Sowohl die USA als auch Großbritannien und Frankreich gestanden Berlin 1948/49 eine enge Anlehnung an den neu entstehenden Staat im Westen zu, beharrten jedoch auf der Einhaltung der 1944/45 getroffenen Vereinbarungen. Ihrer Auffassung nach berührte die politische Präsenz von Organen des Bundes nicht per se den Status der Stadt und somit ihre originären Siegerrechte. Bei der praktischen Umsetzung der rechtlichen Rahmenbedingungen zeigten sich jedoch zwischen den drei Mächten Unterschiede: Während die Amerikaner für eine großzügige Auslegung der Bestimmungen zugunsten der Deutschen eintraten, bestanden die Franzosen auf einer äußerst restriktiven Interpretation. Die Briten sahen sich zwar selbst in der Rolle eines Vermittlers zwischen beiden Polen, allerdings kommt Gep­ pert zu dem Schluss, dass sie in vielen Fragen eher zur französischen Seite tendierten, ihre Meinung aber weniger vehement vertraten. Die britische Führung befürchtete, dass die UdSSR eine zu offensive Bundespräsenz zum Anlass nehmen könnte, die Rechte der Westmächte an Berlin infrage zu stellen. Auf der anderen Seite wollten weder die USA noch die Partner in Paris und London gegenüber den Westdeutschen und den Berlinern als Gegner von Plenarsitzungen des Bundestags oder Bundesversammlungen in Berlin erscheinen. Eine direkte Einmischung erschien wenig opportun. Das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin untersagte zwar weitere demonstrative Akte der Bundespräsenz, die unterschiedliche Auslegung des Vertragswerks in Ost und West löste gleichwohl in der Folgezeit immer wieder Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten aus. Während der Wiedervereinigung 1989/90 spielten Statusfragen zur Stadt erneut eine Rolle. Allerdings hatte sich das weltpolitische Klima inzwischen so stark verändert, dass sich die Vier Mächte trotz mancher Bedenken den Wünschen der Deutschen in Bezug auf Berlin letztlich nicht in den Weg stellten. Die Haltung der Sowjetunion zur Bundespräsenz erlebte ihren großen Wendepunkt Ende der 1950er Jahre. Hatte die UdSSR die Anwesenheit von Bundesorganen bis dahin weitgehend kommentarlos akzeptiert, erfolgte ab Anfang 1958 ein Umdenken Moskaus. Wie Matthias Uhl (Moskau) ausführt, stand dieser Wandel im Zusammenhang mit der Neubewertung der deutschlandpolitischen Gesamtsituation unter Nikita S. Chruschtschow, der den bisherigen Vier-Mächte-Status Berlins fortan konsequent in Abrede stellte. Ab dem Sommer 1958 bestritt die Sowjetunion jedes Mitspracherecht der Bundesrepublik für den Westteil der Stadt. Chruschtschows »Berlin-Ultimatum« vom 27. November 1958, das den Abzug der Westmächte und die Umwandlung West-Berlins in eine entmilitarisierte »Freie Stadt« forderte, sah unter anderem 22

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den vollständigen Abbruch der bestehenden Bindungen zur Bundesrepublik vor. Nachdem die sowjetischen Absichten am entschiedenen Widerstand der Westmächte gescheitert waren, verlagerte sich die Argumentationsstrategie Moskaus erneut auf die bestehenden Vier-Mächte-Rechte. Weil die sowjetische Führung erkannte, dass man nur durch ein Ende der westdeutschen Bindungen die Halbstadt in die Knie zwingen könnte, wurde die Bundespräsenz nun als Kompetenzanmaßung und Einmischung Bonns interpretiert, die dem Status der Stadt als einer »selbstständigen politischen Einheit« widersprach. An dieser Linie sollte sich auch unter Chruschtschows Nachfolger Leonid I. Breschnew nur wenig ändern. Auch wenn das Gebiet Groß-Berlins infolge des zwischen den USA, der UdSSR und Großbritannien vereinbarten »Londoner Protokolls« vom September 1944, dem Frankreich nachträglich beitrat, formal ein besonderes Besatzungsterritorium darstellte, waren die Bindungen zwischen der Stadt und den westlichen Besatzungszonen bereits in den ersten Nachkriegsjahren sehr eng. Wie Werner Breunig (Berlin) darlegt, trat insbesondere Ernst Reuter (SPD), der 1947 zum Oberbürgermeister von Berlin gewählt, aber aufgrund des sowjetischen Einspruchs von der Alliierten Kommandatura nicht in seinem Amt bestätigt worden war, für eine möglichst starke Anbindung der drei Westsektoren der Stadt an den neu entstehenden Staat im Westen ein. Früher als viele Zeitgenossen erkannte Reuter das Faktum der vorläufigen Teilung an. Während die meisten Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder 1948 der Gründung der Bundesrepublik sehr reserviert gegenüberstanden, plädierte Reuter eindringlich für einen solchen Schritt. Den Amerikanern galt er in dieser elementaren Frage deshalb als »der wichtigste Mann in Deutschland«. Reuter war ein Anhänger der auf den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher zurückgehenden »Magnettheorie«, der zufolge ein wirtschaftlich erfolgreicher und innenpolitisch stabiler Weststaat auf den Osten anziehend wirken werde. Auf diese Weise lasse sich die deutsche Einheit wiederherstellen. Darüber hinaus beschreibt Breunig Reuters Engagement im Parlamentarischen Rat 1948/49. Zwar verfügten die Vertreter Berlins in diesem Gremium offiziell nur über eine beratende Funktion, dennoch übte der »Blockadebürgermeister« erheblichen Einfluss auf den Gang der Verhandlungen aus. Obwohl sich das politische Zentrum der Bundesrepublik in Bonn etablierte und die Stadt am Rhein vom Parlamentarischen Rat zum »vorläufigen Bundessitz« auserkoren wurde, galt Berlin weiterhin als die eigentliche Hauptstadt Deutschlands. In der Vorstellung vieler Deutscher übernahm sie die Aufgabe eines »Brückenkopfes«, der zur Vorbereitung der Wiedervereinigung notwendig sei. Der Aufbau der Bundespräsenz in der Stadt sollte hierzu einen Beitrag Bundespräsenz in Berlin

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leisten. Wie Michael C. Bienert (Berlin) ausführt, kam dem Deutschen Bundestag in dieser Angelegenheit eine wichtige Rolle zu. Auf Drängen des Parlaments hin wurden zwischen 1949 und 1951 die grundlegenden Entscheidungen hinsichtlich der Bundespräsenz getroffen. Zu einer Zeit, als man die weiteren Entwicklungen in der Deutschen Frage noch nicht absehen konnte, wurde in den Fraktionen und im Plenum leidenschaftlich um die Hauptstadtfrage und die Möglichkeiten des Engagements für die Stadt gerungen. Wenngleich die SPD in den ersten beiden Legislaturperioden häufig als Anwältin Berliner Interessen auftrat, gestaltete sich der Einsatz für die Stadt insgesamt als eine überparteiliche Aufgabe. Die Hauptstadtfrage warf zudem ein bezeichnendes Licht auf das generelle Verhältnis zwischen dem Bundestag und der Regierung unter Konrad Adenauer (CDU): Während der Kanzler gegen ein zu demonstratives Engagement für Berlin stets außenpolitische Bedenken geltend machte, setzte sich das Parlament mehrfach über seinen Willen hinweg. Dessen ungeachtet, gelang es Adenauer mit Autorität, viel taktischem Gespür und nicht zuletzt finanziellen Zugeständnissen, den Enthusiasmus in der Hauptstadtfrage so weit zu kanalisieren, dass aus seiner Sicht »Schlimmeres« in außen- und deutschlandpolitischen Belangen verhütet wurde. Die symbolpolitische Dimension der Bundespräsenz ordnete sich in einen übergeordneten Zusammenhang ein, den Simone Derix (München) als »Symbolkomplex Berlin« bezeichnet: Die westliche Stadthälfte verfügte in den Jahrzehnten der Teilung über zahlreiche symbolisch aufgeladene Orte, Gegenstände und Handlungen, die zueinander in einem komplexen Verweisungsverhältnis standen. Dieses wiederum kann man Derix zufolge als das »Symbol Berlin« bezeichnen. An keinem anderen Ort trafen die Systemgegensätze, die beiderseits der innerdeutschen Demarkationslinie sowie später dies- und jenseits der Mauer herrschten, so frontal aufeinander wie in der Vier-Sektoren-Stadt. Berlin bot deshalb eine perfekte Bühne, wenn es darum ging, die Bedeutung des OstWest-Konflikts in seinen unterschiedlichen Facetten aufzuzeigen. Am Beispiel internationaler Staatsbesuche zeigt Derix, wie die Stadt von westdeutscher Seite und von den Verwaltungsstellen West-Berlins als »Signum für die deutsche Teilung« in Szene gesetzt wurde. Im Umfeld der Besuche von hohen auswärtigen Repräsentanten ging es darum, bestimmte Bilder und Wahrnehmungen zu projizieren. Die Stadt wurde als Anschauungsort der deutschen Teilung konstruiert bzw. konturiert. Dabei werden mehrere wellenförmig verlaufende Phasen unterschieden, in denen das Interesse, Berlin in das offizielle Besuchsprogramm ausländischer Staatsoberhäupter zu integrieren, unterschiedlich stark ausgeprägt war. So wurde die Stadt erst ab 1956 als Ort für Staatsbesuche genutzt. Diese Entwicklung fiel wohl nicht zufällig in die Hochphase der demonstrativen 24

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Berliner Arbeits­ woche des Deutschen Bundes­tags in Berlin: Die Abgeordneten treffen zur Plenarsitzung vor der Technischen Universität ein, 1. Oktober 1958.

Bundespräsenz – man denke etwa an die Berliner Sitzungswochen des Bundestags oder an die von dem Hamburger Verleger und CDU-Politiker Gerd Bucerius losgetretene »Hauptstadtdebatte«. Mit dem Beginn der zweiten BerlinKrise 1958 nahm die Bonner Politik von Staatsbesuchen an der Spree vorläufig Abstand. Nachdem das Interesse in den 1960er Jahren erneut angestiegen war, ebbte es infolge des umstrittenen Schah-Besuchs 1967 und im Umfeld der VierMächte-Verhandlungen über Berlin erneut merklich ab. Ende der 1970er Jahre setzte eine weitere Berlin-Welle ein, die im Besuch des US-Präsidenten Ronald Reagan im Juni 1987 gipfelte. Die symbolische Berlin-Politik der Bundesrepublik beschränkte sich nicht nur auf demonstrative Akte oder Staatsbesuche, sondern sie besaß ebenso eine wichtige finanzielle Dimension. Frank E. W. Zschaler (Eichstätt) interpretiert die umfassenden Bundeshilfen, die über mehrere Jahrzehnte in den West-Berliner Haushalt flossen, als eine weitere Form symbolischer Politik. Die wirtschaftliche Situation der Halbstadt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand unter denkbar schlechten Vorzeichen. Mit Beginn der sowjetischen Blockade 1948/49 wurden die westlichen Stadtsektoren weitgehend von dem historisch gewachsenen wirtschaftlichen Umland abgetrennt. Die seitdem bestehende Insellage verschlechterte die wirtschaftlichen, finanziellen und arbeitsmarktpolitischen Verhältnisse erheblich. Laut Zschaler stand die EinbeBundespräsenz in Berlin

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ziehung West-Berlins in das Finanzsystem der Bundesrepublik, welche mit dem Dritten Überleitungsgesetz Ende 1951 erreicht wurde, als Überlebensgarantie für die Halbstadt auf einer ähnlichen Stufe wie die Anwesenheit der westlichen Schutzmächte. West-Berlin erhielt eine erhebliche finanzielle Förderung. Diese verfolgte das Ziel, der Stadt eine dauerhafte wirtschaftliche Stabilität zu verschaffen und langfristige Perspektiven zu eröffnen. Dabei verstanden es die Vertreter West-Berlins durchaus, in Bonn ihre Interessen zu artikulieren. Die großzügige Alimentierung West-Berlins aus Bundesmitteln begünstigte einerseits den Aufschwung. Die Stadt wurde als Wirtschaftsstandort gestärkt und wirkte überdies als ein »wahrnehmbares Beispiel für eine freiheitliche Ordnung, als Quelle von Informationen, als Kommunikationsbörse für Meinungen und Ideen« nach Ost-Berlin und in die DDR hinein. Auf der anderen Seite wurde sie dadurch vom Bund finanziell abhängig, was sich nach dem Wegfall der BerlinFörderung infolge der Wiedervereinigung schmerzhaft bemerkbar machte. Stefan Creuzberger (Potsdam) beleuchtet am Beispiel des Bundesministe­ riums für gesamtdeutsche Fragen (BMG) die konkreten Handlungsmöglichkeiten von Bundeseinrichtungen, die in West-Berlin eigene Dienststellen unterhielten. Schon bald nach seiner Gründung richtete das BMG eine Dependance – die sogenannte Abteilung II – in der Berliner Bundesallee ein, die mehrere Funktio­ nen erfüllte: Aufgrund des geografischen Standortvorteils in West-Berlin trug sie, erstens, Informationen über die politischen Verhältnisse jenseits des »Eisernen Vorhangs« zusammen. Neben der Informationsbeschaffung versuchte die Außenstelle, zweitens, im Sinne der Psychologischen Kriegführung nach OstBerlin und in die DDR hineinzuwirken. Es galt, oppositionelle Kräfte im sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat zu fördern, Widerstandsgruppen zu stärken und Aufklärungskampagnen zu initiieren, um das SED-Regime zu untergraben. Bei der Erfüllung dieser Aufgaben kooperierte das BMG mit den zahlreichen im Westteil Berlins ansässigen antikommunistischen Organisationen und Vereinigungen. Allerdings schätzt Creuzberger die Wirkungsmöglichkeiten der Abteilung II insgesamt als begrenzt ein. Weil sich das Kanzleramt die deutschlandpolitischen Entscheidungen vorbehielt und zudem die BMG-Zentrale in Bonn ansässig war, konnte die Berliner Außenstelle nur operativ wirken und Arbeit »von unten« leisten. Die Erfolge blieben überschaubar. Als nach dem Bau der Mauer 1961 die direkten Kontakte zu ostdeutschen Verbindungsleuten abbrachen, versank die Abteilung II »unter politisch-operativen Gesichtspunkten in der Bedeutungslosigkeit«. Auf der östlichen Seite des »Eisernen Vorhangs« korrespondierte die Posi­ tion der DDR zur Bundespräsenz weitgehend mit den Vorgaben der sowjetischen Deutschlandpolitik. Hermann Wentker (Berlin) beschreibt die Wand26

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lungen, die sich aus ostdeutscher Sicht ab 1958 einstellten: Hatte Ost-Berlin die Anwesenheit von bundesdeutschen Verfassungsorganen bis dahin nicht nur toleriert, sondern in offiziellen Verlautbarungen sogar ausdrücklich begrüßt, übernahm die DDR-Führung nun die von Chruschtschow vorgegebene Argumentation, wonach weder die Westmächte noch die Bundesrepublik ein Recht auf Anwesenheit in Berlin besäßen. Seitdem wurde fast jede Form von Bundespräsenz mit Protesten bedacht. Die Bundesversammlung am 1. Juli 1959, die Heinrich Lübke zum Nachfolger von Bundespräsident Theodor Heuss wählte, stand im Zeichen des neuen politischen Kurses. In den Folgejahren hielt das SED-Regime an dem Widerstand fest. Einen Höhepunkt bildete die Sitzung des Deutschen Bundestags am 7. April 1965, als Jagdflugzeuge der sowjetischen Streitkräfte und der Nationalen Volksarmee der DDR im Tiefflug über die Kongresshalle an der Spree, wo das westdeutsche Parlament tagte, hinwegdonnerten. Wie Wentker betont, handelte es sich bei der Verbindung zwischen Moskau und Ost-Berlin in der Frage der Bundespräsenz allerdings um keine Einbahnstraße. So setzten sich Ende 1967 Walter Ulbricht und Erich Honecker bei Breschnew erfolgreich für eine härtere Gangart der UdSSR in der Berlin-Frage ein. Im Umfeld der Bundesversammlung am 5. März 1969 kam es zwischen der Sowjetunion, die bis zu einem gewissen Grad Bereitschaft zu Zugeständnissen gegenüber dem Westen zeigte, und der DDR-Führung, die jedwede Form der Berlin-Präsenz kategorisch ablehnte, zu deutlichen Differenzen. Dass nicht Statusfragen die östliche Politik bestimmten, sondern die Politik festlegte, wie Statusfragen zu handhaben waren, veranschaulicht Wentker am Beispiel des deutsch-deutschen Streits um die Einrichtung des Umweltbundesamtes in West-Berlin 1973/74: Obwohl die DDR gegen diesen Schritt protestierte und Warnungen in Richtung Bonn aussprach, fielen die angekündigten Behinderungen im Transitverkehr letztlich moderat aus. Für die Machthaber in Ost-Berlin besaß die Entspannungspolitik zu diesem Zeitpunkt einen zu hohen Stellenwert, als dass man bereit war, sie wegen des Konflikts um eine zweitrangige Behörde unnötig aufs Spiel zu setzen. Während die Haltung der UdSSR und der SED-Führung zur Bundespräsenz im Laufe der Jahre Wandlungen unterlag, die sich aus den Veränderungen in der Deutschlandpolitik ergaben, arbeiteten beide Partner bereits seit Kriegsende systematisch an der Etablierung von Hauptstadtfunktionen im Ostsektor der Stadt. Anfangs waren hierfür gesamtdeutsche Motive ausschlaggebend. So spekulierte Stalin in der Nachkriegszeit darauf, dass man durch die Einrichtung von deutschen Zentralverwaltungen, der Parteizentralen und anderer wichtiger Institutionen im Ostsektor zukünftig besseren Einfluss auf die Bildung von Regierungs- und Verwaltungsapparaten im gesamtdeutschen Maßstab nehmen Bundespräsenz in Berlin

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könnte.34 Die Absichten der SED-Oberen richteten sich darauf, Berlin wieder zu einer Metropole von Weltgeltung aufzubauen. Michael Lemke (Berlin) zufolge sollte Ost-Berlin dadurch im Sinne des »Schaufenster«-Konzepts »interna­ tional ausstrahlen, von seiner Überlegenheit gegenüber West-Berlin künden und im Innern Schlüssel zur Integration der Ostdeutschen in den sozialistischen Aufbau sein«. Diese Erwartungen erfüllten sich bekanntlich nicht. Argumentierte die SED bis etwa 1955 in der Berlin-Frage offiziell noch mit einer gesamtdeutschen Ausrichtung, setzte sich während der zweiten Berlin-Krise die Bezeichnung Ost-Berlins als »Hauptstadt der DDR« durch. Zudem zeichnete sich ab, dass der Ostteil die Konkurrenz mit der Westhälfte der Stadt, die dank der großzügigen Unterstützung durch die Bundesrepublik prosperierte und zunehmend an Attraktivität gewann, nicht für sich entscheiden konnte. Die so­ zialistische Auslegung der Magnettheorie scheiterte im Falle Berlins. Infolge der Friedlichen Revolution in der DDR 1989/90 und der deutschen Wiedervereinigung gewann die Hauptstadtfrage, die in den 1980er Jahren eigentlich beantwortet schien, erneute Aktualität. Nino Galetti (Berlin) betrachtet den Verlauf der »Hauptstadtdebatte« sowie den Weg zur Beschlussfassung des Deutschen Bundestags vom 20. Juni 1991, der als »Hauptstadtbeschluss« in die Geschichte eingegangen ist. Bereits während der Verhandlungen um den Einigungsvertrag wurde erkennbar, dass die Frage, ob die Parlaments- und Regierungsfunktionen des vereinten Deutschlands am Rhein verbleiben oder künftig an der Spree liegen sollten, zu den besonders kontroversen Themen gehörte. Artikel 2 des Einigungsvertrags erklärte Berlin zwar zur Hauptstadt Deutschlands, die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung blieb davon allerdings unberührt. Die Meinungen der nunmehr gesamtdeutschen Öffentlichkeit waren hierüber tief gespalten. Tatsächlich dominierte die »Hauptstadtdebatte«, die zwischen den Bonn-Befürwortern und den Anhängern Berlins entbrannte, über mehrere Monate die politische Diskussion im Land. Die Entscheidung des Deutschen Bundestags am 20. Juni 1991, den Sitz von Parlament und Regierung nach Berlin zu verlegen, fiel nur mit einer knappen Mehrheit von 338 zu 320 Stimmen. Dass sich Berlin letztlich durchsetzen konnte, erklärt Galetti mit dem Kompromisscharakter des »Hauptstadtbeschlusses«: Weil die Mehrheiten im Parlament unklar waren, hatten sich die Berlin-Anhänger dazu entschlossen, in ihrem Antrag von einer kompletten Verlegung der Hauptstadtfunk­

34 Vgl. Gerhard Wettig: Die Vereinbarungen der Siegermächte über Berlin und die Deutschlandpolitik der UdSSR 1943 –1945, in: Michael Bienert/Uwe Schaper/Andrea Theissen (Hrsg.) unter Mitarbeit von Werner Breunig: Die Vier Mächte in Berlin. Beiträge zur Politik der Alliierten in der besetzten Stadt (= Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, Bd. 9), Berlin 2007, S. 17 – 29, hier S. 24 f.

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Plakat zum »Natio­nalen Aufbauprogramm Berlin« in der DDR, 1952.

tionen Abstand zu nehmen und stattdessen mit Bonn eine faire Arbeitsteilung zu vereinbaren. Hiermit wollte man vielen unentschlossenen und zweifelnden Abgeordneten entgegenkommen. Dieser Kompromiss sei »eine vorteilhafte und tragfähige, vielleicht sogar die einzig realisierbare Möglichkeit« gewesen. Trotz einzelner Versuche, den Beschluss nachträglich zu revidieren oder auszuhebeln, hätten die meisten Anhänger Bonns die Entscheidung respektiert. Ihr Augenmerk richtete sich stattdessen darauf, für die bisherige Bundeshauptstadt möglichst vorteilhafte Bedingungen auszuhandeln. Das galt nicht nur für die Verlagerung von Bundesbehörden nach Bonn, sondern ebenso für die Festlegung der Ausgleichsmaßnahmen und den Verbleib eines großen Teils der Arbeitsplätze in der Stadt. Das Berlin/Bonn-Gesetz vom 10. März 1994 schuf hierfür die rechtlichen Rahmenbedingungen. Ob die Anfang der 1990er Jahre getroffenen Vereinbarungen allerdings auch in Zukunft Bestand haben werden, bleibt abzuwarten. Denn seit dem Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin, der in mehreren Etappen erst nach der Jahrtausendwende abgeschlossen wurde, ist zu beobachten, dass sich die Politik eindeutig in die Hauptstadt verlagert hat. Auch wenn mehrere Bundesministerien ihren ersten Dienstsitz weiterhin am Rhein unterhalten, sind die politischen Leitungsebenen komplett an die Spree gewechselt. Neue Bauprojekte etwa für das Bundesministerium des Innern nahe des Hauptbahnhofs und Bundespräsenz in Berlin

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für den Bundesnachrichtendienst, der seine Zentrale voraussichtlich 2013 von Pullach bei München in die Berliner Chausseestraße verlegen wird, bekräftigen den Eindruck, dass ein »schleichender« Umzugsprozess im Gang ist, der den 1991 gefassten Hauptstadtbeschluss weiter aufweicht. Dies liefert all jenen Stimmen gute Argumente, die seit Jahren aus ökonomischen und organisatorischen Gründen einen kompletten Wechsel nach Berlin fordern. Den Abschluss des Bandes bilden zwei Aufsätze, die die Bundespräsenz aus der archivalischen Perspektive betrachten. Bianca Welzing-Bräutigam (Berlin) stellt die im Landesarchiv Berlin verwahrten Bestände vor, die für das Thema von besonderer Relevanz sind. Dabei verweist sie nicht nur auf die Überlieferungen der mit dieser Angelegenheit betrauten West-Berliner Stellen, sondern sie führt auch diverse Nachlässe führender Berliner Politiker wie Ernst Reuter, Otto Suhr und Franz Neumann an, die sich in den Jahrzehnten der Teilung für die Interessen ihrer Stadt engagierten. Der Beitrag von Kerstin Schenke (Koblenz) vermittelt einen Überblick über die umfangreichen Archivbestände der zahlreichen Institutionen, die im Zusammenhang mit der Präsenz des Bundes zwischen 1949 und 1990 eigene Dienststellen in Berlin unterhielten. Die Ausführungen Welzing-Bräutigams und Schenkes sind als Anregungen für künftige Forschungen gedacht. Sie sollen dazu einladen, sich mit der Berlin-Präsenz des Bundes, die noch viele offene Fragen bietet, auf archivalischer Basis näher zu beschäftigen. ** Abschließend verbleibt den Herausgebern noch, all jenen zu danken, die an der Entstehung und der Drucklegung der Publikation mitgewirkt haben. Der erste Dank richtet sich an die Autorinnen und Autoren. Mit viel Engagement und großer Sachkenntnis arbeiteten sie ihre Vortragsmanuskripte der Tagung in wissenschaftliche Aufsätze um. Dabei griffen viele von ihnen auch Anregungen aus den Diskussionen während der Veranstaltung auf. Die Ergebnisse der Zusammenarbeit zwischen Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen und mit verschiedenen Blickwinkeln liefern ein facettenreiches Bild von der Bundespräsenz im geteilten Berlin. Ausdrücklich sei ebenfalls den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesarchivs Berlin gedankt. Mit großer Umsicht und Sorgfalt unterstützten Dr. Werner Breunig und Bianca Welzing-Bräutigam die Herausgeber bei der redaktionellen Arbeit. Monika Bartzsch, Adelbert ­Dreyer, ­Monika Fröhlich, Klaus Janetzki, Klaus-Dieter Pett, Barbara Schäche und ­Monika ­Sommer begleiteten die Entstehung des Buches mit ihrer Hilfe. 30

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