Die Zweite Revolution (Leseprobe)

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Axel Weipert

Die Zweite Revolution Rätebewegung in Berlin 1919/1920


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung, der Fazit-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Diese Arbeit wurde im Jahr 2014 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. (D 188)

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Inhalt Einleitung Das Thema, sein historischer Kontext und seine Bedeutung Forschungsstand und Fragestellung Methodik und Quellenbasis

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Der Berliner Generalstreik im März 1919 41 Der Verlauf – ein kurzer Abriss der Ereignisse 42 Streiks in anderen Regionen 43 Ziele und Maßnahmen der Führung 53 Überregionale Koordination 71 Druck von unten – die Basis der Bewegung 79 Offizielle Streikforderungen 100 Umfang und Mobilisierungsfähigkeit 111 Organisation der Streikbewegung 118 Bürgerrat und Generalstreik 123 Rolle der Medien 124 Straßenkämpfe und Streik 134 Verhalten der Regierungen 148 Zwischenfazit 155 Die Demonstration am 13. Januar 1920 vor dem Reichstag 160 Die Opposition formiert sich 160 Ablauf der Demonstration 164 Folgen 17 1 Deutungen im Widerstreit 17 3 Rolle von Sicherheitspolizei und Militär 180 Zwischenfazit 185 Rätebewegung und Kapp-Lüttwitz-Putsch 190 Auftakt von Rechts: Der Putsch 191 Gegenstoß von links: Generalstreik in Deutschland und Berlin 197 Arbeiterorganisationen: für und wider die Räte 207 Ein zweiter Frühling der Räte? Neuaufbau und Aktivitäten 216 Zwischenfazit 229


Revolutionäre Betriebsrätezentrale 235 Gründung und Organisationsstruktur  236 Programmatik 243 Rivalität mit den Gewerkschaften 245 Zwischenfazit 253 Schülerräte 256 Ein Sonderfall: Gustav Wynekens Reformversuch 256 Ausgangslage: Fortbildungsschulwesen und Arbeiterjugendbewegung 259 Aufbau der Schülerräte 266 Der Schulstreik im Sommer 1919 269 Verhältnis zur »eigentlichen« Rätebewegung 282 Zwischenfazit 285 Erwerbslosenräte 288 Arbeitslosigkeit in Berlin 289 Organisatorische Entwicklung der Erwerbslosenräte 291 Ziele und Aktivitäten 297 Verhältnis zu den anderen Teilen der Arbeiterbewegung 3 11 Zwischenfazit 317 Der »Politische Rat geistiger Arbeiter«

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Frauen und Rätebewegung 329 Zeitgenössische Überlegungen zur Integration von Frauen in die Räte 330 Frauen in der Rätepraxis 336 Zwischenfazit 340 Rätepolitik von linken Parteien und Gewerkschaften 343 Entstehung und Inhalt von Artikel 165 WRV und BRG 343 Freie Gewerkschaften: ADGB, DMV und AfA 350 SPD 367 KPD 382 USPD 396 Zwischenfazit 419


Zusammenfassung und Schlussbetrachtung 423 Ziele und Konzepte 425 Organisationsstrukturen 430 Aktionsformen 437 Verhältnis zum Staat 440 Rätebewegung und Revolution 443 Anhang 449 Abkürzungsverzeichnis 450 Quellen- und Literaturverzeichni 45 1 Archive 45 1 Periodika 454 Zeitgenössische gedruckte Quellen und Quelleneditionen 455 Forschungsliteratur 460 Internetinformationen 472 Bildnachweis 473 Danksagung 474 Über den Autor 476

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Einleitung

Das Thema, sein historischer Kontext und seine Bedeutung In der Geschichte haben sich immer wieder Zeiten größerer Stabilität mit Perioden dramatischer Wandlungen und radikaler Umbrüche abgewechselt. Das gilt auch und vielleicht in besonderem Maße für die deutsche Geschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg bestand eine solche richtungsweisende Situation, wie sie für das zwanzigste Jahrhundert in Deutschland möglicherweise einzigartig war. In diesem komplexen Spannungsfeld bewegt sich die vorliegende Untersuchung. Gerade die Ereignisse der Jahre 1919 und 1920 in Berlin verdeutlichen auf engstem Raum die verschiedenen gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Die Zweite Revolution mit ihrem Streben nach einer sozialistisch-basisdemokratischen Wirtschaftsordnung und einer starken politischen Rolle der Räte stand für eine klare Alternative zum tatsächlich vollzogenen Gang der Geschichte. Das Zeitfenster für diese Möglichkeit schloss sich nach 1920, die Rätebewegung verschwand weitestgehend von der politischen Bühne. Berlin war sicher nicht der einzige, wohl aber der wichtigste Brennpunkt der Ereignisse. Denn hier liefen die politischen Fäden des Deutschen Reichs zusammen, außerdem war Berlin die bedeutendste Industriestadt Europas. Nicht zuletzt war die Stadt auch seit Jahrzehnten das unbestrittene Zentrum der deutschen Arbeiterbewegung: In Berlin befanden sich die wichtigsten Instanzen fast aller Parteien und Gewerkschaften, dort erschienen vielgelesene Zeitungen und Zeitschriften und nirgendwo sonst war die Massenbasis der Arbeiterbewegung so umfangreich. Es ist also nicht verwunderlich, wenn auch die Rätebewegung an der Spree besonders stark in Erscheinung trat. »Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte«1, schrieb Karl Marx in Bezug auf die Revolution von 1848. Zweifellos haben die Entwicklungen in solchen bewegten Zeiten massive Auswirkungen auf den weiteren Gang der Geschichte. In der Revolution 1918–1920 wurde das Fundament der Weimarer Republik gelegt, das sich in den folgenden Jahren nur noch sehr begrenzt als revidierbar erwies. Darin liegt die grundlegende historische Relevanz des Themas begründet. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang eine rückblickende Feststellung des Sozialdemokraten 1 Marx, Karl: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Bd. 7, Berlin (O) 1978, S. 9–107, Zitat auf S. 85.

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Rudolf Hilferding gegenüber seinem Parteigenossen Karl Kautsky vom September 1933: »Unsere Politik in Deutschland war seit 1923 sicher im ganzen und großen durch die Situation erzwungen und konnte nicht viel anders sein. In diesem Zeitpunkt hätte auch eine andere Politik kaum ein anderes Resultat gehabt. Aber in der Zeit vor 1914 und erst recht von 1918 bis zum Kapp-Putsch war die Politik plastisch, und in dieser Zeit sind die schlimmsten Fehler gemacht worden.«2 Es wäre sicher zu deterministisch gedacht, wollte man 1933 allein mit dem Ergebnis der Revolution erklären. Dennoch steht die Frage im Raum, ob das Dritte Reich möglich gewesen wäre, wenn die Umwälzungen der Jahre 1918 bis 1920 anders ausgefallen wären. Die deutsche Gesellschaft wäre zweifellos eine andere gewesen, hätte sich die Rätebewegung mit ihren Zielen wirklich durchgesetzt. Das gilt nicht nur für die politische Sphäre im engeren Sinn, sondern auch für die sozialen und ökonomischen Grundlagen. Nicht zuletzt wäre ein größerer Einfluss der Räte auch für die weitere Entwicklung der Arbeiterbewegung politisch und organisatorisch folgenreich gewesen. Unter diesen Aspekten, die allerdings den Rahmen der vorliegenden Studie weit überschreiten und auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, ist die Revolution in einem größeren Kontext der deutschen Geschichte zu sehen. Ein konkretes, allerdings gemessen an den damaligen Ansprüchen sehr bescheidenes Erbe der Rätebewegung sind darüber hinaus die bis heute bestehenden Betriebsräte. Politisch betrachtet ergibt sich die Bedeutung des Themas daraus, dass viele Fragen, mit denen sich die Rätebewegung konfrontiert sah, noch immer ungelöst sind. Die Liste dieser Problemfelder ist lang und kann deshalb nur unvollständig wiedergegeben werden. Man denke etwa an Debatten um direkte Demokratie ganz allgemein, an unterschiedlichste Konzepte einer Demokratisierung der Wirtschaft oder an basis­ orientierte Entscheidungsprozesse in Großorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften. Die Aktionsformen der Rätebewegung, etwa der politische Generalstreik und die Form seiner konkreten Durchführung, gehören ebenfalls in dieses Feld. Außerdem finden wir heute noch vielfältige Konflikte um die Integration von sogenannten Nebenwidersprüchen in Emanzipationsbewegungen; sei es nun in Bezug auf die Rolle der Frauen, Jugendlichen oder Erwerbslosen. Eine vieldiskutierte Frage war und ist die nach den Möglichkeiten einer politischen Zusammenarbeit verschiedener sozialer Gruppen wie Arbeitern, Angestellten und Beamten – oder in den Begriffen der 2 Zitiert nach: Kolb, Eberhard: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918–1919. Frank­ furt/M. u. a. 1978, S. 7.

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Rätetheoretiker: von »Hand- und Kopfarbeitern«. Die Antworten der Rätebewegung auf diese vielschichtigen Fragen können vielleicht, so wäre zu hoffen, auch heute noch wertvolle Denkanstöße vermitteln. Die Revolution in Deutschland ist, ebenso wie die in anderen Ländern Europas, nur vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges zu verstehen. Nach über vier Jahren Krieg, verbunden mit einer dramatischen Versorgungssituation und einer immer rigideren de-facto-Militärdiktatur der dritten Obersten Heeresleitung, entlud sich die Empörung weiter Bevölkerungskreise. Bereits während des Krieges war es besonders in Berlin mehrfach zu umfangreichen Streiks gekommen, vor allem im Januar 1918, als insgesamt etwa eine Million Arbeiter in den Ausstand traten. In diesem Zusammenhang sind mit den revolutionären Obleuten auch schon Ansätze der Rätebewegung erkennbar.3 Die Obleute bildeten ein wichtiges organisatorisches Gerüst zur Vorbereitung und Durchführung oppositioneller Aktionen. Die Initialzündung für die Umwälzung lieferte dann der Aufstand der Kieler Matrosen. Zwischen dem 4. und 9. November 1918 hatte die Revolution neben der Armee fast alle Regionen und größeren Städte des Reiches erfasst, bis schließlich mit der Demission des Kaisers und der doppelten Ausrufung der Republik in Berlin ein erster Höhepunkt erreicht war. Zunächst handelte es sich dabei um eine Bewegung gegen den Krieg und das alte politische System, das man für die Krise verantwortlich machte. Klare Ziele und praktikable Konzepte für die weitere Entwicklung existierten zu jenem Zeitpunkt kaum; das galt für praktisch alle relevanten politischen Kräfte. Es ist daher kaum verwunderlich, dass in den Monaten nach dem Waffenstillstand in großer Zahl Vorschläge ganz unterschiedlicher politischer Provenienz publiziert und diskutiert wurden. Die nach 1914 einsetzende tiefgreifende Strukturveränderung der Wirtschaft begünstigte das Entstehen einer breiten radikalen Massenbewegung. Zum einen führte die forcierte Rüstungsproduktion zu enormen Zusammenballungen von Arbeitern in der Metall- und Elektroindustrie Berlins, dem wichtigsten späteren Zentrum der Räte. Zum anderen änderte sich auch die soziale Zusammensetzung der Belegschaften: Immer mehr Ungelernte, Jugendliche und Frauen strömten in die Betriebe.4 Hinzu kamen die allgemein wachsenden Klassenspannungen, ein rigides Arbeitsregime, die dramatisch zugespitzte Versorgungslage und damit verbunden ein enormer Autoritätsverlust des Staates.5 Auf diese sozioökonomischen Entwicklungen im Hintergrund 3 Luban, Ottokar: Die Novemberrevolution 1918 in Berlin. Eine notwendige Revision des bisherigen Geschichtsbildes. In: JBzG. 1/2009, S. 53–78. 4 Feldman, Gerald/Kolb, Eberhard/Rürup, Reinhard: Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges (1917–1920). In: PVS 1971, S. 84–105. 5 Kocka, Jürgen: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918. Göttingen 1978, insbesondere S. 131–137.

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Revolutionäre Demonstration am 9. November 1918 Unter den Linden

der politischen Ereignisse wird im Folgenden kaum näher eingegangen werden. Es sei aber auf eine lesenswerte Studie von Gerald Feldman verwiesen, die diese Trends differenziert mit ihren verstärkenden und abschwächenden Wirkungen auf die Radikalität der Arbeiterschaft in Verbindung setzt.6 Die spontanen Massenaktionen fanden ihre organisatorische Verfestigung in den Arbeiter- und Soldatenräten. Diese waren auch schon in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 entstanden und dann, weitestgehend unabhängig davon, auch bei den Aktionen der deutschen Arbeiterschaft während des Krieges gebildet worden. Sie waren geradezu prädestiniert zur Artikulierung des politischen Willens der Massen, da sie lokal und relativ unkompliziert entstanden und eine direkte Artikulation der Interessen ermöglichten. Dass sie den Bedürfnissen der Zeit adäquat waren, zeigt sich vor allem darin, wie flächendeckend und unabhängig voneinander sie sich konstituierten. Es war ein wesentliches Charakteristikum der Revolution insgesamt, dass sie nicht zentral geplant, ausgelöst oder gelenkt wurde. Die schon im Krieg mehrfach aufgebrochene Unzufriedenheit verband sich mit oppositionellen Netzwerken wie den Berliner Obleuten. Erst das Zusammenspiel beider Faktoren verlieh der Erhebung vom November 1918 ihre Durchschlagskraft. Daher kann man mit voller Berechtigung von einer Massenbewegung von unten sprechen. 6 Feldman, Gerald: Sozio-ökonomische Strukturen im Industriesektor und revolutionäres Poten­ tial 1917–1922. In: Ders. Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise, Göttingen 1984, S. 69–83.

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Der Rat der Volksbeauftragten in seiner ursprünglichen Besetzung

In Berlin bildeten die Vollversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte sowie deren Spitze, der Vollzugsrat, den Kern der Rätebewegung. Dass sich in den Räten vielfach Mitglieder und lokale Funktionäre der linken Parteien – also der SPD, USPD und später auch der KPD – fanden, war dabei naheliegend. Schließlich handelte es sich um die den Arbeitern und Soldaten bereits aus ihrem direkten Umfeld bekannten lokalen Führungspersönlichkeiten. Demgegenüber hatten die Zentralinstanzen der sozialistischen Parteien zunächst erhebliche Probleme, sich auf die neue Situation einzustellen. In mancher Hinsicht waren die Räte auch eine Reaktion auf die weitgehende Macht­losigkeit der Organisationsbasis schon vor, vor allem aber während des Krieges. Die Rätebewegung war also nicht nur gegen den kaiserlichen Staat und den »Herr-im-Hause«-Standpunkt der Unternehmer gerichtet, sondern bildete auch eine Alternative zu den bürokratisierten, bisweilen auch recht autoritären Strukturen der organisierten Arbeiterbewegung.7 Dennoch gelang es insbesondere der SPD um Friedrich Ebert durch geschicktes Taktieren, sich unter dem Namen »Rat der Volksbeauftragten« für ihre neue Regierung eine revolutionäre Legitimation durch den Berliner Vollzugsrat verleihen zu lassen. Das war von Erfolg gekrönt, obwohl die SPD-Führung alles andere als revolutionäre Absichten verfolgte. Letztlich setzte sich deren Zielsetzung in zentralen Punkten 7 Diese letztgenannte Wurzel der Rätebewegung betont auch Müller, Dirk: Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Lokalismus, des Syndikalismus und der entstehenden Rätebewegung. Berlin 1985.

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durch. Das Ergebnis lässt sich umreißen als parlamentarische Republik mit kapitalistischem Wirtschaftssystem, ergänzt durch sozialpolitische Reformen. Repräsentiert und in den Jahren 1919/20 umgesetzt wurde dieser Klassenkompromiss durch die Weimarer Koalition aus SPD, DDP und Zentrum im staatlichen und durch die Arbeitsgemeinschaften der Gewerkschaften und Arbeitgeber im wirtschaftlichen Bereich. Die alten Eliten der Offiziere, höheren Verwaltungs- und Justizbeamten sowie die Großgrundbesitzer und Kapitaleigner konnten dadurch ihre angestammten Machtpositionen mit Einschränkungen erhalten. Demgegenüber erschienen die Räte als lästiger Störfaktor, der die mit den Oktoberreformen bereits eingeleitete vorsichtige Entwicklung zu gefährden drohte. Aus dieser Perspektive musste die Revolution und insbesondere ihre Radikalisierung als überflüssig erscheinen. Das wiederum rechtfertigte in den Augen einflussreicher Sozialdemokraten wie Ebert und Gustav Noske den Einsatz massiver Repression bis hin zu militärischer Gewalt gegen jene Kräfte, die sich mit einem solchen Ergebnis der Revolution nicht abfinden wollten und auf weitergehende Maßnahmen drängten. Die Berliner Weihnachtskämpfe und vor allem der Januaraufstand 1919 bildeten dabei wichtige äußere Wegmarken einer Entwicklung, die die Rätebewegung in immer schärfere Opposition zu den herrschenden Gewalten brachte. Aus der Perspektive eines ausländischen Beobachters, der konservativen Londoner »Pall Mall Gazette«, war die Revolution nach der Nationalversammlung und der Bildung der Weimarer Koalition noch zu Ende. Eine Zweite Revolution schien vielen nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert: »German Chaos – another Revolution coming. The state of Germany is passing into another serious phase. Spartacus outbreaks are spreading. The Weimar Government does not seem to have the nerve or power to grapple with them, and confidence in the new regime is falling to an ominously low ebb. The causes of this lie deeper […] than any spread of mere Bolshevism. It is beginning to be realized by all who desire a break with the old system of militarism, class tyranny, and foreign aggression that the new ›Republic‹ is only the old autocracy in a new suit of clothes. There has been no real change in the political centre of gravity. […] In order to save the future they [die Revolutionäre, A.W.] will have to make a much deeper excavation of the roots of the past and to break up that social stratification which paralyses all the instincts of self-government. A ›second revolution‹ is being talked of everywhere.”8 Von dieser Zweiten Revolution in Berlin handelt die vorliegende Arbeit. 8 Pall Mall Gazette, 28.2.1919.

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Forschungsstand und Fragestellung Die Forschung zur Revolution 1918 bis 1920 im Allgemeinen und zur Rätebewegung im Besonderen hat eine nahezu unüberschaubare Fülle an Arbeiten hervorgebracht. Aber schon der häufig verwendete Begriff »Novemberrevolution« zeigt, dass der Fokus meist auf die erste Phase der Umwälzung gelegt wurde. Darüber hinaus thematisieren nur wenige Arbeiten ausschließlich die Entwicklung in Berlin. Es kann hier aus Platzgründen weder eine detaillierte Behandlung einzelner Werke erfolgen noch überhaupt ein umfassender Literaturbericht gegeben werden. Die Darstellung beschränkt sich daher auf die wichtigsten Werke und Schulen in chronologischer Ab­ folge.9 Es liegt dabei auf der Hand, dass die Erforschung der Rätebewegung generell in engstem Zusammenhang steht mit den Untersuchungen und Deutungen der Revolution insgesamt. Die traditionell nationalkonservative und (bildungs-)bürgerliche Prägung der deutschen Geschichtswissenschaft sorgte dafür, dass viele Historiker während der Weimarer Republik in der Revolution kaum mehr als einen nationalen Verrat und den Zusammenbruch des Kaiserreichs erkennen konnten.10 Etwas differenzierter fielen die Urteile der liberalen »Vernunftrepublikaner« unter ihnen aus: Sie erkannten zumindest die Notwendigkeit von gewissen Reformen an, standen letztlich aber Revolution und Rätebewegung ebenfalls deutlich distanziert gegenüber. Hier wäre beispielsweise Friedrich Meinecke zu nennen.11 Solche Einschätzungen waren jedoch primär politische Werturteile; eine wirkliche, quellengestützte Forschung fand zu dieser Zeit noch kaum statt, jedenfalls nicht in der universitären Geschichtswissenschaft. Institutionell und politisch weit abseits der akademischen Historiografie publizierte der Berliner Räteaktivist Richard Müller 1924 und 1925 eine dreibändige Darstellung der Revolution und ihrer Vorgeschichte.12 Sie stellte eine Mischform aus Memoiren und historischer Studie dar. In seinem Werk verteidigte er, gestützt auf eine Vielzahl ausgiebig zitierter Quellen, die Rätebewegung und ihre Ziele und setzte sie in Kontrast zur konservativen Entwicklung der Republik in den Jahren nach der Revolu9 Ergänzend ist auf eine verdienstvolle, kürzlich erschienene Arbeit hinzuweisen: Niess, Wolfgang: Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung. Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert. Berlin u. a. 2013. Der Autor hat einen voluminösen, aber trotzdem keineswegs erschöpfenden Forschungsüberblick zur Revolution verfasst. 10 Thiessenhusen, Karen: Politische Kommentare deutscher Historiker zur Revolution und Neuordnung 1918/19. In: APuZ 1969, Nr. 45, S. 3–63; Faulenbach, Bernd: Revolution und Geschichtswissenschaft 1918–1933. In: Führer, Karl Christian/Mittag, Jürgen/Schildt, Axel/Tenfelde, Klaus (Hg.): Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland 1918–1920. Essen 2013, S. 401–412. 11 Meinecke, Friedrich: Nach der Revolution. Geschichtliche Betrachtungen über unsere Lage. München u. a. 1919. 12 Die Arbeit wurde kürzlich in einer einbändigen Ausgabe neu aufgelegt: Müller, Richard: Eine Geschichte der Novemberrevolution. Berlin 2011.

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tion. Vor allem der letzte Band wird hier vielfach Erwähnung finden.13 Ebenfalls fernab der Historikerzunft gab die KPD 1929 eine parteioffizielle Darstellung der Revolution heraus.14 In diesem Band wurde vor allem das damalige Fehlen einer starken revolutionären Partei bemängelt und die Räte insgesamt sehr kritisch, da reformistisch beherrscht, beschrieben. Im Gegensatz dazu betonte Eduard Bernstein in seiner Untersuchung der ersten Revolutionswochen, dass in einer hochentwickelten Gesellschaft wie Deutschland eine massive Umwälzung prinzipiell kaum möglich sei.15 In den Räten sah er vor allem ein geeignetes und real erfolgreiches Instrument, um die Massen zu beruhigen. Schärfer noch als in der Weimarer Republik fiel die politisch motivierte Kritik an der Revolution und den sogenannten »Novemberverbrechern« im Dritten Reich aus.16 Von sachlich orientierter Forschung konnte nun noch weniger als in den Jahren zuvor die Rede sein. Zwar bezog gerade Adolf Hitler häufig die Revolution von 1918 als negatives Gegenstück zu seiner eigenen »nationalen Revolution« in seine Reden ein. Aber auf plakative Verdikte folgte keine nähere Beschäftigung der Geschichtswissenschaft mit dem Gegenstand. Vor allem Karl Dietrich Erdmann vertrat in der Bundesrepublik eine bis in die 1960er-Jahre tonangebende Sicht. Ihm zufolge hatte die SPD als maßgebliche Partei in dieser Zeit »die Wahl zwischen einem konkreten Entweder–Oder: die soziale Revolution im Bund mit den auf eine proletarische Diktatur hindrängenden Kräften oder die parlamentarische Republik im Bunde mit konservativen Kräften wie dem alten Offizierskorps.«17 Erdmann war sicher der in dieser Frage meistzitierte Historiker, aber keineswegs der einzige. Zu nennen wären noch prominente Namen wie Werner Conze, Erich Eyck, Theodor Eschenburg und – posthum publiziert – Johannes Haller, die allesamt ähnliche Positionen vertraten.18 Bei ihnen wurde die soziale Revolution – und insbesondere die Rätebewegung – recht umstandslos und fälschlich mit dem Bolschewismus russischer Provenienz gleichgesetzt. Eckhard Jesse und Henning Köhler gingen später im Anschluss an solche Deutungen sogar so weit, von der »Konstruktion einer Rätebewegung« zu sprechen und stellten infrage, ob es sich überhaupt um

13 Müller, Richard: Der Bürgerkrieg in Deutschland. Berlin 1925. 14 Autorenkollektiv: Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution. Berlin 1929. 15 Bernstein, Eduard: Die deutsche Revolution. Ihr Ursprung, ihr Verlauf und ihr Werk. Berlin 1921. 16 Niess 2013, S. 125–149. 17 Erdmann, Karl Dietrich: Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 4, Stuttgart 1959, S. 88. Erdmann hat auch Jahrzehnte später noch im Wesentlichen an seiner Deutung festgehalten. Siehe dazu die Broschüre Erdmann, Karl Dietrich: Rätestaat oder parlamentarische Demokratie. Kopenhagen 1979. 18 Niess 2013, S. 172–177.

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eine Revolution gehandelt habe.19 Generell muss festgehalten werden, dass aus dieser Schule kaum quellengesättigte Studien stammen. Die wenigen Ausnahmen behandelten eher Themen der Revolutionsgeschichte, die hier nur ganz am Rande von Interesse sind.20 Insgesamt entfaltete die konservativ orientierte Deutungsrichtung eine nachhaltige Wirkung, sei es in der historisch interessierten Öffentlichkeit oder über ihre Hand- und Schulbücher.21 Das ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Frontstellungen des Kalten Krieges zu sehen. Ab Ende der 1950er-Jahre setzte sich dann eine neue Forschungsposition weitgehend durch. Sie ging historiografisch vor allem auf Arthur Rosenbergs im Exil entstandene Arbeiten aus den 1930er-Jahren zurück.22 Die Grundthese dieser Schule besagt zugespitzt in etwa Folgendes: Die radikale Linke sei viel zu schwach gewesen, um für den Aufbau der parlamentarischen Republik eine ernsthafte Gefahr darzustellen. Insofern habe die SPD unnötig hart auf diese Herausforderung reagiert und zudem mögliche weitergehende Reformen nicht verwirklicht, da sie zu sehr auf das Bündnis mit den alten Armee- und Wirtschaftsführern fixiert gewesen sei.Gestützt auf umfangreiche Forschungen zu den politischen, betrieblichen und militärischen Räteorganen wurde darauf verwiesen, dass die Rätebewegung zunächst keineswegs von den Radikalen dominiert wurde. Vielmehr habe sie in der ersten Phase der Revolution ein nicht zu unterschätzendes demokratisches Potenzial dargestellt. Das Scheitern der Rätebewegung stand damit für eine versäumte Chance der nachhaltigen Demokratisierung Deutschlands durch die Revolution. In gewissen Variationen findet sich diese Interpretation bei verschiedenen Historikern. Walter Tormins Arbeit trägt den Charakter einer durchaus verdienstvollen, relativ knappen Pionierstudie.23 Allerdings thematisiert er nahezu ausschließlich die erste Phase der Revolution bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung. Das mehrfach neu aufgelegte und in verschiedene Sprachen übersetzte Werk von Sebastian Haffner ist die vermutlich meistgelesene Darstellung der Revolution überhaupt.24 Haffner verzichtet jedoch gänzlich auf Belege, sein Band ist also nur sehr bedingt als Forschungsliteratur zu betrachten. Eher ist seine Arbeit ein ausführlicher Essay, in 19 Jesse, Eckhard/Köhler, Henning: Die deutsche Revolution 1918/19 im Wandel der historischen Forschung. Forschungsüberblick und Kritik der ›herrschenden Lehre‹. In: APuZ 1978, Nr. 45, S. 3–23. 20 Beispielsweise Hürten, Heinz: Soldatenräte in der deutschen Novemberrevolution 1918. In: Historisches Jahrbuch 1970, S. 299–328. 21 Siehe Niess 2013, S. 199 sowie S. 289–303. 22 Rosenberg, Arthur: Geschichte der Weimarer Republik. Hg. von Kersten, Kurt, Frankfurt/M. 1961. Der Band erschien erstmals im tschechoslowakischen Karlsbad 1935. 23 Tormin, Walter: Zwischen Rätediktatur und Sozialer Demokratie. Die Geschichte der Rätebewegung in der deutschen Revolution 1918/19. Düsseldorf 1954. 24 Haffner, Sebastian: Die verratene Revolution. München 1969.

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dem er polemisch zugespitzte, aber im Kern oft treffende Kritik an der nichtrevolutionären, übervorsichtigen Haltung der SPD um Ebert übt. Auch Ulrich Kluge25 und Reinhard Rürup26 sind dieser Forschungsrichtung zuzuordnen. Nur mit Einschränkungen gilt das allerdings für Heinrich August Winkler.27 Er konstatiert zwar eine allzu große Zurückhaltung der SPD-Führer in Bezug auf entschiedene Reformen, hält aber gleichwohl in Abgrenzung zu den anderen hier genannten Autoren die Räte als Träger einer Demokratisierung für einen Mythos. Auch Susanne Miller sah die Versäumnisse der SPD, warnte aber zugleich vor einer Überschätzung der Rätebewegung.28 Bei Gerhard A. Ritter überwog in noch stärker betonter Form die Skepsis gegenüber dem Rätesystem ganz allgemein.29 Von besonderer Bedeutung war die 1962 erstmals publizierte Dissertation von Eberhard Kolb30, die zweifellos wichtige Maßstäbe für die weitere Forschung setzte. Kolb behandelte ausschließlich die Rätebewegung in ihrer ersten Phase bis zum Frühjahr 1919. Allerdings gilt diese zeitliche Begrenzung nicht für alle Arbeiten. Die beiden knappen Aufsätze von Wolfgang Mommsen sowie von Feldman, Kolb und Rürup etwa reichen bis 1920.31 Die genannten Autoren schätzten wichtige strukturelle Veränderungen als möglich ein. So etwa die Sozialisierung einiger Schlüsselindustrien, vor allem aber die Kon­ trolle und Demokratisierung des bis dahin durchweg monarchistisch-konservativ ausgerichteten Staates, die durch die Räte temporär abgesichert werden sollten. Einzig Peter von Oertzen hielt darüber hinaus auch eine dauerhafte Institutionalisierung der Räte für praktikabel.32 Dank ihrer intellektuellen Durchdringung des Stoffes gehört Oertzens Studie zum Besten, was über die Rätebewegung publiziert wurde. Aber auch für zahlreiche Fakten ist die Arbeit heranzuziehen. Leider finden sich speziell zur Berliner Bewegung zwar einige theoretische Erörterungen, aber kaum etwas zu ihrer kon-

25 Kluge, Ulrich: Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1918/1919, Göttingen 1975. 26 Rürup, Reinhard: Demokratische Revolution und »dritter Weg«. Die deutsche Revolution von 1918/19 in der neueren wissenschaftlichen Diskussion. In: GG 9 1983, S. 278–301. 27 Winkler, Heinrich August: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1998, S. 600f. Und ähnlich erneut in: Ders.: Angst vor dem Bürgerkrieg. Warum 1918/19 in Deutschland keine große Revolution stattfand. In: Ders.: Auf ewig in Hitlers Schatten? München 2007, S. 51–57. 28 Miller, Susanne: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918–1920. Düsseldorf 1978, S. 140. 29 Ritter, Gerhard A.: ›Direkte Demokratie‹ und Rätewesen in Geschichte und Theorie. In: Ders.: Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus. Aufsätze zur deutschen Sozial– und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen 1976, S. 292–315. 30 Kolb 1978. 31 Mommsen, Wolfgang: Die deutsche Revolution 1918–1920. Politische Revolution und soziale Protestbewegung. In: GG 4, 1978, S. 362–391; Feldman/Kolb/Rürup 1971. 32 Oertzen, Peter von: Betriebsräte in der Novemberrevolution. Düsseldorf 1976, S. 67.

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kreten Praxis. Das mag auch daran liegen, dass Oertzen sich im Detail vor allem mit den Aktivitäten der Ruhrbergarbeiter beschäftigt hat.33 Die genannten Reformen hätten nach dieser Lesart keine umfassend sozialistische Gesellschaftsordnung und damit eine soziale Revolution zur Folge gehabt, sondern lediglich die alten Eliten in ihrem Einfluss beschränkt und darüber hinaus die Arbeiterschaft besser in die Republik integriert. Diese ausdrückliche Eingrenzung des Spielraums auf demokratische und soziale Reformen innerhalb einer kapitalistisch-parlamentarischen Ordnung wird auch daran deutlich, dass die führenden Vertreter dieser Forschungsposition deren Charakterisierung als »Dritten Weg« explizit zurückwiesen und stattdessen von einem »anderen Weg« sprachen.34 Kolb betonte den Übergangscharakter der Räte, die noch nicht einmal als ergänzende Organe dauerhaft hätten erhalten bleiben können.35 Ganz ähnlich meinte Rürup, ihnen hätte nicht die Rolle der wirklich gestaltenden Kraft, sondern lediglich die einer Absicherung der Regierungspolitik zukommen können.36 Mit Blick auf die erste Phase der Rätebewegung kann man dem durchaus zustimmen. Dass dies für die hier relevante zweite Phase ab Frühjahr 1919 allerdings nicht mehr zutrifft, soll in der vorliegenden Studie ausgeführt werden. Die eben skizzierte Revolutions- und Räteforschung dieser Jahre stand offenkundig mit der allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchstimmung in Zusammenhang. Im Umfeld der 68er-Bewegung erwachte ein starkes Interesse an emanzipatorischen Bestrebungen in der deutschen Geschichte. Das verhalf der Rätebewegung als antiautoritärer Alternative zur als bedrückend empfundenen Gegenwart zu großer Popularität weit über den Wissenschaftsbetrieb hinaus.37 Nicht selten war auf Transparenten von Studentendemonstrationen der Slogan »Alle Macht den Räten« zu lesen, Rudi Dutschke entwarf mit einigen Mitstreitern sogar ein skizzenhaftes Modell einer künftigen Räterepublik Westberlin. Besonders im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) fand eine breite Rezeption rätedemokratischer Ideen statt, wobei die Aufmerksamkeit neben der deutschen Revolution auch den russischen Revolutionen und der Pariser Kommune von 1871 galt. Außerdem kam es zu zahlreichen Nachdrucken von Dokumenten der Rätebewegung. 33 Siehe dazu seine lesenswerte Studie: Oertzen, Peter von: Die großen Streiks der Ruhrbergarbeiterschaft im Frühjahr 1919. Ein Beitrag zur Diskussion über die revolutionäre Entstehungsphase der Weimarer Republik. In: VfZ 1958, S. 231–262. 34 So Matthias, Erich: zwischen Räten und Geheimräten. Die deutsche Revolutionsregierung 1918/19. Düsseldorf 1970, S. 10; wörtlich identisch bei Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik. München 2002, S. 175. 35 Kolb 2002, S. 175. 36 Rürup 1983, S. 295. 37 Allmendinger, Björn: ›Brecht dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten‹. Die Rätebewegung – historische Inspiration und theoretische Bürde der 68er-Bewegung. Marburg 2009.

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Die eben dargestellte Schule hat der Forschung zur Rätebewegung ohne Zweifel wichtige Impulse gegeben in Bezug auf Deutungen und Quellenbasis. Das führte zu der richtigen Beobachtung eines sehr engen Zusammenhangs von Rätebewegung und Revolution insgesamt.38 Es ist allerdings kaum zu übersehen, dass sie inhaltlich weitestgehend auf dem Stand der 1970er-Jahre verharrte und seither kaum Neues mehr zum Thema beitrug. Diesen Sachverhalt demonstrierte besonders ein 2008 von Helga Grebing herausgegebener Sammelband.39 Die dort zusammengetragenen Texte waren von den Autoren mehrheitlich schon vor Jahrzehnten erstmals veröffentlicht worden; die Herausgeberin fügte dennoch an: »Fast jeder hielt es nicht für nötig, Korrekturen in Form von Kommentaren an ihren [sic] Texten vorzunehmen.«40 Interessanterweise hat die Historiografie der DDR im Wesentlichen den Standpunkt vertreten, dass es sich nicht um eine sozialistische Revolution gehandelt habe. Das wurde primär auf zwei Faktoren zurückgeführt: »es bestand noch keine revolutionäre proletarische Kampfpartei, und die Mehrheit der Arbeiterklasse stand noch unter dem Einfluss des Opportunismus«.41 Da ausdrücklich vermerkt wurde, dass »die sozialökonomischen Voraussetzungen für die sozialistische Revolution herangereift«42 seien, wurde die Begrenzung also im organisatorischen und ideologischen Bereich verortet. Die junge und programmatisch heterogene KPD sei nicht in der Lage gewesen, den Masseneinfluss von USPD und vor allem SPD zu brechen. Letztlich »blieb die Novemberrevolution ihrem Charakter nach eine bürgerlich-demokratische Revolu­ tion, die in gewissem Umfange mit proletarischen Mitteln und Methoden durchgeführt wurde.«43 Diese grundsätzliche Einschätzung – um nicht zu sagen politische Vorgabe – wurde auch in späteren Arbeiten allenfalls graduell revidiert. Zwar gab es auch konträre Meinungen, die von einer sozialistischen Revolution und einem Kampf um die Räte als Ziel sprachen.44 Aber diese abweichenden Positionen fanden kaum Berücksichtigung und wurden teils sogar direkt unterdrückt.45 Ungeachtet dieses engen Interpretationsrahmens verfassten ostdeutsche Historiker aber eine große Zahl an materialrei38 So beispielsweise ganz explizit Kolb, Eberhard: Rätewirklichkeit und Räte–Ideologie in der deutschen Revolution von 1918/19. In: Grebing, Helga (Hg.): Die deutsche Revolution von 1918/19. Berlin 2008, S. 41–67, hier S. 43, sowie Kolb 1978, S. 405. 39 Grebing 2008. 40 Grebing, Helga: Einleitung. In: Dies. 2008, S. 8. 41 ZK der SED: Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland. Thesen anlässlich des 40. Jahrestages. In: ZfG 1958, Sonderheft, S. 21. 42 Ebenda. 43 Ebenda. 44 Bauer, Roland: Zur Einschätzung des Charakters der deutschen Novemberrevolution 1918–1919. In: ZfG 1958, Nr. 6, S. 134–168. 45 Siehe dazu Keßler, Mario: Die Novemberrevolution und ihre Räte. Die DDR–Debatten des Jahres 1958 und die internationale Forschung. Berlin 2008.

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chen Studien. Wichtig sind hier etwa die Arbeiten von Erwin Könnemann und Hans-Joachim Krusch zum Kapp-Lüttwitz-Putsch46, von Ingo Materna über den Groß-Berliner Vollzugsrat47 und von Regina Knoll zum Generalstreik im März 1919.48 Von Bedeutung war auch Jakov Drabkins Studie zur Revolution allgemein.49 Drabkin spielte als sowjetischer Deutschlandexperte seit den 1950er-Jahren eine wichtige Rolle bei der Ausformung der Revolutionsinterpretation durch die DDR-Historiografie. Er gehört damit neben einigen angloamerikanischen Forschern zu den erstaunlich wenigen ausländischen Historikern, die auf die Revolutionsforschung nennenswerten Einfluss ausübten.50 Es ist nicht zu übersehen, dass in den ostdeutschen Darstellungen die eigenstän­ dige Rolle der Räte unterschätzt, die Bedeutung der Parteien dagegen sehr hoch veranschlagt wurde. Jürgen John brachte das im Rückblick auf die Formel von den »weniger als Subjekte der Revolution denn als Objekte der Politik wahrgenommenen Räte[n]«.51 Die Räte als basisdemokratisch ausgerichtete Organe standen ohnehin in klarem Widerspruch zum autoritären leninistischen Revolutions- und Politikverständnis, das die zentrale Rolle der hierarchisch gegliederten Partei herausstellte. Gerade die KPD diente der SED als identitätsstiftende und letztlich herrschaftslegitimierende Orientierung. Deshalb standen die Kommunisten trotz ihres meist geringen tatsächlichen Einflusses nicht selten im Zentrum der Darstellungen. Das ging so weit, dass in den bereits erwähnten Thesen des Zentralkomitees der SED die Gründung der KPD zu einem »grundlegenden Wendepunkt« der deutschen Geschichte hochstilisiert wurde.52 Der Widerspruch in dieser Interpretation ist unverkennbar: Einerseits wurde gerade das Fehlen einer starken marxistisch-leninistischen Partei in der Revolution bemängelt, zugleich aber die Gründung der kommunistischen Partei zu einem Wendepunkt erklärt. 46 Könnemann, Erwin/Krusch, Hans-Joachim: Aktionseinheit contra Kapp-Putsch. Der KappPutsch im März 1920 und der Kampf der deutschen Arbeiterklasse sowie anderer Werktätiger gegen die Errichtung der Militärdiktatur und für demokratische Verhältnisse. Berlin (O) 1972. 47 Materna, Ingo: Der Vollzugsrat der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte 1918/19. Berlin (O) 1978. 48 Knoll, Regina: Der Generalstreik und die Märzkämpfe in Berlin im Jahre 1919. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 1957/58, S. 477–489. Dieser Aufsatz basierte auf einer umfangreicheren Examensarbeit der Autorin. Dieses Werk ist aber leider verlorengegangen laut einer Mitteilung von Roy Lämmel vom Leipziger Universitätsarchiv an den Verfasser vom 11.10.2011. 49 Drabkin, Jakov: Die Entstehung der Weimarer Republik. Berlin (O) 1983. Es handelt sich um eine erweiterte Fassung einer ursprünglich auf Russisch publizierten Arbeit. 50 Zu den wichtigen Autoren zählen Robert Wheeler, Gerald Feldman, Eric Waldman und David Morgan. Die englischsprachigen Werke wurden teilweise auch ins Deutsche übersetzt. 51 John, Jürgen: Das Bild der Novemberrevolution in Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft der DDR. In: Winkler, Heinrich August (Hg.): Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland. München 2002, S. 43–84, Zitat auf S. 69. 52 ZK der SED 1958, S. 15.

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All das behinderte eine unvoreingenommene, ergebnisoffene Forschung massiv. Es ist bezeichnend, dass die Eckpunkte der Revolutionsinterpretation nicht allein von Historikern, sondern in letzter Instanz vom Zentralkomitee der SED unter persönlicher Beteiligung Walter Ulbrichts abgesteckt wurden.53 Erst in den letzten Jahren der DDR weitete sich der Spielraum. So etwa bei Werner Bramke und Ulrich Heß, die die Revolution als gescheiterten Versuch interpretierten, »eine Demokratie ganz neuen Typs« zu schaffen.54 Diese Räteordnung sei eine konkrete Alternative zur bürgerlichen Demokratie gewesen, letztere habe bis 1923 »mehrfach zur Disposition« gestanden.55 Trotz der erheblichen Defizite ist jedoch Grebings Urteil über die DDR-Forschung nicht zuzustimmen, die meinte, von dieser sei »fast nichts relevant Verwertbares übrig geblieben«.56 Denn der Materialreichtum macht viele dieser Arbeiten auch heute noch beachtenswert – wenn man es als Leser vermag, den straffen ideologischen Rahmen von der eigentlichen Forschungsleistung zu trennen. In den 1980er- und 1990er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist es um Revolution und Rätebewegung in West wie Ost stiller geworden, die Zahl der Veröffentlichungen ging rapide zurück. Vier westdeutsche Arbeiten sind hier vor allem noch zu nennen. Zunächst die ideengeschichtliche Rekonstruktion wichtiger Rätetheorien von Volker Arnold und eine Darstellung der Wurzeln der Rätebewegung in Kaiserreich und Weltkrieg von Dirk Müller.57 Außerdem erschienen eine materialreiche, kritische Noske-Biografie von Wolfram Wette und eine Untersuchung der Bürgerräte von Hans-Joachim Bieber.58 Bereits vor dem Ende des Kalten Krieges war es in der Bundesrepublik zu einer konservativen Tendenzwende gekommen, die auch die Geschichtswissenschaft nicht unberührt ließ. Noch mehr verstärkte sich dieser Trend mit dem Zusammenbruch des osteuropäischen Staatensystems. Damit schien der Sozialismus in allen seinen Spielarten endgültig diskreditiert und seine Geschichte galt nicht mehr als Projektionsfläche für gegenwärtige Politik. Das ließ die Revolution und mit ihr die Rätebewegung aus dem Fokus von Öffentlichkeit und Forschung geraten.

53 Ähnliches lässt sich über die achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung sagen. Die offizielle Leitung dieses Großprojekts hatte auch Ulbricht übernommen. Siehe dazu Niess 2013, S. 355f. 54 Bramke, Werner/Heß, Ulrich: Die Novemberrevolution in Deutschland und ihre Wirkung auf die deutsche Klassengesellschaft. In: ZfG 1988, H. 12, S. 1059–1073, Zitat auf S. 1065. 55 Ebenda, S. 1069. 56 Grebing 2008, S. 9. 57 Arnold, Volker: Rätebewegung und Rätetheorien in der Novemberrevolution. Hamburg 1985; Müller 1985. 58 Wette, Wolfram: Gustav Noske. Eine politische Biografie. Düsseldorf 1987; Bieber, Hans-Joachim: Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks 1918–1920. Hamburg 1992.

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Die Entwicklung ging so weit, dass 2010 ein Sammelband unter dem Titel »Die vergessene Revolution von 1918/19« erscheinen konnte.59 Der Herausgeber Alexander Gallus stellte in seiner Einleitung fest: »[D]iese Ignoranz gegenüber der deutschen Revolution von 1918/19 [ist] kaum nachvollziehbar, vielmehr überaus kritikwürdig. Diese inzwischen vergessene Revolution hat ein größeres Maß an öffentlicher Erinnerung und fachwissenschaftlicher Beschäftigung verdient, als es ihr in den letzten Jahrzehnten zuteil wurde. Ein Anfang wäre gemacht, wenn wenigstens die Historiker wieder über sie stritten.«60 In der öffentlichen Wahrnehmung spielt die Revolution tatsächlich schon lange keine prominente Rolle mehr, die Rätebewegung noch viel weniger. Stattdessen werden mit dem geschichtsträchtigen 9. November fast ausschließlich die Jahre 1923, 1938 und 1989 assoziiert. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn jenseits dieser geschichtspolitischen Entwicklung kann man mittlerweile durchaus von einer vorsichtigen Renaissance der Forschung zu Revolution und Rätebewegung sprechen. Neben dem genannten Sammelband von Gallus sind noch einige qualitativ sehr unterschiedliche Untersuchungen erwähnenswert, etwa die lesenswerte Biografie des wichtigen Berliner Räteaktivisten Richard Müller von Hoffrogge.61 Außerdem interessant sind die Arbeiten von Ottokar Luban62, Dietmar Lange63, Alex Demirovic64, Alfred Pesendorfer65 und des bereits erwähnten Wolfgang Niess.66 Beachtung verdient zudem ein von Ulla Plener zum 90. Jahrestag der Novemberrevolution herausgegebener Sammelband .67 Dessen

59 60 61 62

Gallus, Alexander (Hg.): Die vergessene Revolution von 1918/19. Bonn 2010. Ebenda, S. 38. Hoffrogge, Ralf: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution. Berlin 2008. Luban 2009. Luban betont die wichtige Rolle der revolutionären Obleute bei der Vorbereitung der Novemberrevolution und damit einen Aspekt der Vorgeschichte des hier behandelten Themas. 63 Lange, Dietmar: Massenstreik und Schießbefehl. Münster 2012. Eine gute quellengestützte, wenn­gleich sehr ereignisgeschichtlich orientierte Studie über die bewaffneten Auseinandersetzungen und den Generalstreik im März 1919 in Berlin. 64 Demirovic, Alex: Rätedemokratie oder das Ende der Politik. In: Prokla 2009, Nr. 2, S. 181–206. Demirovic setzt sich aus einer demokratietheoretischen Perspektive kritisch-differenzierend mit den Grundgedanken und Problemen des Rätesystems auseinander. 65 Pesendorfer, Alfred: Die gescheiterte Revolution. Deutschland 1918/19. Hamburg 2012. Der Autor fasst die Ereignisse der Revolution durchaus prägnant zusammen, nutzte dafür aber keine neuen Quellen und ist auch in Bezug auf die Fakten nicht immer zuverlässig. 66 Niess 2013. Zu dieser Arbeit siehe die Ausführungen weiter oben. 67 Plener, Ulla (Hg.): Die Novemberrevolution 1918/19 in Deutschland. Für bürgerliche und sozialistische Demokratie. Berlin 2009.

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Beiträge decken ein breites Themenspektrum ab, bieten aber teilweise auch Informationen speziell zur Entwicklung in Berlin. Überwiegend auf die Revolutionszeit im Ruhrgebiet bezogen sind die Texte eines weiteren aktuellen Sammelbandes.68 All diese Publikationen zeigen, dass die Historiker beginnen, das Thema Rätebewegung wiederzuentdecken. In gewisser Weise spiegeln sie aber auch eine Neujustierung wider, die, anders als im Kalten Krieg und den ersten Jahren danach, mehr Freiräume für Themenfindung und Interpretationen zulässt. Die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung setzt an den genannten Lücken der bisherigen Forschung an: Welche Intentionen verfolgten die Akteure innerhalb der Berliner Rätebewegung, und welche Taktiken und Strategien schienen ihnen angemessen auf dem Weg dorthin? Die Studie zielt also auf die vielfältigen Bemühungen, die dem Rätesystem in Groß-Berlin nach der ersten Revolutionsphase, also ab dem Frühjahr 1919 bis Ende 1920, zum Durchbruch verhelfen sollten. Dabei werden theoretische Konzepte, vor allem aber organisatorische Anstrengungen und politische Aktivitäten der Rätebewegung behandelt. Zu diesem Zweck werden einige besonders prägnante und bedeutsame Ereignisse und Organisationsstrukturen detailliert dargestellt und bewertet. Das Ergebnis ist sowohl eine Rekonstruktion als auch eine problemorientierte Analyse. Letztere kreist vor allem um die Aspekte Anspruch und Praxis der Rätebewegung, ihre Mobilisierungsfähigkeit sowie ihre internen und externen Beziehungen. In der Hauptstadt als dem politischen Zentrum des Reiches wurden entscheidende Weichen für die weitere Entwicklung der Revolution gestellt.69 Die wichtigsten Ereignisse im Verlauf der Rätebewegung sind zugleich entscheidende Wegmarken der Revolution. Der politische Generalstreik mit den anschließenden Kämpfen im März 1919 ist hier an erster Stelle zu nennen und wird entsprechend ausführlich dargestellt und analysiert. Weitere Punkte in der chronologischen Abfolge sind die blutige Demonstration am 13. Januar 1920 vor dem Reichstag und das kurzzeitige Wiederaufleben der revolutionären Räte im Zusammenhang mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch zwei Monate später. Die Betriebsrätezentrale sowie die Schüler- und Erwerbslosenräte werden gleichermaßen aus organisatorischer wie ereignisgeschichtlicher Perspektive behandelt. Hinzu kommen noch der Politische Rat geistiger Arbeiter und die Versuche, Frauen in die Räte zu integrieren. Die Klammer um diese Einzelaspekte bildet die Berliner Rätebewegung, die in allen Fällen auf die eine oder andere Weise massiv involviert war. Der Geschichte der zentralen Berliner Räteorgane, des Vollzugsrats und 68 Führer/Mittag/Schildt/Tenfelde 2013. 69 Das betonten auch Materna, Ingo: Berlin – das Zentrum der deutschen Revolution 1918/1919. In: Plener 2009, S. 92–103, und Oertzen 1976, S. 25.

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der Vollversammlung, wird dabei vor allem in ihrer Verschränkung mit den genannten Ereignissen nachgegangen. Dadurch werden die Möglichkeiten und Grenzen dieser Institutionen in der Praxis am besten sichtbar. Die Rätebewegung war kein isoliertes oder überhaupt allzu exakt eingrenzbares Phänomen. Aus diesem Grund wird es durchgängig notwendig sein, sie in ihrem historischen Kontext zu begreifen. Es ist also immer wieder nach den Wechselwirkungen zwischen ihr und den Parteien und Gewerkschaften der Arbeiterbewegung, aber auch nach der Rolle des Staates und anderer gesellschaftlicher Kräfte wie dem Bürgertum zu fragen. Diese Aspekte werden nicht zuletzt anhand einer konkreten Auseinandersetzung herausgearbeitet. Es geht dabei besonders um eine Kernfrage der Rätebewegung: Ließ sie sich in die bestehende Ordnung integrieren oder strebte sie aktiv eine zweite Revolution an? Das lässt sich besonders gut anhand der Kämpfe um die Einbindung der Räte in Verfassung und Gesetzgebung untersuchen. Um dieses Themenfeld kreist daher die Darstellung der Auseinandersetzungen zwischen und in den drei Parteien SPD, USPD und KPD sowie innerhalb der Freien Gewerkschaften. Das Augenmerk richtet sich in diesem Kapitel vor allem auf Berliner Akteure in den genannten Großorganisationen. Die regen theoretischen Debatten in den Berliner Periodika und einer Reihe von Broschüren werden ebenfalls rekonstruiert. Auch hier bietet sich eine Verknüpfung mit den Diskussionen um Integration und Revolution an, ohne die teils sehr unterschiedlichen Konzepte allzu schematisch in ein Prokrustesbett zwingen zu wollen. Eine Konzentration auf lokale Ereignisse und Aktivitäten erschien besonders vielversprechend, um die Spezifika der Bewegung klarer herausarbeiten und ihre Entwicklung detailliert verfolgen zu können. Eine räumlich eingegrenzte Herangehensweise ist der stark basis- und lokalbezogenen Rätebewegung ohnehin angemessen. Die Vielfalt an behandelten Einzelereignissen, Debatten und Organisationen ermöglicht es, einen neuen, breiteren Blick auf die Rätebewegung zu gewinnen. Denn bislang konzentrierte sich die Forschung sehr stark auf die erste Phase der Revolution, also auf die Monate bis zur Wahl der Nationalversammlung im Januar 1919, die nicht selten sogar als Endpunkt der Revolution gesehen wurde. Kaum oder gar nicht behandelt wurden dagegen bislang die genannten Teilbereiche der Bewegung wie Schülerräte, Frauenräte, die Räte der Intellektuellen oder die Betriebsrätezentrale. Auch hier sind also neue Erkenntnisse zu erwarten, die eine partielle Korrektur des Bildes der Rätebewegung notwendig machen werden. Eine Reihe von Themem muss allerdings ausgespart bleiben oder kann nur angerissen werden. Dazu gehören zwei Zweige der Rätebewegung, nämlich die Räte der Soldaten und die kommunalen Räte. Gerade die Soldatenräte verloren mit der Auflösung der alten kaiserlichen Armee sehr rasch an Bedeutung. Zwar spielten sie im November 1918 eine zentrale Rolle, spätestens ab Anfang 1919 galt das allerdings kaum noch, je-

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denfalls in Berlin.70 Zu den kommunalen Räten Berlins wiederum liegt bereits eine Studie vor.71 Vor allem aber wirkten sie in den großen Auseinandersetzungen allenfalls am Rande mit und nach den Stadtverordnetenwahlen vom Februar 1919 verschwanden sie ähnlich den Soldatenräten in der Bedeutungslosigkeit. Beide Zweige sind also vor allem für die Anfangsphase der Revolution wichtig, die hier weitgehend außen vor bleibt. Ebenfalls ausgeblendet bleibt ein weiterer, zweifellos interessanter und relevanter Aspekt: die sozioökonomische Grundlage der Rätebewegung.72 Eine erschöpfende Behandlung würde umfangreiche weitere Forschungen voraussetzen, die im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden können.73 Betrachtet man aber die hier immer wieder genannten Betriebe und Branchen sowie die exponierten Persönlichkeiten, so lassen sich daraus wenigstens ansatzweise Rückschlüsse auf die soziale Basis der Rätebewegung Berlins ziehen. Demnach dominierte eindeutig die industrielle Arbeiterschaft, ergänzt um größere Gruppen von Angestellten und unteren Beamten. Das galt im Übrigen nicht nur für Berlin und die Rätebewegung im engeren Sinn, sondern für die Revolutionäre insgesamt.74 Daneben gab es auch eine nicht unbedeutende bürgerlich-linksliberal orientierte Strömung, die sich vorwiegend auf Lehrer, Journalisten, Anwälte und Beamte stützte.75 Schließlich kann hier – nicht zuletzt aufgrund der schlechten Quellenlage – auch keine systematische Darstellung der innerbetrieblichen Situation geleistet werden. Nur in einigen Fällen werden die Ereignisse und Meinungsbildungsprozesse innerhalb der Belegschaften aufgegriffen, obwohl sich da prinzipiell ein weites Feld an möglichen Fragestellungen auftäte. Ein gerade in der öffentlichen Wahrnehmung vergleichsweise prominent vertretenes Ereignis bleibt ebenfalls ausgespart: der Januaraufstand 1919. Das zum einen, weil

70 Kluge 1975, besonders S. 271–351; Hürten 1970. 71 Bey-Heard, Frauke: Hauptstadt und Staatsumwälzung Berlin 1919. Problematik und Scheitern der Rätebewegung in der Berliner Kommunalverwaltung. Stuttgart u. a. 1969. 72 Zu den massiven sozialen wie wirtschaftlichen Veränderungen in der Kriegs- und Revolutionszeit sowie den damit verbundenen politischen Implikationen siehe Kocka 1978 sowie Feldman 1984. 73 Eine gelungene Verknüpfung der sozioökonomischen Verhältnisse mit politischen Aktivitäten in der Revolutionszeit, ausgeführt am Beispiel der beiden westdeutschen Städte Hamborn und Remscheid, leistet eine Studie von Lucas, Erhard: Zwei Formen von Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung. Frankfurt/M. 1976. 74 Siehe dazu etwa Bramke, Werner: Zum Verhalten der Mittelschichten in der Novemberrevolution. In: ZfG 1983, S. 691–700. Bramke betonte, dass relevante Gruppen aus den Mittelschichten der Revolution besonders zu Beginn positiv gegenüberstanden. Allerdings verhielt sich die Mehrheit bestenfalls abwartend und wanderte ab Anfang 1919 zunehmend in das Lager ihrer Gegner ab. 75 Engel, Gerhard: Die »Freie demokratische Fraktion« in der Großberliner Rätebewegung. Linksliberalismus in der Revolution 1918/19. In: IWK 2004, H. 2, S. 150–202, hier S. 157–159.

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es hierzu schon reichlich Literatur gibt.76 Vor allem aber, weil er nur mittelbar mit der Rätebewegung in Verbindung gebracht werden kann. Sehr erkenntnisreich wäre ein Vergleich mit der Entwicklung in anderen Regionen wie dem Ruhrgebiet oder Mitteldeutschland, aber auch mit internationalen Ereignissen. Nicht ohne Grund hatte der britische Premierminister David Lloyd George im Jahr 1919 festgestellt: »Ganz Europa ist mit dem Geist der Revolution erfüllt. Es gibt unter den Arbeitern ein starkes Gefühl nicht nur der Unzufriedenheit, sondern des Zorns und der Revolte gegen die Vorkriegsbedingungen. Die gesamte bestehende Ordnung wird in all ihren politischen, sozialen und ökonomischen Aspekten von den Bevölkerungsmassen vom einen Ende Europas bis zum anderen in Frage gestellt.«77 Eine umfassende Gesamtgeschichte der europäischen Revolutions- und Rätebewegungen während und nach dem Ersten Weltkrieg steht leider immer noch aus.78 Ein solcher Anspruch würde aber bei weitem den Rahmen dieser Arbeit sprengen, weshalb hier lediglich ein paar skizzenhafte Hinweise gegeben werden können. Für die Jahre 1919 und 1920 ist in der Gesamtheit der wirtschaftlich entwickelten Länder ein Allzeithoch an Arbeiterunruhen zu verzeichnen.79 Das gilt nicht nur für die Staaten, die den Krieg verloren hatten, sondern auch für die Siegermächte. So sind hier etwa Italien, Großbritannien, Frankreich, die USA, Japan und Australien zu nennen, außerdem sogar einige neutrale Länder wie die Schweiz, Spanien und Teile Lateinamerikas. Allerdings waren die Auseinandersetzungen innerhalb der ehemaligen Mittelmächte und in Russland am härtesten. 76 Stellvertretend seien hier genannt: Waldman, Eric: The Spartacist uprising of 1919 and the crisis of the German socialist movement. A study of the relation of political theory and party practice. Milwaukee 1958; Rasmuss, Hainer: Die Januarkämpfe 1919 in Berlin. Berlin (O) 1956; knapp außerdem Weipert, Axel: Das Rote Berlin. Eine Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung 1830– 1934. Berlin 2013, S. 147–152. 77 Zitiert nach: Silver, Beverly: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin u. a. 2005, S. 179. 78 Einen lesenswerten, wenngleich sehr gedrängten Überblick bieten: Bois, Marcel/Tosstorff, Reiner: ›Ganz Europa ist vom Geist der Revolution erfüllt‹. Die internationale Protestbewegung am Ende des Ersten Weltkrieges. In: Plener 2009, S. 41–60; eine Zusammenfassung der Entwicklungen in Deutschland, Italien, Russland und Großbritannien lieferte Gluckstein, Donny: The Western Soviets. Workers’ councils versus Parliament 1915–1920. London 1985. Gluckstein behandelte die Entwicklung in Deutschland allerdings nur bis zum Februar 1919. Einen zeitlich weiter gespannten Vergleich zwischen Berlin und Paris bietet Wirsching, Andreas: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39, Berlin und Paris im Vergleich. München 1999. 79 Silver 2005, S. 160f.

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Eine ähnliche Entwicklung wie in Russland wäre in Deutschland jedoch kaum zu erwarten gewesen, zu verschieden waren die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in beiden Fällen. Das bloße Vorhandensein von Räten und einer revolutionären Entwicklung suggeriert hier mehr Gemeinsamkeit, als tatsächlich vorhanden war.80 Um nur einige wichtige Differenzen zu nennen: In Russland spielten die Bauern insgesamt und besonders in der Rätebewegung eine sehr viel gewichtigere Rolle, was wiederum auf die stark unterschiedlichen sozioökonomischen Strukturen verweist. Der russischen Februarrevolution folgte anders als dem deutschen Novemberumsturz kein Waffenstillstand. Der anhaltende Krieg befeuerte unweigerlich die Radikalisierung breiter Bevölkerungskreise in Armee und Hinterland. Ein höheres Maß an Übereinstimmung bestand allerdings mit den Ereignissen in Österreich, in Ungarn und während des »biennio rosso« in Italien 1919/20.81 Hier kam es zu teilweise ganz erstaunlichen Parallelen sowohl in Bezug auf die Aktionsformen, die konkrete Bildung der Räte und in ihrem Verhältnis zu den traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung. Gewisse Ähnlichkeiten lassen sich auch zwischen der deutschen Rätebewegung und den zeitgleich aktiven britischen »Shop Stewards« aufzeigen.82

Methodik und Quellenbasis Die vorliegende Studie folgt einem empirischen Ansatz. Das bedeutet, dass sich die Kernbegriffe aus dem vorgefundenen Material ableiten lassen. Einige idealtypische Merkmale des Rätesystems seien vorab kurz genannt: Gewählte Räte bilden Gremien, 80 Immer noch einen guten Überblick bietet Anweiler, Oskar: Die Rätebewegung in Russland 1905– 1921. Leiden 1958. Ergänzend dazu Irosnikov, Michail/Potolov, Sergei: Die Sowjets in den drei Russischen Revolutionen. In: Mitteilungsblatt des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung, H. 16, 1995, S. 58–73; außerdem aktuell ein Aufsatz über die den deutschen Betriebsräten vergleichbaren russischen Fabrikkomitees von Mandel, David: Die Bewegung der Fabrikkomitees in der Russischen Revolution. In: Azzelini, Dario/Ness, Immanuel (Hg.): ›Die endlich entdeckte politische Form‹. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute. Karlsruhe 2012, S. 129–164. Einige Unterschiede in der Entwicklung und die Wahrnehmung der deutschen Revolution durch die Bolschewiki behandelt Geyer, Dietrich: Sowjetrußland und die deutsche Arbeiterbewegung 1918–1932. In: VfZ 1976, H. 1, S. 2–37. 81 Dass diese Entwicklungen in der Berliner Rätebewegung aufmerksam registriert wurden, ist belegt: Käthe Pick: Die Arbeiterräte in Deutschösterreich. In: Der Arbeiter-Rat 1920, Nr. 10. Zu Österreich siehe Carsten, Francis: Revolution in Mitteleuropa 1918–1919. Köln 1973. Sehr detailliert ist die Studie von Hautmann, Hans: Die Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924. Wien 1987. Für Turin, die unbestrittene Hochburg der italienischen Rätebewegung, siehe di Paola, Pietro: Fabrikräte in Turin 1919/1920. In: Azzelini/Ness 2012, S. 165–186. 82 Zu den Shop Stewards: Pribicevic, Branko: The Shop Stewards’ Movement and Workers’ Control 1910–1922. Oxford 1959. Der Autor geht detailliert auf die dort entwickelten Konzepte von Betriebsdemokratie und Arbeiterkontrolle ein, die vor allem im Bergbau propagiert wurden. Zum Vergleich der deutschen und britischen Enwicklungen siehe Oertzen 1976, S. 311–329.

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die exekutive, legislative und judikative Funktionen vereinen sollen. Jeder Rat wird von seinen Wählern mit einem imperativen Mandat ausgestattet und kann jederzeit von diesen abberufen werden. Diese enge, basisdemokratische Rückkopplung an den Wählerwillen stellt ein wesentliches Charakteristikum des Rätesystems dar. Gemeinsam sollen die Räte dann ein horizontal wie vertikal ausdifferenziertes System bilden, das die ganze Gesellschaft erfasst und lenkt. Damit ist auch schon angedeutet, dass sich Rätestrukturen prinzipiell in vielen Bereichen denken lassen – und dort faktisch auch gebildet wurden. Dazu zählten die Wirtschaft, die staatliche Verwaltung, das Militär, aber auch das Bildungswesen und Vertretungen spezifischer Sonderinteressen, etwa der Frauen, Intellektuellen und Erwerbslosen. Es liegt auf der Hand, dass das eine flexible Anwendung der Rätestruktur voraussetzte, denn in den genannten Teilbereichen der Gesellschaft herrschten ganz unterschiedliche Voraussetzungen, sowohl strukturell-organisatorisch als auch in Bezug auf die konkreten Interessenlagen der Beteiligten. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Räte- und Repräsentativsystem besteht darin, dass die Räte nicht nur als Verfassungsstruktur zu denken sind, also eine »fertige« demokratische Ordnung darstellen. Vielmehr sind sie ganz bewusst auch als das entscheidende Instrument zur Herstellung eines Rätesystems konzipiert. Ziel und Mittel fallen also in gewisser Weise zusammen. Das bedeutet konkret, dass den Räten eine entscheidende Rolle zukommt als Forum der Willensbildung und als Organisator der politischen Aktivitäten. Darüber hinaus führte diese Doppelung dazu, die eigenen Ansprüche bereits unmittelbar in der Praxis zu erproben. Räte als Kampforgane sind prinzipiell flexibel, sich entsprechend der jeweiligen Situationen vielfältige und keineswegs nur revolutionäre Ziele zu setzen. Demnach kann selbst die Interessenvertretung in einem klassisch gewerkschaftlichen Sinn ein Tätigkeitsbereich für sie sein und war es historisch auch. Die Räteidee als solche ist also offen für verschiedene Entwicklungen, sie ist per se weder revolutionär noch systemkonform. In jedem Fall aber stellt sie eine Alternative zu Top-down-Modellen der Organisation und Willensbildung dar. Die Rätebewegung war eine breit angelegte und entsprechend heterogene soziale Bewegung.83 Eine Masse im gesellschaftlichen Sinn ist zunächst einmal eine große amorphe Ansammlung von Menschen. Als Massenbewegung eint sie ein Mindestmaß an gemeinsamen Motiven und Handlungsmustern, oft, aber nicht notwendigerweise auch an sozialer Stellung. Im vorliegenden Fall spielte die Arbeiterschaft die wichtigste 83 Zu sozialen Bewegungen allgemein: Raschke, Joachim: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß. Frankfurt/M. 1988. Darin auch ein knapper Abschnitt speziell zur Rätebewegung: ebenda, S. 504. Sehr konzis die Darstellung von Rucht, Dieter: Soziale Bewegungen. In: Nohlen, Dieter/Schultze, Olaf-Rainer (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe. Bd. 2, München 2002, S. 853–856.

DAS THEMA, SEIN HISTORISCHER KONTEX T UND SEINE BEDEUTUNG  |   29


Rolle, wurde aber ergänzt durch Angehörige mit anderer sozialer Stellung, etwa Angestellte, Beamte, Schüler und Intellektuelle. Ihr übergreifendes Ziel bildete die Durchund Umsetzung des Rätesystems. Es ist aber davon auszugehen, dass sich eine solche Massenbewegung über ihre grundsätzlichen Zielvorstellungen hinaus vielfach weiter ausdifferenziert. Das Handlungsrepertoire umfasste ein breites Spektrum politischer Aktivitäten. Dazu zählten u. a. Demonstrationen, Streiks, politische Bildungsarbeit und bisweilen auch bewaffnete Auseinandersetzungen. Erst durch die genannten grundsätzlichen Gemeinsamkeiten war die Masse der Beteiligten in der Lage, wirksam in politische Prozesse einzugreifen. Ihre Organisierung, Mobilisierung und Zielsetzung baute selbst auf Rätestrukturen auf. Die Rätebewegung im engeren Sinn konstituierte sich also aus den gewählten Delegierten und ihren Wählern. Erst das Zusammenwirken von Rätegremien und Anhängern konnte politische Wirksamkeit entfalten. Trotz ihrer heterogenen Zusammensetzung, ihres raschen Wandels und ihrer vielfältigen inneren Widersprüche kann und muss die Rätebewegung als eigenständiges historisches Subjekt verstanden werden, das mehr war als die Summe der beteiligten Individuen, Rätegremien oder der mit ihr in Verbindung stehenden Parteien und Gewerkschaften. Durch seine Offenheit in Bezug auf Zusammensetzung, politische Ausrichtung und Organisationsstruktur bietet sich hier der Bewegungsbegriff in besonderem Maße an. Ein grundlegender Wesenszug der Rätebewegung war es, in Konzepten, Organisationsformen und Aktionsweisen einen vielschichtigen Gegenentwurf zur herkömmlichen Arbeiterbewegung und zur damaligen Gesellschaft als ganzer zu formulieren. Das umfasste die Kritik an autoritären, übermäßig hierarchischen Strukturen und zugleich den Aufbau von basisdemokratischen Verbindungen sowie den Willen, diese alternativen Ziele und Organisationen dann in breit angelegten Massenaktionen politisch wirksam werden zu lassen. Es muss aber betont werden, dass die Rätebewegung sich als Teil der übergreifenden sozialistischen Arbeiterbewegung verstand. Das zeigte sich beispielsweise daran, wie selbstverständlich die Räte mit ihren Anhängern viele tradierte Ideen der Arbeiterbewegung aufgriffen sowie mit und in ihren Organisationen agierten. Im Rahmen dieser Arbeit kann nicht auf alle Aspekte des vielschichtigen Begriffs der Revolution sowie die dahinterstehenden politischen und geschichtsphilosophischen Implikationen eingegangen werden.84 Ihre begriffliche Bestimmung muss sich daher auf einige wenige hier besonders relevante Punkte beschränken. Die Revolution 84 Zur detaillierten Orientierung siehe Johnson, Chalmers: Revolutionstheorie. Köln 1971; Koselleck, Reinhart: Revolution. In: Brunner, Otto (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 653–788 sowie Langewiesche, Dieter: Revolution. In: van Dülmen, Richard: Das Fischer Lexikon Geschichte. Frankfurt/M. 1990, S. 250–270.

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